Nach dem Feuer - Catherine McKenzie - E-Book

Nach dem Feuer E-Book

Catherine McKenzie

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Beschreibung

Eigentlich führt Elizabeth eine Bilderbuchehe mit ihrem Mann Ben. Doch seit sie weiß, dass sie keine Kinder bekommen kann, entfernt sie sich immer weiter von ihm. Ihre ehemalige Freundin Mindy ist eine überfürsorgliche Mutter, die sich oft einsam fühlt. Die beiden Frauen haben sich vor Jahren zerstritten, doch als ein verheerender Waldbrand die Kleinstadt einkreist, in der Elizabeth und Mindy leben, kreuzen sich ihre Wege erneut. Ihnen wird klar, wie sehr sie sich brauchen. Und dass sie ihrer Freundschaft eine zweite Chance geben müssen …

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Zum Buch

Eigentlich führt Elizabeth eine Bilderbuchehe mit ihrem Mann Ben. Doch seit sie weiß, dass sie keine Kinder bekommen kann, entfernt sie sich immer weiter von ihm. Ihre ehemalige Freundin Mindy ist eine überfürsorgliche Mutter, die sich oft einsam fühlt. Die beiden Frauen haben sich vor Jahren zerstritten, doch als ein verheerender Waldbrand die Kleinstadt einkreist, in der Elizabeth und Mindy leben, kreuzen sich ihre Wege erneut. Ihnen wird klar, wie sehr sie sich brauchen. Und dass sie ihrer Freundschaft eine zweite Chance geben müssen …

Zur Autorin

Catherine McKenzie lebt mit ihrem Ehemann im kanadischen Montreal. Sie studierte Geschichte und Jura und arbeitet heute als Anwältin. Nebenbei bloggt sie für The Huffington Post.

Lieferbare Titel

Letzte Nacht

CATHERINE

MCKENZIE

NACH

DEM

FEUER

Roman

Deutsch von Marie Rahn

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel SMOKE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Vollständige deutsche Erstausgabe 03/2017

Copyright © 2015 by Catherine McKenzie

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Krader

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München, unter Verwendung eines Motivs von © Gettty images/Oleh Slobodeniuk, Alamy/Michael Neelon (misc)

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN: 978-3-641-18631-9V001

www.heyne.de

Für meine Schwester, Carolyn McKenzie Ring,

die jetzt Cam gerufen wird,

für mich aber immer Cammy bleibt.

PROLOG

Rauch

Rauch. Alles daran hatte für sie immer schnell weg von hier bedeutet, daher wollte der Geruch nicht passen, weil sie sicher zu Hause war.

Es war Rauch von einem Lagerfeuer mit grünem Holz, der an ihrem Bewusstsein zupfte und flüsterte: Aufwachen, aufwachen, aufwachen!

Elizabeths Augen sprangen auf. Ben neben ihr schnarchte leise und schlief wie ein Toter, wie immer, trotz allem.

Im Halbdämmer war der Rauchgeruch gleichzeitig stärker und schwächer, daher wusste sie nicht, ob sie nur geträumt hatte. Ihr war klar, dass sie nachsehen musste. Trotzdem zögerte sie, wie man zögert, wenn man sich mitten in der Nacht fragt, ob man den Herd angelassen hat.

Ich sollte aufstehen, denkt man, aber vielleicht ist gar nichts. Ich könnte wieder einschlafen und dort weiterträumen, wo ich aufgehört habe.

Und doch.

Irgendwas brannte da.

Irgendwas nicht weit Entferntes oder Großes.

Elizabeths Füße berührten den kalten Boden. Sie schauderte in ihrem Schlafanzug, den sie angezogen hatte, als sie und Ben beschlossen, dass genug gesagt worden war, und müde ins Bett gingen.

Sie folgte dem Geruch durchs Haus und hielt nur kurz vor ihrem Schlafzimmer inne, um den Rauchmelder zu überprüfen. Er funktionierte. Das sollte er auch, schließlich kontrollierte sie alle drei Monate mit geradezu religiösem Eifer die Batterien. Sie entspannte sich, aber nur kurz. Wenn das Feuer nicht im Haus war, musste es ganz in der Nähe sein.

Vor dem Fenster am Ende des Flurs blieb sie stehen und überflog den Horizont mit der gezackten Bergkette, bis sie es sah: eine im Mondlicht zuckende Säule aus Rauch und Hitze, die hoch in die Nacht ragte und die Sterne verdeckte.

Sie berechnete kurz Ausbreitung und Entfernung, eine Kalkulation, die sie schon Tausende Male angestellt hatte, und ging Ben wecken.

»Wach auf«, sagte sie und rüttelte ihn härter als nötig an der Schulter. »Es brennt.«

TAG 1

––––––––

Von: Nelson County Emergency Services

Datum: Dienstag, 2. September, 2 Uhr 32

An: Verborgener Empfänger

Betrifft: Feueralarm im Cooper Basin

Am Rand des Cooper Basin hat sich ein Feuer entwickelt, das sich rasch ausbreitet und Wohnhäuser bedroht. Die zuständigen Rettungsdienste überprüfen das Gebiet. Nelson County hat für das gesamte Cooper Basin und den westlichen, von Oxford und Stephen Street begrenzten Bereich von Nelson eine Evakuierungsempfehlung ausgegeben. Den Bewohnern wird geraten, nur das Nötigste und die wichtigsten Papiere zusammenzupacken und sich darauf vorzubereiten, kurzfristig ihre Häuser zu verlassen.

In der Grundschule von Nelson wird eine Notunterkunft eingerichtet. Der Unterricht fällt aus. Die Eltern werden gebeten, ihre Kinder nicht zur Schule zu schicken. Die Schulverwaltung wird sie darüber informieren, wann und wo der Unterricht wieder aufgenommen wird.

Weitere Informationen sind zugänglich über

www.nelsoncountyemergencyservices.com.

Weitere Instruktionen werden folgen, wenn nötig.

1

Hausgäste

Elizabeth

Wir, Ben und ich, streiten uns darüber, wo wir hinsollen.

Genauer gesagt streiten wir uns zuerst, ob wir überhaupt gehen sollen.

»Du übertreibst«, sagt Ben, als er sich den Schlafdämmer aus dem Kopf geschüttelt und begriffen hat, dass das Feuer nicht im Haus ist, ich aber trotzdem wegwill.

»Wir befinden uns innerhalb der Evakuierungszone.«

Ich zeige ihm die E-Mail vom Notfalldienst des County, und mein Handy wirft einen Heiligenschein um sein Gesicht.

Er liest sie langsam und gründlich. Weil er mir nicht glaubt, denke ich unwillkürlich, obwohl ich in diesem Fall eindeutig die Expertin bin.

»Es ist eine Evakuierungsempfehlung«, sagt er und reicht mir das Handy zurück.

Da hat er recht. Doch ich weiß, wie schnell sich die Lage ändern kann, vor allem in einem Jahr wie diesem.

Man sehe sich nur an, wie sich die Lage zwischen uns verändert hat.

»Ganz genau«, sage ich. »Das heißt: Ihr seid gut beraten, eure Sachen zu packen, bevor es zu spät ist.«

»Es ist mitten in der Nacht.«

»Glaubst du, ein Feuer kümmert es, wie viel Uhr es ist? Bitte, Ben, können wir … können wir es nur dieses eine Mal so machen, wie ich will?«

»Was soll das denn jetzt heißen?«

Ich antworte nicht, sondern ziehe stattdessen Kleider aus dem Korb mit sauberer Wäsche, die tagelang dort gelegen haben, weil keiner von uns sich darum kümmern wollte. In letzter Zeit haben wir häufig solche Pattsituationen, in denen wir mittels unerledigter und unausgesprochener Dinge kommunizieren.

»Elizabeth? Hallo?«

Ich stopfe die Kleider in meinen Rucksack, den ich für die Joggingsachen benutze.

»Ich gehe. Du willst bleiben? Schön. Aber ich gehe.«

»Schon gut, schon gut, ich komme mit. In Ordnung? Ich komme mit.«

Ich stopfe ein paar Sachen von ihm in den Rucksack. Der riecht ein wenig nach Schweiß, doch das ist im Augenblick wohl unser geringstes Problem.

Ben schlurft zur Kommode und zieht sich Jeans und ein Sweatshirt an. Aus dem Bad holt er ein paar Toilettenartikel, auch meine Gesichtscreme, als ich ihn darum bitte.

In den nächsten zehn Minuten packen wir schweigend unsere Notebooks zusammen, verriegeln die Fenster und ziehen alle Stecker aus den Steckdosen. Erst als wir vor der Haustür stehen, ich mit der Kunststoffbox mit allen Notfallpapieren auf der Hüfte, fällt uns das Wichtigste ein.

»Wohin gehen wir denn?«, fragen wir wie aus einem Mund und lächeln, wie immer, wenn wir gleichzeitig dasselbe sagen, obwohl das nur noch selten geschieht.

»Zu meinen Eltern«, schlägt Ben vor.

»Aber …« Wieder unterdrücke ich etwas, das eigentlich nicht gesagt werden müsste.

Wir können nicht zu deinen Eltern.

Wir lassen uns doch scheiden.

Denn das hatten wir am letzten Abend beschlossen, bevor wir zu Bett gingen, weil wir zum Weiterreden zu erschöpft und zu traurig waren. Außerdem: Worüber hätten wir reden sollen, nachdem wir zum entscheidenden Schluss – Scheidung – gekommen waren? Mir war egal, welche Möbel ich bekam, und wenn es Ben nicht egal war, dann empfand er noch genug für mich, um sich meinem Es reicht und dem Vorschlag zu beugen, ins Bett zu gehen und zu versuchen, etwas Schlaf zu bekommen.

Wir lassen uns scheiden.

Nach zehn Jahren Ehe und sechs Jahren Beziehung.

Scheiden.

Ich kann es nicht glauben, obwohl ich es als Erste ausgesprochen, vielleicht sogar als Erste daran gedacht habe. Wann immer ich mir erlaubte, daran zu denken, dachte ich, wenn ich irgendwann den Mut aufbrächte, es laut auszusprechen und um die Scheidung zu bitten, würde ich erleichtert sein. Das war sogar in den schlimmsten Stunden während der letzten Monate so, in den Momenten, als ich dachte: Ich halte das nicht mehr aus, ich kann einfach nicht mehr.

Aber ich fühle mich nicht erleichtert. Stattdessen fühle ich mich nur schlechter. Jetzt kann ich es tatsächlichnicht mehr aushalten. Nur was genau, weiß ich nicht.

Deshalb können wir nicht zu Bens Eltern.

Es geht einfach nicht.

Trotzdem tun wir’s.

Bens Eltern wohnen in einem absurd großen Haus drei Meilen südlich der Stadt.

Die Stadt Nelson mit einer Einwohnerzahl von 23 194 Leuten und je nach Wirtschaftslage bis zu 100 000 Feriengästen liegt in einer ausgedehnten Talmulde inmitten gezackter, schneebedeckter Berge, die zu den nördlichen Rocky Mountains gehören. Vor dem Aufkommen des Fremdenverkehrs war die Rinderzucht der riesigen Viehranches im Tal die Haupteinnahmequelle. Nachdem die Viehzucht eingestellt wurde, wohnen heute die Betuchten auf diesen Ranches. Bens Elternhaus steht am Rand eines tausend Hektar umfassenden Grundstücks, auf dem früher 10 000 Rinder gehalten wurden. Das nutzt mein Schwiegervater Gordon als Vorwand, um sich als Gentleman-Rancher zu bezeichnen.

Das ist nicht ganz fair. Denn Gordon ist wirklich ein Gentleman, einer der anständigsten Menschen, die ich je getroffen habe. Ich liebe ihn wirklich. Ich liebe Bens ganze Familie: seine zurückhaltende Mutter Grace, seine ungelenke kleine Schwester Ashley und seinen überspannten Bruder Kevin, das Sandwichkind. Zwar haben sie mehr Geld, als es fair oder gerecht wäre, doch das Leben ist eben weder fair noch gerecht. Wenn allerdings jemand so viel Geld verdient, dann sie.

Ihr Haus ist allerdings tatsächlich absurd groß.

Als wir in unserem Wagen vor dem absurd großen Haus sitzen, streiten wir uns wieder. Diesmal darüber, ob wir uns mit Bens Schlüssel in den Gästeflügel schleichen und in einem der dortigen Zimmer übernachten oder seine Eltern wecken und ihnen Bescheid geben sollen, dass wir da sind. Ben will sie schlafen lassen, ich halte das nicht für richtig.

»Wahrscheinlich ist die Alarmanlage an«, sage ich und weise ihn damit völlig unnötig auf etwas hin. Das hasse ich an mir, kann es aber anscheinend nicht ändern. »Was ist, wenn wir den Alarm auslösen? Willst du, dass deine Mutter einen Herzanfall bekommt?«

»Natürlich nicht. Herrgott noch mal. Aber gut, machen wir, was du willst.«

Ich lege meine Hand auf seinen Arm. »Tut mir leid. Das fällt mir echt schwer. Ich weiß nicht …« Ich unterdrücke ein Schluchzen, wende mich zum Fenster, konzentriere mich auf den Seitenspiegel und die Nacht da draußen.

»Ich weiß«, sagt Ben mit angespannter Stimme. »Mir auch.«

»Hasst du mich?«

»Nein.«

»Nicht mal ein bisschen?«

Er nimmt meine Hand und verschränkt seine Finger mit meinen. »Nicht im Geringsten.«

Ich drehe mich zu ihm. »Wie ist das möglich?«

Darauf lächelt er nur traurig und bricht mir erneut das Herz.

»Wir sollten reingehen«, sagt er schließlich. »Und versuchen, etwas zu schlafen.«

Wir verlassen den Wagen, und ich werfe mir wie früher in der Schulzeit den Rucksack über die Schulter. Dann stehen wir vor dem Haus und warten darauf, dass einer von uns den nächsten Schritt macht. Das schrille Zirpen der Grillen durchzieht unser Schweigen.

»Ich gehe zuerst rein«, sagt Ben. »Gib mir ein paar Minuten.«

»Aber du wirst es doch nicht …?«

»Ihnen sagen? Nein.«

»Versprochen?«

»Wenn ich es doch sage.«

Ich betrachte seinen Rücken, als er in den Lichtkreis der Lampen auf der vorderen Veranda tritt. Ein Glühwürmchen fliegt am Dach entlang, blink, blink. Hier ist der Rauchgeruch schwächer. Da wir Meilen vom Feuer entfernt sind, vermischt er sich mit den nächtlichen Gerüchen von Espen und Beifuß.

Im Haus gehen die Lampen an wie fallende Dominosteine. Vor lauter Sorge krampft sich mein Magen zusammen. Zwar bin ich fast überzeugt, dass Ben sein Wort halten und unsere schlechten Nachrichten nicht ins Haus seiner Eltern bringen wird, zumindest nicht heute Nacht. Doch ganz sicher bin ich mir nicht, was er tun wird, nicht mehr.

Während ich draußen warte, die Sekunden zähle wie ein Kind beim Versteckspiel und das Gewicht des Rucksacks an meinen Schultern zieht, habe ich das Gefühl, es wäre zu viel Wasser den Fluss hinuntergeflossen, als dass Ben sich einfach auf die Feuermeldung beschränken würde.

Als Bens Mutter dann die Haustür öffnet, barfuß durch das taufeuchte Gras zu mir kommt und mich in einem für sie ganz untypischen Willkommensgruß in die Arme schließt, tue ich, was ich fast nie tue.

Ich weine.

2

Lodernde Flammen

Elizabeth

Als ich aus unruhigem Schlaf erwache, ist das Licht um mich dunkelgrau.

Die restlichen Nachtstunden habe ich in dem Bemühen verbracht, eine bequeme Lage in Bens Jugendbett zu finden. Es ist zwar groß genug für zwei – Bens Eltern hielten nichts von einem traditionellen schmalen Jungenbett. Doch das Feuer will mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich checke mit der Hand über dem Display mein Handy, damit Ben nicht vom Licht geweckt wird. Will wissen, ob es Neuigkeiten gibt, ob die Evakuierungsempfehlung aufgehoben wurde oder ob ich mein Haus genauso verloren geben muss wie meine Ehe.

Ein Teil in mir kann es nicht glauben. Ein Feuer. Ein Feuer. Hier. In Nelson. Wohin ich vor zwei Jahren gekommen bin, um das alles endlich hinter mir zu lassen.

Zehn Jahre lang habe ich als Brandbekämpferin gearbeitet, jeden Sommer, seit ich sechsundzwanzig Jahre bin. Ich fing als Hilfskraft an, arbeitete mich bis zur Teamleiterin hoch und wurde schließlich Brandermittlerin für den örtlichen Brandbezirk. Von Mai bis September, bis die Temperaturen sanken und der erste Schnee in den Bergen fiel, drehte sich alles, was ich tat, darum. Das machte mich aus. Selbst außerhalb der Saison war ich zur Stelle, wenn irgendwo ein Feuer ausbrach und zusätzliche Kräfte gebraucht wurden, ganz gleich wo.

Ben würde sagen: überall, nur nicht bei mir.

Ich fing mit einem Ferienjob als Ausguck an, nach meinem zweiten Collegejahr im Südwesten von Oregon. Meine Freundin Susan hatte das mehrere Sommer hintereinander gemacht. Als sie wegen einer Blinddarmentzündung ausfiel, sprang ich für sie ein. So komisch mir das heute vorkommt, damals schien es mir eine gute Idee zu sein, mehrere Monate allein in der Wildnis zu verbringen. Meine beste Freundin war ein halbes Jahr zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und ich hatte mit meinem ersten richtigen Freund am College Schluss gemacht. Wahrscheinlich hatte ich das Gefühl, ich müsste aus allem raus. Meine Begeisterung für Jack Kerouac, der einst dreiundsechzig Tage als Ausguck am Desolation Peak arbeitete, hatte vielleicht zusätzlich das sprichwörtliche Öl ins Feuer gegossen.

In der zweiten Juniwoche wanderte ich dann durch die Wälder, im Gepäck Vorräte, die reichen mussten, bis zwei Wochen später Nachschub kommen sollte. Ich richtete mich auf einem Turm ein, der ein atemberaubendes Rundumpanorama auf den schönsten Wald bot, den ich je gesehen hatte. Ich blieb fünfundsechzig Tage dort und hielt die Augen offen. Ha, Kerouac! Wartete. Weinte und las und lachte. Als der Sommer vorbei war, fühlte ich mich geheilt.

Im nächsten Sommer verpflichtete ich mich erneut und im Sommer darauf ebenfalls, obwohl ich Ben schon kannte. Am Ende dieses letzten Sommers spürte ich, dass ich mehr tun wollte. Nicht nur die Rauchspuren aus der Ferne sichten, sondern erfahren, wie das Feuer ist. Seine Hitze spüren, es bekämpfen, es besiegen.

Also trainierte und lernte ich und wurde stark. Als ich fertig war, folgte ich dem Feuer. Ich war oft weg von zu Hause, weg von Ben. Nach zehn Jahren hatte ich das Gefühl, ich hätte einen Großteil meines Lebens mit Warten verbracht. Darauf, zu Ben zurückzukehren. Darauf, die Familie zu gründen, die wir haben wollten, einen Job zu haben, der mir gefiel, und eine Ehe. Darauf, dass die Luft sich erwärmte und die Schneeschmelze die Flussbetten füllte. Darauf, dass ein Blitz oder eine nachlässig weggeworfene Kippe eine verräterische weiße Rauchwolke am Horizont aufsteigen ließ.

Darauf, dass ein Funken ein Feuer entzündete.

Ich hatte es so satt zu warten.

Trotzdem kann ich gerade nur auf den Morgen warten.

Bei Tagesanbruch schlüpfe ich leise aus dem Bett und schütze mich mit einer Jeans und einem Fleecepullover vor der Morgenfrische. Es ist erst der 2. September, der Tag nach Labor Day, doch offenbar kommt der Winter früher und bringt uns nach der Gluthitze des Sommers eine willkommene Abkühlung.

Als ich mir im Bad mit einer Bürste durch meine schulterlangen roten Haare fahre, fallen mir die dunklen Schatten auf, die schlaflose Nächte immer unter meinen hellgrünen Augen hinterlassen. Das Licht der Glühbirnen rund um den Spiegel reflektiert sich in den silbernen Strähnchen, die ich zu färben versäumt habe.

Im Schlafzimmer hinterlasse ich Ben eine kurze Nachricht auf einem Zettel vom Schreibtisch und lege ihn in die Kuhle auf meinem Kopfkissen. Als ich leise die Tür hinter mir schließe, atmet er ruhig und gleichmäßig.

Um nicht die Alarmanlage auszulösen, gehe ich durch den Seiteneingang hinaus. Kurz darauf sitze ich am Steuer meines alten blauen Autos und fahre dorthin, wo jeder vernünftige Mensch das Weite suchen würde.

Während ich über die Schotterstraße ruckle, kommt mir der Rauch entgegen, der sich bereits im ganzen Tal ausbreitet. Der bittere Geruch beißt mir so in der Nase, dass sie anfängt zu jucken.

Im Ort ist die Main Street so gespenstisch still, wie ich sie lange nicht mehr gesehen habe, vielleicht sogar noch nie. Ganz gewiss nicht im Sommer, wenn die Touristen über die Holzplanken der Bürgersteige stapfen und in den überteuerten Kunstgewerbeläden und T-Shirt-Shops herumlungern. Es ist hübsch hier ohne all die Leute. Früher war mir das bewusst. Wieso habe ich das vergessen?

Ich nehme die Umgehungsstraße um den Fuß des Nelson Peak herum und werde eine Meile nördlich vom Ort entfernt angehalten, weil ich mich der Sperrzone nähere, die die Rettungsmannschaften eingerichtet haben. Sie sind mit Feuerwehrwagen, Nutzfahrzeugen und dem ersten der weißen Wohnwagen gekommen. Die Fahrzeuge werden sich sprungartig vermehren, wenn die Sache nicht bald unter Kontrolle gebracht wird.

Ich zeige einem der Männer aus dem Büro des Sheriffs meine Marke, die ich nach meiner Kündigung eigentlich hätte zurückgeben müssen. Eines von vielen Dingen, die ich hätte loslassen sollen. Doch dazu konnte ich mich nicht durchringen.

»Ich will kurz einen Blick drauf werfen und die Lage einschätzen«, erkläre ich dem Uniformierten. Er nickt und hebt das Absperrband.

Als ich an ihm vorbeifahre, stellen sich protestierend meine Nackenhärchen auf. Es war keine gute Idee hierherzukommen. Im Gegenteil, es war ein Fehler, Verbindung zu dem Leben zu halten, das ich hinter mir lassen wollte. Wenn ich wirklich einen klaren Schnitt gemacht hätte, wäre ich nicht hier und würde nach zwei Jahren immer noch ohne Kind und bald ohne Mann die Zeit zurückdrehen.

Das ist so ein Klischee, ein gottverdammtes Klischee. Doch vielleicht ist das Leben immer ein Klischee, ich weiß es nicht. Nur beschleicht mich das Gefühl, mein altes Leben wäre mir hierhergefolgt, als hätte es mich vermisst.

Ich parke meinen Wagen mit der Motorhaube Richtung Feuer und werfe einen Blick auf das geschäftige Treiben um mich herum. Gelbe Schläuche voll Wasser und Löschflüssigkeit. Aufblitzende Äxte und surrende Kettensägen. Ein paar Männer bemühen sich, das Feuer von den Nachbargebäuden fernzuhalten, das an den Trümmern eines zerstörten Hauses leckt. Der Teamleiter bellt Befehle in sein Funkgerät. Ich höre fast, was er sagt, obwohl ich nicht über einen Helm mit ihm verbunden bin.

Da klopft jemand an mein Seitenfenster. Ich kurble es herunter und lasse die Vergangenheit herein.

»Hey, Beth«, sagt Andy und lächelt erfreut, trotz der Umstände. »Bist du gekommen, um das Feuer zu bekämpfen?«

In die Grundschule von Nelson hätten wir unsere Kinder geschickt.

Ich versuche, nicht daran zu denken, als ich eine Stunde später auf den halb vollen Parkplatz fahre. Solche Gedanken sind reine Selbstbestrafung. Obwohl ich das Gefühl habe, ich hätte jedenfalls theoretisch ab und zu eine Strafe verdient, muss ich damit aufhören.

Ich war nie im Schulgebäude, doch es kommt mir genauso vor wie meine eigene Grundschule, nur kleiner. Als wäre ich Alice im Wunderland mit der Pille, die einen wachsen lässt. Selbst meine Füße erscheinen mir zu groß, als ich über den Fliesenboden marschiere.

Ich folge den hastig gemalten Plakaten zum Büro des Direktors, wo der Incident Commander, der Einsatzleiter, die Einsatzzentrale eingerichtet hat. Wie ein Fluglotse ist der IC der Dreh- und Angelpunkt, durch den alle Informationen und Anweisungen zu den Rettungsteams an der Brandstelle geleitet werden. Ganz gleich wie gut Ausrüstung und Teams sind, mit einem schlechten Einsatzleiter in der Zentrale kann das Feuer nicht unter Kontrolle gebracht werden.

Im Büro des Direktors sitzt seine rechte Hand, der Operations Center Dispatcher, vor einer Reihe Computerbildschirmen. Er teilt die Leute auf die verschiedenen Abschnitte auf. Ihn kenne ich nicht, aber der IC ist eine alte Freundin.

Kara Panjabi verschaffte mir meinen ersten Einsatz bei einem Brand und hat mich seitdem unter ihre Fittiche genommen. Sie ist fünfundfünfzig und hat Lachfältchen, die sich tief in ihr Gesicht eingegraben haben. Von außen wirkt sie weich, doch sie schlägt etliche der Männer in den Teams im Bankdrücken, was sie in ruhigen Momenten draußen vor Ort oft bewiesen hat.

Zwar hatten wir einige Auseinandersetzungen, als ich ihr verkündete, ich würde aufhören, doch das bedeutet nicht, dass sie sich nicht freut, mich zu sehen.

»Elizabeth! Ich habe mich schon gefragt, wann du hier auftauchst.«

Wir umarmen uns. Sie riecht nach Balsaholz und Zitronellöl und darunter nach Rauch. Ein Geruch, der so tief in Haut und Haare dringt, dass ich ihn nach zwei Jahren noch manchmal an mir rieche, wie einen Geliebten, der mich einfach nicht loslassen will.

Kara löst sich von mir. »Du rufst nicht an, du schreibst nicht.«

»Ich … hatte viel zu tun«, weiche ich aus.

»Warst du draußen vor Ort?«

»Ja, bevor ich hierherkam.«

»Andy ist da, oder?«

Andy hat mir gesagt, wo ich Kara finde.

»Hör auf damit.«

»Womit denn?«

»Deine gruseligen Fähigkeiten in Sachen übersinnlicher Wahrnehmung auf mich anzuwenden.«

In Karas Familie gibt es ein paar Wahrsager. Sie behauptet zwar, nicht an den ganzen Unsinn zu glauben, doch das heißt nicht, dass es unter ihrer Würde wäre, ihre ausgeprägte Beobachtungsgabe zu nutzen, die sie bereits auf den Knien ihrer Großmutter trainiert hat.

»Ach, du bist bloß neidisch.«

»Aber sicher doch.«

Wir grinsen uns an. Dann huscht Karas Blick kurz zu meinem Bauch. Unwillkürlich lege ich die Hände darauf.

»Ich bin nicht …«

»Nicht? Das tut mir leid.«

Ich wende mich den Monitoren zu, die sowohl Aufnahmen von den Kameras zeigen, die wir bereits in der Umgebung aufgestellt haben, als auch von den Kameras an den Helmen der Feuerwehrmannschaft.

»Die Helmkameras sind neu«, sage ich, nachdem ich mir darüber klar geworden bin, was die ungewohnte Perspektive bedeutet.

»Ja, wir probieren es noch aus. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

Meine Augen wandern von Bildschirm zu Bildschirm. Schwarzweißbilder von Flammen, Rauch und Rettern. »Die Aufnahmen sind so ruckelig. Es ist mühsam, sie anzusehen.«

»Das stimmt.«

»Wie wollt ihr vorgehen?«

»Was würdest du vorschlagen?«

Ich sehe mir die Karte von der Umgebung an, die an der Wand über den Bildschirmen angebracht wurde. Ein rotes X auf der Ebene nördlich vom Fuß des Nelson Peak markiert den Punkt, wo das Feuer seinen Ursprung hatte. Die Südseite des Berges liegt direkt dem Ort zugewandt und bildet einen hiesigen Skihang. Im Sommer kann man dort wandern, joggen und Rad fahren. Die Touristen erklimmen die gewundenen Pfade auch zu Pferd, und am Fuß des Berges liegt das Sportstadion des Orts. Mein eigenes Haus steht auf der Westseite, auf der Ostseite befindet sich die Cooper-Basin-Wohnsiedlung. Der Nelson Peak ist also buchstäblich das Herz dieser Stadt, und wie es aussieht, braucht dieses Herz einen dreifachen Bypass, um zu überleben.

»Nach diesem Sommer wird sich das Feuer rasch ausbreiten«, erkläre ich. »Das Terrain wird schwierig zu bearbeiten sein, wenn ihr es zum Berg hintreibt.«

»Aber wir müssen es dahin treiben.«

»Ja. Gebäude gehen vor.«

»Gebäude gehen vor.«

Kara geht zum Funkgerät und gibt an die Mannschaften die Order durch, das Feuer weg von den Häusern zu lenken, den Berg hinauf, wenn es nicht gelöscht werden kann. Danach wird sie zusätzliche Mannschaften anfordern, die besser ausgerüstet sind, um auf schwierigem Terrain zu arbeiten. Ihr Ziel ist es, einen Wall zur Eindämmung des Feuers zu bilden, doch bis dahin wird noch viel Wasser und Geld verbrannt werden.

Da betritt eine untersetzte Frau mit einem Megafon unter dem Arm das Büro. Sie wirkt wie eine Engländerin in Tweed, die ihre Hunde zur Jagd zusammenruft.

»Mrs. Punjab«, quetscht sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Eigentlich heißt sie Panjabi«, schalte ich mich ein. »Und wer sind Sie?«

Darauf antwortet sie nicht. Stattdessen wendet sie sich zu Kara. »Ich muss eine Schule leiten«, sagt sie zu ihr. »Wann bekomme ich mein Büro zurück?«

»Das kann ich nicht sagen, Mrs. Fletcher. Ich schätze, in etwa einer Woche.«

»In einer Woche! Aber das Feuer hat sich doch kaum ausgebreitet.«

Kara tippt mit dem Finger auf einen der Bildschirme. Er zeigt eine Wetterkarte, die ich nach so vielen Jahren Praxis lesen kann wie ein offenes Buch.Wir müssen mit einer endlosen Reihe heißer, trockener und windiger Tage rechnen.

»Es kommt sehr ungünstiges Wetter auf uns zu.«

»Was soll das heißen?«

Kara schürzt die Lippen. »Dass die Lage viel schlimmer werden wird, bevor sie sich beruhigt.«

FEUER IM COOPER BASIN

Anwohner verliert gesamtes Hab und Gut

Gepostet am Dienstag, 2. September 2014, 8 Uhr 02

Von Joshua Wicks, Nelson County Daily

Gegen halb zwei Uhr nachts entstand am Ostrand der Cooper-Basin-Wohnsiedlung ein Feuer, das bisher nicht eingedämmt werden konnte, sondern sich rasch ausbreitet. Als ein Anwohner den Rauch roch und den Notruf betätigte, eilten die ersten Rettungsteams sofort zur Brandstelle.

Momentan gibt es eine Evakuierungsempfehlung für das gesamte Cooper Basin und den westlichen Teil von Nelson zwischen der Oxford und Stephen Street. Eine Karte dieses Bereichs ist auf der Website der Nelson Daily County unter www.nelsondaily.com zu finden.

Der Notfalldienst von Nelson County rät allen Anwohnern, bewegliche Wertsachen und wichtige Papiere zusammenzupacken und sich für die Evakuierung bereitzuhalten. Obwohl sich das Feuer rasch ausbreitet, haben die Anwohner außerhalb der Evakuierungszone und einschließlich des Ortskerns von Nelson nichts zu befürchten, wie Polizeichef Dwayne Thompson versicherte. »Wir haben unsere besten Leute zur Bekämpfung des Feuers abgestellt und sind zuversichtlich, dass es in Kürze eingedämmt werden kann.«

Obwohl die Feuerwehr nur wenige Minuten nach dem Notruf eintraf, war es zu spät, das Haus von John Phillips (67) zu retten.

»Ich habe alles verloren«, sagte Phillips. »Ich hatte nicht mal die Zeit, Kleider oder Fotos oder sonst etwas zu retten.«

Phillips bemerkte das Feuer erst, als der Rauch in sein Haus drang.

»Mein Schlafzimmer liegt im ersten Stock«, sagte Phillips, der wegen leichter Rauchvergiftung behandelt wurde. »Ich wusste gleich, dass es schlimm ist, und sprang aus dem Fenster.«

Phillips, dessen Frau zwei Jahre zuvor verstarb, hatte das Glück, dass sein Fenster offen stand und zur Frontveranda hinausgeht. »Ich hängte mich ans Spalier und ließ mich fallen. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie solche Angst gehabt.«

Chief Thompson meinte, es sei zu früh, etwas zur Brandursache zu sagen. Da es letzte Nacht kein Gewitter in der Gegend gab, liegt menschliches Verschulden nahe.

»Wir haben die Verantwortung für das Feuer an die Bezirksverwaltung abgetreten, werden aber ebenfalls ermitteln, ob es Brandstiftung oder Fahrlässigkeit war«, sagte er. »Wegen der Trockenheit in diesem Sommer hängen seit Monaten Brandschutzverordnungen aus. Sollte jemand dagegen verstoßen haben, wird ihn die volle Härte des Gesetzes treffen.«

Die Behörden bitten alle, sich per E-Mail oder SMS als Brandmelder einzutragen, falls sie es noch nicht getan haben. Weitere Informationen dazu auf

www.nelsoncountyemergencyservices.com.

3

Auf, auf!

Mindy

Obwohl Mindy Mitchell weit im westlichen Teil des Orts wohnte, erfuhr sie erst ziemlich spät vom Feuer.

Das war nicht ihre Schuld. Nicht, dass sie sich nicht dafür interessierte – natürlich tat sie das. Nur fiel es ihr in letzter Zeit schwer, sich auf dem Laufenden zu halten. Jedenfalls bei allem, was außerhalb ihrer Familie passierte.

Eigentlich war es lächerlich, schließlich hatte sie gedacht, wenn ihre Kinder erst älter wären, hätte sie mehr Zeit für sich. Für ihre Interessen, wie auch immer die heute aussehen mochten. Doch stattdessen schien das Leben der Kinder heute mehr Zeit einzufordern als in ihren Tagen als hilflose Säuglinge. Angus war sechzehn und so groß wie sein Vater, Carrie vierzehn und so graziös wie eine Tänzerin. Nur die dünne Narbe neben ihrem Brustbein erinnerte an ihren schlimmen Herzfehler als Baby.

Literaturclub, Ballettschule, das jährliche Herbstfest, all das stand heute auf der Liste der Dinge, die ihre Unterstützung verlangten. Zeit, um die Füße hochzulegen, ein Buch zu lesen oder irgendwas anderes zu tun, schien auf dieser Liste nicht vorgesehen.

Ihr Mann Peter hatte dieses Problem offenbar nicht. Er saß ihr gegenüber am Frühstückstisch und steckte sich klein geschnittenes Obst in den Mund, während er die New York Times auf seinem Tablet las. Natürlich war er ein engagierter Vater. Zumindest im Vergleich zu den Männern ihrer Freundinnen, die es babysitten nannten, wenn sie sich um ihre Kinder kümmern sollten, und sofort ihre Mütter anriefen, sobald die Frauen das Haus verlassen hatten. Peter wusste, wie die Freunde ihrer Kinder hießen. Er schaffte es mindestens zur Hälfte ihrer Sportveranstaltungen. Wenn sie krank wurden, blieb er manchmal zu Hause, als sie beide noch arbeiteten, um sich um sie zu kümmern. Trotzdem hatte er es in seiner Bank zum Geschäftsführer gebracht, während sie bei der letzten Budgetkürzung ihre Stelle als Biologielaborantin in der Highschool verlor und zu Hause blieb.

Sie hätte nie gedacht, dass sie so enden würde. Als Vollzeithausfrau und -mutter, die sich über den Nährwert des Essens ihrer Kinder Gedanken machte und Wochen im Voraus Menüs plante. Obwohl daran nichts auszusetzen war. Mindy rief sich ganz schnell zur Ordnung, als könnten Frauen, die mit diesem Schicksal zufrieden waren, sie hören und sich kritisiert fühlen.

Sie hatte einfach nur andere Pläne gehabt. Ihre acht Jahre Studium in Zellbiologie kamen ihr wie aus einem anderen Leben vor. Eigentlich sollte sie mittlerweile an der Heilung von Krebs arbeiten.

Stattdessen ertappte sie sich dabei, dass sie unentwegt wie ein Helikopter über ihren Kindern kreiste, als könnte ihre ständige Aufmerksamkeit Schaden von ihnen abwenden. Dabei wusste sie, dass das nicht stimmte.

Morgens sorgte sie dafür, dass Angus und Carrie etwas aßen, ihre Hausaufgaben und die Sportsachen dabeihatten, ihre Teller in den Geschirrspüler räumten, einigermaßen präsentabel aussahen und in Peters SUV stiegen, damit er sie rechtzeitig vor der Schule absetzen konnte. Heute früh hatte sie Angus fast aus dem Bett zerren und unter die Dusche schieben müssen, wie so häufig in letzter Zeit. Über den komischen Geruch in seinem Zimmer wollte sie lieber nicht nachdenken und beruhigte sich damit, dass auch sie in der Highschool herumexperimentiert hatte.

Daher war es schon kurz vor neun, als sie ihr E-Mail-Account öffnete und die Warnung des Notfalldienstes las.

Die E-Mail versteckte sich unschuldig zwischen denen ihrer Schwester und den Spam-Mails, die es durch ihren Filter geschafft hatten. Allein der Anblick beschleunigte ihren Puls, bis sie sich zur Vernunft rief. Sollte wirklich eine Gefahr bestehen, hätten die Behörden mehr getan, als nur eine E-Mail zu schicken.

Tatsächlich wurde das auf der Homepage der Lokalzeitung The Nelson County Daily bestätigt: Das Feuer breitete sich am Fuß des Berges südlich der Stadt aus und fraß sich gierig durchs trockene Unterholz. Doch die Stadt selbst war in Sicherheit. Bisher jedenfalls. Dennoch sollten die Anwohner in Alarmbereitschaft bleiben.

Mindy fühlte sich, als hätte sie die letzten vierzehn Jahre in Alarmbereitschaft verbracht. Seit jenem Tag, an dem Carrie im Alter von acht Wochen plötzlich blau angelaufen war. Nur weil sie direkt neben einem Rettungssanitäter wohnten, hatte sie keinen bleibenden Schaden davongetragen. Mindy hasste dieses Gefühl, aber sie hatte sich daran gewöhnt. Meistenteils empfand sie es als Teil von sich, den sie nicht loswerden oder ändern konnte.

Mindy verscheuchte diese Gedanken und beugte sich näher zum Bildschirm. Da sie ihre neue Brille nicht trug, sah sie nur verschwommen. Allein bei der Bezeichnung Gleitsichtbrille fühlte sie sich schon alt. Sie schob den Kopf vor und zurück, bis sie die Buchstaben erkennen konnte. Das Bild über dem Artikel zeigte einen Mann Ende sechzig, der mit einer roten Decke um die Schultern im Heck eines Krankenwagens saß und auf die rauchenden Trümmer seines Hauses starrte.

Anwohner verliert gesamtes Hab und Gut, lautete die Schlagzeile.

Da nahm eine vage Idee in ihrem Kopf Gestalt an.

Als Mindy sich eine Stunde später in ihrem Spinningkurs abmühte, wollte ihr dieses Foto nicht aus dem Kopf gehen. John Phillips, so hieß er laut Zeitung. Geboren und aufgewachsen in Nelson. Seit zwei Jahren Witwer. Ehemaliger Bauarbeiter, jetzt Rentner.

»Und hoch«, brüllte die Kursleiterin Lindsay, die die Teilnehmerinnen zwischen dreißig und fünfzig drillte, als stünden sie kurz vor einem Kampfeinsatz.

Die vierundvierzigjährige Mindy hob ihren Po vom Sattel. Der Schweiß lief ihr in Strömen übers Gesicht. Was der Sinn der Sache war, wie sie wusste. Doch sie wünschte sich, sie würde beim Sport nicht so aussehen, als bekäme sie gleich einen Herzinfarkt.

Sie war sich ziemlich sicher, John Phillips noch nie gesehen zu haben, obwohl sie seit über zehn Jahren in Nelson wohnte. Sie staunte jedes Mal aufs Neue, dass es in einem Ort mit nicht einmal fünfundzwanzigtausend Einwohnern Leute gab, von denen sie nie gehört hatte. Dazu gehörten nicht nur die neu Hinzugezogenen. Nein, auch Menschen wie John, die ihr ganzes Leben in Nelson gelebt hatten. Wieso kam er ihr nicht wenigstens bekannt vor?

Mindy hatte es sich letzten Endes damit erklärt, dass Nelson aus vielen kleineren Welten bestand. Es war wie bei der russischen Matrioschka, wo viele kleine Püppchen in einer großen lebten. Da waren die echten Nelsoner, deren Familien mindestens seit zwei Generationen ansässig waren. Dann die Reichen und Neureichen, zwischen denen auch ein Graben verlief. Dann die Sportlertruppe, wie ihre Freundin Kate sie nannte. Die bestand aus jungen Männern und Frauen, die von der spektakulären Umgebung hierhergelockt worden waren und alle aussahen, als kämen sie direkt aus einer Werbung für Outdoorbekleidung – groß, muskulös und blankäugig.

Daneben gab es natürlich die Mittelklasse, zu der Peter und sie gehörten. Allerdings hatte Mindy sich immer so gefühlt, als wären die beiden Hälften ihrer ganz persönlichen Matrioschka unsauber verarbeitet worden, sodass sie sich nur knirschend zu einem Ganzen zusammenfügten.

»Zwei Minuten hinsetzen«, brüllte Lindsay.

Mindy fiel auf, dass die Frau überhaupt nicht zu schwitzen schien, was sie unfair fand.

»Hast du das von dem Mann gelesen, der sein Haus bei dem Brand verloren hat?«, fragte Kate Bourne sie aus dem Mundwinkel, damit Lindsay es nicht sah.

Zu reden war in diesem Kurs strengstens verboten. Selbst Kate hatte ein bisschen Angst vor Lindsay, die nur wenige Wochen zuvor tatsächlich ein paar Plappermäuler hinausgeworfen hatte.

»Daran habe ich gerade gedacht«, erwiderte Mindy keuchend und schob sich die aschblonden Haarsträhnen aus der Stirn, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten.

Sie war seit einem Jahr in dem Kurs, seit Kate sie dazu aufgefordert hatte, doch er schien nie leichter zu werden. Genauso wenig stellten sich die Ergebnisse ein, die Kate ihr versprochen hatte – straffe Schenkel, knackiger Po und acht Kilo weniger Gewicht, die sie nach Angus’ Geburt nicht losgeworden war. Ganz zu schweigen von den fünf Kilo, die sie in der Schwangerschaft mit Carrie zugelegt hatte. Doch Mindy hütete sich, bei Kate darüber zu klagen. Die hätte nur erwidert: »Dann hast du nicht genug gemacht«, und Mindy hätte sich noch schlechter gefühlt als ohnehin schon.

»Es ist tragisch«, bemerkte Kate und radelte mühelos zu der Salsamusik, die Lindsay auflegte, um sie zu motivieren.

Mindy bemerkte, dass auch Kate kaum schwitzte. Allerdings gehörte Kate zu den Frauen, die in jeder Lage präsentabel aussahen.

»Ja, wirklich«, bestätigte sie. »Ich habe überlegt …«

»Wie oft muss ich es noch sagen? Nicht reden!«, donnerte Lindsays Stimme, als wäre sie durch ein Megafon verstärkt.

Mindy senkte den Blick zu Boden und fragte sich, ob sie noch röter werden konnte, als sie schon war. Und ob es irgendeine Möglichkeit gab, sich vor dem Spinningkurs zu drücken, ohne Kate gegen sich aufzubringen. Als sie zu dem Schluss kam, dass beides nicht möglich war, konzentrierte sie sich für den Rest der Stunde auf ihre bleichen Beine, die sich auf und ab bewegten.

Ihre Füße traten unermüdlich in die Pedale, aber ihre Gedanken kreisten um John Phillips.

»Also, was wolltest du eben sagen?«, fragte Kate, als sie sich ihre feuchten Klamotten abstreifte. Sie hatte ihre schwarzen Haare zu einem perfekten Pferdeschwanz zusammengefasst, alle Enden gleich lang. Durch ihre leicht geröteten Wangen strahlten ihre grünen Augen wie die einer Katze.

Mindy wandte den Blick ab. Vielleicht, weil sie mindestens zehn Kilo mehr wog als Kate, aber eigentlich war es ihr immer unangenehm gewesen, sich vor anderen Frauen auszuziehen. Etwas daran erinnerte sie an das demütigende Gefühl in der Schulumkleide. Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich heute noch so, als wäre ihr Körper etwas, das versteckt werden musste, ein Geheimnis, das sie nicht preisgeben durfte.

»Wegen Mr. Phillips?«

»Du meinst das Brandopfer?«

Mindy biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. Das machte Kate immer: Sie klassifizierte Menschen nach einem einzigen Merkmal. In gewisser Weise wurde es dadurch leichter, ganz offen über Leute zu reden. Wer außer ihren engsten Freundinnen wusste schon, dass die Fusselhaar-Mutti die Frau des Bürgermeisters war, die zugegebenermaßen wirklich kümmerliche Haare hatte? Manchmal fragte sich Mindy, wie Kate wohl sie bezeichnete, wenn sie nicht dabei war. Wahrscheinlich als Herzfehler-Mutti. Eigentlich wollte sie das gar nicht so genau wissen.

»Ja«, erwiderte Mindy. »Das ist sein Name, John Phillips. Seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben.«

»Genau. Ich hab den Artikel gelesen.«

»Jedenfalls habe ich mich gefragt, ob wir nicht zu einer Spendenaktion aufrufen könnten? Du weißt schon, wie auf unserem Herbstfest, nur dass die Spenden diesmal für ihn wären? Damit er sich ein neues Haus kaufen kann?«

Noch so etwas, was Mindy auffiel, wenn sie mit Kate zusammen war: Sie konnte keine klaren Aussagesätze mehr formulieren, alles mutierte zu einer einzigen großen Frage.

Kate ließ ihr Handtuch zu Boden fallen und stieg in ihre winzigen Dessous. Mindy wusste nie, ob es ihr einfach egal war oder ob sie ihren straffen, gebräunten Körper zeigen wollte.

»Hm. Was meinst du, Bit?«

Bit, Betsy Loman, gehörte ebenfalls zu ihrem Spinningtrupp, wie Kate sie nannte. Der Trupp war eine Untersektion der Koffaholics, einer Gruppe von etwa zwanzig Frauen, die Kate anführte. Mindy kannte sie seit Jahren, hauptsächlich über die Kinder, traf sich aber erst seit etwa einem Jahr regelmäßig mit ihnen. Seit dem Supergau, wie Kate es nennen würde.

»Ich finde, das ist … eine großartige Idee?«, sagte Bit und sah Kate in Erwartung einer Reaktion an.

Bit wollte immer allen gefallen. In Bits Nähe fühlte sogar Mindy sich selbstbewusst.

Kate nickte. »Ich finde sogar, wir sollten das Herbstfest zu einer Spendenaktion für Brandopfer nutzen. Schließlich braucht der Hockey Club eigentlich keine Unterstützung.«

Bit wurde rot und presste die Lippen zusammen.

»Vielleicht könnten wir den Erlös aufteilen?«, fragte Mindy beunruhigt. »Haben wir im letzten Jahr nicht hunderttausend Dollar zusammengebracht?«

»Sei nicht albern, Min. Was kriegst du in dieser Stadt schon für hunderttausend?«

4

Ermittlungen

Elizabeth

Als Ben das erste Mal mit mir nach Nelson fuhr, konnte ich meinen Blick einfach nicht von der Umgebung wenden. Es war eine Panoramalandschaft mit herzzerreißend schönen schneebedeckten Bergen und tiefblauem Himmel. Obwohl es Winter und eiskalt war, spürte ich, wie mir die feuchte Kälte aus den Knochen wich, die ich aus meiner Heimatstadt Ottawa mitgebracht hatte. Ich wusste noch, dass ich dachte: So sollte ein Winter sein. Hier könnte ich leben.

Genau darum bat mich Ben vier Tage später, nachdem wir mit Skiern auf einen der kleineren Berge gestiegen waren und uns auf einem sonnigen Felsen ausruhten, bevor wir durch den Pulverschnee hinunterfahren wollten. Mit ihm zu leben. In dieser Stadt. Für immer mit ihm zusammenzubleiben.

Die vier Tage waren bis dahin eher schwierig gewesen. Obwohl ich gewusst hatte, dass Ben aus einer Familie mit Geld stammte, und seinen Eltern schon bei anderen Gelegenheiten begegnet war, musste ich mich erst daran gewöhnen, so viel Geld aus der Nähe zu sehen.

Im Geld zu schwimmen.

Es war nicht nur das absurd große Haus. Oder der Umstand, dass seine Schwester Ashley tatsächlich rosa Polohemden und Kniestrümpfe trug wie jemand aus dem Kleinen Leitfaden für die höhere Tochter, einem ironisch gemeinten Handbuch an meiner Highschool, das an Halloween konsultiert wurde. Ich war nicht gerade in einer Hütte aufgewachsen und wusste, welches Besteck man zu welchem Gang benutzte, aber alles wirkte so antiseptisch. Es war penibel aufgeräumt, jede Mahlzeit so gut wie im Restaurant und vom Personal zubereitet. Personal! Hätte es damals schon Downton Abbey gegeben, wäre ich mir vorgekommen wie in einer der Episoden. Wie die ordinäre kanadische Kusine beispielsweise, die ihre höchst kultivierten Verwandten besucht. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bevor ich mich – wie entsetzlich! – von der falschen Seite der Servierplatte bedient hätte.

Nur in Bens Zimmer fühlte ich mich wohl. Ein Innenarchitekt hatte es gestaltet, doch Ben hatte die handbedruckte Tapete mit Postern von seinem Lieblingsbuch und seinen Lieblingsplatten überklebt. 1984, Dark Side of the Moon, The Outsiders. Die Poster waren ziemlich ungewöhnlich, weil sie eher wie Gemälde aussahen. Bei näherer Betrachtung erkannte ich, dass es sich nicht um Drucke, sondern tatsächlich um Gemälde handelte.

»Wo hast du die her?«, fragte ich.

»Äh, ich, die sind von mir.«

»Du malst?«

Ben senkte den Kopf und suchte etwas in einer der Schreibtischschubladen.

»Früher.«

»Wieso hast du damit aufgehört?«

»Weil ich nicht besonders gut bin.«

»Was? Sieh dir die doch mal an! Die sind perfekt.«

Ben drehte sich zu mir um und hielt etwas hinter seinem Rücken versteckt.

»Ich kann gut kopieren. Wenn du eine Gang von Kunstdieben kennst, die einen guten Fälscher braucht, bin ich dabei.«

»Wenn du so was zustande bringst, kannst du doch sicher auch andere Sachen malen?«

»Wenn ich nicht abmale, bringe ich nur Strichmännchen zustande.«

»Das ist ja …«

»Erbärmlich?«

»Aber nein!«

Er grinste. »Keine Sorge. Ich bin darüber hinweg. Außerdem würden Grace und Gordon ausflippen, wenn ich ihnen erzählte, ich wollte ein brotloser Künstler werden.«

»Hast du ihnen erzählt, dass du stattdessen beschlossen hast, brotloser Lehrer zu werden?«

»Das wollte ich mir bis zur letzten Minute aufsparen.«

»Aha. Sag mal, was versteckst du da hinter deinem Rücken?«

»Ach das?« Er zog seine Hand hervor und präsentierte mir wie ein Zauberer eine halb volle Tüte mit Marihuana. »Glaubst du, das Zeug ist noch gut?«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, um das herauszufinden.«

Also zogen wir uns in den hinteren Teil des Gartens zurück, kifften auf einer Schneewehe und kicherten uns wie die Teenager durch eine weitere exquisite Mahlzeit. Weil Ben drei Tage später wieder seine Hand hinter dem Rücken versteckte, als wir uns gerade auf einem Berggipfel ausruhten und tief die dünne Luft einatmeten, während unser Herz von der Höhe und der Anstrengung heftig pochte, musste ich lachen.

»Findest du wirklich, dies ist der rechte Ort?«

»Eigentlich dachte ich, der Ort sei perfekt.«

Ich wollte schon protestieren und warnen, dass wir einen schwierigen Abstieg vor uns hätten, außerdem bestünde Lawinengefahr …

Da kniete sich Ben vor mir in den Schnee und präsentierte mir eine kleine Samtschatulle. Er sagte, ihm sei klar, dass er mir nicht so viel bieten könne wie seine Eltern, doch liebe er mich aus ganzem Herzen.

»Willst du meine Frau werden?«, fragte er.

Und jede Faser meines Seins schrie Ja.

Wegen meines Besuchs an der Brandstelle und bei Kara fahre ich ziemlich spät ins Büro, was meinen Boss, den Staatsanwalt Rich Parker, ganz sicher verärgern wird. Er bekam die Stelle vor drei Jahren, nachdem er einen Großteil seiner Karriere als Stellvertreter für den vorigen Staatsanwalt gearbeitet hatte. Richs letzter Stellvertreter war ein Junge frisch von der Uni gewesen, der einmal zu oft Wer die Nachtigall stört gelesen hatte. Er hat vor ein paar Wochen gekündigt, daher sind wir nur zu dritt im Büro: ich, Rich und Richs Sekretärin Judy.

Unser Büro befindet sich in einem kleinen Gebäude am Stadtplatz, direkt gegenüber dem Gericht, und ich arbeite als Richs Privatermittlerin. Ein entsprechender Lehrgang war Teil meiner Ausbildung zur Brandermittlerin gewesen. Als ich mit der Brandbekämpfung aufhörte, dachte ich, der Job würde gut zu mir passen, obwohl ich eigentlich keine Ahnung hatte, was er beinhaltete. Ich hatte wohl die vage Vorstellung, ich würde bei der Suche nach Vermissten, der Aufklärung von Wirtschaftsbetrügereien und vielleicht ab und zu bei Mordermittlungen helfen. Dabei hatte es seit fünfundzwanzig Jahren in der Gegend keinen Mord mehr gegeben, was natürlich gut war.

»Hier geht es meistens ums Häusliche«, hatte Rich gesagt, seinen Stuhl gefährlich nach hinten gekippt und die Cowboystiefel auf dem Schreibtisch abgelegt. Die Stiefel waren sein einziges Zugeständnis an seine ländliche Herkunft. Von den Knien aufwärts bevorzugte er den Großstadtstil: Nadelstreifendreiteiler und konservative Krawatten mit Windsorknoten, ganz gleich, welches Wetter herrschte.

»Häusliche?«, wiederholte ich und fragte mich nervös, ob es ein Fehler gewesen war, zum Vorstellungsgespräch in einem Sommerkleid aufzukreuzen. Meine bisherige Arbeitskluft war feuerabweisend gewesen, etwas Bürotauglicheres als dieses Kleid hatte ich nicht.

Rich musterte mich, als sortierte er mich direkt in die Sparte der Dummköpfe ein. Er trug sein flusiges graues Haar sehr kurz geschnitten, bis auf ein paar Strähnen, die über den Schädel gekämmt waren. Seine Augen waren dunkelbraun, sodass man die Pupille nicht sah.

»Häusliche Gewalt. Sie sagten doch, Sie wären eine ausgebildete Ermittlerin, oder?«

»Ja, natürlich. Ich stand kurz auf der Leitung. Tut mir leid.«

Er legte den Kopf auf die Rücklehne, als wünschte er sich, er könnte einen riesigen Hut zurückschieben.

»Häusliche Gewalt, Trunkenheit, ein paar Methlabore. Damit haben wir’s hier zu tun.«

»Was wäre meine Aufgabe?«

»Hauptsächlich Beweise zu sammeln.«

»Ist das nicht Aufgabe der Polizei?«

»Könnte man meinen. Stimmt aber nicht. Die ganze Polizei hat nur fünfzehn Angestellte und nur einen Detective neben dem Chief, der zu viel mit der Leitung zu tun hat. Die Streifenpolizisten erledigen die Laufarbeit, aber wenn wir tatsächlich etwas vor Gericht bringen, dann brauchen wir mehr Beweise, als sie auftreiben können.« Er zog seine Beine vom Tisch und lehnte sich zu mir. »Ich gewinne gern. Gewinnen Sie auch gern, Elizabeth?«

»Selbstverständlich. Wer nicht?«

Ich bekam die Stelle. Vermutlich, weil es keine anderen Bewerber gab. Insgesamt war die Arbeit ziemlich einfach: Flüchtigen nachspüren, Häuser durchsuchen und Zeugen für die häusliche Gewalt auftreiben, die es viel zu oft in dieser Stadt gab, vor allem Freitagnachts. Seit meiner Ankunft hatte es einen Mord gegeben. Unwillkürlich fragte ich mich, ob meine morbiden Jobvorstellungen dafür verantwortlich waren. Aber der Typ hatte nur wenige Minuten nach seiner Festnahme unter Tränen gestanden.

Noch ein Fall von häuslicher Gewalt, der böse geendet hatte.

Am Ende gefiel mir die Routine mehr, als ich gedacht hätte. Es war kein reiner Bürojob, und ich bekam sehr schnell die Schattenseite der Stadt zu sehen. Es konnte verdammt deprimierend sein, vor allem, wenn die Frauen trotz der Schnitte und Blutergüsse auf ihrem Gesicht keine Anzeige erstatten wollten. Nach zwei Jahren war ich mir immer noch unschlüssig, ob ich langfristig dort arbeiten wollte, doch angesichts der anderen Probleme in meinem Leben verschob ich die Entscheidung auf später.

Als ich im Büro eintreffe, ist Rich glücklicherweise nicht da. Vielleicht ist er noch nicht von seinem Labor-Day-Wochenende zurück. Er wollte mit seinen Kumpeln am Nelson Lake angeln, da er dort eine Blockhütte hat. Hin und wieder überfällt mich die Angst, er wollte mich dorthin einladen.

Ich frage Judy, wo er ist. Es besteht die fünfzigprozentige Chance, dass sie ihm aus reiner Langeweile oder Bösartigkeit steckt, dass ich mich verspätet habe. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass meine Auseinandersetzungen mit ihm zu den Dingen gehören, die es hier interessant machen. Findet sie.

Ich finde das eher nicht.

»Bei Gericht«, erklärt Judy kaugummikauend. Mit fünfundfünfzig sollte sie diese schlechte Angewohnheit eigentlich längst aufgegeben haben, genau wie das Rauchen, von dem ihre Finger gelb gefärbt sind. Doch wahrscheinlich geht mich das nichts an. »Wegen des Banküberfalls.«

»Ach ja.«

Der erste Banküberfall in der Geschichte der Stadt war vergangene Woche das Gesprächsthema Nummer eins. Der Bankräuber wurde Freitag drei Countys von uns entfernt geschnappt und wieder zurückgebracht. Ich frage mich, ob er nach einer Woche im Gefängnis der Stadt bereit ist zu gestehen, denn dort sitzen zu neunundneunzig Prozent Betrunkene, vor allem an einem langen Wochenende.

»Wo waren Sie?«, fragt Judy. Mir fällt auf, dass sie zu ihrem Herbstlook gewechselt hat, einem schlecht sitzenden Kostüm mit Rolli in einem Beerenton. Ihr stahlgraues Haar ist auf dem Kopf zu einem komplizierten Dutt zusammengefasst. »Man muss sich so anziehen, wie man leben möchte«, pflegt sie zu sagen. »Als Statist in einem Film?«, habe ich unklugerweise einmal erwidert.

»Ich dachte, ich werfe einen Blick auf das Feuer«, erkläre ich.

»Das fällt nicht in unsere Zuständigkeit.«

»Ich kenne ein paar Leute, die dort arbeiten.«

Achselzuckend wendet sie sich wieder der Scrabblepartie zu, die sie online spielt. Ihr Punktestand beträgt 455, während der ihres Gegners bei 212 liegt. Mich hat sie bei jeder unserer Partien vernichtend geschlagen, daher spielt sie nicht mehr mit mir. »Zu langweilig« findet sie, und da muss ich ihr zustimmen.

Ich hole mir einen Kaffee aus der winzigen Küche und begebe mich in das Kabuff, das mein Büro darstellen soll. Ursprünglich handelte es sich dabei um einen überdimensionierten Besenschrank. Als ich hier anfing, wurde er ausgeräumt. Das einzige andere Büro ist für den Stellvertreter reserviert, und Rich weigert sich, es mir vorübergehend zuzuteilen. Offenbar könnte ein Bewerber einen falschen Eindruck bekommen, wenn er wüsste, er müsste dort arbeiten, wo jemand wie ich gesessen hat.

Der Boden und alle Regale meines Kabuffs sind mit Aktenordnern und Kartons gefüllt, in denen sich hauptsächlich erledigte Fälle befinden. Für Aktenschränke reicht das Budget nicht. Ich hätte fast von meinem eigenen Geld welche gekauft, doch ich verdiene so wenig, dass Ben mir das ausgeredet hat. Eine Anschaffung jedoch konnte ich mir nicht verkneifen, ein kleines Messingschild für meine Tür. Daher begrüßt mich jeden Morgen schimmernd mein Name: Elizabeth Martin.

Als ich mein E-Mail-Account öffne, um zu sehen, ob es neue Warnmeldungen wegen des Feuers gibt, entdecke ich eine E-Mail von Ben.

Danke, dass du mir eine Nachricht hinterlassen hast, schreibt er.

Vor zwei Jahren hätte ich genau gewusst, was ich mit dieser E-Mail hätte anfangen sollen, und etwas Witziges oder leicht Anzügliches geantwortet. Zum Beispiel war es zwischen uns gang und gäbe, einander schreckliche Bilder mit Strichmännchen zu schicken, die zeigten, was wir am Abend miteinander anstellen sollten.

Die Antwort darauf hätte einen weiteren Vorschlag beinhaltet. Oder einen Link zu einem entsprechenden Video. Witzig. Unbekümmert. Einer der Gründe, warum Ben immer noch derjenige war, mit dem ich mich in einem Raum voller Menschen am liebsten unterhielt.

Aber jetzt – jetzt lese ich seine Worte und weiß nicht, was ich davon halten soll. Meine Nachricht war neutral. Konnte nicht schlafen, bin zur Arbeit. Diese E-Mail könnte ebenfalls neutral gemeint sein. Sie könnte auch unterschwelligen Sarkasmus transportieren, lodernden Zorn oder ein passiv-aggressives Leck mich. Wir sind in letzter Zeit beide voller Sarkasmus, Zorn und Aggression. Immer bereit, etwas in den falschen Hals zu bekommen. Schon beim Lesen dieser E-Mail fühle ich mich wie eine Wanne mit abgestandenem Wasser, aus der der Stöpsel gezogen wird.

Sorry, schreibe ich schließlich zurück. Meine Allzweckreaktion, die verletzend wirkt, obwohl das nicht beabsichtigt ist. Entschuldigung, Ausdruck des Mitgefühls, Zustand. All dies und nichts davon trifft auf mich zu. Wenn ich noch länger darüber nachdenke, wird Judy in meinem Büro kaugummikauend auftauchen, während ich meine Stirn schluchzend auf die Schreibtischplatte drücke.

Daher checke ich lieber meine restlichen E-Mails. Es gibt keine neuen Warnmeldungen. Dann lese ich die Lokalzeitung mit ihrer pathetischen Berichterstattung über den Brand, davon lebt sie. Anschließend stöbere ich eine Stunde lang online im lokalen Katasteramt. Das ist das beste nicht verschreibungspflichtige Mittel zur Gefühlsabtötung, das es gibt.

Das mache ich, weil Rich das Gefühl hat, jemand würde die Grundbesitzabgaben manipulieren, indem er in die Kaufverträge falsche Grundstückswerte einträgt. Dieses Gefühl überkommt ihn alle paar Wochen. Meistens, wenn er sich wegen seiner Umfragewerte Sorgen macht. Nächstes Jahr will er wiedergewählt werden. Da in seiner Amtszeit die erfolgreichen Anklagen nicht gestiegen sind, muss er einen größeren Coup landen, um seine Stelle zu behalten.

Fairerweise muss man jedoch sagen, dass die Zahlen vorher irrsinnig hoch waren, daher ist ein Prozent weniger schon eine Enttäuschung. Natürlich sind seine Umfragewerte nur Gerüchte, die er im hiesigen Café hört, und es kandidiert auch niemand gegen ihn, doch offenbar ist ständige Wachsamkeit gefordert.

Da ich schon einmal dabei bin, mache ich eine Liste mit potenziell verdächtigen Transaktionen. Dann sitze ich da, starre auf meinen Bildschirm und aktualisiere alle fünf Minuten die Seite über das Feuer im Cooper Basin auf ForestFires.com wie eine Ratte in einer Skinner-Box, die auf ihr nächstes Leckerli hofft.

Auf meine E-Mail antwortet Ben nicht.

»Wieder mal zu spät, Liz?«, fragt Rich, der unbemerkt hinter mir aufgetaucht ist. Er hat seine Lief-nicht-gut-Miene aufgesetzt, daher vermute ich, der Bankräuber ist auf Kaution raus.

»Elizabeth.«

»Pardon?«

»Ich habe Ihnen schon eine Million Mal gesagt, dass ich nicht auf Liz höre.«

Wahrscheinlich sollte ich mich einfach von ihm Beth nennen lassen, doch der Name ist für Menschen reserviert, die ich mag.

»Schön. Elizabeth. Wenn’s denn sein muss.« Er sieht mich stirnrunzelnd an und wippt auf den Absätzen seiner Cowboystiefel. »Was hat Ihnen heute Morgen die Petersilie verhagelt?«

Ich drehe den Monitor zu ihm, sodass er die Karte sehen kann. »Unser Haus befindet sich in der Evakuierungszone.«

»Der was?«

»Vom Feuer. Dem Feuer im Cooper Basin.«

»Ach ja, richtig.«

»Momentan ist noch alles okay, aber …«

»Da wird nichts passieren. Waldbrände kommen hier ständig vor, aber in der Stadt hatten wir kein Feuer seit … seit wann? 1954?«

Er sagt das, als wäre es eine Ewigkeit her, doch er könnte sich genau daran erinnern.

»Das weiß ich nicht, aber …«

»Apropos Brand, wir hatten einen Anruf vom Polizeichef. Ihre Dienste werden benötigt.«

»Meine Dienste? Wofür denn?«

»Waren Sie früher nicht Brandermittlerin? Oder haben Sie das nur in Ihren Lebenslauf geschrieben, um mich zu beeindrucken?«

Ich ignoriere seine Beleidigung. »Denken die, es wäre Brandstiftung gewesen?«

»Zumindest muss das ausgeschlossen werden, das wissen Sie doch. Außerdem hingen den ganzen Sommer über Brandschutzverordnungen aus. Selbst wenn jemand nur fahrlässig war, müssen wir Anklage erheben.«

»Kommt mir übertrieben vor.«

»Sagen Sie das mal dem Staat. Wie ich gehört habe, hat ihn die Sache bereits eine halbe Million gekostet.«

Da er den ganzen Morgen vor Gericht war, habe ich keine Ahnung, woher er all diese Informationen hat, es sei denn …

»Wie lief denn die Anhörung?«, frage ich.

»Seine Eltern haben einen teuren Anwalt angeheuert. Der alte Richter Otis wusste gar nicht, wo ihm der Kopf stand. Nach nur fünf Minuten gewährte er dem Jungen die Freilassung gegen fünftausend Dollar Kaution. Ist das zu fassen?«

»Absurd.«

»Da haben Sie verdammt recht. Jedenfalls reden bei Joanie’s alle nur über das Feuer. Der Bankraub ist Schnee von gestern.«

Joanie’s ist sein Stammcafé. Die Klatschzentrale.

»Also machen Sie sich besser auf den Weg«, sagt er. »Deputy Clark wartet schon auf Sie.«

»Ich weiß nicht, ob das eine gute …«

Ungeduldig wedelt er mit der Hand. »Ab zum Büro des Sheriffs. Feuer verbrennt Geld.«

5

Mit oder ohne?

Mindy

Nach dem Spinningkurs begleitete Mindy Kate und Bit zum Nelson Perk, der angesagten Kaffeebar des Orts, die ironischerweise seit Neuestem nur noch entkoffeinierten Kaffee verkaufte. In Mindys Augen das perfekte Pendant zu dem Cupcake-Laden, der vor ein paar Wochen eröffnet hatte und nur gesunde Cupcakes verkaufte.

Wenn man sich schon für Cupcakes entschied, interessierte einen doch nicht, ob sie gesund waren!

Mindy wäre lieber zu Joanie’s gegangen, dem gemütlichen Stadtcafé, wo die ältere Generation Gerüchte austauschte. Hast du schon gehört, Fred? Es heißt, im Frühling soll ein neuer Abzugskanal unter dem Fluss verlegt werden. Dort war Mindy früher oft gewesen. Doch das einzige Mal, als sie Kate das vorschlug, sah die sie an, als hätte sie sich mit Lippenstift die Augenbrauen gefärbt, und fing an zu lachen.

»Du bist so witzig«, sagte sie, wie immer, wenn Mindy etwas für sie Unverständliches tat. Als könnte Kate weiterhin ignorieren, dass Mindy nicht richtig dazugehörte, wenn sie in solchen Fällen die Humorkarte zückte.

Mindy wusste nicht genau, wie sie in diese Lage geraten war: unsicher, ein einziges Fragezeichen, mit dem Gefühl, die Hälfte der Zeit ihre Freundinnen fast zu hassen. Sie wusste, sie sollte sie aufgeben. Doch die Vorstellung, keine Freunde zu haben, wieder dort zu landen, wo sie vor einem Jahr stand … nein, das konnte sie nicht. Auch wenn diese Freundinnen eigentlich nicht zu ihr passten und ihr nicht guttaten, redeten sie doch wenigstens mit ihr.

Auf dem Parkplatz checkte sie nach einem schnellen Blick über die Schulter auf ihrem Handy, was es Neues zum Brand gab. Sie wusste nicht, warum sie sich benahm, als hätte sie eine heimliche E-Mail-Affäre, doch etwas an dem Feuer fühlte sich zutiefst persönlich an.

Sie las, dass die Brandursache noch unbekannt war. Das Feuer war am Rand des Cooperbeckens ausgebrochen, an einem steinigen Hang voller Unterholz, Altholz und niedriger trockener Sträucher. Zwar konnte durch das rasche Eingreifen der hiesigen Feuerwehr der Nordrand des Feuers eingedämmt werden, doch breitete es sich den Nelson Peak hinauf aus und bedeckte bereits fünfhundert Hektar Fläche.