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Mythen verknüpfen die Götter- mit der Menschenwelt, erzählen vom Ursprung von Dynastien oder Volksstämmen, zeigen Triumphe und Niederlagen, sind spannend, dramatisch und mitunter voller Intrigen. Daniels erkundet alle großen Kulturen der Welt und erklärt das System ihrer Götter und Helden und wie sie uns bis heute begleiten. So spannt sich der goldene Bogen von den Aborigines und Maori, den Sumerern, Ägyptern und Chinesen, Inkas und Azteken bis zu den Griechen, Römern und nordischen Völkern.
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Seitenzahl: 163
Veröffentlichungsjahr: 2022
Mark Daniels
Mythologiender Welt
Alle großen Kulturenim Überblick
Aus dem Englischen
von Felix Mayer
Anaconda
Titel der englischen Originalausgabe:
The Midas Touch. World Mythology in Bite-Sized Chunks First published in Great Britain in 2013 by Michael O’Mara Books Limited, London.
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-641-29851-7
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung
© 2017, 2022 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: dyadesign, Düsseldorf, www.dya.de
unter Verwendung der Umschlagillustration der Originalausgabe
Satz und Layout: Roland Poferl Print-Design, Köln
www.anacondaverlag.de
INHALT
Einleitung
Die Mythologien Australiens und der Maori
Die Mythen der australischen Aborigines
Traumzeit
»Walkabout«
Die Regenbogenschlange
Die Sonne
Der Mond
Die Mythen der Maori
Ranginui und Papatuanuku (Vater Himmel und Mutter Erde)
Tangaroa (Gott des Meeres)
Holzschnitzereien
Tumatauenga (Gott des Krieges)
Maui-tikitiki (Halbgott)
Hine-nui-te-po (Göttin des Todes)
Sumerische Mythologie
Wer waren die Sumerer?
Die Ursprünge
Götter und Helden
Enki
Gilgamesch und die Flut
Ägyptische Mythologie
Wer waren die Ägypter?
Die Erschaffung des Universums
Die Auferstehung des Osiris
Chinesische Mythologie
Das antike China
Bai She Zhuan (Die weiße Schlangenfrau)
Kua Fu
Tiere und Fabelwesen
Drachen
Das chinesische Neujahrsfest
Der chinesische Tierkreis
Die Mythologie der Indianer
Wer waren die Indianer?
Geister und Rituale
Wakan Tanka und die Erschaffung der Welt
Die Bedeutung des Kreises
Sonnentanz und Geistertanz
Die Mythen der Prärie
Die Weiße Büffelfrau
Der Wily Coyote
Die Mythologien Mittel- und Südamerikas
Die Maya
Das Ende der Welt (oder auch nicht)
Der Weltenbaum
Itzamná
Chaac
Die Heldenbrüder
Die Azteken
Der aztekische Schöpfungsmythos
Tlaloc
Die Inka
Eine altbekannte Schöpfungsgeschichte
Die Entstehung von Cuzco
Die griechische Mythologie
Wer waren die Griechen?
Götter und Göttinnen
Zeus
Apollon und Artemis
Poseidon
Aphrodite
Eros
Athene
Ares
Hades
Hephaistos
Kronos
Gaia
Adonis
Persephone
Dione
Helden und Heldinnen, Schurken und Ungeheuer
Herakles (Herkules)
Perseus und Medusa
Midas
Krösus
Theseus und der Minotaurus
Europa
Ikarus
Die römische Mythologie
Wer waren die Römer?
Die Anfänge Roms – viele Wege führen ans Ziel
Romulus und Remus
Äneas
Die Tierkreiszeichen
Helden und Heldinnen
Orpheus und Eurydike
Das Trojanische Pferd
Manlius und die Gänse auf dem Kapitol
Pyramus und Thisbe
Äolus und die Winde
Die nordische Mythologie
Wer waren die nordischen Völker?
Götter und Göttinnen
Odin
Tyr
Thor
Freya und Frigg
Freyr
Hel
Brünhild
Das Ende: Ragnarök
Register
EINLEITUNG
Seit Anbeginn ihrer Existenz haben sich die Menschen mit den grundlegenden Fragen des Daseins beschäftigt: mit dem Leben, dem Tod, den Naturerscheinungen sowie dem menschlichen Miteinander. Erstaunlicherweise haben die Antworten auf diese Fragen in allen Regionen der Welt über eine ungewöhnlich lange Zeit hinweg dieselbe Form angenommen: die Form von Mythen.
Von den Hochkulturen, die ganze Weltreiche geprägt haben, bis zu lokalen Stammesverbänden haben die Menschen seit jeher ihr eigenes Universum an Gottheiten, Fabelwesen und Mythen erschaffen. Die Mythen erzählen vom Ursprung der Menschheit, von Siegen und Niederlagen und vermitteln in anschaulicher Weise die Essenz des menschlichen Erfahrungsschatzes.
Die meisten Religionen und Mythologien behandeln die grundlegenden Fragen, die uns Menschen beschäftigen, seit unsere Gesellschaften die Form von Zivilisationen angenommen haben: die Endlichkeit des Lebens, Geburt, Astrologie oder die Natur als Einheit. Aus der Beobachtung der Natur haben wir zahlreiche Erzählungen geschaffen, die das Unerklärliche erklären sollen, und wir haben die Sonne, den Mond, Flüsse, Meere und Berge zu Gottheiten gemacht. Wenn wir das Unbegreifliche verstehen wollen, neigen wir Menschen dazu, uns Mächte vorzustellen, die weit jenseits unseres Fassungsvermögens liegen.
Viele Religionen versuchen, die Gottheiten und mythischen Helden, die wir selbst erschaffen haben, durch Opfer, Musik, Tanz, Gebet und rituelle Handlungen gnädig zu stimmen. Dadurch wiegen wir uns in dem Glauben, bedeutende, gleichwohl unvorhersehbare Geschehnisse zu begreifen und zu beeinflussen, wie etwa Krankheit und Tod, die Ernte auf den Feldern oder den Wellengang der Ozeane. Solche Rituale tragen in jeder Gesellschaft zur Bildung von Traditionen bei, die für die Gemeinschaft identitätsstiftend wirken und jedem einzelnen das Gefühl geben, ein Teil davon zu sein.
Kognitionswissenschaftler haben die Erfahrung des Göttlichen, die sich einstellt, wenn wir in einer Gruppe ein Gebet sprechen, mit dem Aufbrausen von Emotionen bei einem großen Sportereignis verglichen. Das Gefühl von Gemeinschaft und sozialem Zusammenhalt, das wir bei Zeremonien in großen Gruppen erleben, das gemeinsame Sprechen eines Gebets oder der Gesang im Fußballstadion, der uns zusammenschweißt – all das verleiht uns Kraft, und Mythen geben uns die Möglichkeit, solche gemeinschaftlichen Rituale zu entwickeln.
Und was bliebe uns ohne die mythischen Erzählungen, die Legenden und die Religion, auf die wir unsere Rituale gründen? Im Leben eines Atheisten finden sich zwar Hochzeiten, Begräbnisse und Taufzeremonien, doch fehlt ihnen jeder feierliche Charakter, wie ihn die Gerüche, die Klänge und der Zauber althergebrachter religiöser Zeremonien erschaffen, die in der Tradition verwurzelt sind, reich an Lebensweisheiten in Form von Gleichnissen und an Geschichten, die so umfassend und so alt sind wie das Universum selbst.
Darüber hinaus helfen die fantasievollen Erzählungen der Mythen und Legenden, den Inhalt in eine ansprechende Form zu bringen. Wenn eine Mutter ihrem Kind sagt, es solle nett zu anderen Kindern sein, weil sich das so gehöre, wird das Kind sein Verhalten vermutlich kaum ändern. Doch in eine althergebrachte Geschichte gekleidet, wird dieselbe Botschaft sehr viel greifbarer, und ein Kind (aber auch ein Erwachsener) kann sie weitaus besser nachempfinden: Wenn du zu anderen Kindern nicht nett bist, dann wird der griechische Gott Zeus, ein großer Mann mit langem Bart, der auf einem Berg lebt und Blitze schleudert, sehr böse. Noch ein paar Dutzend Beispiele von den schrecklichen Dingen, die Zeus anderen Kindern angetan hat, und selbst der Erwachsene, der die Geschichte erzählt, hat vergessen, dass das alles nur sinnbildlich gemeint war.
Mythologien der Welt erkundet den atemberaubenden Schatz an Geschichten, die Menschen sich ausgedacht haben, um die Welt zu erklären. In loser chronologischer Abfolge wirft es einen Blick auf die berühmtesten und faszinierendsten Erzählungen, die die bedeutendsten Kulturen der Welt geprägt haben. Und nach der Lektüre werden Sie von sich selbst sagen können, dass auch Sie so etwas wie eine Heldentat vollbracht haben.
DIE MYTHOLOGIENAUSTRALIENS UNDDER MAORI
DIE MYTHENDER AUSTRALISCHENABORIGINES
Australien wurde erst vor 225 Jahren britische Kolonie, doch die Ureinwohner leben dort schon seit etwa 70 000 Jahren, und die Mythen, die ihre Kultur hervorgebracht hat, sind rund 10 000 Jahre alt. Zahlreiche Geschichten nehmen Bezug auf die jeweiligen geologischen Gegebenheiten, die in der Nähe der Siedlungsgebiete der einzelnen Stämme lagen. Sie wurden damals zwar nicht schriftlich festgehalten, doch lassen bestimmte lokale Besonderheiten, die in manchen der Geschichten erwähnt werden, Rückschlüsse auf die Entstehungszeit zu. Es grenzt an ein Wunder, dass diese Geschichten von Generation zu Generation weitergegeben wurden, und noch heute werden sie ausschließlich in der mündlichen Überlieferung bewahrt.
Über die gewaltige Landmasse Australiens verteilt, lebten sage und schreibe rund 400 verschiedene Stämme von Ureinwohnern, die alle eine eigene Sprache und eigene Glaubensvorstellungen hatten. Wenn wir bloß eine dieser Mythologien näher betrachten würden, bekämen wir nur einen sehr beschränkten Einblick; daher wollen wir aus denjenigen Geschichten, die über den ganzen Kontinent verbreitet waren, einige der faszinierendsten herausgreifen.
Traumzeit
Die Mythologie der australischen Ureinwohner besitzt drei Hauptelemente: das Menschliche, die Erde und das Heilige. Während der Erschaffung der Welt, noch bevor menschliches Leben entstand, herrschte die sogenannte Traumzeit. Seit der Erschaffung der Welt, so der Glaube der Aborigines, leben die Menschen gleichzeitig in der materiellen Welt und in der Traumzeit; sowohl im Leben als auch im Tod befindet sich ein Teil unserer Persönlichkeit in der ewigen Traumzeit. Um das Geschehen in der sie umgebenden Natur besser zu verstehen und beeinflussen zu können, rufen die Stämme mit Gesängen und Bitten die Traumzeit-Inkarnation desjenigen Menschen, Tieres oder Dinges an, mit dem sie besser zurechtkommen möchten. So wenden sie sich etwa an das Traumzeit-Krokodil, wenn sie im Umgang mit den Krokodilen in der wirklichen Welt Hilfe brauchen.
Die Legenden der Traumzeit erklären die Ursprünge der Welt, sind aber auch moralische Lehrstücke. Ihre Lehren finden Eingang in das Leben derjenigen, die die Geschichten weitertragen, und bleiben dadurch ein bedeutender Teil der Kultur der Aborigines. Es ist nicht verwunderlich, dass in solch einem riesigen Land die Mythen rund um die Traumzeit von Stamm zu Stamm variieren; dabei wird für jeden Stamm die eigene Sammlung mythischer Erzählungen wesentlicher Bestandteil seiner Identität.
»Walkabout«
Die Ureinwohner Australiens sind seit jeher unzertrennbar mit ihrem Land verbunden. Einer der wichtigsten Bestandteile ihrer Kultur ist der »Walkabout«, eine Wanderung, bei der heranwachsende Jungen den Pfaden ihrer Ahnen folgen. Dabei unterbrechen sie ihren Marsch an festgelegten Stellen und führen verschiedene traditionelle Zeremonien durch.
Die Lieder und Zeremonien dieser einsamen Wanderungen führten zum Begriff der »Songlines« (deutsch auch: Traumpfade), der die Wege bezeichnet, denen die Jungen folgen. Diese Wege bilden ein dichtes Netz, das sich kreuz und quer durch ganz Australien zieht und Orte miteinander verbindet, die für etliche Stämme von großer Bedeutung sind, wie etwa Wasserstellen, Höhlen, Orientierungspunkte oder Stellen, an denen Nahrung zu finden ist. Ein junger Aborigine verbringt mehrere Monate auf seiner Wanderung und sucht dabei die Verbindung zu seinem Land sowie zu seinen Vorfahren, indem er die althergebrachten Rituale vollzieht, die auch diese schon vollzogen haben. Dabei lernt er, von dem zu leben, was die Erde ihm gibt, und durch die Einsamkeit zu Ruhe und innerem Frieden zu finden.
Gelingt das Unterfangen, ist er bei seiner Rückkehr zum Mann gereift.
Die Regenbogenschlange
In der beeindruckenden Vielfalt an Mythen, die Australien zu bieten hat, ist eine Figur immer wieder zu finden: die Regenbogenschlange. Zahlreiche Geschichten ranken sich um sie und auch ihre Namen variieren, doch stets ist sie dem Wasser und damit dem Leben zugeordnet. Etliche Erzählungen enden damit, dass sie Menschen verschlingt, aber oftmals schenkt sie den australischen Völkern auch neue Bräuche und Sitten. Die Regenbogenschlange stellt in vielen Schöpfungsmythen die zentrale Figur dar, aber auch Gesetze, Bräuche und der in ganz Australien verbreitete Totemkult werden auf sie zurückgeführt.
Während der Traumzeit, zu Anbeginn aller Zeiten, wanderte die Schlange kreuz und quer über den ganzen Kontinent und schuf so Täler, Flussläufe und Bäche. Dann rief sie die Frösche in die Welt, die daraufhin aus der Erde krochen, die Bäuche prall gefüllt mit Wasser. Die Regenbogenschlange kitzelte sie, worauf sich das Wasser über die Welt ergoss und die Flüsse und Seen füllte. Aus diesen entstand alles Leben – Pflanzen wie Tiere. Die Regenbogenschlange setzte ihren Weg über das Land fort, gefolgt von Kängurus, Emus, Schlangen, Vögeln und anderen Tieren. Jedes Tier trug zur Erhaltung des natürlichen Gleichgewichts bei, indem es nur jagte, was es selbst brauchte.
Die Schlange erließ Gesetze und erklärte, dass die Tiere, die sie missachteten, in ihrer tierischen Gestalt würden verbleiben müssen, dass aber diejenigen, die sie befolgten, zu menschlicher Gestalt aufsteigen würden. Jeder menschliche Stamm bekam dasjenige Tier als Totem zugesprochen, von dem er abstammte. Das Totem diente als identitätsstiftendes Symbol und zur Erinnerung an die eigenen Ursprünge. Ein Stamm durfte mit Ausnahme seines Ahnentieres alles verzehren, sodass letztlich genug Nahrung für alle vorhanden wäre – ein sinnvoller Grundsatz in einem Land, in dem sämtliche Ressourcen knapp sind.
Die Sonne
In den Anfängen der Traumzeit, noch vor Erschaffung der Sonne, lebte ein Mädchen, das hoffnungslos verliebt war und von seinem Auserwählten ferngehalten wurde. In ihrer Verbitterung lief die junge Frau davon, immer tiefer in die Wildnis, wo das Überleben, ohne Schutz und Nahrung, zunehmend schwieriger wurde. Ihr Stamm war ihr auf den Fersen, und so musste das liebeskranke Mädchen weiter in immer unwirtlichere Gegenden vordringen.
Als die Geister ihrer Vorfahren sie entdeckten, schlafend und dem Tode nahe, beschlossen sie einzugreifen. Sie hoben sie in den Himmel, und als sie aufwachte, fand sie reichlich zu essen vor sowie ein Feuer, das sie wärmte. Sie sah, dass ihr Volk im Dunkeln lebte und fror, und dass die entfachten Feuer immer wieder verloschen. Obwohl sie ihre Familie vermisste und sich danach sehnte, zu ihr zurückzukehren, wusste sie, dass ihr Platz von nun an im Himmel war und sie ihrer Familie von dort aus helfen musste.
Sie ließ ihr Feuer so stark auflodern, wie sie nur konnte, und ließ es den ganzen Tag brennen, um ihr Volk zu wärmen. Sie hatte die Sonne geschaffen, und darüber war sie so glücklich, dass sie beschloss, sie jeden Tag aufs Neue zu entfachen, damit ihre Familie ihrem Tagwerk nachgehen konnte.
Der Mond
Eines schicksalsträchtigen Tages verließ Japara, einer der geschicktesten Jäger der Traumzeit, seine Frau und seinen kleinen Sohn und ging, wie jeden Tag, auf Beutezug. Während er fort war, kam Parukapoli, ein wandernder Geschichtenerzähler, in sein Haus. Er leistete Japaras Frau Gesellschaft und unterhielt sie mit herrlichen Geschichten, und schon bald war die Frau ganz ins Zuhören vertieft. Erst ein plötzliches Geräusch riss sie aus ihrer Versunkenheit: das Platschen von Wasser, als ihr Sohn in den Fluss fiel. Sie rannte los, um ihn zu retten, kam jedoch zu spät – der Junge war bereits ertrunken.
Den ganzen restlichen Tag hielt sie schluchzend den leblosen Körper in den Armen und wartete darauf, dass Japara zurückkehrte. Als sie ihm berichtete, was geschehen war, wurde er wütend und gab ihr die Schuld am Tod des Jungen. Er griff zu seinen Waffen und brachte erst seine Frau um und stürzte sich sodann auf Parukapoli. Die beiden Männer kämpften und verwundeten einander, bis Japara den Geschichtenerzähler erstach und als Sieger aus dem Zweikampf hervorging.
Als sein Stamm ihn für sein Handeln rügte, erkannte Japara sein Fehlverhalten. Daraufhin suchte er die Leichname seiner Frau und seines Sohnes, fand sie jedoch nirgends. Er brach in Wehklagen aus und beschwor die Geister, die ihm Frau und Kind geraubt hatten, ihn wieder mit seiner Familie zu vereinen. Die Geister erhörten Japara und gewährten ihm Einlass in die Himmelswelten, damit er dort nach seiner Familie suchen konnte; zur Strafe wurde ihm jedoch auferlegt, das weite Himmelszelt auf seiner Suche allein zu durchwandern.
Angeblich sind auf der Oberfläche des Mondes noch die Wunden zu sehen, die Parukapoli Japara im Kampf zugefügt hat, und der Mond selbst ist ein Abglanz des Lagerfeuers, das Japara entfacht hat und das ihm bei seiner verzweifelten Suche nach seiner Familie helfen soll. Die sich verändernde Bahn des Mondes und seine laufend wechselnde Form zeugen von der endlosen Suche des bedauernswerten Japara.
DIE MYTHENDER MAORI
Die ersten der aus Polynesien stammenden Maori besiedelten Neuseeland (auf Maori: Aotearoa) im 13. Jahrhundert. Die Kultur der Maori in Neuseeland hat keine Berührungspunkte mit derjenigen der Aborigines in Australien; wir fassen die beiden hier nur wegen der geografischen Nähe zu einem Kapitel zusammen.
Die Überlieferung der Maori kennt eine bunte, polytheistische Götterwelt, deren Mythen stets aufs Engste mit der Natur verwoben sind. Die ersten Maori stammten von Siedlern aus Polynesien, Mikronesien und Melanesien ab, die kreuz und quer über den Pazifik gesegelt waren und so abgelegene Inselgruppen wie Hawaii oder Fidschi erreicht hatten. Weil ihre Vorfahren in früheren Zeiten immer in Bewegung waren, begegnen die Maori dem Meer mit Respekt und Ehrfurcht, und vielleicht kehren deshalb auch die Motive des Reisens sowie von Trennung und Verlust regelmäßig in ihren Mythen wieder.
Ranginui und Papatuanuku(Vater Himmel und Mutter Erde)
In der Mythologie der Maori gelten Ranginui (kurz: Rangi), Vater Himmel, und Papatuanuku (kurz: Papa), Mutter Erde, als die Ahnherren alles Weltlichen. Am Anfang war das Nichts (dieses Motiv findet sich in fast allen Schöpfungsmythen), und Rangi und Papa lagen Millionen Jahre in tiefster Finsternis in inniger Umarmung beieinander. Die Frucht ihrer Umarmung war eine Nachkommenschaft aus lauter männlichen Kindern, die in dem beengten Raum zwischen ihren Eltern leben mussten, umgeben von nichts als Dunkelheit.
Als die jungen Männer heranwuchsen, wurden sie wegen ihrer misslichen Lage immer wütender und verfielen in einen Streit darüber, wie sie ihre Eltern voneinander trennen sollten. Tumatauenga, der Gott des Krieges und der streitsüchtigste unter den Brüdern, wollte beide Eltern geradewegs umbringen, doch glücklicherweise setzte sich Tanemahuta, der Gott der Wälder, mit seinem Vorschlag durch: Die Brüder würden ihre Eltern auseinanderstemmen.
Jedes Kind unternahm einen Versuch, Rangi und Papa zu trennen, aber keinem wollte es gelingen. Wieder führte Tanemahuta die Entscheidung herbei: Mit seiner gewaltigen Kraft zog er Erde und Himmel auseinander und brachte so das Licht und die erste Dämmerung in die Welt. Rangi stürzte durch diese Trennung in größte Verzweiflung und vergoss Tränen des Schmerzes, aus denen sich die Flüsse und die Seen bildeten. Nach der Trennung der Eltern fand jeder der Brüder seinen Platz: Tawhirimatea – der Gott der Winde, der alles belassen wollte, wie es war – tröstete sich mit einem Platz im Himmel und warf später mit der Wucht seiner Stürme alle Bäume seines Bruders Tanemahuta zu Boden, und Tangaroa, der Gott des Meeres, floh vor Tawhirimateas Zorn und fand Schutz in den Tiefen des Ozeans.
Noch heute ist der Gram der getrennten Eheleute zu spüren: Rangi vergießt weiterhin Tränen der Trauer, die als Regen zur Erde fallen, und Papa schickt Beben durch die Erde, in dem vergeblichen Versuch, das Land aufzubrechen und dadurch die Entfernung aufzuheben, die sie von Rangi trennt – doch werden die beiden bis in alle Ewigkeit entzweit sein.
Der Stammbaum der Maori-Gottheiten
Tangaroa (Gott des Meeres)
Tangaroas Rückzug in die Tiefen des Meeres löste große Verwirrung aus, vor allem innerhalb seiner Familie. Sein Sohn Punga, Ahnherr der Haie, der Eidechsen und der Stachelrochen, folgte ihm hinab in den Ozean. Punga hatte zwei Söhne, von denen nur Ikatere, der Ahnherr der Fische, ihm in den Ozean folgte. Tu-tewehiwehi, Pungas anderer Sohn und Ahnherr der Reptilien, blieb an Land zurück und flüchtete in die Wälder. So kommt es, dass der Ozean noch immer im Zwist mit Tanemahuta liegt und die Küsten des Landes abträgt, um sich mit seinen rechtmäßigen Nachkommen zu vereinen.
Holzschnitzereien
Die Kunst des Holzschnitzens spielt in der Tradition der Maori eine besonders große Rolle, denn sie hält die Erinnerung an das Volk und seine Kultur wach. Daher überrascht es nicht, dass die Geschichte dieser Kunst, wie die Mythologie der Maori sie überliefert, eine fesselnde Erzählung ist.
Te Manu, der Sohn eines Stammeshäuptlings namens Rua-te-pupuke, wurde eines Tages, als er über das Meer segelte, von Tangaroa gefangen genommen. Verzweifelt machte sich Rua auf die Suche nach seinem Sohn und gelangte schon bald zu Tangaroas Haus. Dieses war mit kunstvollen Holzschnitzereien verkleidet, inmitten derer Te Manu wie ein Wandbehang vom Dach herabhing. In einem Wutanfall wollte Rua Tangaroa kurzerhand umbringen, aber Hinematikotai, der greise Verwalter, riet ihm, sich in das Haus zu schleichen und sämtliche Ritzen und Spalten in den Wänden zu verschließen, damit kein Licht mehr von außen hineindringen könne. Als Rua das Haus betreten hatte, sah er, dass es auch im Inneren mit Holzschnitzereien übersät war, die – anders als die hölzernen Figuren an den Außenwänden – offenbar miteinander sprachen. Rua wandte sich an sie, und sie erklärten sich bereit, seinen Plan auszuführen.
Mit Tinte geschrieben
Die charakteristischen detailreichen Muster der Holzschnitzereien der Maori finden sich heute auf der ganzen Welt – in sogenannten Tribal Tattoos.