Mythos Sachsen - Dierk Hoffmann - E-Book

Mythos Sachsen E-Book

Dierk Hoffmann

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Beschreibung

Sachsen – der selbst ernannte Musterschüler.

Sachsen hat den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft in den 1990er-Jahren nicht schlechter, aber auch nicht besser bewältigt als die anderen ostdeutschen Bundesländer. Der wirtschaftliche Aufstieg Sachsens zum selbst ernannten Klassenprimus in Ostdeutschland ging vor allem auf Kurt Biedenkopfs Imagepolitik zurück und wirkt lange nach. Das Bild einer Staatsregierung, die vermeintlich alles im Griff hatte, passte nicht zu dem politischen Kräftefeld, in dem sich der Freistaat gegenüber der Bundesregierung und der Treuhandanstalt bewegte. Dierk Hoffmann untersucht die Kommunikations- und Privatisierungsstrategien der Landesregierung in Dresden sowie den Aushandlungsprozess bei der Privatisierung sächsischer Betriebe. Und er zeigt, wie Biedenkopf seine neoliberalen Leitbilder dem Transformationsprozess anzupassen versuchte.

Die Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt erscheinen in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte München–Berlin.

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Über das Buch

Sachsen – der selbst ernannte Musterschüler

Sachsen hat den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft in den 1990er-Jahren nicht schlechter, aber auch nicht besser bewältigt als die anderen ostdeutschen Bundesländer. Der wirtschaftliche Aufstieg Sachsens zum selbst ernannten Klassenprimus in Ostdeutschland ging vor allem auf Kurt Biedenkopfs Imagepolitik zurück und wirkt lange nach. Das Bild einer Staatsregierung, die vermeintlich alles im Griff hatte, passte nicht zu dem politischen Kräftefeld, in dem sich der Freistaat gegenüber der Bundesregierung und der Treuhandanstalt bewegte. Dierk Hoffmann untersucht die Kommunikations- und Privatisierungsstrategien der Landesregierung in Dresden sowie den Aushandlungsprozess bei der Privatisierung sächsischer Betriebe. Und er zeigt, wie Biedenkopf seine neoliberalen Leitbilder dem Transformationsprozess anzupassen versuchte.

Die Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt erscheinenin Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte München–Berlin

Über Dierk Hoffmann

Dierk Hoffmann ist stellvertretender Leiter der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin (IfZ) und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam. Von 2011 bis 2016 war er Mitglied der Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie und seiner Vorgängerinstitutionen. Seit 2017 ist Hoffmann Leiter des Projekts zur Geschichte der Treuhandanstalt am IfZ. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Geschichte der Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte sowie die Transformationsforschung.

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Dierk Hoffmann

Mythos Sachsen

Privatisierung, Kommunikation und Staat in den 1990er-Jahren

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Vorwort der Herausgeber

Einleitung

Thema

Vorgehensweise und Fragestellungen

Forschungsstand

Quellen

Aufbau der Arbeit

I. Vor der Privatisierung

1. Ordnungspolitische Suchbewegung

2. Versorgungsengpässe und Soforthilfe aus Baden-Württemberg

3. Von der Soforthilfe zu den »Aufbauhelfern«

4. Verwaltungsaufbau in Sachsen

Ministerium für Wirtschaft und Arbeit

Treuhandniederlassungen in Leipzig, Dresden und Chemnitz

Vermögensämter

II. Wirtschaft und Arbeit in Sachsen

1. Transformation vor der Privatisierung

2. Strukturwandel und Deindustrialisierung

3. Strukturschwache Regionen

4. Arbeitslosigkeit

5. Soziale Proteste

III. Privatisierung als Imagepolitik

1. Kurt Biedenkopf – der Landesvater

2. Kajo Schommer – der Macher

IV. Privatisierung als Zweckbündnis

1. Ungleiche Partner: Die sächsische Landesregierung und die Treuhandanstalt

2. Erste Reaktionen auf Betriebsschließungen: Entwicklung eines Frühwarnsystems

3. Das Breuel-Schommer-Abkommen

4. Die Zukunft der Treuhandbetriebe

V. Privatisierung als Aushandlungsprozess

1. Rahmenbedingungen der Privatisierung

2. Holpriger Start

3. Prestigeobjekt im Staatsbesitz: Die Porzellanmanufaktur Meissen

4. Markennamen als Erfolgsgeschichten

5. Ein Meisterstück Biedenkopfs? Die Chipfabrik in Dresden

6. Das Tal der Tränen: Textil- und Bekleidungsindustrie

7. Biedenkopfs Kehrtwende: Das Edelstahlwerk Freital

8. Ohne Zukunft: Die Forschungs-GmbHs

VI. Privatisierungsstrategien der sächsischen Landesregierung

1. Der Sachsenfonds

2. Das ATLAS-Projekt

3. Das HERKULES-Projekt

4. Das ZEUS-Projekt

5. Das Perlenketten-Projekt

6. Das Pegasus-Projekt

7. Metamorphosen der Privatisierung

VII. Privatisierung als Sozialpolitik

1. Sächsischer Alleingang: Das Aufbauwerk Sachsen

2. Beschäftigungsgesellschaften als Hoffnungsträger

3. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM)

4. Weitere Maßnahmen für Umweltsanierung, soziale Dienste und Jugendhilfe

Schlussbetrachtung

Anhang

Abkürzungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Ungedruckte Quellen

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch Berlin)

Bundesarchiv Koblenz (BArch Koblenz)

Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHStA Dresden)

Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStA Stuttgart)

Landeshauptarchiv Schwerin (LHA Schwerin)

Archiv Grünes Gedächtnis (AGG)

Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr (SMWAV)

Privatarchiv Dr. Rainer Lubk

Zeitungen und Zeitschriften

Literaturverzeichnis

Personenregister

Dank

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Vorwort der Herausgeber

Noch in der Spätphase der DDR gegründet, entwickelte sich die Treuhandanstalt zur zentralen Behörde der ökonomischen Transformation in Ostdeutschland. Ihre ursprüngliche Aufgabe war die rasche Privatisierung der ostdeutschen volkseigenen Betriebe (VEB). Sehr bald aber wies ihr die Politik zahlreiche weitere Aufgaben zu. Sukzessive sah sich die Treuhandanstalt mit der Lösung der Altschuldenproblematik, der Sanierung der ökologischen Altlasten, der Mitwirkung an der Arbeitsmarktpolitik und schließlich ganz allgemein mit der Durchführung eines Strukturwandels konfrontiert. In ihrer Tätigkeit allein ein behördliches Versagen zu erkennen wäre daher ahistorisch und einseitig, auch wenn die Bilanz der Treuhandanstalt niederschmetternd zu sein scheint. Denn von den etwa vier Millionen Industriearbeitsplätzen blieb nur ein Drittel übrig. Das öffentliche Urteil ist daher ganz überwiegend negativ. Die Kritik setzte schon ein, als die Behörde mit der Privatisierung der ersten VEBs der DDR begann. Bis heute verbinden sich mit der Treuhandanstalt enttäuschte Hoffnungen, überzogene Erwartungen, aber auch Selbsttäuschungen und Mythen. Außerdem ist sie eine Projektionsfläche für politische Interessen und Konflikte, wie die Landtagswahlkämpfe 2019 in Ostdeutschland deutlich gemacht haben. Umso dringender ist es erforderlich, die Tätigkeit der Treuhandanstalt und mit ihr die gesamte (ost-)deutsche Transformationsgeschichte der frühen 1990er-Jahre wissenschaftlich zu betrachten. Dies ist das Ziel der Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt, deren Bände die Umbrüche der 1990er-Jahre erstmals auf breiter archivalischer Quellengrundlage beleuchten und analysieren.

Die Privatisierung der ostdeutschen Betriebe brachte für viele Menschen nicht nur Erwerbslosigkeit, sondern auch den Verlust einer sicher geglaubten, betriebszentrierten Arbeits- und Lebenswelt. Insofern ist die Erfahrungsperspektive der Betroffenen weiterhin ernst zu nehmen und in die wissenschaftliche Untersuchung ebenso zu integrieren wie in die gesellschaftspolitischen Konzepte. Der mit der Transformation einhergehende Strukturwandel hatte Folgen für Mentalitäten und politische Einstellungen, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Dabei wurden die individuellen und gemeinschaftlichen Erfahrungen und Erinnerungen stets von medial geführten Debatten über die Transformationszeit sowie von politischen Interpretationsversuchen geprägt und überlagert. Diese teilweise miteinander verwobenen Ebenen gilt es bei der wissenschaftlichen Analyse zu berücksichtigen und analytisch zu trennen. Der erfahrungsgeschichtliche Zugang allein kann die Entstehung und Arbeitsweise der Treuhandanstalt sowie die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft nicht hinreichend erklären. Vielmehr kommt es darauf an, die unterschiedlichen Perspektiven miteinander in Relation zu setzen und analytisch zu verknüpfen, um so ein differenziertes und vielschichtiges Bild der Umbrüche der 1990er-Jahre zu erhalten.

Diese große Aufgabe stellt sich der Zeitgeschichte erst seit Kurzem, denn mit dem Ablauf der 30-Jahre-Sperrfrist, die für staatliches Archivgut in Deutschland grundsätzlich gilt, ergibt sich für die Forschung eine ganz neue Arbeitsgrundlage. Das öffentliche Interesse konzentriert sich auf die sogenannten Treuhandakten, die im Bundesarchiv Berlin allgemein zugänglich sind (Bestand B 412). Sie werden mittlerweile auch von Publizistinnen und Publizisten sowie Journalistinnen und Journalisten intensiv genutzt. An dieser Stelle sei aber daran erinnert, dass schon sehr viel früher Akten anderer Provenienz allgemein und öffentlich zugänglich waren – die schriftliche Überlieferung der ostdeutschen Landesregierungen oder der Gewerkschaften, um nur einige Akteure zu nennen. Darüber hinaus können seit einiger Zeit auch die Akten der Bundesregierung und der westdeutschen Landesverwaltungen eingesehen werden. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Bei aller Euphorie über die quantitativ wie qualitativ immer breiter werdende Quellengrundlage (allein zwölf laufende Aktenkilometer Treuhandüberlieferung im Bundesarchiv Berlin) sollte allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass Historikerinnen und Historiker die Archivalien einer Quellenkritik unterziehen müssen. Dies gehört grundsätzlich zu ihrem Arbeitsauftrag. Da die Erwartungen der Öffentlichkeit an die Aussagekraft vor allem der Treuhandakten hoch sind, sei dieser Einwand an dieser Stelle ausdrücklich gemacht. So gilt es, einzelne Privatisierungsentscheidungen der Treuhandspitze zu kontextualisieren und mit anderen Überlieferungen abzugleichen. Zur Illustration der Problematik mag ein Beispiel dienen: Treuhandakten der sogenannten Vertrauensbevollmächtigten und der Stabsstelle Recht enthalten Vorwürfe über »SED-Seilschaften« und »Korruption«, die sich auch in der Retrospektive nicht mehr vollständig klären lassen. Die in Teilen der Öffentlichkeit verbreitete Annahme, die Wahrheit komme nun endlich ans Licht, führt daher in die Irre und würde ansonsten nur weitere Enttäuschungen produzieren. Es gibt eben nicht die historische Wahrheit. Stattdessen ist es notwendig, Strukturzusammenhänge zu analysieren, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, Widersprüche zu benennen und auch auszuhalten. Dazu kann die Zeitgeschichtsforschung einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie mit quellengesättigten und methodisch innovativen Studien den historischen Ort der Treuhandanstalt in der Geschichte des vereinigten Deutschlands bestimmt, gängige Geschichtsbilder hinterfragt und Legenden dekonstruiert.

Im Rahmen seines Forschungsschwerpunktes »Transformationen in der neuesten Zeitgeschichte« zu den rasanten Wandlungsprozessen und soziokulturellen Brüchen der Industriegesellschaften seit den 1970er-Jahren hat das Institut für Zeitgeschichte München–Berlin (IfZ) im Frühjahr 2013 damit begonnen, ein großes, mehrteiliges Projekt zur Geschichte der Treuhandanstalt inhaltlich zu konzipieren und vorzubereiten. Auf der Grundlage der neu zugänglichen Quellen, die erstmals systematisch ausgewertet werden konnten, ging das Projektteam insbesondere folgenden Leitfragen nach: Welche politischen Ziele sollten mit der Treuhandanstalt erreicht werden? Welche Konzepte wurden in einzelnen Branchen und Regionen verfolgt, und was waren die Ergebnisse? Welche gesellschaftlichen Auswirkungen haben sich ergeben? Wie ist die Treuhandanstalt in internationaler Hinsicht zu sehen?

Bei der Projektvorbereitung und -durchführung waren Prof. Dr. Richard Schröder und Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué unterstützend tätig, denen unser ausdrücklicher Dank gilt. Über Eigenmittel hinaus ist das IfZ-Projekt, das ein international besetzter wissenschaftlicher Beirat kritisch begleitet hat, vom Bundesministerium der Finanzen von 2017 bis 2021 großzügig gefördert worden. Auch dafür möchten wir unseren Dank aussprechen. In enger Verbindung hierzu standen zwei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Einzelprojekte von Andreas Malycha und Florian Peters.

Dierk Hoffmann, Hermann Wentker, Andreas Wirsching

Einleitung

Thema

Auf Wunsch der sächsischen Staatskanzlei erstellte die Treuhandanstalt (THA) Anfang November 1994 eine vorläufige Bilanz über die Privatisierungserfolge in den ostdeutschen Bundesländern.[1]  Bewertungsgrundlage bildeten die Beschäftigungs- und Investitionszusagen, die in den Verkaufsverträgen verbindlich festgeschrieben und grundsätzlich mit Sanktionen (Pönalien) verbunden waren. Das zuständige Länderreferat der THA kam zu dem Ergebnis, dass die Beschäftigungs- und Investitionszusagen in Berlin und Brandenburg »über deren Anteil an der Gesamtbevölkerung liegen«. Im Ländervergleich rangiere Sachsen im Mittelfeld, denn hier entspreche der Prozentsatz nur dem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Die Ursachen für die unterschiedlichen Ergebnisse lägen »in der übernommenen Wirtschaftsstruktur«. Die Analyse zeichnete ein differenziertes Bild, das nicht nur einzelne Branchen und Regionen, sondern auch die ökonomische Ausgangslage in Ostdeutschland berücksichtigte. Mitte 1991 hatte die Treuhandanstalt noch eine davon abweichende Zukunftsprognose gewagt: Im Vergleich zu den anderen ostdeutschen Bundesländern seien in Sachsen »die günstigsten sektoralen, infrastrukturellen und mentalen Voraussetzungen für den erhofften Aufschwung« gegeben.[2]  Zu diesem Zeitpunkt – einige Monate nach der Gründung der ostdeutschen Bundesländer im Herbst 1990 – war dem Freistaat von der Treuhandanstalt, aber auch in weiten Teilen der Öffentlichkeit die Rolle eines Musterschülers attestiert worden. Hatte Sachsen diese Führungsrolle innerhalb weniger Jahre wieder verloren? Wie erklären sich diese widersprüchlichen Angaben?

An der positiven Beurteilung, die der Monatsbericht der Treuhandanstalt Mitte 1991 zu Sachsen enthielt, hatten Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) und sein Wirtschaftsminister Kajo Schommer (CDU) einen erheblichen Anteil. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung am 8. November 1990 vor dem Landtag in Dresden verbreitete Biedenkopf Optimismus: Sachsen sei schließlich ein »starkes […] und ein reiches Land«.[3]  In wenigen Jahren werde es möglich sein, »den Anschluss an die Entwicklung des Westens unseres Vaterlandes zu sichern«. Wenige Tage später sekundierte ihm Schommer mit markigen Worten in der Presse: Sachsen werde unter den fünf ostdeutschen Bundesländern »das erste und das Beste sein« und von Anfang an die niedrigste Arbeitslosenquote haben.[4]  Der Freistaat werde bereits in Kürze prosperieren.[5]  Der Wirtschaftsminister ließ keinen Zweifel am bevorstehenden Erfolg des Wirtschaftsaufbaus in Sachsen aufkommen. Dabei entwickelte er mit der Wortschöpfung »Sachstum«[6]  einen Begriff, der die wirtschaftliche Ausnahmestellung des Freistaats auf den Punkt bringen sollte. Dahinter stand die Vorstellung, »die Sicherung und Steigerung von Wohlstand unter Beachtung sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit« als Markenzeichen sächsischer Wirtschaftspolitik zu verkaufen. Die sächsische Staatsregierung verfolgte von Anfang an das Ziel, Sachsen als ökonomisches Musterland in Ostdeutschland zu vermarkten. So entstand in den Medien rasch das Bild, die Sachsen seien »die neuen Schwaben«.[7]  Die Ausnahmestellung Sachsens und seines Ministerpräsidenten wurde auch in der ausländischen Presse gefeiert.[8] 

Mit ihren Äußerungen weckten Biedenkopf und Schommer Erwartungen in der Öffentlichkeit, die schon bald enttäuscht wurden. Denn mit der wirtschaftlichen Talfahrt in Ostdeutschland, die ab Anfang 1991 mit Betriebsschließungen und Massenentlassungen einherging und die auch Sachsen erfasste, rückte das Versprechen in weite Ferne, den wirtschaftlichen Anschluss an Westdeutschland innerhalb kurzer Zeit zu finden. Mit ihrer Kommunikationsstrategie hatten sich beide Politiker in eine Sackgasse manövriert, aus der es ohne Gesichtsverlust kein Entrinnen gab. Während die CDU im ersten Landtagswahlkampf 1990 mit einem markanten Motto (»für ein blühendes Sachsen«) geworben hatte, das an ein geflügeltes Wort von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) erinnerte, vertraute Biedenkopf 1994 seinem Tagebuch an, »die Kohl’sche Formel nicht statisch […], sondern dynamisch zu wenden«.[9]  Und auf Sachsen bezogen: »Sachsen beginnt zu blühen. Schützt es vor dem roten Frost!«

Nach seinem Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten 2002 zog sich Kurt Biedenkopf zwar aus der Politik zurück. Er schaltete sich aber immer wieder in öffentliche Debatten ein. Dabei ging es ihm auch darum, das Geschichtsbild seiner zwölfjährigen Amtszeit mit zu prägen. Vor der malerischen Kulisse am Chiemsee in Bayern äußerte er sich wenige Tage nach der Bundestagswahl 2017 zum Erfolg der Alternative für Deutschland (AfD), als die rechtspopulistische Partei in Sachsen nicht nur das bundesweit beste Zweitstimmenergebnis erzielt, sondern mit 27 Prozent auch noch etwas mehr Stimmen als die CDU erhalten hatte. Mit dem Interview versuchte Biedenkopf Einfluss auf die öffentliche Diskussion über seine Rolle als Ministerpräsident und die politische Verantwortung der bis 2004 in Sachsen allein regierenden CDU zu nehmen, die sich nach dem Wahldebakel der CDU entzündet hatte. Auf die Frage, ob er sein politisches Lebenswerk bedroht sehe, antwortete Biedenkopf: »Ich sorge mich […] um einen Teil davon: um den, als wir in Sachsen regiert haben.«[10]  Er führte weiter aus: »Eine ganze Reihe der Dinge, die meine Frau und ich dort erarbeitet, aber vor allem die Sachsen sich erarbeitet haben […], stehen auf dem Spiel.« Seine Frau, Ingrid Biedenkopf, die sich immer wieder in das Interview einschaltete, behauptete: »Kurt Hans, das wäre dir nicht passiert!« Unter einem Ministerpräsidenten Biedenkopf – so die deutlich vernehmbare Botschaft – wäre ein solcher politischer Dammbruch nicht vorstellbar gewesen, für den das Ehepaar insbesondere die beiden Nachfolger, Georg Milbradt (CDU) und Stanislaw Tillich (CDU), verantwortlich machte. Dagegen wies der Ministerpräsident a. D. den Vorwurf zurück, er habe während seiner Regierungszeit Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus im Freistaat unterschätzt. Schon damals habe er gesagt, »dass die Sachsen immun sind gegenüber Rechtsradikalismus«. Die Tatsache, dass das Wahlergebnis für die AfD von fünf auf über 20 Prozent gestiegen sei, habe nichts mit Neonazis zu tun, sondern mit Unzufriedenheit und »[f]ehlender Führung im Land«. Und seine Frau sekundierte: »Rechtsextremismus gab es fast gar keinen!«

Vorgehensweise und Fragestellungen

Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie stehen die eng miteinander verknüpften Privatisierungs- und Kommunikationsstrategien in den 1990er-Jahren, die am Beispiel einer ostdeutschen Landesregierung untersucht werden sollen. Mit der Einführung der Marktwirtschaft in Ostdeutschland und der Privatisierung der volkseigenen Betriebe setzte ein umfassender ökonomischer Strukturwandel ein, der ein massives Ansteigen der Erwerbslosenzahlen nach sich zog. Die Euphorie, die 1990 die deutsche Vereinigung und der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft in Italien ausgelöst hatten, war rasch verflogen. Das Versprechen von den »blühenden Landschaften«, das nicht nur Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) der ostdeutschen Bevölkerung gegeben hatte, und der langlebige Mythos von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der DDR (»zehntgrößte Industrienation«) erwiesen sich spätestens zum Jahreswechsel 1990/91 als Luftschlösser. Auf die wirtschaftliche Talfahrt und die einsetzende kollektive Ernüchterung mussten die politischen Akteure in Bonn und in den ostdeutschen Landeshauptstädten reagieren – auch mit einer neuen Kommunikationsstrategie.

Sachsen bietet sich wie kein anderes ostdeutsches Bundesland dazu an, die Privatisierungs- und Kommunikationsstrategie einer Landesregierung in den Blick zu nehmen. Denn Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) und seinem Wirtschaftsminister Kajo Schommer (CDU) ging es bei der Transformation der sächsischen Wirtschaft frühzeitig darum, Deutungshoheit in der medialen Auseinandersetzung über die Folgen der deutschen Einheit zu erzielen. Die sächsische Staatsregierung reagierte auf die sozioökonomische Transformation unter anderem mit einer Imagepolitik,[11]  die drei Ziele verfolgte: Erstens ging es Biedenkopf und Schommer darum, in der Bevölkerung Vertrauen zu gewinnen.[12]  Deshalb grenzten sie sich von der Treuhandanstalt öffentlich ab und verlangten, an der Privatisierung sächsischer Betriebe beteiligt zu werden. Zweitens sollte die Stellung Sachsens gegenüber dem Bund gestärkt werden, um eine gute Ausgangsposition für die bevorstehende Auseinandersetzung über die Lastenverteilung der deutschen Einheit zu erzielen. Drittens verbanden beide Politiker damit einen eigenständigen Privatisierungskurs, denn sie versuchten, finanzstarke in- und ausländische Investoren für die Sanierung sächsischer Treuhandbetriebe zu gewinnen.

Mit dieser Vorgehensweise will die vorliegende Arbeit auch einen Beitrag zur Debatte über den sogenannten Neoliberalismus leisten, dessen Historisierung noch weitgehend in den Anfängen steckt.[13]  Nach Ansicht mancher Forscher hat diese »wirtschaftspolitische Ideologie« in den 1980er-Jahren mit der Forderung nach Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung einen globalen Siegeszug angetreten, der erst mit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 beendet worden sei.[14]  Die Krise des Keynesianismus in den 1970er-Jahren hat in den westlichen Industrienationen in der Tat dazu geführt, dass die Rolle des Staates in der Ökonomie neu überdacht wurde. Dabei wählten die einzelnen Staaten Westeuropas bzw. Nordamerikas durchaus unterschiedliche Wege und grenzten sich teilweise voneinander ab. So setzte sich etwa Helmut Kohl im CDU-Bundesvorstand vom eingeschlagenen Wirtschaftskurs des US-Präsidenten Ronald Reagan (»Reaganomics«) und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher (»Thatcherism«) dezidiert ab.[15]  Darüber hinaus erscheint Neoliberalismus als ein sehr schillernder Begriff, der auch als politischer Kampfbegriff in den öffentlichen Diskursen genutzt wurde.

Da sich der Neoliberalismus aus den genannten Gründen als Analyseinstrument kaum eignet, wird für die vorliegende Studie der Begriff der wirtschaftspolitischen Leitbilder gewählt. Dabei handelt es sich nicht um ein in sich geschlossenes Modell, sondern vielmehr um ein Set von wirtschaftspolitischen Einstellungen bzw. Überzeugungen, die grundsätzlich eine hohe Anpassungselastizität aufweisen. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass die Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft in Ostdeutschland ein Laboratorium darstellte, in dem unterschiedliche wirtschaftspolitische Leitbilder aufeinanderstießen und neu verhandelt wurden. Dabei gerieten ordnungs- und marktwirtschaftliche Gewissheiten, die die Bonner Republik bis 1990 maßgeblich geprägt haben, auf den Prüfstand. So trafen sich im Frühjahr 1991 Vertreter des CDU-Wirtschaftsflügels unter der Leitung von Matthias Wissmann, um über die wirtschaftliche Situation in den sogenannten neuen Bundesländern zu diskutieren. Der eingeladene parlamentarische Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Erich Riedl (CSU), kritisierte die Arbeit der Treuhandanstalt und forderte, die Marktwirtschaft müsse wieder »Oberhand« gewinnen.[16]  Der Staat habe schon zu viel interveniert und laufe »Gefahr […] mit [seiner] Industriepolitik zu scheitern«. Dagegen zeichnete der ebenfalls anwesende Deutschlandchef von McKinsey & Co., Herbert Henzler, ein ganz anderes Szenario: Da die »Selbstheilungskräfte des Markts« in Ostdeutschland versagt hätten, sei »in dieser Extremsituation […] eine staatliche Investitionspolitik« erforderlich.[17]  Henzler, der zweifellos auch die Chance auf einen neuen riesigen Markt für die Unternehmensberatung erkannt hatte, forderte ein umfassendes »Beschäftigungskonzept« für die ostdeutsche Wirtschaft. Ein namentlich nicht genannter Teilnehmer zeigte sich sichtlich ratlos und wollte »BMF [Bundesfinanzministerium], BMWi [Bundeswirtschaftsministerium] und […] McKinsey-Berater in einem Raum eingeschlossen sehen, bis ein wirkliches Konzept für die Probleme vorliegt«.[18]  Das Beispiel illustriert, dass das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft, das in der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert stets spannungsreich und von Brüchen gekennzeichnet war, Anfang der 1990er-Jahre neu austariert wurde. Dieser Prozess soll am Beispiel der sächsischen Landesregierung unter Kurt Biedenkopf eingehender untersucht werden.

Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden der Frage nachgegangen, welche Privatisierungsstrategien die Staatsregierung in Dresden hatte. Wie veränderten sich diese unter dem Eindruck der Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise? Welche Kommunikationsstrategien entwickelten Biedenkopf und Schommer? Wie positionierten sich beide Politiker in der Öffentlichkeit gegenüber der Treuhandanstalt und der Bundesregierung? Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Sachsen und der Treuhandanstalt, die für die Privatisierung der ehemaligen volkseigenen Betriebe (VEB) verantwortlich war? Welche Rückschlüsse lassen sich aus den Privatisierungsstrategien für die wirtschaftspolitischen Leitbilder insbesondere bei Ministerpräsident Biedenkopf ziehen?

Forschungsstand

Mit dem Ablauf der 30-Jahres-Sperrfrist und der damit verbundenen Öffnung staatlicher Archive hat die historische Transformationsforschung in jüngster Zeit erst richtig begonnen. In diesem Kontext sind zahlreiche Forschungsprojekte neu gestartet; mittlerweile liegen auch schon erste Ergebnisse vor. Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses standen lange Zeit die Akten der Treuhandanstalt, die inzwischen im Bundesarchiv öffentlich und allgemein zugänglich sind.[19]  Insofern ist es nicht überraschend, dass zahlreiche Untersuchungen zunächst die Privatisierungsbehörde in den Blick genommen haben. Während die Bochumer Dissertationsschrift von Marcus Böick – bis auf Unterlagen aus Privatarchiven einzelner Treuhandmanager – nur auf veröffentlichtem Material basiert und aufgrund der großen Themenvielfalt nur einen allgemeinen Überblick bieten kann,[20]  sind bereits einige Monografien erschienen, die auf einer sowohl quantitativ als auch qualitativ ganz neuen empirischen Quellengrundlage beruhen.[21]  An der Treuhandforschung beteiligen sich auch Journalisten mit aktenbasierten Publikationen.[22]  Aus dem großen, mehrteiligen Treuhandprojekt des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin (IfZ) wurden im Frühjahr 2022 die ersten beiden quellengesättigten Einzelstudien vorgelegt.[23]  Neben der Treuhandanstalt sind andere politische Akteure Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Dazu zählen insbesondere die Gewerkschaften, deren Rolle im Transformationsprozess kritisch unter die Lupe genommen wird.[24]  Darüber hinaus sind Regional- und Branchenstudien erschienen; damit geraten die ostdeutschen Bundesländer und einzelne Unternehmen in den Fokus der Zeithistoriker.[25]  Während demnächst auch Studien zur Privatisierung in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen vorliegen werden, stellt der Freistaat Sachsen einen noch weitgehend weißen Fleck innerhalb der Transformationsforschung dar, was in erster Linie damit zusammenhängt, dass die Aktenüberlieferung der sächsischen Landesregierung in den zuständigen Staatsarchiven der Wissenschaft noch nicht zur Verfügung steht. Schließlich sei auf Untersuchungen zum Wandel der betrieblichen Arbeitswelt[26]  und zur ostdeutschen Erinnerungskultur hingewiesen, die ebenfalls neue Ergebnisse zutage gefördert haben.[27]  Dieser äußerst knappe Überblick hat deutlich gemacht, dass sich die historische Transformationsforschung in kurzer Zeit sehr stark ausdifferenziert hat. Dabei werden nicht nur verschiedene Forschungsperspektiven verfolgt und unterschiedliche methodische Zugriffe gewählt,[28]  sondern auch diverse Quellengattungen genutzt. Auf diese Weise wird im Übrigen der lange vorherrschende Tunnelblick auf die Treuhandanstalt relativiert. In jüngster Zeit beschäftigen sich Historikerinnen und Historiker auch mit den Folgen bzw. Rückwirkungen der Umbrüche in Ostdeutschland und Osteuropa auf Westdeutschland bzw. Westeuropa, die unter dem Begriff der Kotransformation gefasst werden.[29] 

»Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen.«[30]  Dieser Satz gilt auch für die historische Transformationsforschung, die sich mit den politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und mentalen Umbrüchen beschäftigt, die durch das Ende der kommunistischen Herrschaft in Europa 1989/90 ausgelöst wurden. Denn der Begriff der Transformation verweist auf die umfangreiche sozialwissenschaftliche Forschung zu diesem Thema, die schon in den 1990er-Jahren durchgeführt worden ist und die diesen Terminus technicus maßgeblich entwickelt und geprägt hat.[31]  Außerdem ist die Studie des Konstanzer Verwaltungswissenschaftlers Wolfgang Seibel zur Privatisierung der DDR-Wirtschaft hervorzuheben, die aufgrund ihrer analytischen Schärfe immer noch sehr lesenswert ist.[32] 

Während empirisch fundierte Studien zur Privatisierung der volkseigenen Betriebe in Sachsen und den wirtschaftspolitischen Strategien der Landesregierung unter Ministerpräsident Biedenkopf nicht vorhanden sind, gibt es zahlreiche Untersuchungen zur politischen Geschichte des Freistaats in den 1990er-Jahren, die das in den Archiven verfügbare Aktenmaterial genutzt haben. Das betrifft insbesondere die sich neu formierende Institutionenordnung im Freistaat: Als Erstes wären hier die minutiösen und sehr detaillierten Darstellungen von Michael Richter zu nennen, der sich eingehend mit der friedlichen Revolution 1989/90 in Sachsen[33]  und mit der Neugründung des Landes[34]  nach dem Ende der SED-Herrschaft beschäftigt hat. Die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991 sind Gegenstand der Untersuchung von Christoph Wowtscherk.[35]  Rainer Karlsch und Michael Schäfer haben eine konzise Überblicksdarstellung zur Wirtschaftsgeschichte Sachsen seit der Industrialisierung vorgelegt, die einen knappen Ausblick auf die Entwicklung nach 1990 enthält.[36]  Von beiden Autoren stammt zudem eine Untersuchung über industrielle Familienunternehmen in Ostdeutschland, die auch die Transformationszeit in den Blick nimmt und die von der Stiftung Familienunternehmen in Auftrag gegeben wurde.[37] 

Für die vorliegende Studie sind außerdem noch veröffentlichte Egodokumente von beteiligten Akteuren einschlägig. Dazu zählen vor allem die 2015 veröffentlichten Tagebücher Biedenkopfs, mit denen der sächsische Ministerpräsident den Transformationsprozess aus seiner Sicht ausführlich schildert.[38]  Hinzu kommen Erinnerungen von ehemaligen Betriebsdirektoren, wie z.B. dem Geschäftsführer und Arbeitsdirektor der Sächsischen Edelstahlwerke GmbH.[39] 

Quellen

Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die staatlichen Archive in Sachsen bislang kaum Aktenmaterial für die Zeit ab 1990 anzubieten haben, was auf die restriktive Abgabepraxis der sächsischen Staatsregierung zurückzuführen ist. Damit bildet Sachsen das Schlusslicht im Vergleich zu den übrigen ostdeutschen Bundesländern, deren Landesregierungen umfangreiche Aktenbestände schon vor Ablauf der 30-Jahres-Sperrfrist an die jeweiligen Landesarchive abgegeben haben. Eine wichtige Ausnahme bilden aber erstens die Kabinettsprotokolle der sächsischen Staatsregierung, die für die ersten beiden Legislaturperioden (1990–1999) vollständig dem Hauptstaatsarchiv in Dresden übergeben wurden. Diese serielle Archivquelle ist sehr sorgfältig angelegt worden und enthält beispielsweise die Stellungnahmen einzelner Ministerien zu Kabinettsvorlagen.[40]  Auf diese Weise lassen sich Entscheidungsprozesse teilweise rekonstruieren, obwohl die Aktenüberlieferung der Landesministerien noch nicht einsehbar ist. Eine zweite Ausnahme bilden einzelne Akten, die das Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit (SMWA) vor Kurzem freigegeben hat.[41]  Dabei geht es um Unterlagen, die das Ministerium im Zusammenhang mit einem wirtschaftspolitischen Programm (ATLAS-Projekt) Anfang der 1990er-Jahre angelegt hat und die als archivwürdig eingestuft wurden. Außerdem konnte der Autor im SMWA statistische Erhebungen und Berichte des Landesarbeitsamtes Sachsen einsehen, die im Quellenverzeichnis einzeln aufgelistet sind.

Für die vorliegende Studie bilden die Akten der Treuhandanstalt, die sich im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde befinden (B 412), die wichtigste Quellengrundlage. Zu den Teilbeständen, die systematisch ausgewertet wurden, gehören die Protokolle von Vorstand, Verwaltungsrat und Leitungsausschuss, die sogenannten Monatsberichte, die Handbücher sowie das Medienarchiv der THA für den Zeitraum von 1990 bis 1994. Einen zentralen Quellenfundus stellt das Länderreferat Sachsen dar, dessen Aktenüberlieferung die relativ enge Kooperation zwischen der Privatisierungsbehörde in Berlin und der Landesregierung in Dresden dokumentiert. Hier konnten Protokolle gemeinsamer Sitzungen (z.B. des Treuhandkabinetts), Schriftwechsel, aber auch Vorlagen und Denkschriften des SMWA ausfindig gemacht werden. Insofern stellen die Akten dieses Länderreferats eine Gegenüberlieferung zum noch nicht zugänglich gemachten Schriftgut des SMWA dar. Die Studie basiert darüber hinaus auf Unterlagen des Bundesministeriums für Wirtschaft, des Bundesministeriums der Finanzen sowie des Bundeskanzleramts, die aufgrund der abweichenden Abgabepraxis im Bundesarchiv Koblenz bzw. Berlin einsehbar sind. Da auch für diese Akten die 30-Jahres-Sperrfrist teilweise noch nicht abgelaufen war, musste zunächst eine Verkürzung der Sperrfristen beantragt werden, die letztlich auch von den oben genannten Ministerien genehmigt wurde. Abschließend ist auf das Tagebuch von Klaus Schucht hinzuweisen, der im Vorstand der THA für die Privatisierung in den Bereichen Chemie und Bergbau zuständig war. Schucht gewährt in dem einzigartigen Egodokument, das sich im Bundesarchiv Koblenz befindet, einen allgemeinen Einblick in die Entscheidungs- und Kommunikationsprozesse der Treuhandspitze.

Der Verwaltungsaufbau in den ostdeutschen Bundesländern ab 1990 erfolgte mit westdeutscher Hilfe und umfasste sowohl personelle als auch finanzielle Unterstützung. Das betraf zunächst die kommunale Ebene, bei der auf bestehende deutsch-deutsche Städtepartnerschaften zurückgegriffen werden konnte, die sich in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre gebildet hatten. Aufgrund der ökonomischen Probleme, die sich in der DDR nach der Maueröffnung in Berlin am 9. November 1989 dramatisch zuspitzten, kamen mit den westdeutschen Bundesländern andere politische Akteure ins Spiel. Für Sachsen kristallisierte sich frühzeitig Baden-Württemberg als Partnerland heraus. Dazu wurden im Hauptstaatsarchiv Stuttgart die Aktenbestände des Staatsministeriums, des Wirtschaftsministeriums und des Sozialministeriums ausgewertet.

Die Treuhandanstalt war als umstrittene Behörde bereits Gegenstand zeitgenössischer Debatten. Für die vorliegende Studie wurden daher im Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages die umfangreiche Presseausschnittsammlung und der kürzlich geöffnete Bestand des Treuhand-Untersuchungsausschusses, der 1993 auf Antrag der SPD-Opposition eingerichtet worden war,[42]  im Hinblick auf die sozioökonomische Transformation in Sachsen systematisch ausgewertet. Außerdem wurde im Archiv Grünes Gedächtnis der Vorlass des kürzlich verstorbenen DDR-Bürgerrechtlers Werner Schulz eingesehen, der im ersten gesamtdeutschen Bundestag (1990–1994) Sprecher der Bundestagsgruppe Bündnis 90/Grüne war. In dieser Funktion versuchte er Alternativen zum Privatisierungsauftrag der Treuhandanstalt zu entwickeln und verstand sich als parlamentarisches Sprachrohr betrieblicher Proteste. Abschließend sei noch auf Unterlagen hingewiesen, die der Autor von Dr. Rainer Lubk erhalten hat, der von 1991 bis 2011 das Referat für Arbeitsmarktpolitik im SMWA geleitet hat. Herr Lubk hat mir seinen nicht publizierten Erinnerungsbericht, Broschüren zur Arbeitsmarktpolitik in Sachsen sowie Organigramme des Ministeriums zur Verfügung gestellt.

Aufbau der Arbeit

Die folgende Darstellung ist sowohl nach chronologischen als auch nach sachthematischen Gesichtspunkten aufgebaut. Das erste Hauptkapitel untersucht die Vorgeschichte der Privatisierung und analysiert den Verwaltungsaufbau in Sachsen, bei dem die baden-württembergische Landesregierung materielle und personelle Unterstützung gewährte. Anschließend skizziert das zweite Kapitel die wirtschaftliche Entwicklung in Sachsen, wobei der Blick vor allem auf den sich rasant beschleunigenden Strukturwandel und die galoppierende Arbeitslosigkeit gelenkt wird. Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht die Imagepolitik von Ministerpräsident Biedenkopf und Wirtschaftsminister Schommer. Dabei werden die wirtschaftspolitischen Leitbilder der beiden Politiker unter die Lupe genommen. Das darauffolgende vierte Kapitel beschäftigt sich mit dem asymmetrischen Kräfteverhältnis zwischen der Treuhandanstalt und der sächsischen Landesregierung bei der Privatisierung der Treuhandbetriebe. Wie die Privatisierung konkret verlief, ist Gegenstand im fünften Kapitel. Da nicht handbuchartig alle sächsischen Betriebe vorgestellt werden können, erfolgt die Untersuchung am Beispiel ausgewählter Betriebe aus unterschiedlichen Branchen. Im Mittelpunkt des Interesses stehen erstens die ungleiche Partnerschaft zwischen der Berliner Behörde und der Landesregierung sowie zweitens die Privatisierungsziele Biedenkopfs und Schommers. Im sechsten Kapitel werden die Privatisierungsstrategien der Staatsregierung vorgestellt und deren Reichweite ausgelotet. In keinem anderen Bundesland gab es so viele strukturpolitische Initiativen, die klangvolle Namen aus der griechischen Mythenwelt trugen. Im abschließenden siebten Kapitel wird die Rolle von Sozialpolitik bei der Privatisierung untersucht, um die unterschiedlichen Privatisierungsziele herauszuarbeiten, die die Treuhandanstalt und die Landesregierung in Dresden verfolgten.

I. Vor der Privatisierung

1. Ordnungspolitische Suchbewegung

Im Herbst 1989 hatte der ostdeutsche Staat der Ausreisebewegung und den Montagsdemonstrationen kaum noch etwas entgegenzusetzen. Einen Wendepunkt markierte die Montagsdemonstration am 9. Oktober in Leipzig, an der 70 000 Menschen teilnahmen und gegen die die Staatsmacht erstmals nicht mehr gewaltsam vorging. Der SED-Führung und dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) war offenbar die Gewaltbereitschaft schlagartig abhandengekommen.[1]  Am Ende blieb der Schießbefehl aus und die bewaffneten Organe wichen vor dem Druck der Straße zurück. Mit der Öffnung der Berliner Mauer am 9. November beschleunigte sich der Zerfall der SED-Herrschaft, der sich in den Wochen zuvor schon angedeutet hatte. Selbstermächtigung und Selbstdemokratisierung waren nun kennzeichnende Elemente der friedlichen Revolution. Während auf den Montagsdemonstrationen bis Anfang November die Durchführung von freien Wahlen, Demonstrations- und Reisefreiheit, ein ziviler Ersatzdienst für den Wehrdienst und allgemein die Ablehnung des Führungsanspruchs der SED im Mittelpunkt standen, trat in der zweiten Novemberhälfte der Ruf nach Einheit Deutschlands neben die bisherigen Demokratisierungsforderungen.[2]  In Ostdeutschland begann sich eine eigenständige Protestkultur zu entwickeln, die äußerst heterogen war.[3] 

Nach dem Mauerfall erodierte die staatliche Ordnung der DDR, denn Akteure der alten Ordnung verschwanden und neue Akteure betraten die politische Bühne. So wurden Institutionen aufgelöst (z.B. die Staatliche Plankommission oder das MfS), die das Leben der Menschen in der DDR über Jahrzehnte maßgeblich beeinflusst hatten. Gleichzeitig entstanden neue Institutionen, wie etwa die Industrie- und Handelskammern (IHKs)[4]  und das Ministerium für Wirtschaft unter Christa Luft (SED/PDS). Außerdem spielten Kommunalpolitiker und die Runden Tische, die sich auf zentraler, regionaler und lokaler Ebene als Ort des Dialogs bildeten, eine wichtige Rolle. Es waren vor allem die Bürgermeister und Stadtverwaltungen, die mit Anfragen aus der Bevölkerung überschüttet wurden. Dabei ging es nicht nur um die Allokation immer knapper werdender Güter des täglichen Bedarfs, sondern beispielsweise auch um die Neuzulassung von Parteien. In Gesprächen mit aufgebrachten Bürgern verwies der sichtlich überforderte Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer (SED) darauf, dass in vielen Angelegenheiten nach wie vor der DDR-Innenminister in Ost-Berlin zuständig sei. Ein Bericht der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit (BVfS) über eine Abendveranstaltung am 9. Oktober 1989 in der Dresdener Hofkirche zitierte Berghofer mit den Worten: »Außerdem bin ich Kommunalpolitiker und nicht der Herr Gorbatschow.«[5] 

Offene gesellschaftliche Debatten waren aber nicht nur bei den Demonstrationen auf den Straßen vieler ostdeutscher Städte zu beobachten, sondern auch in den volkseigenen Betrieben und Kombinaten. Eine Statistik des DDR-Innenministeriums registrierte zwischen August 1989 und April 1990 landesweit 206 Streiks und zwölf Betriebsbesetzungen.[6]  Betriebliche Proteste, die nach dem 9. November 1989 verstärkt einsetzten,[7]  richteten sich anfangs gegen die Versorgungsmängel der Planwirtschaft und schlossen dabei Kritik an Werks- und Betriebsleitern mit ein. Die Stimmung war teilweise aufgeheizt: In den Produktionsabteilungen des südwestlich von Dresden gelegenen VEB Edelstahlwerk Freital wurden SED-Mitglieder als »Schandflecke« und »Schweine« beschimpft.[8]  Die Kritik richtete sich außerdem gegen die planwirtschaftlichen Strukturen. So forderten Beschäftigte im westsächsischen VEB Werkzeugmaschinenfabrik Johanngeorgenstadt »ein echtes Leistungsprinzip […] mit differenzierter Entlohnung«.[9]  Bei den Forderungen ging es auch um Fragen der sozialen Ungleichheit in den Betrieben; Kritik an Privilegien und Amtsmissbrauch wurde laut.[10]  Darüber hinaus stellten immer mehr Beschäftigte die Legitimation der offiziellen Gewerkschaften – Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) und Industriegewerkschaften – infrage[11]  und forderten die Gründung unabhängiger Gewerkschaften. Schließlich bildeten sich in einigen Betrieben Initiativgruppen, die unter anderem für das Streikrecht und freie Wahlen eintraten.[12] 

Nach dem Mauerfall verschwanden das Außenhandels- und Devisenmonopol, das die SED-Führung rund 40 Jahre besessen hatte. Denn westliche Waren konnten nun ungehindert in die DDR gelangen; die westdeutsche D-Mark stieg zur faktischen Leitwährung auf. Eine Arbeitsgruppe der Dresdener Stadtverordnetenversammlung forderte am 23. November 1989 die Ausarbeitung einer Außenhandelsgesetzgebung, »die es den Wirtschaftseinheiten erlaubt, selbständig am internationalen Handel teilzunehmen«.[13]  Mit dieser Entwicklung geriet die DDR-Währung erheblich unter Druck. Die Deutsche Bundesbank ging Ende November 1989 von einem stark sinkenden Wechselkurs der ostdeutschen Währung und einem knapper werdenden Warenangebot in der DDR aus: »Die im Westen gegen D-Mark umgetauschten DDR-Banknoten strömen illegal in die DDR zurück und werden von Ausländern, Westberlinern, aber auch von DDR-Bürgern benutzt, um in großen Mengen billige DDR-Produkte aufzukaufen.«[14]  Um zu verhindern, dass sich Bundesbürger mit billigen Nahrungs- und Genussmitteln eindeckten, beschloss der Ministerrat in Ost-Berlin Gegenmaßnahmen. So sollte etwa beim Kauf von Konsumwaren der DDR-Personalausweis vorgezeigt werden.[15]  Dies ließ sich jedoch nicht umsetzen und unterstrich die zunehmende Handlungsunfähigkeit der DDR-Regierung unter Leitung von Ministerpräsident Hans Modrow (SED/PDS).

2. Versorgungsengpässe und Soforthilfe aus Baden-Württemberg

Die Erosion der staatlichen Ordnung, die sich auf zentraler Ebene rasch beschleunigte, erzeugte in der DDR ein Machtvakuum, das neue politische Akteure nur teilweise ausfüllen konnten. Dazu zählten ostdeutsche Bürgerrechtler und neu geschaffene Institutionen, aber auch westdeutsche Landesregierungen. Letztere reagierten oftmals auf konkrete Anfragen aus Ostdeutschland, die deutlich machten, dass es um die Infrastruktur vor Ort mitunter nicht gut bestellt war. So hatte sich der ärztliche Direktor der Poliklinik Mickten (Dresden) Anfang 1990 hilfesuchend an den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth (CDU) gewandt und auf die unzureichende zahnmedizinische Ausrüstung in seinem Haus hingewiesen. Moderne Zahnröntgenverfahren seien nicht möglich, »weil Geräte nicht zur Verfügung stehen«.[16]  Deshalb hätten sechs Zahnärzte und neun Zahntechniker den Dienst quittiert und seien in die Bundesrepublik übergesiedelt.[17]  Auch andere medizinische Einrichtungen im Bezirk Dresden hatten sich allem Anschein nach zeitgleich an das Stuttgarter Sozialministerium gewandt, um Verbandsmaterial, medizinische Ausrüstung und Fachpersonal aus dem Westen zu erhalten.[18]  Das leitende Personal verschiedener Kliniken befürchtete offenbar einen Kollaps der Gesundheitsversorgung. Hilfe erhoffte man sich nicht mehr von der Modrow-Regierung in Ost-Berlin, sondern vom zukünftigen Partnerland im Südwesten der Bonner Republik.

Der baden-württembergische Ministerpräsident war bereits am 10./11. Dezember 1989 nach Dresden gereist, um sich selbst ein Bild von der Lage in der Elbmetropole zu verschaffen. Dabei dürfte nicht nur seine Bereitschaft ausschlaggebend gewesen zu sein, der sächsischen Kommune finanzielle Unterstützung in Aussicht zu stellen. Politisches Machtkalkül spielte ebenfalls eine wichtige Rolle. Denn Späth, der in Teilen der westdeutschen Presse 1989 schon als Nachfolger von Bundeskanzler Kohl gehandelt wurde, hatte auf dem CDU-Bundesparteitag in Bremen (11. bis 13. September) eine empfindliche Niederlage einstecken müssen. Der innerparteiliche Aufstand gegen den politisch angeschlagenen Kanzler und CDU-Vorsitzenden misslang bereits im Vorfeld des Parteitags. Daraufhin scheiterte Späth bei der Wahl zum CDU-Präsidium und galt innerhalb der Partei nun als »erledigt«.[19]  Er musste sich neue Aufgabenfelder suchen. Da kam der Mauerfall gerade recht. Insofern war es kein Zufall, dass der baden-württembergische Ministerpräsident Dresden besuchte – zehn Tage vor seinem Widersacher Kohl.

Nachdem Späth von seiner Reise nach Dresden zurückgekehrt war, wurde das Sozialministerium in Stuttgart damit beauftragt, ein Sofortprogramm in Höhe von 1,5 Millionen DM vorzubereiten, um dem Gesundheitswesen und der Altenpflege in der Elbmetropole mit dringend benötigten Medikamenten und medizinischen Geräten unter die Arme zu greifen.[20]  Die baden-württembergische Landesregierung entwickelte sich somit für viele Krankenhäuser und Ärzte in Sachsen zum ersehnten Problemlöser. Die bundesdeutsche Seite stand allerdings von Anfang an vor dem Dilemma, die ostdeutsche Bevölkerung zu unterstützen, ohne dabei das SED-Regime, das sich im freien Fall befand, zu stabilisieren. Das erklärt auch die zögerliche Haltung, die viele westdeutsche Akteure zunächst an den Tag legten. Langfristige Planungen, die über akute Hilfsmaßnahmen hinausgingen, schienen zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich zu sein, schließlich existierte die DDR ja noch.

Baden-Württemberg war freilich nicht das einzige Bundesland, das ostdeutschen Kommunen Soforthilfe gewährte. Um die einzelnen Maßnahmen untereinander abzustimmen, fand eine Woche nach Späths Visite in Dresden eine Besprechung mit allen Bundesländern im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen statt.[21]  Dabei zeichneten sich Kooperationsbeziehungen zwischen westdeutschen Ländern und ostdeutschen Städten bzw. Bezirken am Horizont ab, wobei bereits bestehende Städtepartnerschaften – wie z.B. zwischen Bremen und Rostock – aufgegriffen wurden. Während Hessen und Rheinland-Pfalz beabsichtigten, ihre Zusammenarbeit auf das Land Thüringen zu konzentrieren, hatte Niedersachsen die Bezirke Magdeburg und Halle im Blick. Schleswig-Holstein plante eine Kooperation mit den drei nördlichen DDR-Bezirken. Dagegen ergab sich zwischen Baden-Württemberg und Bayern eine Konkurrenzsituation, da beide Landesregierungen ihr Interesse für den Bezirk Karl-Marx-Stadt bekunden. Eine verbindliche Absprache wurde nicht getroffen.

Beamte der Stuttgarter Landesregierung entwickelten kurz vor Weihnachten 1989 erste Überlegungen für eine Zusammenarbeit Baden-Württembergs mit dem »Raum Dresden«.[22]  Im Einzelnen ging es um die Unterstützung beim Aufbau eines neuen Telefonnetzes, die Bereitstellung von Gründungsdarlehen für kleinere Unternehmen sowie die Ausbildung von DDR-Managern. Für das Gesundheitswesen sollte das bereits angelaufene Sofortprogramm weiter ausgebaut werden. Ferner sollten ein Stipendienprogramm für die Hochschulen und ein Jugend-Austauschprogramm entwickelt werden. Um die Kooperation zwischen Baden-Württemberg und den Bezirken Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt zu vertiefen, wurde bereits am 31. Januar 1990 in Dresden eine Vereinbarung über die Bildung einer Gemischten Kommission zwischen Ministerpräsident Späth und den Vorsitzenden der Räte der drei Bezirke unterzeichnet.[23]  Die Kommission wurde paritätisch geleitet. Dem Leitungsgremium gehörte neben den Vertretern der Bezirke ein Mitglied der während der Montagsdemonstration am 8. Oktober 1989 in Dresden gebildeten »Gruppe der 20« an. Eine Anlage zu der abgeschlossenen Vereinbarung listete insgesamt elf Fachgruppen auf, die ebenfalls paritätisch besetzt waren.[24]  Schließlich richtete die Stuttgarter Landesregierung noch ein Verbindungsbüro in Dresden ein.[25]  Eile war geboten. Denn der bayerische Ministerpräsident Max Streibl (CSU) beabsichtigte, »partnerschaftliche Beziehungen zwischen Sachsen und Bayern« aufzubauen.[26]  Dazu war er am 31. Januar eigens von München nach Dresden geflogen.

Binnen weniger Wochen hatte sich das politische Kräftefeld nicht nur in Sachsen, sondern in der DDR nahezu komplett verschoben: Anfang 1990 wurde unübersehbar, dass die Vertreter der alten Ordnung nur noch geringe Handlungsspielräume besaßen und mit einem massiven Vertrauensverlust in der ostdeutschen Öffentlichkeit zu kämpfen hatten. Gleichzeitig hatten die Besuche hochrangiger Politiker aus dem Westen Ende 1989 hohe Erwartungen in der DDR-Bevölkerung geweckt. Das galt offenbar auch für die Stippvisite Späths in Dresden. So berichteten Vertreter des baden-württembergischen Gemeindetags, die Mitte Januar 1990 eine Besuchsreise nach Dresden unternommen hatten, dass sich ihre Gesprächspartner vom Rat des Bezirkes »soweit wie möglich nach Baden-Württemberg und nicht in [sic] ein anderes Bundesland orientieren« würden.[27]  Die »Gruppe der 20« befürwortete eine strategische Partnerschaft zwischen Dresden und Baden-Württemberg, verlangte aber die Einbeziehung von Vertretern der Bürgerrechtsgruppen und der neu zugelassenen Parteien (Neues Forum, SDP).[28]  In Stuttgart wurden rasch Stimmen laut, die vor den überbordenden Erwartungen in Ostdeutschland eindringlich warnten. Aus Sicht eines Beamten schien die DDR »zunehmend ein Fass ohne Boden zu werden«.[29]  Der Präsident des baden-württembergischen Handwerkstages wies darauf hin, dass »von Woche zu Woche die Diskrepanz zwischen unseren Hilfsmöglichkeiten und dem Unterstützungsbedarf i[n] Sachsen« größer werde.[30] 

Der Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 beendete die ordnungspolitischen Debatten in der DDR über die Zukunft des Landes und schrieb die Übernahme des westdeutschen Wirtschafts- und Sozialsystems fest. Doch zuvor mussten erstens staats- und verfassungsrechtliche Fragen geklärt werden, die das Zusammenspiel zwischen Bund und Ländern betrafen. So betonten Vertreter der westdeutschen Bundesländer vor allem die föderativen Aspekte der Sozialunion. Der bayerische Minister für Arbeit und Sozialordnung Gebhard Glück (CSU) betonte, es dürfe nicht »auf dem Umweg über den Staatsvertrag zu einem Zentralisierungsschub« kommen.[31]  Aufseiten der Länder bestand Konsens darüber, Landesversicherungsanstalten in Ostdeutschland aufzubauen. In den Vertragsverhandlungen rückten zweitens fiskalische Aspekte immer mehr in den Vordergrund. Unter Zeitdruck gelang ein erster Durchbruch: Nach Angaben des Staatssekretärs im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Bernhard Jagoda (CDU) sollten die ostdeutschen Bundesländer, die erst noch zu gründen waren, nur die Schulden übernehmen, die bei der Wahrnehmung von Landesaufgaben entstanden, während der Bund »mit den bei der Durchführung von Zentralstaatsaufgaben entstandenen Schulden« zu belasten war.[32]  Es stellte sich aber rasch heraus, dass eine klare Trennlinie zwischen Landes- und Zentralstaatsaufgaben gar nicht so leicht zu ziehen war. Im Bundesrat bekräftigten die Ministerpräsidenten den Standpunkt, auf den sie sich bei den Beratungen über den Fonds Deutsche Einheit am 16. Mai geeinigt hatten und der eine verbindliche Kostenregelung vorsah: Demzufolge übernahm der Bund automatisch die Risiken, die über die im Zusammenhang mit dem Fonds festgelegten Beträge hinausgingen.[33] 

Der Vereinigungsprozess, der nach der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 deutlich an Fahrt aufgenommen hatte, warf seine Schatten voraus: Mit der Währungsumstellung am 1. Juli – auf der Grundlage eines politisch festgelegten Umrechnungskurses von 1:1[34]  – war für die ostdeutschen Betriebe ein Aufwertungsschock verbunden. Vielen drohten die akute Zahlungsunfähigkeit und damit der Konkurs. Im Stuttgarter Sozialministerium, das zur Kooperation mit Sachsen im Frühjahr einen wöchentlichen jour fixe eingerichtet hatte, rechnete man mit erheblichen Arbeitsmarktproblemen in Ostdeutschland, sah aber zuallererst die Bundesregierung und die Bundesanstalt für Arbeit (BA) in der Pflicht.[35]  Auf Landesebene lasse sich nur ein »Modellprojekt« durchführen, das angesichts der finanziellen Möglichkeiten »nur einen geringen Umfang haben könne«. Ende Juni 1990 wurden allein in Dresden rund 3000 Arbeitslose registriert, darunter sehr viele Fachhochschul- und Hochschulabsolventen.[36]  Der Leiter des dortigen Verbindungsbüros rechnete mit stark steigenden Erwerbslosenzahlen.

Bei den gemeinsamen Gesprächen zwischen Vertretern Baden-Württembergs und Sachsens wurden Fragen der Arbeitsmarktpolitik zunächst ausgeklammert; einzige Ausnahme bildeten die Beschäftigungsgesellschaften.[37]  Das lag in erster Linie an Ministerpräsident Späth, der die im DDR-Arbeitsförderungsgesetz enthaltene Kurzarbeitergeldregelung[38]  als »strukturerhaltend« kritisierte.[39]  Damit versuchte er sich – nicht zum ersten Mal – als »zielstrebiger Technokrat und erfolgreicher Modernisierer« zu profilieren.[40]  Trotz aller Bedenken des Wirtschafts- und Sozialministeriums[41]  ging Späth davon aus, dass Initiativen zur Eindämmung der drohenden Arbeitslosigkeit aus dem kommunalen Bereich kommen sollten. Zur Beschleunigung des einsetzenden Strukturwandels müssten die betroffenen Beschäftigten »aus den alten Betrieben herausgenommen«[42]  und von Beschäftigungsgesellschaften für einen befristeten Zeitraum übernommen werden. Das Ziel war die berufliche Qualifizierung für den sogenannten ersten Arbeitsmarkt. Nach dem Vorbild der überbetrieblichen Weiterbildungszentren in Baden-Württemberg sollte ein »maßgeschneiderte[s]« Pilotprojekt zunächst in Dresden mit etwa 300 Plätzen starten, das direkt bei Oberbürgermeister Herbert Wagner (CDU) anzubinden sei.[43]  Experten aus der Privatwirtschaft sollten die Geschäftsführung übernehmen. Obwohl die geplante Qualifizierungs- und Beschäftigungs-GmbH Dresden mit einem Weiterbildungszentrum konkurrierte, das die Industrie- und Handelskammer Dresden bereits gegründet hatte,[44]  hielt man in Stuttgart an den Plänen fest.

Späths Vorstoß war nicht aus der Luft gegriffen. Das Bundesarbeitsministerium und die westdeutschen Bundesländer hatten sich bereits im Mai 1990 darüber verständigt, dass der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Ostdeutschland Vorrang vor Lohnersatzleistungen einzuräumen sei.[45]  Die berufliche Qualifizierung schien »der entscheidende Schlüssel zum Erfolg« zu sein. Dazu sollten die zur Verfügung stehenden arbeitsmarktpolitischen Instrumente »modifiziert« werden. Das Bundesarbeitsministerium unterschätzte zu diesem Zeitpunkt aber die finanziellen Möglichkeiten der ostdeutschen Betriebe, die weiterhin betriebliche Umschulungsmaßnahmen bezahlen sollten, und lehnte zusätzliche Hilfen des Bundes zur Finanzierung von Umschulungsprogrammen ab. Sollten die Mittel nicht ausreichen, sei »die Schließung dieser Lücke […] Sache des DDR-Haushalts«.[46]  In der Bundeshauptstadt ging man im Mai 1990 noch davon aus, dass die Finanzierung der deutschen Einheit durch den Verkauf der volkseigenen Betriebe (VEB) erfolgen könnte. Nach Einschätzung von Vertretern der Bundesregierung verfügte die DDR nämlich über ein sehr großes Vermögen an Grund und Boden, das durch Übertragung an die ostdeutschen Betriebe eine »beachtliche Kreditgrundlage« schaffen würde.[47]  Diese Annahme erwies sich aber als Chimäre: Die Beamten im Bundeswirtschaftsministerium erkannten als Erste, dass mit der ungeklärten Altschuldenproblematik[48]  ein großes Problem auf die volkseigenen Betriebe zurollte, die seit dem 1. März offiziell der von der DDR gegründeten Treuhandanstalt unterstanden. Damit stand die Finanzierung der Transformation Ostdeutschlands auf tönernen Füßen.

Mitte 1990 tauchte in der ostdeutschen Öffentlichkeit erstmals ein Phänomen wieder auf, das es in den zurückliegenden vier Jahrzehnten unter dem SED-Regime nicht gegeben hatte: Arbeitslosigkeit. Das Thema geriet rasch auf die Agenda der Gemischten Kommission von Baden-Württemberg und Sachsen, der die berufliche Wiedereingliederung arbeitslos gewordener DDR-Bürger großes Kopfzerbrechen bereitete.[49]  Insbesondere die Generation der über 45-Jährigen, die über ein großes Fachwissen verfüge, sich aber mit den politischen Verhältnissen in der DDR habe arrangieren müssen, habe »keine hinreichenden Chancen« auf dem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt. Deshalb wurde gefordert, das Leistungsangebot für ältere Arbeitnehmer in der Arbeitsförderung auszuweiten. Die Kommissionsmitglieder sprachen sich dafür aus, dieser Personengruppe großzügig Kredite zu gewähren, um den Weg in die Selbstständigkeit zu ermöglichen. Ein Mittelstandsprogramm, das von der baden-württembergischen Seite entwickelt worden war, sah Darlehenshilfen für Existenzgründungen in Höhe von 20 000 bis 50 000 DM vor.[50]  Dieses Programm richtete sich aber auch an Personen, die der DDR vor 1989 den Rücken gekehrt hatten und nun aus der Bundesrepublik nach Sachsen zurückkehrten.

Ministerpräsident Späth versuchte Bundeskanzler Kohl für seine Überlegungen zu gewinnen, in denen der kommunalen Ebene eine zentrale Rolle bei der Lösung der ökonomischen Probleme in der DDR zukam. In einem persönlich gehaltenen Schreiben kritisierte er die »Unbeweglichkeit und mangelnde Erfahrung« der ostdeutschen Verwaltung, die effektive und schnelle Entscheidungen behindern würden.[51]  Er wies darauf hin, dass Rechtsunsicherheit bei Eigentumsfragen sowie zahlreiche technische und administrative Hemmnisse die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft beeinträchtigen würden. Beide Regierungen seien gefordert, »diese Barrieren so schnell wie möglich aus dem Weg zu räumen«. Dem Schreiben war ein Positionspapier beigefügt, in dem Späth die seiner Meinung nach »notwendigen Maßnahmen« ausführlich darstellte. Darin sprach er sich erstens für den Aufbau einer funktionsfähigen kommunalen Infrastruktur aus, ohne die eine leistungsfähige mittelständische Wirtschaft nicht entstehen könne. Die Landesverwaltung, die erst noch aufzubauen sei, könne diese Aufgabe nicht übernehmen. Im Einzelnen müssten »flächendeckend Partnerschaften zwischen Städten, Gemeinden und Landkreisen« geschlossen werden.[52]  Die westdeutschen Kommunen sah er in der Pflicht, Fachkräfte für den Aufbau der Verwaltung in Ostdeutschland zur Verfügung zu stellen. Späth forderte zweitens eine Entlastung der Betriebe, um sie attraktiv für Kaufinteressenten zu machen, und zeigte wenig Verständnis für den Alltag der sozialistischen Arbeitswelt in der DDR: Es sei im System der sozialen Marktwirtschaft nicht möglich, »die Betriebe mit sozialen Betreuungs- und Bildungseinrichtungen zu belasten«.[53]  Diese Aufgaben sollten stattdessen die Kommunen übernehmen, die dafür »angemessen finanziell« auszustatten seien. Das Maßnahmenpaket des baden-württembergischen Ministerpräsidenten drohte jedoch die Kommunen zu überfordern, die außerdem noch die von Späth favorisierten Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften beaufsichtigen sollten.

Bei den Verhandlungen zum Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag), der von den Chefunterhändlern der beiden deutschen Staaten Wolfgang Schäuble (CDU) und Günther Krause (CDU) am 31. August 1990 unterzeichnet wurde, mussten die Beteiligten in Bonn und Ost-Berlin rasch erkennen, dass sich in der Kürze der Zeit nicht alle Details regeln ließen und für einige Rechtsvorschriften Übergangsregelungen gefunden werden mussten. Unter dem Eindruck einer veritablen Wirtschaftskrise, in die die DDR im ersten Halbjahr 1990 geschlittert war, betraf das auch das Arbeits- und Sozialrecht. Zwischen dem Bundesarbeitsministerium und dem Ministerium für Arbeit und Soziales der DDR gab es große Differenzen über die weitere Anwendung der von der Modrow-Regierung eingeführten Vorruhestandsregelung,[54]  die vergleichsweise großzügig ausgefallen war. Ost-Berlin begründete die Regelung mit den arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen in der DDR. Dagegen befürchtete die bundesdeutsche Seite eine Schlechterstellung westdeutscher Beschäftigter. Der Streit endete mit einem Kompromiss: Während sich das DDR-Ministerium letztlich mit seiner Forderung durchsetzen konnte, den vorzeitigen Übergang in die Rente zu erleichtern, gelang es dem Bundesarbeitsministerium, die als überhöht angesehenen Leistungen zu kappen. Zwischen beiden Seiten konnte »nach längerer Diskussion« Einigkeit darüber erzielt werden, das Kurzarbeitergeld bis zum 31. Dezember 1991 zu verlängern.[55]  Damit konnte sich das Kurzarbeitergeld zum »arbeitsmarktpolitischen Instrument der ›ersten Stunde‹« in Ostdeutschland entwickeln.[56]  Diese Sozialleistung besaß eine »Feuerwehrfunktion«:[57]  Sie hatte nämlich den Vorteil, dass sie über die Arbeitgeber und nicht über die Arbeitsämter ausgezahlt wurde, die erst noch aufgebaut werden mussten.

Bei der Ausarbeitung des Einigungsvertrags zeigten sich Konfliktlinien nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch in der sogenannten alten Bundesrepublik: So schlugen der Wirtschaftsminister von Baden-Württemberg und der Wirtschaftssenator Hamburg vor, die Zonenrandförderung, die strukturschwache Gebiete entlang der innerdeutschen Grenze bis 1989 subventioniert hatte, »rascher als geplant den neuen Gegebenheiten anzupassen«.[58]  Dem widersprach der Amtskollege aus München, denn von dieser Finanzspritze profitierte in Bayern »ein 400 Kilometer langer Streifen«.[59]  Die Subventionszahlung endete schließlich 1994, als die Europäische Kommission aus Wettbewerbsgründen die westdeutsche Regionalbeihilfe begrenzte.

Die Dynamik, mit der sich das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche System in der DDR bis zum Frühjahr 1990 veränderte, überraschte die Zeitgenossen in Ost und West. Mancher Forscher hat dafür den Begriff der »Übernahme« gewählt,[60]  der jedoch dem prozesshaften Charakter und der grundsätzlichen Offenheit historischer Entwicklung nicht gerecht wird. Die deutsch-deutschen Kontakte, die mit dem Mauerfall eine neue Qualität gewannen, waren vielmehr von einer beiderseitigen Suchbewegung gekennzeichnet. So war die Besetzung leitender Positionen in der sächsischen Landesverwaltung durch westdeutsche Experten anfangs noch gar nicht fest vorgesehen. In Stuttgart gab es sogar erhebliche Vorbehalte, baden-württembergische Beamte »voll in die Hierarchie mit entsprechender Weisungsbefugnis […] einzubinden, insbesondere im Hinblick auf evtl. anstehende Personalentscheidungen, die von baden-württembergischen Beamten, aufgrund der fehlenden DDR-spezifischen Kenntnisse nicht sachgerecht getroffen werden könnten«.[61]  Gleichzeitig befürchteten ostdeutsche Vertreter bei gemeinsamen Gesprächen, dass bei der Anstellung westdeutscher »Aufbauhelfer« eine Zweiklassengesellschaft entstehen könnte. Ein leitender Arzt des Bezirkskrankenhauses Dresden-Friedrichstadt warnte vor »Intershopärzten«:[62]