Mythos "Bismarcks Sozialpolitik" - Stephan Zick - E-Book

Mythos "Bismarcks Sozialpolitik" E-Book

Stephan Zick

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Beschreibung

Zentraler Anstoß für das Buch ist der Widerspruch, dass man zwar das Deutsche Kaiserreich trotz aller Strukturdefekte und Demokratiedefizite in der Geschichtswissenschaft zu Recht als hochindustrialisierten und funktional-differenzierten Staat der Moderne beschreibt, gleichzeitig aber und das, wie aufgezeigt werden soll zu Unrecht, eines seiner bedeutendsten und umstrittensten Politikfelder als „Bismarcks Sozialpolitik bzw. Bismarcks Sozialgesetzgebung“ simplifiziert. Ziel des Buches ist es daher, der im Hinblick auf die staatliche Sozialgesetzgebung noch immer zu abstrakten Staats- und Staatsmännergeschichte eine Prozessgeschichte entgegenzustellen, welche die Staatsmänner nicht mehr in ihren starren historischen Rollenbildern betrachtet, sondern sie als komplexe handelnde Akteure versteht und sie damit in Wechselwirkung mit ihrer historischen Umwelt, d.h. auch unter Berücksichtigung der weiteren handelnden Akteure analysiert.

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Seitenzahl: 166

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Mythologische Verklärung Otto von Bismarcks – das Bismarckbild im Wandel der Zeit

Sozialpolitik als Herrschaftspolitik - Historische Wurzeln der staatlichen Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich

Ursprung und Intention sozialpolitischer Intervention unter Otto von Bismarck

4.1. Historische Kontexte der sozialpolitischen Intervention im Deutschen Kaiserreich

4.2. Ordnungspolitische Grundvorstellungen bei Otto von Bismarck

4.3. Albert Schäffle – der vergessene Ideengeber

Der Einfluss der Ministerialbürokratie auf die staatliche Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich

5.1. Hermann Wagener – Sozialpolitik als sozialkonservative Ordnungspolitik

5.2. Theodor Lohmann – Sozialpolitischer Realismus als christliche Mission

Der Einfluss der Wirtschaft auf die Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich

6.1. „Herr im Haus-Standpunkt“ und wirtschaftspolitische Konzentration

6.2. Louis Baare und der Centralverband der Industriellen

Fazit und Ausblick

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

FRAGEN EINES LESENDEN ARBEITERS

Wer baute das siebentorige Theben?

In den Büchern stehen die Namen von Königen.

Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?

Und das mehrmals zerstörte Babylon,

Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern

des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?

Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war,

die Maurer? Das große Rom

ist voll von Triumphbögen. Über wen

triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz

nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis

brüllten doch in der Nacht, wo das Meer es verschlang,

die Ersaufenden nach ihren Sklaven.

Der junge Alexander eroberte Indien.

Er allein?

Cäsar schlug die Gallier.

Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?

Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte

untergegangen war. Weinte sonst niemand?

Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer

siegte außer ihm?

Jede Seite ein Sieg.

Wer kochte den Siegesschmaus?

Alle zehn Jahre ein großer Mann.

Wer bezahlte die Spesen?

So viele Berichte,

So viele Fragen.

(Bertolt Brecht)

1. Einleitung

„Legende zu Lebzeiten“ hat Otto Pflanze jenes Kapitel seiner Biographie über Otto von Bismarck beschrieben, das die Zeitspanne nach dem Sturz des Reichskanzlers umfasst. Mit Blick auf den 80. Geburtstag des Reichskanzlers a.D. im Jahr 1895 fährt er darin fort: „Ende Juni hatte Bismarck zu über fünfunddreißig Gratulantenabordnungen gesprochen und für jede, neben seiner politischen und patriotischen Botschaft, einige besonders an sie gerichtete Worte gefunden. Vor der hohen Ziegelmauer, die Haus und Park gegen die Außenwelt abschirmten, drängten sich die Massen der Besucher, die auch das Dorf bevölkerten und fliegende Souvenirhändlern gute Einkünfte verschafften. Am 1. April wurden sie in den Park gelassen, wo ihnen sechs Militärkapellen aufspielten. Weit über tausend Geschenke wurden von Bismarcks Bedienten in Empfang genommen. Innerhalb weniger Tage wurden Post- und Telegraphenämter mit mehreren tausend Päckchen, 10000 Telegrammen und 450000 Postkarten, Briefen und Drucksachen überschwemmt. […] In Berlin begingen Reichs-, preußische und städtische Behörden den Tag als Feiertag, und der Kaiser lud hohe Beamte, Minister und Angehörige des Bundesrats, Reichstags und Landtags zu einem Bankett ins Schloß. In den meisten deutschen Städten wehten Fahnen, öffentliche Gebäude wurden dekoriert, es gab schulfrei und zahlreiche Feierlichkeiten. Nach einer Zählung wurde der Ehrentag des Reichsgründers in vierundsechzig deutschen und fünfzehn österreichischen Städten sowie in vielen deutschen Gemeinden im Ausland auf diese oder jene Weise festlich begangen, nicht zu reden von den Kleinstädten und Dörfern in Deutschland und den Hunderten von deutschen Vereinen überall in der Welt (achtzig allein in den Vereinigten Staaten von Amerika). […] Bismarck war in allen Zeitungen das große Thema. Sein achtzigster Geburtstag wurde wahrlich als Nationalfeiertag begangen, so wie bisher nur der Sedantag und die Geburtstage der regierenden Monarchen. Bis 1895 war der aus seinen Ämtern entlassene Bismarck im deutschen öffentlichen Leben kaum weniger präsent, als er es während seiner Kanzlerschaft gewesen war.“1 Diese Präsenz, die Bismarck zum Ärger Kaiser Wilhelm II. durch tagespolitische Einlassungen in Zeitungen und vielfach beachteten, öffentlichen Auftritten selbst beförderte,2 fand Ihre Ursache im Streben, das politische und persönliche Erbe auch als solches im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu erhalten. Gleichzeitig spiegelte sich darin aber auch eine noch zu Lebzeiten Bismarcks einsetzende Popularisierung wider, die nach seinem Tod 1898, versinnbildlicht u.a. in einer neuen Welle von massenhaft errichteten Bismarckdenkmälern, politisch bewusst zu einem der wichtigsten nationalen Integrationsmythen der deutschen Geschichte stilisiert wurde. 3 Möchte man eine Bewertung der bisher überwiegend Bismarck zugeschriebenen sozialpolitischen Maßnahmen im Deutschen Kaiserreich vornehmen, so muss sich eine Analyse daher zwangsweise an erster Stelle dem Einfluss widmen, den die mythologische Verklärung auf die historische Überlieferung der Person Otto von Bismarck ausgeübt hat. 4 Hierbei sind anhand wichtiger Zäsuren der deutschen Geschichte nicht nur die entscheidenden Kontinuitäten und Brüche sondern auch mögliche Instrumentalisierungsabsichten und Umdeutungen des Bismarckbildes nachzuzeichnen. Ein besonderes Augenmerk muss dabei auf die wissenschaftliche Überlieferung gelegt werden, denn kaum eine Persönlichkeit ist in der deutschen Geschichtsschreibung so kontrovers diskutiert wurden wie der deutsche Reichskanzler. Hier ist zudem besonders danach zu fragen, inwiefern die deutsche Geschichtsschreibung möglicherweise selbst zu einer mythologischen Überlieferung beigetragen hat und wo mögliche Gründe dafür verortet werden können? Um der vorliegenden Arbeit ein entsprechendes Fundament zu geben, soll dies mit einer ausführlichen und kritischen Würdigung der Bismarckforschung einhergehen, da nur auf diese Weise verständlich gemacht werden kann, warum ein so hochkomplexes Politikfeld wie die Sozialpolitik in der Rückschau auf das Deutsche Kaiserreich hauptsächlich nur mit dem Namen einer Person verbunden wird. Anschließend sollen die historischen Wurzeln der Sozialgesetzgebung des Deutschen Kaiserreiches aufgezeigt und ersichtlich werden, welche ideengeschichtlichen Entwicklungen entscheidenden Einfluss ausgeübt haben. Dabei soll auch deutlich werden, inwieweit die Sozialgesetzgebung unter Bismarck bereits an mögliche Traditionslinien anknüpfen konnte und somit von Pfadabhängigkeiten geprägt war. Im Anschluss daran wird eine allgemeine Einordnung der staatlichen Sozialgesetzgebung in ihren historischen Kontext vorgenommen, wobei insbesondere der Preußische Verfassungskonflikt, der „Kulturkampf“ und das „Sozialistengesetz“ als Referenzpunkte näher betrachtet werden. Sie stehen exemplarisch für die Zeitspanne von rund einem Jahrzehnt vor der Gründung des Deutschen Kaiserreiches bis ein Jahrzehnt nach dessen Gründung und zeigen auf, dass eine von ihnen losgelöste Bewertung der Sozialgesetzgebung nicht möglich ist, da insbesondere die Repressionsmaßnahmen im Zuge des Sozialistengesetzes eben nicht erst seit 1878 alltäglich waren, sondern einer Tradition systematischer Exklusion politischer Gegner Bismarcks entsprang, die nun unbeabsichtigt mitverantwortlich dafür war, dass sich eine ursprünglich heterogene Arbeiterschaft zu einer relativ homogenen Massenbewegung entwickelte, auf die der Reichskanzler selbst aber lange Zeit keine politische Antwort hatte. Aus welcher Perspektive die Arbeiterbewegung und ihre sozialen und politischen Forderungen von Bismarck wahrgenommen wurden, soll anhand einer Analyse seiner ordnungspolitischen Grundvorstellung aufgezeigt werden, wobei zwingend auf biographische Veränderungsprozesse und auf sein Verständnis der Begriffe „Revolution“ und „Reform“ einzugehen ist, da sie innerhalb der Bismarckforschung je nach Verwendung unterschiedliche Schlüsse nach sich ziehen. Spätestens hier sind insbesondere auch das Staats- und Hierarchieverhältnis Bismarcks sowie das Spannungsverhältnis zwischen monarchischem Staat und Reichstag näher zu erläutern. Dabei ist zu überprüfen, welche ideengeschichtlichen Faktoren Bismarcks Denken und Handeln zugrunde lagen und wie sie sein Bild der Gesellschaft sowie das von deren Transformation prägten. Im darauffolgenden Punkt soll dann mit dem Kathedersozialisten Albert Schäffle die bisherige Fokussierung auf Otto von Bismarck durch die Berücksichtigung zentraler weiterer Akteure ergänzt und damit aufgezeigt werden, wo die gedanklichen Ursprünge der Sozialgesetzgebung des Deutschen Kaiserreiches lagen. Mit Hermann Wagener und Theodor Lohmann wird dies am Beispiel des persönlichen Umfeldes des Reichskanzlers und der Ministerialbürokratie unternommen, wobei nachgewiesen werden soll, dass nicht nur politische, sondern vor allem auch persönliche und gesellschaftliche Einflüsse der weiteren Akteure maßgeblich zu einem Zustandekommen der Sozialgesetzgebung beigetragen haben. Dass dabei auch handfeste Interessen eine entscheidende Rolle spielten, wird dann am Beispiel der wirtschaftlichen Belange verdeutlicht. Hierbei ist näher auf das Selbstverständnis und die zentralen Merkmale der neuen Gesellschaftsschicht der Großunternehmer einzugehen und am Beispiel Louis Baares darzulegen, auf welche Weise die Wirtschaft durch individuelle Initiativen und organisierte Abstimmung auf verschiedenen Wegen direkten Einfluss auf die Sozialgesetzgebung des Deutschen Kaiserreiches ausübte.

Abschließend werde ich in einem Fazit die zentralen Erkenntnisse dieser Arbeit zusammenfassen, entstandene Fragen aufzeigen und in einem Ausblick auf mögliche Tendenzen der Forschung zur Sozialgesetzgebung im Deutschen Kaiserreich eingehen. Um der Komplexität des Themas gerecht zu werden, konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf die Anfangszeit der staatlichen Sozialgesetzgebung und dabei speziell auf die mit der Unfallversicherung verbundenen Kontexte, wobei diese bereits mit dem Reichshaftpflichtgesetz einsetzten. Die entscheidenden Prozesse vor bzw. nach dieser Phase werden dahingehend nur insofern berücksichtigt, wie sie für das Nachzeichnen von entscheidenden Kontinuitäten oder Diskontinuitäten gewinnbringend sind und dadurch eine genauere Einordnung des gewählten Themas in den historischen Gesamtkontext ermöglichen. Den zentralen Anstoß für den Titel dieser Arbeit stellt der Widerspruch dar, dass man das Deutsche Kaiserreich trotz aller Strukturdefekte und Demokratiedefizite in der Geschichtswissenschaft zu Recht als hochindustrialisierten und funktional-differenzierten Staat der Moderne beschreibt,5 gleichzeitig aber und das wie aufgezeigt werden soll zu Unrecht, eines seiner bedeutendsten und umstrittensten Politikfelder als „Bismarcks Sozialpolitik bzw. Sozialgesetzgebung“ simplifiziert.6 Ziel dieser Arbeit ist es daher, der im Hinblick auf die staatliche Sozialgesetzgebung noch immer zu abstrakten Staats- und Staatsmännergeschichte eine Prozessgeschichte entgegenzustellen, welche die Staatsmänner nicht in ihren starren historischen Rollenbildern betrachtet, sondern sie als komplexe handelnde Akteure versteht und sie damit in Wechselwirkung mit ihrer historischen Umwelt, d.h. auch unter Berücksichtigung der weiteren handelnden Akteure analysiert. Insgesamt bewegt sich diese Arbeit dabei im Spannungsfeld der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie dem eng damit verknüpften Spezialbereich der Arbeitergeschichte. Inhaltlich umfasst sie einen Themenkomplex, welcher sich aus Forschungen zum Kaiserreich, zur Person Bismarcks, zur Industrialisierung, zur gesellschaftlichen Transformation, zur „Sozialen Frage“ sowie deren historische Begleitprozesse bestehend aus Pauperismus, Urbanisierung, Säkularisierung, Rationalisierung und demographischem Wandel zusammensetzt. Mit Blick auf die ideengeschichtlichen Hintergründe ist dabei zudem unmittelbar die Trias der Großideologien des Liberalismus, des Kommunismus / Sozialismus und insbesondere des Konservatismus von Bedeutung. Die Arbeit, ursprünglich als ein Überblickwerk zur gesamten Sozialgesetzgebung unter Otto von Bismarck angedacht, wurde nach dem Quellenstudium dahingehend konkretisiert, dass sie anhand zentraler Akteure auch die komplexen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse innerhalb eines modernen Industriestaates widerspiegelt. Sie erhebt damit keineswegs den Anspruch die Sozialgesetzgebung des Kaiserreiches umfassend zu thematisieren, sondern versucht vielmehr durch Beschränkung auf ein relativ kleines Zeitfenster von 1871 bis 1884 zu widerlegen, dass die meist als „Bismarcks Sozialgesetzgebung“ simplifizierte sozialpolitische Intervention des Staates zwischen 1871 und 1890 allein durch den Reichskanzler geprägt wurde.

Um der Komplexität einer solchen Thematik entsprechenden Raum zu geben, wurde auf eine zu kleinteilige Untergliederung verzichtet und sich stattdessen an einer essayistischen Gestaltung orientiert. Der begrenzte Umfang der Arbeit und die ungünstige Quellenlage machten es unumgänglich mit dem Gesetzgebungsprozess im Reichstag bzw. in seinen Ausschüssen einen wichtigen aber ebenso umfassenden Bereich unberücksichtigt zu lassen. Allein die Rekonstruktion der einzelnen Parteiinitiativen und Positionen hätten den Rahmen bei weitem gesprengt. Auf Basis dieser vielschichtigen Ausgangssituation soll nun zu Beginn die grundlegende Bedeutung der Instrumentalisierung und Verklärung Otto von Bismarcks nachvollzogen werden.

Ihr Verständnis legt den Grundstein dafür, die Ursachen für die verschiedenen Perspektiven auf die Sozialgesetzgebung im Deutschen Kaiserreich erkennen, den nachträglich konstruierten Wunsch von der durch Quellen nachgewiesenen Wirklichkeit unterscheiden sowie die Säge des wissenschaftlich fundierten Zweifels an den Baum des scheinbar unumstößlichen Mythos „Bismarcks Sozialpolitik“ legen zu können.

1 Zitiert nach: Pflanze, Otto: Bismarck. Der Reichskanzler, 1. Aufl. in der Beck`schen Reihe, München 2008, S. 652-654.

2 Ebd.: S. 648-652.

3 Vgl.: Alings, Reinhard: Monumente und Nation. Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal – zum Verhältnis von Nation und Staat im deutschen Kaiserreich 1871-1918, Berlin 1996, S. 128-141.

4 Dass Herfried Münkler in seinem viel gelobten Buch: „Die Deutschen und ihre Mythen“ jüngst ein Kapitel mit „Preußenmythos und preußische Mythen“ betitelte aber ausgerechnet die mythologische Verklärung Otto von Bismarcks und dessen Instrumentalisierung als zentralen Integrationsmythos des Deutschen Kaiserreichs vollkommen ignorierte, deutet auf ein umfassenderes Problem hin. Die Zeit zwischen 1849 bis 1914 ist selbst für viele Historiker und historisch argumentierende Politikwissenschaftler ein blinder Fleck in ihrer geistigen und zu oft von Zäsuren und Ereignissen dominierten Landkarte. Erfrischende und erkenntnisträchtigere Alternativen stellen hier Heinrich August Winkler, Jürgen Kocka, Eric Hobsbawm oder David Landes dar.

5 Vgl.: Mommsen, Wolfgang: Das deutsche Kaiserreich als System umgangener Entscheidungen, in: Ders. (Hrsg.): Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt (Main) 1990, S. 11-38.

6 Dass Norbert Blüm diesen Terminus selbst in seinem Vorwort zu der von Lothar Machtan herausgegebenen und an wissenschaftlicher Bedeutung für ein differenziertes Bild zur Sozialgesetzgebung im Deutschen Kaiserreich gar nicht zu überschätzenden Quellenedition zur Privatkorrespondenz Theodor Lohmanns verwendet, zeigt wie schräg eine unbedachte Verwendung von zur Gewohnheit gewordenen Redewendungen geraten kann.

2. Mythologische Verklärung Otto von Bismarcks – das Bismarckbild im Wandel der Zeit

Möchte man sich mit dem Menschen Otto von Bismarck auseinandersetzen, so muss man, wie Lothar Machtan argumentiert und es beispielhaft unternommen hat, den Bismarck, der fast drei Jahrzehnte die Politikgeschichte geprägt hat von jenem unterscheiden können, der sich bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts als Ikone in das öffentliche Bewusstsein eingeprägt und dann als Mythos zum Transport diverser politischer Botschaften und Bestrebungen verschiedenster Couleur gedient hat. Der Bismarckmythos war so Machtan weiter ein zentrales Kernelement jenes Nationalmythos, der die Deutschen im 20. Jahrhundert auf so verhängnisvolle Weise bestimmt hat.7 Seit 1895 gab es in Europa bis zum massenhaften Führerkult um Adolf Hitler keinen politischen Akteur, dem so aufwendig gehuldigt wurde. 8 Im Hinblick auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Person Bismarck wurden zudem nur wenige Akteure der deutschen Geschichte mit so unterschiedlichen Forschungsergebnissen untersucht. Er ist im wissenschaftlichen Diskurs zugleich, so fasst es Golo Mann zusammen: „[…] der zynische Zerstörer der alten europäischen Ordnung, und auch ein tief verantwortlicher, christlicher, Europa-bewußter Staatsmann; ein Revolutionär und ein Konservativer; ein Erzjunker und ein Intellektueller, ein Künstler und Schriftsteller; ein überaus liebenswürdiger, lebensvergnügter Mensch, ein Meister geistfunkelnden Gespräches und auch ein harter, selbstsicherer, gieriger Despot, dem man gern aus dem Weg ging; ein listenreicher Mogler und ein Politiker, der das Vertrauen der weiten Welt durch die großartige Zuverlässigkeit und Stetigkeit seiner Haltung gewann; ein sehr gesunder und kräftiger Mann und auch ein kranker, nervenleidender und nahezu pathologischer.“ 9 Um ein solch ausgewogenes Bild zu erhalten, bedurfte es eines langen Weges in der historischen Bismarckforschung. Da die bereits zu Lebzeiten Bismarcks veröffentlichten „Gedanken und Erinnerungen“ zu einem Standardwerk für Staatsführung und Diplomatie avancierten, darüber hinaus aber auch bei der breiten Masse der Bevölkerung hoch im Kurs standen, prägte sich ein Bild des Reichskanzlers ein, das dieser selbst vermittelte. 10 Getragen von einem bis dato ungekannten Personenkult erhielt die Person Otto von Bismarck somit bereits im Deutschen Kaiserreich eine mythologische Aufladung, die für Kaiser Wilhelm II. eine unumgängliche Integrations- und Subordinationsfunktion übernahm so Machtan. 11 Unmittelbar nach der Revolution 1918/19 und in der Weimarer Republik waren die Auswirkungen dieser Unterordnungs- und Loyalitätsideologie insbesondere bei nationalistischen Historikern wie Karl Alexander von Müller und Erich Marcks zu beobachten. Ganz im Duktus konservativer Intellektueller und der „Ideen von 1914“, sprach 1924 bei Müller neben einer offen zur Schau gestellten Republikablehnung auch eine fast religiöse Verklärung Bismarcks sowie eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach einem politischen Erlöser aus jedem Wort: „Wir erliegen in der Ohnmacht der Mittelmäßigkeit und schreien wie der Hirsch nach Wasser in unserer Not nach einem, der uns führen soll. Daß sein [Bismarcks] Geist noch nicht gestorben ist, läßt uns die Hoffnung, daß er eines Tages in unserem Volk von neuem entstehe: daß die Stunde kommen werde, in der aus den dumpfen Gewölken unserer Verwirrung wieder der Blitz eines Genius zückt und die Berge unserer Schande aufzehrt.“12 Mit der einsetzenden nationalsozialistischen Propaganda während der Weimarer Republik und der endgültigen Machtergreifung 1933 wurden, neben einem biologistischen Rassismus, zwei Argumentationsmuster immer wieder propagiert. Neben einer Kontinuitätslinie zwischen Adolf Hitler und dem „Schmied des Kaiserreiches“ Otto von Bismarck,13 war hier eine in diesem Zusammenhang naheliegende aber im Grad der Ausschließlichkeit extremere Variante der auf Herrschaftssicherung abzielenden Sozialpolitik maßgeblich.14 Beides zielte auf eine Legitimierung des Systems sowie eine Integration der einzelnen Gesellschaftsschichten. Im Hinblick auf den Bismarckmythos stellte Lothar Machtan jedoch zutreffend fest, dass das Verhältnis der nationalsozialistischen Ideologen zu selbigem von einem zentralen Widerspruch gekennzeichnet war, da sie, was Loyalität und Gefolgschaft betraf, einerseits die ihm innenwohnenden „Erziehungspotentiale“ für die eigene Herrschaft nutzen, andererseits aber auch keine konkurrierende Größe neben dem Führermythos dulden wollten.15 Dass eine große Huldigung Bismarcks letztmalig schon zum 50. Geburtstag Adolf Hitlers am 20. April 1939 erfolgte, zeigte die bewusste und perfekt getimte Instrumentalisierung, denn zu diesem Zeitpunkt waren auch die richtungsweisenden Würfel für das Hitler-Regime bereits gefallen und die Herrschaft soweit etabliert, dass selbst die Kriegspläne nur noch im genauen Zeitpunkte vakant waren.16 Nach zwei groß produzierten Bismarckfilmen in den Jahren 1940 und 1942 hatte der Mythos für das Regime dann auch vollends ausgedient und wiederum Machtan stellte richtigerweise fest: „Was hätte er auch zum Programm des „totalen Krieges“ und des Völkermordes noch beitragen können? Nichts!“17 Anders steht es mit der Sozialpolitik. Sie ist im Rahmen der Kriegszielpolitik und im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg zu dem integrierenden und stabilisierenden Element schlechthin avanciert. In großen Teilen ihrer Struktur war sie dabei noch immer mit dem Grundgerüst der Sozialgesetzgebung des Deutschen Kaiserreiches und den Ergänzungen der Weimarer Republik deckungsgleich. 18 In beiden Teilen, d.h. sowohl im Bismarckmythos als auch in der Sozialpolitik ist daher auch eine entscheidende Kontinuitätslinie in die Nachkriegszeit bis weit in die Bundesrepublik Deutschland zu beobachten. In ersterem ist dabei allerdings auch eine zentrale Verschiebung zu beobachten, die dort einsetzte, wo der Kulturbruch des Hitler-Regimes soweit fortgeschritten war, dass sich auch die drohende Niederlage nicht mehr verleugnen ließ. Erst zu diesem Zeitpunkt brach ein kleiner Teil der konservativen Eliten, versinnbildlicht in dem Widerstandskreis um Graf Schenk von Stauffenberg und Helmut James von Moltke mit dem System und suchte die eigene Legitimität ebenfalls in der Berufung auf den ehemaligen Reichskanzler Otto von Bismarck zu begründen, indem sie ihn dem nun als Verbrecher an der deutschen Nation dargestellten „Führer“ entgegenstellten.19 Im Angesicht der drohenden Kriegsniederlage wurde sich dabei aber nicht mehr der nationalistischen Parolen militärischer Stärke und der politischen Hegemonie sowie der territorialen Expansion bedient, sondern das Leitbild der christlich-humanistischen Gesittung wieder aus der Versenkung gehoben20 und mit der als maßhaltend empfundenen Staatspolitik Bismarcks verknüpft. Es war das Verdienst der USA diese Kontinuität im mythologischen Glauben von Beginn an durchschaut und einem neuen deutschen Staat solange nicht die Existenz bzw. auch danach nicht die volle Souveränität gewährt zu haben, bis deutlich wurde, dass dessen Grundstrukturen soweit gefestigt waren, dass diese erneute mythologische Verklärungen der notwendigen Demokratisierung und geistigen Umerziehung nicht mehr gefährlich werden konnten. Wie groß diese Gefahr war zeigt der Opportunismus unter großen Teilen der deutschen Historikerschaft. Sie versuchte, wenn ihnen denn auf Grund zu großer Verstrickung in den Nationalsozialismus nicht gleich die Lehrerlaubnis entzogen wurde, ebenfalls wieder an den Bismarckmythos anzuknüpfen, nun allerdings in der geläuterten Variante der konservativen Eliten des „20. Juli 1944“. Dass das größte Problem, wie Hermann Graml richtig aufgezeigt hat, aber schon darin bestand „[…] den Deutschen klarzumachen, daß der 20. Juli 1944 als ein Lichtblick in der Geschichte der Nation zu verstehen sei […]“ war ebenso richtig, wie die Folgerung, dass dies ein „[…] politischer wie pädagogischer Prozeß (ist), in dessen Zentrum die mühselige Überwindung des nationalsozialistischen Erbes stand […]“.21 Ebenso verklärend von Graml ist es dann allerdings zwar zu erwähnen, dass vor allem Hans Rothfels in seiner Veröffentlichung zur Widerstandsbewegung den Deutschen eine Rehabilitation ermöglichen wollte, indem er auf die „Gerechten“ Deutschen unter der Herrschaft des Hitler-Regimes hinwies, Graml dazu aber nur ebenso kryptisch vermerkte, dass dies zwar auch das […] in Sünde gefallene Bürgertum und den Adel […]“ 22 einschloss, hier aber auch nicht konkret benennt, dass es sich dabei nicht um irgendein Bürgertum handelt, sondern genau um das Bürgertum, dem Rothfels selbst angehörte. Gerade in diesem Punkt wird durch Graml weiterhin die persönliche Ebene der Aufarbeitung als Endkonsequenz gescheut, die von einem Historiker und besonders von einem deutschen Historiker nach 1945 überschritten werden muss, wenn die Ursachen, Folgen und der Charakter von Politik vor der Zeit der Bundesrepublik aufgezeigt werden sollen. Genau mit diesem Ausweichen vor der bitteren Erkenntnis war gerade bei Rothfels lange Zeit eine entlastende Reinterpretation der nationalsozialistischen Vergangenheit verbunden,23