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Barbara Skarga

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Beschreibung

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges wird eine junge polnische Frau von der sowjetischen Armee festgenommen, tagelang verhört und dann für zehn Jahre in einem Gulag inhaftiert: Dies ist das Schicksal Barbara Skargas, einer Frau und Philosophin, die mit ihrem scharfen Verstand, ihrer unverbrüchlichen Menschlichkeit und nicht zuletzt ihrem Humor einen Alptraum überlebte, von dem sie in einem beeindruckenden und nun entdeckten Memoir Zeugnis ablegt. Nach der Befreiung ist ein historisch bedeutendes, hochaktuelles Buch – und zugleich ein einzigartiger, ergreifender Bericht über den unerschütterlichen Willen, unter unmenschlichen Bedingungen Mensch zu bleiben.

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Barbara Skarga

Nach der Befreiung

Aufzeichnungen aus dem Gulag 1944-1956

Sachbuch

Bärbel Jänicke

Mit einer Einleitung von Alicja Gescinska

Editorische Notiz

Die deutsche Ausgabe von Barbara Skargas Nach der Befreiung beruht auf der niederländischen kritischen Ausgabe, die in der Erschließung des Werkes wertvolle Vorarbeit geleistet hat. Nachweisbare Fehler, die das Original enthält, etwa Ortsnamen in Russland, historische Ereignisse oder Daten, die Skarga fehlerhaft erinnerte, wurden vom niederländischen Übersetzer korrigiert. Ebenfalls korrigiert wurden Passagen des Originals, in denen Skargas Formulierungen russifiziert sind und unkorrekt ins Polnische übertragen wurden. Auch die zahlreichen und sehr informativen Kommentare, die die niederländische Ausgabe enthält, wurden übernommen.

Über Nach der Befreiung

Im akademischen Jahr 2007/2008 arbeitete ich als Gastwissenschaftlerin an der Universität Warschau. Einen Großteil dieses Jahres verbrachte ich mit dem Sammeln von Quellenmaterial und Vorbereitungen für meine Doktorarbeit, die ich im folgenden Jahr an der Universität Gent beginnen wollte. Gleichzeitig bot mir dieses Vorbereitungsjahr in meiner Heimatstadt auch die Möglichkeit, Fächer meiner Wahl zu belegen und meine Kenntnisse über Aspekte der Philosophiegeschichte zu vertiefen, mit denen ich bis dahin nicht sehr vertraut war.

In meinem Studium der Moralwissenschaften in Gent hatte ich beispielweise selten, wenn überhaupt, etwas über Denker aus östlicheren Regionen Europas gehört. Es schien so, als hörte die europäische Philosophie an der Ostgrenze Deutschlands auf zu existieren. Kontinentale Philosophie an westeuropäischen Universitäten befasst sich fast ausschließlich mit deutschen und französischen Denkern. Mehr als die Hälfte des europäischen Kontinents wird damit schlichtweg übergangen. Während meines Jahres in Warschau versuchte ich jedenfalls, die polnische und russische Philosophie besser kennenzulernen. Dort und damals hörte ich zum ersten Mal den Namen Barbara Skarga.

Ich beschäftigte mich mit dem Werk des einflussreichen polnischen Philosophen Leszek Kołakowski (1927–2009), und in einem der Artikel, die ich las, wurde auf eine Studentin von ihm verwiesen: Barbara Skarga. Das verwirrte mich ein wenig, weil Skarga fast ein Jahrzehnt älter war als Kołakowski; keine klassische Lehrer-Schüler-Beziehung also. Ich war sofort von dieser brillanten Studentin Kołakowskis fasziniert und kaufte mir alle Bücher, die ich von den beiden finden konnte.

Ich hatte das Glück, dass beide Denker damals noch lebten und ihre neueren Werke noch im Buchhandel erhältlich waren. Ein zusätzlicher Glücksfall war, dass Kołakowski ausgerechnet 2007 seinen achtzigsten Geburtstag feierte. Der wurde an der Universität Warschau ausgiebig begangen, und zu diesem Anlass kam Kołakowski, der seit Anfang der siebziger Jahre in Oxford lebte und arbeitete, selbst nach Warschau. Er wurde in einer prachtvollen Aula der Universität geehrt. Im Anschluss daran folgte eine festliche Zusammenkunft mit Studenten und Professoren. Und dort sah ich zum ersten und letzten Mal auch Barbara Skarga, zuerst auf dem Podium neben Kołakowski und danach in den Gängen.

Nach meiner Rückkehr aus Warschau stürzte ich mich auf meine Doktorarbeit und hatte weniger Zeit, mich mit Skarga und Kołakowski intensiver zu befassen. Erst nach Abschluss meiner Dissertation nahm ich mir wieder ausgiebig Zeit, um mich in ihre Werke zu vertiefen. Daraus ging unter anderem ein Buch über Kołakowskis Leben und Werk hervor, das ich zusammen mit zwei Kollegen geschrieben habe. Und es führte auch zu einem dauerhaften, zunehmenden Interesse an der Persönlichkeit und der Philosophie Skargas. In den letzten Jahren habe ich mich zwar gelegentlich und indirekt in mehreren meiner Schriften auf sie bezogen, aber sie stand nie im Mittelpunkt, auch wenn ich fast ständig mit dem Lesen, Zusammenfassen und Analysieren ihrer Bücher beschäftigt war.

So wollte es der Zufall, dass ich gerade mitten im Lesen von Skargas Buch Po wyzwoleniu… (1944–1956) war, als Russland im Februar 2022 mit seiner großflächigen Invasion in die Ukraine begann. Schlagartig wurde mir die Relevanz von Skargas Worten bewusst. Alles, was sie vor so vielen Jahren niedergeschrieben hatte, bekam in diesen Tagen und Wochen eine zusätzliche Bedeutung, eine besondere Dringlichkeit. So vieles von dem, was Skarga beschrieben hatte, war auf schmerzliche Weise wiedererkennbar geworden. Die russische Rhetorik über die Notwendigkeit, das Nachbarland von Faschisten zu befreien. Menschen, die in Züge Richtung Osten gesetzt wurden. Hunger als Waffe. Deportationen, die Evakuierungen genannt wurden. Scheinreferenden und -wahlen. Skarga beschrieb, wie es früher war, und die Parallelen zur heutigen Zeit sind nicht zu verkennen. Die Erkenntnis, dass jeder Skargas Nach der Befreiung lesen sollte, um zu einem besseren Verständnis von Gegenwart und Vergangenheit zu gelangen, traf mich Ende Februar 2022 fast wie ein Blitzschlag.

Ich möchte betonen, dass Skarga unbestreitbar die Grande Dame der polnischen Philosophie des vergangenen Jahrhunderts war und dass sie ein Werk von solchem Umfang und solcher Tiefe geschrieben hat, dass man sich damit ein Leben lang beschäftigen könnte. Aber gleichzeitig – und ohne ihre Verdienste als Philosophin damit schmälern zu wollen – kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass kein einziges philosophisches Buch von ihr so bedeutsam und so wertvoll ist wie Po wyzwoleniu…: ihre autobiographischen Aufzeichnungen über ihre Jahre im Gulag und während der Verbannung auf eine Kolchose im äußersten Osten Russlands.

Skargas Nach der Befreiung ist in mindestens dreifacher Hinsicht von Bedeutung. Zunächst ist das Buch von historischer Relevanz. Es enthält eine Fülle sachlicher Informationen über einige der dunkelsten Seiten der zentral- und osteuropäischen Geschichte. Es ist auffallend, dass die historische Forschung, das kollektive Bewusstsein und das verfügbare Wissen über den Gulag sowie die Literatur darüber eher begrenzt sind, besonders im Vergleich zur Beschäftigung mit den Lagern der Nazis. Für Historiker ist Nach der Befreiung deshalb auch von unschätzbarem Wert. Skarga skizziert Aspekte des Gulaguniversums, die in anderen Aufzeichnungen und Werken über den Gulag, beispielsweise von Solschenizyn, eher fehlen. Skarga selbst unterstreicht den Wert von Solschenizyns Werk, aber auch dessen Schwächen. Sie hebt hervor, wie anders es war, als Europäer und nicht als Russe im Gulag zu sitzen. Sie zeigt auch auf, wie anders es war, als Frau im Gulag zu landen. Das grundlegende Bedürfnis nach Liebe und Zärtlichkeit. Die Angst, vergewaltigt zu werden, schwanger zu werden. Und was passiert dann? All das sind Aspekte, die für eine Frau zum alltäglichen Leben im Gulag dazugehörten und die Skarga auf oft ergreifende Weise beschreibt und in Erinnerung bringt.

Die Kenntnis der Vergangenheit ist immer auch unabdingbar für ein besseres Verständnis der Gegenwart. Dies führt uns zu einem zweiten Aspekt der Bedeutung von Nach der Befreiung. Man lernt nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart besser kennen. Wer die derzeitigen Beziehungen Russlands zu seinen Nachbarn und der slawischen Welt besser verstehen will, kann in Nach der Befreiung wichtige, aber auch traurige Lektionen lernen: Lektionen über Russlands Imperialismus und Eroberungsdrang, über die falsche Rhetorik der Befreiung, über die Mentalität der Fügsamkeit und Untertänigkeit der russischen Bevölkerung, über Polen, über die Ukraine, jene Nation, die Skarga so schön als Steppenfalke beschreibt – prächtig schwebend mit kraftvollen Schwingen –, und zugleich eine so tragische Nation, die immer wieder vom Schicksal geknechtet wird; eine verlorene, unglückliche Nation, die doch so sehr frei sein möchte. Die europäische Geschichte hat uns im Jahr 2022 eingeholt. Die Geschichte wiederholt sich, stellte auch Skarga fest, und sie widerspricht damit Marx, dem zufolge sich die Geschichte erst als Tragödie und dann als Farce wiederholt. Nein, die Wiederholung der Geschichte bleibt immer Mal für Mal tragisch.

Drittens schrieb Skarga ihre Erinnerungen in den frühen achtziger Jahren nieder. Sie war zu dieser Zeit eine Philosophin in der Blüte ihres Denkens, und das kann man in Nach der Befreiung auch sehen. Das Buch enthält viele Gedanken, die zu weiterer Reflexion anregen – Gedanken, die das Wesen des Menschen, der Zwischenmenschlichkeit und der Unmenschlichkeit ergründen. Nicht nur aus historischer und aktueller, sondern auch aus philosophischer Perspektive ist Nach der Befreiung deshalb ein Buch, das man in Ehren halten, lesen und wiederlesen sollte.

Schließlich möchte ich auch die literarischen und erzählerischen Qualitäten von Nach der Befreiung erwähnen. Das Buch ist eine außergewöhnliche Mischung aus persönlichen Reminiszenzen, historischem Tatsachenmaterial, philosophischer Reflexion und literarischer Kunstfertigkeit. Es hat zudem einen bemerkenswerten Aufbau und eine organische Erzähllinie, um all diese Elemente zu einem Ganzen zu schmieden. In ihrem Vorwort spielt Skarga selbst diese Aspekte des Buches allerdings herunter, und sie scheint mir dabei zu bescheiden zu sein. Skarga erklärt, dass ihr Buch »unfertig« sei, weil es nun einmal unmöglich zu vollenden sei. Es werde immer Erinnerungen geben, die wieder auftauchen, wieder verblassen, sich aufdrängen, wieder verebben. Immer gebe es Informationen, die weiter aufgedröselt werden könnten und sollten. Es gebe immer mehr zu sagen, als gesagt werden könne.

In anderen Büchern, etwa einer in Interviewform aufgezeichneten Autobiographie aus dem Jahr 2008, kommen in der Tat noch andere Erfahrungen aus Skargas Jahren im Gulag zur Sprache – Erfahrungen, die zweifellos auch in Nach der Befreiung ihren Platz hätten finden können. Ein treffendes Beispiel ist die Geschichte von Heino. In Kapitel 4 von Nach der Befreiung wird ganz kurz auf einen Arzt namens Heino verwiesen, aber mehr erfahren wir nicht über ihn. Dennoch war Heino eine nicht unbedeutende Figur in Skargas Leben.

Er war ein deutscher Arzt, mit dem sie sich in den Lagern angefreundet hatte. Vielleicht war das Schicksal mit ihm sogar noch ungnädiger als mit Skarga, denn anders als Skarga wurde er von Schuldgefühlen geplagt, von dem Gefühl, dass er etwas Schreckliches getan hatte, wofür ihn das Schicksal nun bestrafte. Heino war Arzt in Nazideutschland gewesen und während des Krieges nach Brüssel geschickt worden, um dort zu arbeiten. Eines Tages bat ihn ein Kollege, ihn zu vertreten. Ohne genau zu wissen, um welche Art Arbeit es sich genau handelte, willigte Heino ein. Er wurde zu einem Selektionsplatz geschickt. Er sollte Häftlinge selektieren, die medizinisch Arbeitsfähigen von denen trennen, die es nicht waren.

In der Annahme, den kranken und geschwächten Häftlingen einen Gefallen zu tun, gebrauchte er die Einstufung »arbeitsunfähig« sehr großzügig, um ihnen zunächst ein wenig Ruhe zu gönnen. Erst im Nachhinein erklärte ihm sein Kollege in zynischem Ton, wie das Schicksal der Arbeitsunfähigen aussehen werde. Das brachte Heino völlig aus der Fassung: Er kündigte, schloss sich dem Widerstand gegen die Nazis an, wurde dann aber von sowjetischen Soldaten verhaftet und in den Gulag gesteckt. Dort lernte er Skarga kennen. Sie überlebten beide die Lager, hielten auch danach Kontakt und blieben Freunde (auch wenn es wegen der Mauer und des Eisernen Vorhangs nicht selbstverständlich war, Freundschaften zu pflegen).

Obwohl solche Hintergrundinformationen, ergänzende Schilderungen und zweifellos noch sehr viele andere Elemente aus der mehr als zehnjährigen Gefangenschaft auch in Nach der Befreiung nicht fehl am Platze gewesen wären, ist Skarga in ihrer Beurteilung ihres eigenen Buches zu streng, wenn sie sagt, es sei »unfertig« und sie habe ihre Erinnerungen nur frei niedergeschrieben, so wie sie in ihr aufkamen, ohne chronologische Einordnung. Dies ist eindeutig nicht der Fall. Ich würde sogar wagen, das Gegenteil zu behaupten: Nach der Befreiung zeichnet sich gerade durch einen sehr strikten Aufbau aus. Die Erinnerungen sind mehr oder weniger thematisch geordnet (Erinnerungen an die Arbeit, an die Liebe in den Lagern und dergleichen); zugleich haben Skargas Aufzeichnungen auch einen chronologischen Aspekt, wodurch sich eine fesselnde Erzählung samt Spannungsbogen ergibt. Skarga nimmt uns mit auf ihre Odyssee durch die russische Hölle: von ihrer Verhaftung und den ersten Monaten in Gefängnissen in Litauen bis zum Beginn ihrer Gulagjahre und ihrer Deportation nach Uchta, wo sie als Krankenschwester im Hospital eingesetzt wurde, und dann nach Balqasch in der kasachischen Steppe, wo sie in einer Ziegelfabrik arbeiten musste.

Als Leser fühlt man mit, und wenn man glaubt, dass Skargas Leidensweg mit der Entlassung aus dem Gulag ein Ende haben würde, beginnt das Elend von Neuem, diesmal mit der Zwangsverbannung und der Arbeit in einer Kolchose, die in Kapitel 7 beschrieben wird. Und im letzten, kurzen Kapitel gibt es die Katharsis: Skarga darf endlich die Kolchose verlassen und erreicht nach einer Zugfahrt, die kein Ende zu nehmen scheint, die polnische Grenze. Es ist jedoch eine Katharsis mit einem bitteren Beigeschmack. Im vorletzten Absatz schreibt Skarga, dass das Gefühl der Enttäuschung nie größer war als genau in diesem Moment. Bei der Annäherung an die polnische Grenze durchquert der Zug ein Gebiet, das früher polnisches Territorium gewesen war, Polen inzwischen aber mit den Friedensverträgen der Nachkriegszeit weggenommen wurde. Dies war das Land, für das so viele Polen ihr Leben gegeben hatten, für das sie im Krieg gekämpft hatten, für das sie ihre jungen Jahre geopfert hatten. Und ausgerechnet hier hing nun alles voller russischer Schilder und russischer Aufschriften. So bitter kann das Ende der Hölle manchmal schmecken.

Die erzählerischen Qualitäten von Skargas Aufzeichnungen dürfen sicherlich hervorgehoben werden. Vergleicht man diese Aufzeichnungen mit der Fülle literarischer Zeugnisse über die Nazilager, so fällt auf, dass die besten dieser Zeugnisse immer Figuren – Menschen – enthalten, die einen als Leser ein Leben lang begleiten – »Charaktere«, die uns an der Gurgel packen und sich wie ein allgegenwärtiger schlummernder Schmerz in unser Herz einnisten. Primo Levis Hurbinek zum Beispiel. Oder das von Tadeusz Borowski beschriebene Kind, dessen Mutter so tut, als wäre es nicht ihr Kind, als sie mit dem Zug in Auschwitz ankommen. Oder das Kind, das in Elie Wiesels Die Nacht erhängt wird und einen grausamen Tod stirbt, woraufhin ein Häftling es nicht mehr aushält und fragt: Wo ist Gott in all dem, wo ist Gott in Auschwitz? Dort hängt er. Das sind Szenen, Figuren, Geschichten von anderen, die auch unsere Geschichte sind und die man nie vergisst.

Auch Nach der Befreiung lässt eine Reihe von Figuren Revue passieren, die einem in ähnlicher Weise im Gedächtnis bleiben. Manchmal liegt das an dem unerträglichen, unmenschlichen Elend, das sie erlitten haben: die exekutierten Häftlinge in Litauen, das Schicksal der armenischen Opernsängerin im Gulag, das Schicksal von Sergei Michailowitsch, der Frau, die – auch im Gulag – lieber als Mann durchs Leben gehen wollte, das Schicksal des Leningrader Professors, dessen Verhaftungsgeschichte unfassbar absurd ist, die Jüdin, die zwei Stunden lang über demselben Flughafen im Kreis flog und auf besonders fiese Weise Opfer des Antisemitismus der russischen Kommunisten wurde. Unvorstellbar tragische Leben.

Und dann gibt es Figuren, die einem nicht so sehr wegen ihres elenden Schicksals unter die Haut gehen, sondern weil sie in der Finsternis des Gulags und der Entmenschlichung so außergewöhnliche Lichtstrahlen sind. Musas liebevolle Eltern in Kapitel 5. Das ältere Ehepaar in der Kolchose, in der Skarga lebte. Die Ukrainer, die so schön singen konnten und durch deren Gesang sich Skarga wieder ein wenig als Mensch fühlte. Und sogar der zerzauste Hund aus Kapitel 5, um den sich die Frauen im Gulag so sehr bemühten. Sie alle sind Lichtstrahlen, die dazu beigetragen haben, diese schwierige, entscheidende Aufgabe zu erfüllen: nicht der Entmenschlichung nachzugeben, in dieser unmenschlichen Welt nicht gleichgültig zu werden. »Wir wollen Menschen bleiben. Wir wollen nicht, dass das Leben in uns verlöscht. Wir schützen uns vor der tödlichen Abstumpfung unserer Gefühle.«

Das sind alles vergessene Menschen und Ereignisse, von denen Skarga selbst sagt: »Man sollte ihre Geschichte so laut hinausschreien, dass jeder die Schreie hören kann.« Das sind alles Menschen und Ereignisse, von denen sie selbst sagt, sie habe die moralische Pflicht, sich an sie zu erinnern, ihr Schicksal aufzuzeichnen, denn wer sonst könne es noch tun. »Niemand denkt heute noch an sie. Niemand spricht mehr von ihnen. Sinnlose Opfer.« Skarga hat es als ihre moralische Pflicht angesehen, ihre Schicksale zu dokumentieren. Wenn dem so ist, so ist es auch unsere moralische Pflicht, etwas über diese Schicksale zu lesen und die Schreie zu hören.

 

Alicja Gescinska, August 2022

Über Barbara Skarga: Leben und Werk einer Renaissancefrau

Eine glückliche Kindheit mit dunklen ausgefransten Rändern

Barbara Skarga wurde 1919 in eine privilegierte Familie hineingeboren. Einerseits stand die Familie voll und ganz im modernen Wirtschaftsleben – ihr Vater leitete als juristischer Spezialist für Versicherungsrecht einen Dachverband von Versicherungsgesellschaften. Andererseits war die Familie tief im alten polnischen Landadel verwurzelt – die Schwester von Skargas Vater besaß ein großes Anwesen in Litauen, wo die ganze Familie viel Zeit zusammen verbrachte.

Polen und Litauen teilen eine jahrhundertelange gemeinsame, komplexe Geschichte. Über die Jahrhunderte bildete sich in Städten wie Vilnius (polnisch Wilno) eine polnische intellektuelle Elite heraus, und eine polnische Wirtschaftselite leitete große Ländereien und Bauernhöfe auf dem litauischen Land. Deshalb nimmt Litauen auch eine einzigartige Stellung in der polnischen Kulturgeschichte ein. Das Land hat sich als wesentlicher Nährboden der polnischen Kultur erwiesen. Die erste Zeile des zweifellos bedeutendsten polnischen Gedichts aller Zeiten, Pan Tadeusz (1834) von Adam Mickiewicz (1798–1855), lautet bezeichnenderweise »Lithauen! Wie die Gesundheit bist du, mein Vaterland«. Der Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz (1911–2004) wuchs ebenfalls in Litauen auf, und das Land seiner Jugend wird in seinen Gedichten sehr oft als Referenzpunkt der Schönheit und des Lebens, wie es sein sollte, aber selten ist, erwähnt.

Dass das Leben selten so ist, wie es sein sollte, wussten Skarga und ihre Familie nur zu gut. Die Tatsache, dass Skarga in einer privilegierten Familie aufwuchs, bedeutet nicht, dass das Schicksal ihr und ihrer Familie wohlgesinnt war. Ganz im Gegenteil. Ihr Leben war geprägt von den großen Erschütterungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ihre Eltern heirateten 1916 (es war die zweite Ehe ihres Vaters, der zehn Jahre älter war als Skargas Mutter). Im Jahr 1917 wurde Skargas Schwester Hanna geboren, doch dann brach in Russland die Revolution aus. Die Familie, die damals in Minsk lebte, floh nach Warschau, wo 1919 Skarga und einige Jahre später ihr Bruder Edward zur Welt kamen.

Die Familie teilte ihre Zeit zwischen Warschau und Litauen auf, wo sie oft viele Monate im Jahr auf dem Landgut der Schwester von Skargas Vater in Chocieńczyce, etwa hundertfünfzig Kilometer von Vilnius entfernt, verbrachte (heute gehört Chocieńczyce zu Belarus und heißt Khotenchitsy). Wie sich Skarga später erinnerte, war ihre Erziehung streng, aber aufgeschlossen und von humanistischen Werten durchdrungen. Auch wenn die Familie protestantisch war, spielte die Religion im Alltag kaum eine Rolle. Skarga selbst wies sich als Philosophin auch immer als ungläubig aus, wenngleich mit starken Wurzeln in und Interessen an den religiösen Aspekten des menschlichen Daseins.

Skarga erhielt eine Ausbildung, die für die privilegierte, intellektuelle Klasse in diesem Teil Europas damals typisch war: Sie vertiefte sich in eine Vielzahl von Sprachen (neben der Muttersprache auch Griechisch, Latein, Französisch und Deutsch; im Alltag hatte sie zudem Kontakt zum Litauischen und oft auch zum Jiddischen, das von Juden in Vilnius gesprochen wurde) sowie in Literatur, Musik, Mathematik und Wissenschaft.

Literatur und Musik besaßen in der Familie einen hohen Stellenwert. Skargas Mutter war musikalisch begabt, und auf dem Landgut in Litauen wurde oft Klavier gespielt. Die Skargas waren auch gut mit der Familie von Stefan Żeromski befreundet, dem damals vielleicht bedeutendsten polnischen Schriftsteller, der den Nobelpreis mehrfach nur knapp verpasste. Die Familien wohnten sogar eine Zeit lang unter einem Dach, und Żeromskis Tochter wurde die beste Spielkameradin von Skarga und ihrer Schwester. Skarga erinnerte sich später daran, wie bedeutsam die Gestalt Żeromskis war, dass er keineswegs gestört werden durfte, wenn er durch den Garten wandelte und ganz in seine eigenen Gedanken vertieft war – dann musste absolute Stille herrschen. Sobald er sich an seinen Schreibtisch setzte, folgte ein Seufzer der Erleichterung, und es durfte wieder gespielt werden. Beim Schreiben störte ihn der Lärm weniger als beim Denken.

Im Jahr 1925 starb Żeromski. Es war das erste Mal, dass der Tod Skarga so nahe kam, und es hinterließ bei ihr einen tiefen Eindruck. In den folgenden Jahren sollten noch weitere Ereignisse Skargas Leben tiefgreifend erschüttern. Zunächst war dies der Börsenkrach von 1929, der das Leben der Familie auf den Kopf stellte. Der Verband, dem ihr Vater vorstand, ging in Konkurs; die Familie selbst geriet in finanzielle Schwierigkeiten und musste in eine kleine Wohnung in Warschau umziehen. Einige Monate später erlag Skargas Vater, damals zweiundfünfzig, einem Herzinfarkt, was der unbeschwerten Kindheit der zehnjährigen Barbara ein jähes Ende setzte. Skargas Vater, der stets auf großem Fuß gelebt hatte, starb, ohne seiner Frau und seinen Kindern einen Cent zu hinterlassen. Kurzerhand beschlossen sie, zur Verwandtschaft nach Litauen umzuziehen: Das Leben dort war um ein Vielfaches erschwinglicher als in Warschau, und die Familie konnte sich gegenseitig beistehen. Skargas Mutter musste sich plötzlich Arbeit suchen und wurde Angestellte in einem Busunternehmen. Sie verdiente sehr wenig, aber mit der Unterstützung der Familie genug, um ihre Kinder zu ernähren.

Barbara Skarga schloss ihre Schulausbildung in Litauen ab und glänzte als Schülerin, vor allem in Mathematik. Ihr Wunsch, Mathematik auch zu studieren, wurde zu Hause jedoch nicht mit Begeisterung aufgenommen: Ihre Mutter wollte, dass sie eine praktischere Ausbildung wählte. Sie legte dann die Aufnahmeprüfung an der Polytechnischen Fakultät der Warschauer Universität ab, mit Erfolg. Damit war sie eine der wenigen Studentinnen im Ingenieursstudium, die sich auf Elektrotechnik spezialisierten. So kehrte sie 1937 nach Warschau zurück, wo ein pulsierendes Studentenleben mit allem, was dazugehört, begann: Alkohol, Partys, Kino, Theater, Musik und natürlich auch ein wenig Studieren. Doch wirklich glücklich war Skarga nicht. Vor allem das Anfertigen technischer Zeichnungen langweilte sie unendlich, und so beschloss sie nach drei Semestern, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie wollte zurück nach Litauen und lieber etwas im Bereich der Geisteswissenschaften machen. Sie entschied sich für ein Philosophiestudium an der Stefan-Batory-Universität in Vilnius. Als sie später gefragt wurde, warum sie diese Entscheidung getroffen und was sie zur Philosophie getrieben habe, war Skargas Antwort kurz, aber vielsagend: »Die Literatur und der Mangel.«1

Von der Unterdrückung zur Knechtschaft

Doch der Krieg lag in der Luft, und aus den dunklen Wolken brach im September 1939 das Unheil über Polen herein. Am 1. September marschierten die Deutschen von Westen her ein, am 17. September wurde das Land von Osten her von der Sowjetunion angegriffen. Dies hatte auch große Auswirkungen auf Litauen. Ein Teil Litauens (das Memelgebiet) wurde Deutschland einverleibt, der andere Teil wurde sowjetisch. Als sich Russland und Deutschland 1941 gegenseitig den Krieg erklärten, wechselten sich Zeiten der deutschen und der russischen Besatzung und Gewaltherrschaft ab. Einige Litauer sahen in Hitler einen Befreier vom sowjetischen Joch und nutzten zugleich ihre Chance, die polnische Elite loszuwerden. Andere sahen in den Soldaten der Roten Armee Befreier im Kampf gegen die Nazis und im Kampf gegen die privilegierte polnische Klasse. Unterdessen versuchten die Polen in Litauen, den polnischen Charakter des Landes zu wahren, indem sie gleichermaßen gegen Deutsche, Russen und litauische Nationalisten kämpften. Mit anderen Worten: ein sehr komplexes, explosives Gemisch.

Barbara Skarga schloss sich der Armia Krajowa (AK) an, der nichtkommunistischen polnischen Widerstandsarmee, wie übrigens auch ihre Schwester, doch die beiden wussten nicht von der Aktivität der jeweils anderen – so groß war die Notwendigkeit der Geheimhaltung. Skarga wurde Kurierin, ein Verbindungsglied zwischen verschiedenen Gruppierungen der AK. Es war wie für viele eine besonders harte Zeit: Es gab wenig zu essen und viel Unsicherheit und Gefahr. Die Universität wurde geschlossen; Skarga zog mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer Schwester zur Untermiete zu einer anderen Familie, um überleben zu können. Skarga selbst machte einen Ausbildungskurs zur Stuckateurin und Wandmalerin, denn jede Kleinigkeit half, um an die schwer zu beschaffenden Kartoffeln auf dem Schwarzmarkt zu kommen.

In der Zwischenzeit vertiefte sich Skarga aber auch weiterhin in die Philosophie: Im Untergrund setzte sie ihr Studium fort. Ihr wichtigster Lehrer war der polnische Philosoph und Schriftsteller Henryk Elzenberg (1887–1967), der wohl vor allem für die zahlreichen von ihm notierten Aphorismen bekannt ist. Elzenberg hatte Verbindungen zu Untergrundbewegungen und war Mitbegründer der Abteilung des Klubs Demokratyczny in Vilnius (in Städten wie Warschau, Krakau, Posen und Lwiw entstanden ab 1937 solche demokratischen Klubs: antifaschistische Organisationen, in denen sich überwiegend linke Mitglieder der polnischen Intelligenzija zusammenschlossen).

Es war allerdings nicht so, dass Skarga, als sie ihr Philosophiestudium begann und von Elzenberg unterrichtet wurde, erst noch ein politisches Bewusstsein für die Gefahren faschistoider Regime und totalitärer Denkbilder entwickeln musste. In Nach der Befreiung sagt sie an einer Stelle, sie habe nie »Scheuklappen« aufgehabt wie so viele Intellektuelle, die den totalitären Verlockungen nur schwer widerstehen konnten und mit den Nazis oder Kommunisten gemeinsame Sache machten. Vielmehr sei sie schon in jungen Jahren gegen die totalitären Verlockungen »geimpft« worden.

Das Landgut von Skargas Familie grenzte an die Sowjetunion – sie wohnten auf der einen Seite des Flusses, und auf der anderen Seite des Flusses lag das gewaltige Mutterland des Sozialismus. Während das litauische Ufer ein idyllischer Ort war, nahm man am anderen Ufer ständig die Anwesenheit von Soldaten wahr, die schreiend Wache hielten, damit es niemand wagte, den Fluss zu überqueren und aus dem Land zu fliehen. Nicht einmal barfuß im Wasser zu waten war erlaubt.

Dennoch gelang es manchmal jemandem, aus dem Osten zu entkommen und in ihrem Dorf aufzutauchen. Als Skarga etwa dreizehn Jahre alt war, kam ein Junge namens Kola. Er bat die Dorfbewohner inständig, bleiben zu dürfen und ihn nicht zurückzuschicken. Lieber würde er sofort erschossen. Sein Dorf und seine ganze Familie waren von den Kommunisten deportiert oder auf der Stelle liquidiert worden. Von einem Hügel im Wald, wo er sich versteckt hielt, hatte er alles mitangesehen. Auf Drängen von Skargas Cousine, die im Dorf Respekt genoss, durfte der Junge bleiben; er arbeitete unter dem Schutz von Skargas Familie als Gartenhelfer. Das Erste, was die Soldaten der Roten Armee taten, als sie im September 1939 einmarschierten, war, Kola zu erschießen. Aufgrund der Geschichten, die Kola und andere erzählt hatten, und des zynischen Mordes an ihm, war sich Skarga sehr im Klaren darüber, dass vom östlichen Bruder, vom Kommunismus, von Ideologien, die die Gemeinschaft über das Individuum stellen, nicht viel Gutes zu erwarten war.2

Und viel Gutes hatte auch Skarga selbst nicht zu erwarten. Dennoch begann jener 8. September 1944 wie ein strahlender Tag. Skarga zog ein Sommerkleid und leichte Schuhe an. Für den Abend war eine Party bei einer Freundin geplant, doch zunächst hatte sie eine Verabredung mit einem anderen AK-Kurier in Vilnius. Als sie an der Tür dieses Kuriers schellte, stellte sich heraus, dass dort Soldaten der Roten Armee auf sie warteten. Der Mitgliedschaft in der Armia Krajowa (AK) verdächtigt, wurde sie vollständig entkleidet, um sicherzugehen, dass sie nichts schmuggelte. Am Abend deportierte man sie. Was danach folgte, hat Skarga in ihrem Buch Nach der Befreiung in erschütternden Details beschrieben. Die vielen Monate, die sie in litauischen Gefängniszellen verbringen musste, waren eine höllische Qual und standen den Gulagjahren, die noch folgen sollten, in nichts nach: die Verhöre, die Misshandlung, der Schlafentzug, der Tod so vieler Landesleute und Zellengenossen. Und darauf folgte der Gulag: eine zehnjährige Haftstrafe, danach noch anderthalb Jahre Zwangsarbeit jenseits des Endes der Welt, in einer Kolchose im fernen Osten Russlands.

In all diesen Jahren – vor allem in den Jahren vor dem Leben in der Kolchose – hatte sie keinen oder kaum Kontakt zu ihrer Familie. Posthum wurde Skargas Korrespondenz aus diesen Jahren veröffentlicht. Bis 1954 war dies nur ein gelegentlicher Brief an ihre Mutter oder ein Brief von einer zufälligen Mittelsperson (z.B. einem Polen, der früher aus dem Gulag zurückkehren durfte), die die Familie in Polen darüber informierte, wo Skarga jeweils gerade inhaftiert war. Von der Zeit ihrer Verbannung in die Kolchose an nahm die Korrespondenz zu. Die Briefe aus dieser Zeit sind oft eine vielleicht unbeabsichtigte bewegende Ode an die Liebe: die Liebe zwischen Mutter und Tochter, die Schwesterliebe, aber auch die Liebe zu den Geisteswissenschaften und der Kunst.

Alles andere als sentimental, sind diese Briefe Ausdruck einer tiefen Sorge umeinander. Man spürt, dass Skarga ihr Bestes tut, um gegenüber ihrer Mutter und ihrer Schwester den Anschein zu wahren, dass alles einigermaßen gut liefe, damit diese sich nicht zu sehr sorgen.

Nehmt Euch meine düsteren Briefe nicht zu Herzen, denn angesichts meines allgemeinen Hangs zur Melancholie sind sie ganz normal. Ich muss immer etwas Trübsal teilen, um ich selbst sein zu können. Aber glaubt mir, dass es nur ganz außergewöhnliche Gemütszustände sind, die ein solches Entbehren und solche tränenreichen Worte verursachen […]. Die Zeit fließt, und lasst sie so schnell wie möglich fließen. Jeder Tag, der vergeht, bringt mich näher zu Euch, und ich sehne mich nach nichts anderem.3

Das ist meistens der Tenor von Skargas Briefen, und die posthume Sammlung erhielt deshalb auch den Titel Wenn ihr an mich denkt, dann ohne Traurigkeit.

Doch umgekehrt war das ebenso sehr der Fall: Auch Skargas Mutter und Schwester zeichneten ein rosigeres Bild der Realität in Polen. Hanna machte inzwischen eine steile Karriere als Schauspielerin und zeitweilig auch als Sängerin. Sie sang unter anderem Lieder von Władysław Szpilman, dem Pianisten, dessen tragische Kriegsjahre von Roman Polanski verfilmt wurden (Szpilman war nicht nur Pianist, sondern auch Komponist, und das nicht nur von klassischer Musik – er komponierte auch viele populäre Liedchen). Mit dem wachsenden nationalen Ruhm ging jedoch kein wachsender Wohlstand einher. In den Briefen an Barbara Skarga vermittelten Mutter und Schwester dennoch den Eindruck, als müsste sie nur fragen, wenn sie Rubel bräuchte, dann würden sie ihr welche schicken. In Wirklichkeit aber musste jeder Złoty zweimal umgedreht werden, und das Leben in Polen war ohnehin kärglich.

Diese Briefe offenbaren auch eine große Liebe zur Literatur, zur Kunst und den Geisteswissenschaften; man kann mit gutem Grund davon ausgehen, dass diese Liebe Skarga durch die Gulagjahre hindurchgeholfen hat. Skarga muss von dem intrinsischen Wert von Schönheit, Kunst, Kultur und Philosophie enorm durchdrungen gewesen sein; dieses Bewusstsein brannte wie ein inneres Feuer, das sie durch die Kälte – im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne – dieser Gulag- und Kolchosjahre trug. Als sie hört, dass ihr jüngerer Bruder Edek an der Universität Polonistik studiert, ist sie hocherfreut: Sie hält es für wichtig, dass er sich für die Humaniora entscheidet, weil das Humane dem kommunistischen Materialismus und der Instrumentalisierung des Menschen und des Lebens diametral entgegensteht. Als sie erfährt, dass ihre Nichte als Pianistin sehr begabt ist und drei Stunden am Tag übt, ist sie ebenfalls begeistert.

Gleich zu Beginn ihres Leidensweges, als sie erst wenige Wochen in Litauen im Gefängnis saß, hatte sie bereits begonnen, Puschkin auf Russisch zu lesen, und in einem ihrer seltenen Briefe aus dieser Zeit schrieb sie, dass sie immer besser Russisch lesen könne. Die wichtigste Quelle des Trostes, der wichtigste Blasebalg, der das innere Feuer ihres humanistischen Geistes anfachte, war jedoch Juliusz Słowacki (1809–1849). Skarga schreibt, wie sie sich an Beniowski, einem der berühmtesten Gedichte Słowackis, aufrichten und darin ihre Sorgen vergessen konnte.

In ihm finde ich eine Wirtsstube, in der ich meine Sorgen ertränken kann. Es sollte Euch nicht betrüben, sondern gerade froh machen, dass in mir noch solche Gefühle aufleben, dass ich die Schönheit und den Zauber der Poesie spüre, dass ich noch denken und träumen kann und dass ich noch nicht ganz zu der Maschine verkommen bin, zu der wir alle hier langsam zu werden drohen. Und meine psychische Widerstandskraft ist so groß, dass ich alles ertragen kann, denn das Schwerste liegt hinter mir, und ich habe alles erhobenen Hauptes und mit Stolz durchgestanden. Denn: Der Glaube an die Richtigkeit meiner eigenen Einstellung ist stärker als das, was mir persönlich als Schicksal zuteilwird. Und manchmal ist es besser, nicht zu sein, als zu sein.4

Diese letzten Sätze fassen meiner Meinung nach das Wesen von Skargas kraftvoller Persönlichkeit zusammen, eine Stärke, die aus der Liebe zu ihren Nächsten und der Liebe zum Besten, was die Menschheit hervorgebracht hat, schöpft. Während ihrer Jahre im Gulag und in der Kolchose hielt die Literatur sie oft aufrecht: Jessenin, Dostojewski, sogar die sowjetische Propagandaliteratur halfen ihr, nicht völlig den Mut zu verlieren.

Als sie in der Kolchose häufiger schreiben konnte und zudem die Möglichkeit hatte, eine kleine örtliche Bibliothek zu besuchen, lebte ihre Liebe zur Literatur noch mehr auf. Außerdem begann sie den Faden der Philosophie wieder aufzugreifen: Sie las Marx, Engels und auch Spinoza. Und als sie Ende Dezember 1955 endlich nach Polen zurückkehren konnte, nahm sie mehr oder weniger sofort wieder ihr Studium der Philosophie auf. Dazu muss man als Mensch ungeheuer begeistert sein. Keine Bitternis, keine Vorwürfe gegenüber der Philosophie oder der Kunst (kann es nach dem Gulag noch Philosophie geben?). Kein Gefühl, dass es sich um ein abgeschlossenes Kapitel handelte: Ihre jungen Jahre waren vorbei, die Studienzeit war vorbei, außerdem hatte Skarga im Gulag viel von ihrem Wissen eingebüßt: Ihr Griechisch, ihr Deutsch, ihr Französisch, all das hatte sich verflüchtigt. Und doch stürzte sie sich wieder in die Philosophie und schloss 1957 ihr Studium ab.

Das innere Feuer, das sie dazu motivierte, rührte nicht nur aus einem Wissendrang oder der Philosophie selbst. Skarga erklärte später, dass sie sich einerseits fragte, ob sie es noch könne: Konnte sie noch denken? Konnte sie noch abstrakt denken? Das wollte sie für sich selbst herausfinden. Andererseits hatte sie auch sehr stark das Gefühl, dass ihr das Recht zu denken zwölf Jahre lang genommen worden war. Sie betonte diesen Aspekt des Kommunismus und des Gulag sehr oft: die Uniformität des Denkens und Handelns, man darf nicht eigenständig denken, die Individualität spielt keine Rolle, der individuelle Geist muss unterdrückt werden. Skarga wollte dieses Recht zu denken wieder für sich beanspruchen. Hätte sie aufgehört zu philosophieren, hätten die Kommunisten sie am Ende doch kleingekriegt. Und das wollte sie nicht. Nicht zufällig zog sich diese Überzeugung durch ihr späteres philosophisches Œuvre – sie sah sich in ihrem Denken als »Individualistin«. Der Wert des Individuums, die intrinsische Würde der menschlichen Person ist das höchste Gut.

Philosophische Tour de force

Angesichts der Entbehrungen, die sie erleiden musste, und der Hungerjahre, die nicht nur am Magen, sondern auch am Kopf, am Wissen, an der Würde nagten, kann man es zweifellos als eine Tour de force bezeichnen, dass Skarga ein solches philosophisches Œuvre geschaffen hat. Es ist ein Œuvre, in dem nicht ein Opus magnum im Zentrum steht, sondern das von Essayistik und der Kunst des Fragens geprägt ist. Ein guter Philosoph ist nicht in erster Linie jemand, der die richtigen Antworten kennt, sondern jemand, der die richtigen Fragen stellt. Und darin hat sich Skarga ausgezeichnet, ein wenig wie ihr philosophischer Lehrer Leszek Kołakowski. Ihr Œuvre besteht aus zahllosen Essays, einem Kreisen um zentrale Fragen, in dem man nicht nach gradlinigen, fertigen Antworten suchen darf.

Skargas erstes philosophisches Spezialgebiet war der Positivismus, wie er Mitte des 19. Jahrhunderts in Polen aufkam. Den Begriff »Positivismus« entlehnten die polnischen Positivisten von Auguste Comte, aber ihre Menschen- und Gesellschaftslehre hatte mehr mit Denkern wie John Stuart Mill und Herbert Spencer gemeinsam als mit Comte: dem Glauben an und dem Kampf für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Emanzipation der Bauern, dem Primat der Vernunft vor den Gefühlen. Der Positivismus in Polen war eher eine breite kulturelle Strömung als eine philosophische Schule. Darüber promovierte Skarga 1964, was ein Kuriosum darstellte: Damals war es in kommunistischen Ländern höchst ungewöhnlich, eine philosophische Dissertation zu schreiben, in der Marx oder der Marxismus keine bedeutende Rolle spielten. Was nicht heißt, dass sie nicht mit den Arbeiten ihrer marxistischen Kollegen vertraut gewesen wäre. Im Gegenteil: Sie hatte gute Kontakte zu Adam Schaff (1913–2006), damals zweifellos der bedeutendste polnische Marxist. Schaff verschaffte Skarga die Möglichkeit, in Paris zu leben und zu arbeiten, doch sie hatte das Gefühl, dass sie ss ihrer Mutter nicht antun könne; sie konnte sie nicht ein weiteres Mal zurücklassen.

Außerdem hatte sie guten Kontakt zu Leszek Kołakowski. Kołakowski war anfangs ein marxistischer Philosoph, in den fünfziger Jahren entfernte er sich jedoch immer weiter von der offiziellen Doktrin und wurde zum Revisionisten und später zum vielleicht führenden Kritiker des Kommunismus, der in Polen und weit darüber hinaus Resonanz fand. Sein dreibändiges Werk Die Hauptströmungen des Marxismus, das in den siebziger Jahren erschien, ist die bedeutendste Dekonstruktion der marxistischen Philosophie und sorgte dafür, dass auch bei vielen westlichen Intellektuellen, die anfänglich mit dem Marxismus sympathisierten, langsam die Scheuklappen fielen.

Für seine zunehmende Dissidenz zahlte Kołakowski einen hohen Preis. 1968 war ein Horrorjahr in der polnischen Geschichte. Die Daumenschrauben der kommunistischen Repression wurden angezogen, und das ging mit einem lähmenden Antiintellektualismus und einem abscheulichen Antisemitismus einher. Binnen weniger Monate wurden etwa zwanzigtausend Juden und Intellektuelle gezwungen, das Land zu verlassen, darunter viele von Skargas jüdischen Freunden und philosophischen Kollegen: Kołakowski, aber auch Bronisław Baczko (1924–2016) und Krzysztof Pomian (*1934), die beide danach auch international Karriere als Denker machten und deren Werke mit zahlreichen Preisen, Ehrendoktorwürden und Ehrungen ausgezeichnet wurden. Für manche war das erzwungene Exil eine Tragödie. So beschreibt Skarga, dass einige ihrer Kollegen keine Ahnung hatten, was sie im Ausland tun oder wohin sie gehen sollten. In späteren Interviews erzählte sie, wie sie viele ihrer Kollegen nach Dworzec Gdanski brachte, den Bahnhof in Warschau, an dem der Exodus für viele begann. »Okropne były pożegnania«: Der Abschied war immer wieder schrecklich.5

Skarga selbst ließ sich nur teilweise auf die politischen Entwicklungen im Lande ein. Ihre Arbeit als Philosophin war meist unpolitisch, sie konzentrierte sich auf ideengeschichtliche Aspekte, die mit gesellschaftlichen Entwicklungen wenig zu tun hatten. Sie war allerdings dabei, als Dziady (dt.: Totenfeier) – ein Bühnenstück von Mickiewicz mit antirussischen Untertönen – unter der Regie von Kazimierz Dejmek Ende 1967 aufgeführt wurde. Diese Aufführung war eine aufsehenerregende Form des Protests gegen die Unterdrückung und die russische Einflussnahme im Land, und sie bildete den unmittelbaren Auslöser für weitere Repressionen des Regimes, die zum Massenexodus von 1968 führten.

Doch Skarga selbst wollte Polen nicht mehr verlassen. Allerdings entwickelte sich mit den Jahren Frankreich zu einer zweiten Heimat für sie. Dass sie einmal die Möglichkeit hatte, sich in Frankreich niederzulassen – wovon sie absah –, war kein Zufall: In ihrer Arbeit als Philosophin beschäftigte sie sich zunehmend mit Denkern wie August Comte und anderen französischen Philosophen, die als Wegbereiter des polnischen Positivismus im 19. Jahrhundert galten. Dass sich Skarga in diese französischen Denker vertiefte, war eine Konsequenz, die sich aus ihrer Dissertation ergab, und ein logischer Schritt in ihrer weiteren Forschung. Skarga genießt zu Recht Anerkennung dafür, dass sie viele französische Denker in Polen eingeführt hat. Und im Laufe der Jahre entwickelte sie eine große Affinität zu Frankreich, zur französischen Sprache und zu französischen Philosophen: sowohl zu den toten als auch zu den lebenden. Mit Emmanuel Levinas beispielsweise verband sie eine enge Freundschaft. Levinas hatte selbst litauische Wurzeln, hatte für kurze Zeit in Charkiw studiert und gelebt und war ein philosophischer Weggefährte. In ihren eigenen Essays baute Skarga oft auf Levinas auf; was die beiden vielleicht am meisten verband, war ihr Europäertum. Einmal fragte sie Levinas, was er nun eigentlich sei, was für ein Denker er sei, mit seinem gemischten kulturellen Hintergrund (er sprach auch Russisch und seine Frau Polnisch). Levinas antwortete: »Ich bin Europäer.« Skarga erklärte, dass sie diese Bezeichnung auch für sich selbst passend finde.6

Unter anderem in einem der Hauptthemen ihres Werkes zeigte sich Skarga Levinas verpflichtet: in der Frage nach dem Bösen. Obwohl sie einmal bekundete, nicht viel davon zu halten, wenn Menschen versuchten, ihr philosophisches Werk anhand ihrer Autobiographie zu erklären, lässt es sich doch kaum leugnen, dass ihre Erfahrungen im Gulag und in der Kolchose ihr Denken geprägt haben. Besonders ihre Verteidigung des Individualismus und ihre Aversion gegen politische Extreme sind davon kaum zu trennen. Und das gilt auch für die Frage des Bösen, die in ihren Betrachtungen immer wiederkehrt.

Obwohl sie sich selbst als Ungläubige verstand, konnte Skarga mit größter Ernsthaftigkeit über den Teufel sprechen. Sie hielt den Teufel für ein wichtiges philosophisches Thema, für das man keineswegs religiös sein musste. Was dies anging, bezog sie sich gelegentlich auch auf den Manichäismus. Das hatte sie mit Denkern wie Kołakowski und Miłosz gemeinsam: Alle ungläubig oder mit ihrer eigenen, sehr atypischen Metaphysik ringend, rückten sie den Manichäismus in ihrer Philosophie oder in ihren Gedichten ins Zentrum.

Wenngleich Skarga die Reflexionen über den Teufel sehr ernst nahm, war sie der Ansicht – darin Levinas folgend –, dass das Böse in der Welt nicht so sehr in metaphysischen Begriffen verstanden werden sollte: Das Böse ist per Definition Menschenwerk. Dabei ist das Böse nicht bloß im Menschen oder in den Menschen selbst zu finden, sondern auch und vor allem zwischen den Menschen: Es ist etwas, was in einer seltsamen Form der Zwischenmenschlichkeit von »ich« und »du« entsteht.7

Als Skarga später den Kommunismus als eine mögliche Manifestation des Teufels charakterisierte, stellte sie klar, dass sich das Teuflische des Kommunismus nicht in einer Art metaphysischer Intervention einer übermenschlichen Entität verberge und dass es ebenso wenig in der absichtlichen Negation des Guten liege. Was so teuflisch am Kommunismus war, war die wuchernde Ausbreitung der Gleichgültigkeit. Skarga hat viel darüber geschrieben, dass sich das Gute nicht als Gegensatz zum Bösen darstellt – das Gegenteil des Guten sei vielmehr die Gleichgültigkeit. Viel von dem Elend, das der Kommunismus verursachte, ging nicht auf zielgerichtete Boshaftigkeit oder zielgerichtetes Verursachen von Leid, von Vernichtung zurück (das waren eher die Folgen als die Quellen des Bösen). Diabolisch war die Gleichgültigkeit der Autoritäten, der Machthaber, und die Tatsache, dass man letztlich gezwungen wurde, als Mensch selbst immer gleichgültiger zu werden, um noch leben zu können. Im Grunde, so Skarga, ist das Böse ein Rätsel, das unser Verständnis immer übersteigen wird, weshalb es womöglich besser ist, sich zu fragen, wie man das Böse bekämpfen kann, als sich zu fragen, was es bedeutet.8

Hoffnung und Menschsein

In den achtziger Jahren war Skarga noch immer nur indirekt an den großen Veränderungen beteiligt, die sich abzeichneten. Sie hatte zwar Verbindungen zur Bürgerrechtsbewegung Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) und zur Bewegung Solidarność, aber sie erwartete eigentlich nicht viel von ihnen. Das Polen, das sie bei ihrer Rückkehr im Dezember 1955 vorgefunden hatte, hatte sie zutiefst enttäuscht. Es schien, als wäre die Nation gebrochen, als hätte sie es tatenlos hingenommen, fortan unter dem Joch der Kommunisten und Russlands zu leben. Diese Enttäuschung ließ in Skarga den Glauben an die Möglichkeit eines kurzfristigen großen Wandels erlöschen. Den vollständigen Zusammenbruch des Kommunismus hielten zugegebenermaßen aber viele für unwahrscheinlich, und er kam unerwartet – selbst im November 1989 noch.

Skarga konzentrierte sich auf ihre Arbeit, sie wurde 1988 Professorin, Chefredakteurin von Etyka, Polens führender Philosophiezeitschrift, und veröffentlichte in den achtziger Jahren einige ihrer wichtigsten Bücher. Im Jahr 1982 publizierte sie ihre umfangreiche Studie über Henri Bergson, in der sie sich besonders intensiv mit einem Aspekt von Bergsons Denken befasste, der zunehmend zu einem zentralen Thema in ihrem eigenen Denken wurde: mit der Frage der Zeit. Sie schrieb zahlreiche Aufsätze über die Bedeutung, die Erfahrung und den Ursprung der Zeit. Eine der Fragen, die sie beschäftigte, lautete: Welche Bedeutung hat das »Jetzt«? Skarga war der Ansicht, dass das »Jetzt« im ontologischen Sinne nicht wirklich ein sinnvoller Begriff sei, das »Jetzt« existiere nicht, es sei ein »Nichts« zwischen dem, was war, und dem, was sein werde.9

Mit einer ähnlichen Skepsis gegenüber der ontologischen Dimension unseres Zeitbegriffs rückte sie auch den Begriffen der Endlichkeit und der Ewigkeit zu Leibe. In einem späteren Aufsatz kommt sie zu dem Schluss, dass der Begriff der Ewigkeit hohl sei.

Zu dieser Schlussfolgerung befugte mich die Erkenntnis, dass alles stirbt, alles zerbröckelt, alles vergeht, sogar Felsen, Steine, Kontinente, Epochen und Zivilisationen, dass alles, was entsteht, verloren geht. Die Ewigkeit ist nicht Teil der Existenz, auch wenn wir uns von dem Gedanken daran nicht befreien können.10

Diese Faszination für Fragen über die Zeit geht also auf ihr Interesse an Bergson und ihre Arbeit in den achtziger Jahren zurück. In jenen Jahren schrieb sie auch einige ideengeschichtliche Werke wie Granice historyczności (1989) über die Grenzen der Historizität. In den letzten zwanzig Jahren ihres Lebens lag der Schwerpunkt zunehmend auf metaphysischen Fragen wie in ihren Büchern Tożsamość i różnica, Eseje metafizyczne (1997) und Kwintet metafizyczny (2005). Man könnte also von drei Hauptphasen ihres Denkens sprechen: dem Anfang mit Betonung auf dem Positivismus, dem mittleren Teil mit Betonung auf ihrer ideengeschichtlichen Arbeit und der letzten Phase mit Betonung auf Metaphysik. Skarga selbst sah in ihrem Werk vor allem Kontinuität, und das nicht zu Unrecht: Wenn es verschiedene Phasen in ihrem Denken gibt, so gehen sie doch ganz logisch und kohärent ineinander über.

Dass sich Skarga als apolitische Denkerin verstand, bedeutet jedoch nicht, dass sie sich in einen Elfenbeinturm des abstrakten Denkens eingeschlossen hätte. Ganz im Gegenteil. Sie verfügte über eine fast beispiellose Fähigkeit, genau jene grundlegenden Aspekte der menschlichen Existenz zu erläutern, durch die die philosophische Reflexion weit über die Grenzen der Philosophie hinaus relevant wird. Die Abstraktion des Alltäglichen und seine Verknüpfung mit einer Theorie eines wesentlichen Aspekts der conditio humana kennzeichnen viele von Skargas Aufsätzen. Ein schönes Beispiel dafür ist ein posthum veröffentlichter Aufsatz über Einsamkeit.

Einsamkeit hat einen negativen Beigeschmack, der weithin akzeptiert wird. Skarga will das keineswegs leugnen und erörtert auch ausführlich die vielen Erscheinungsformen der Einsamkeit, in denen sie ein schmerzhafter und sogar tragischer Teil der Existenz ist. Aber Einsamkeit kann auch eine äußerst wertvolle Erfahrung sein. Vielleicht kann man so etwas erst erkennen, wenn man jahrelang mit anderen eingesperrt war. Bereits in Nach der Befreiung beschreibt Skarga, wie sie einen seltenen Moment der Einsamkeit zu schätzen wusste. In ihrem Aufsatz über Einsamkeit spürt sie dieser Erfahrung eingehender nach. Sie erörtert mehrere Phänomene, die oft mit Einsamkeit in Verbindung gebracht werden und mit ihr einhergehen können, sich aber doch wesentlich von ihr unterscheiden, etwa Isolation, Alleinsein, Entfremdung. Aber Einsamkeit ist doch noch etwas anderes. Skarga verbindet die Philosophie von Levinas mit der Erfahrung der Einsamkeit und hebt hervor, dass die Einsamkeit notwendig ist, um nicht nur sich selbst, sondern auch den anderen besser kennenzulernen. Manchmal sieht man das Antlitz des anderen in dem Moment besser vor sich, in dem der andere nicht da ist, im Moment der Abwesenheit.11

Dass Skarga keine Elfenbeinturmphilosophin war, belegt auch die Tatsache, dass ihr Bekanntheitsgrad mit den Jahren wuchs. Sie fand Anerkennung als »moralische Instanz«, als »Gewissen des Landes«, und als sie am 18. September 2009 starb, trauerte das Land um die »Grande Dame der Philosophie«12. Diesen öffentlichen Ruhm und diese Anerkennung verdankte sie nicht nur ihrer akademischen Arbeit, sondern auch der Tatsache, dass sie viele Beiträge für ein breites Publikum schrieb, in philosophischen Talkshows auftrat und als Pädagogin ihren Beitrag zu einer besseren Welt von morgen leistete. Skarga bezeichnete sich selbst oft bewusst als Philosophin und Pädagogin: Sie betrachtete das Lehren als einen sehr wichtigen Bestandteil ihrer Arbeit. Und als Dozentin war sie auch sehr bedeutsam. Was Kołakowski für eine Generation polnischer Intellektueller in den siebziger und achtziger Jahren bedeutete, war Skarga in kleinerem Maßstab für eine spätere Generation. Sie zog eine neue Generation polnischer Philosophen und Intellektueller heran. Dabei fällt auf, dass es unter ihren einst besten Schülern sowohl Linke als auch Rechte gab, was Skargas Credo bestätigte: Man soll Studenten nicht beibringen, was sie denken, sondern wie sie denken sollen.

Philosophieren war für sie eine Weise zu sein, eine Art, fragend in der Welt zu stehen, um so auch sich selbst kennenzulernen. Der wahre sokratische Daimon also. »Erkenne dich selbst« ist und bleibt eine entscheidende Aufgabe: Nur wenn man ein bewusstes Leben lebt, ist man nicht bloß ein Spielball des Schicksals und äußerer Kräfte. Nur dann lebt man sein Leben in vollem Umfang und ist ein ganzer Mensch. Skarga war sich des doppelten Bodens dieser Aussage jedoch sehr wohl bewusst: »Es ist schwer, ein Mensch zu sein.«13

Dessen ungeachtet: Gelingt es, ist es schön und hoffnungsvoll. Und Hoffnung war nicht zufällig ein Thema, auf das Skarga als Denkerin oft zurückkam. In Sein und Zeit vertrat Martin Heidegger (1889–1976) die Ansicht, dass der Tod der Horizont unserer Existenz sei. Der Tod ist immer der letzte Orientierungspunkt unseres Seins, das somit ein Sein zum Tode ist. Skarga bezeichnete Heidegger als den letzten der großen Philosophen, aber in diesem Punkt ist sie mit ihm grundsätzlich uneins. Sie beschrieb das Leben viel eher als ein Sein zur Hoffnung.14

Es gibt eine Sache, die stärker ist und jenseits des Todes als fundamentaler Aspekt unserer Geworfenheit in die Existenz steht: Hoffnung. Hoffnung ist der Horizont unseres Lebens, der Richtpunkt unseres Handelns. Dies ist ein wundervoller Gedanke, aber man muss auch einräumen, dass Skarga zuweilen ein viel düstereres Menschenbild vertrat. Obwohl sie die Frage nach dem Sinn des Lebens für sehr wichtig, ja sogar für unumgänglich hielt und sich fortwährend mit dieser Sinngebung befasste, konnte sie auf Sinnfragen manchmal auch schroff oder düster antworten, was gelegentlich den Eindruck vermittelte, als hätte sie von ihren Jahren in der Hölle doch eine gewisse Verbitterung und Narben auf der Seele zurückbehalten. Was ist der Sinn des Lebens? Das Leben hat keinen Sinn, denn welchen Sinn hat es, dass Millionen in Lagern sterben?

Warum sollte ich dem Leben etwas übel nehmen? Wem sollte ich etwas übel nehmen? Wer herrscht über das Leben? Das Leben entfaltet sich selbst, ob ich es will oder nicht. Wir können uns nur die Frage stellen, ob es einen Sinn hat … Ich weiß nicht, ob das Leben einen Sinn hat. Leszek Kołakowski sagt, es sei notwendig, an einen bestimmten Sinn des Lebens zu glauben. Ich stimme ihm nicht zu. Ich bin pessimistischer gestimmt als er. Während des Krieges sind so viele Millionen Menschen gestorben. Und das auf so grausame Art und Weise. Zu welchem Zweck? Warum? Wie kann man hier nach dem Sinn fragen?15

Skarga ließ ihre Verärgerung durchaus erkennen, wenn zu viel über diesen »Sinn« geschwatzt wurde. Kam daher das Bedürfnis, stets das Wort »sens« zu verwenden? Und doch war sie gerade dann der Auffassung, dass man dem Menschen eines niemals nehmen dürfe, mag es auch vergebens sein: Quellen des Trostes, wie Literatur, Musik und Freundschaft, und Hoffnung.16

Vielleicht müssen wir dem Leben gerade deshalb, weil es von sich aus keinen Sinn hat, diesen Sinn geben und dürfen aus diesem Grund das so bedeutsame Feuer der Liebe, der Freundschaft, der Musik, der Künste, der Philosophie niemals erlöschen lassen. Skarga war eine Renaissancefrau: enorm vielseitig, enorm belesen, enorm getrieben vom intrinsischen Wert der Weisheit. Auch in ihren Aufzeichnungen aus dem Gulag wird dies darin deutlich, dass sie scheinbar ohne große Anstrengung so viel konnte und so viel war: eine Krankenschwester, eine Ingenieurin einer Ziegelei, eine Humanistin pur sang, die Literatur und Kunst hochhielt und tief im Herzen trug. Dass ein Mensch zu Großem fähig ist und das sogar dann, wenn das Schicksal auf brutalste Weise versucht hat, ihn ganz kleinzumachen, ist schön und stimmt hoffnungsvoll. Und damit kann Skarga jedem als Inspiration bei der schwierigen Aufgabe dienen, vor der wir alle stehen: der Aufgabe, Mensch zu sein.

 

Alicja Gescinska

Zeitleiste von Skargas Gefangenschaft

September 1944 Verhaftung. Skarga wird über ein Jahr lang vom MWD in Vilnius inhaftiert – zunächst in einem kleinen Gefängnis in der Ofiarna-Straße und dann im berüchtigten Lukiškės-Gefängnis (polnisch: Więzienie na Łukiszkach oder kurz Łukiszki).

 

Herbst 1945 Skarga wird in das Pravieniškės-Gefängnis in der Nähe von Kaunas gebracht. In Nach der Befreiung spricht Skarga immer noch fälschlicherweise von Prawianski. In späteren aufgezeichneten Gesprächen mit ihr und in ihrer posthum veröffentlichten Korrespondenz spricht sie vom Pravieniškės-Gefängnis.

 

1946 Beginn der Gulagjahre, in denen sie nacheinander in Lagern in Woiwosch, Uchta (im Nordwesten Russlands) und Balqasch (in Kasachstan) sitzt.

 

1954 Ihre zehnjährige Haftstrafe ist vorbei. Sie darf den Gulag verlassen, wird aber nun in einer Kolchose in der Nähe von Petropawlowsk im äußersten Osten Russlands zu Zwangsarbeit verpflichtet (je nach Quelle und historischer oder geographischer Perspektive wird diese Region zu Sibirien gezählt oder auch nicht). In ihren Aufzeichnungen nennt Skarga diese Kolchose und das gleichnamige Dorf »Budjonowka«, in Wirklichkeit war es jedoch eine Kolchose im Dorf Medweschka.

 

Dezember 1955 Rückkehr nach Polen.

Vorwort

Erinnerungen aufzuschreiben ist ein Bedürfnis alter Menschen, ein natürliches Bedürfnis, das von Historikern normalerweise geschätzt wird. Das Problem ist allerdings, dass die Vergangenheit verblasst. Was davon bleibt, sind nur Fragmente, manchmal vollkommen uninteressante, und selbst wenn diese Fragmente wertvoll oder wichtig genug sind, um sie festzuhalten, hat die Distanz bereits ihren Schatten auf sie geworfen. Wer schreibt, macht die Erfahrung, dass er oder sie aus einer völlig anderen Perspektive auf die Vergangenheit blickt und nicht in der Lage ist, ein authentisches Bild der eigenen Wahrnehmung wiederzugeben. Eine Vielzahl von Gestalten, Stimmen und Ereignissen erscheint nur als eine kaum sichtbare Spur … Kann ein Mensch den Nebel seines eigenen Vergessens durchdringen?

Dies war einer der Gründe, die meine Hand lähmten, als ich zur Feder griff. Aber es gibt nun einmal Dinge, die nicht nur bewahrenswert sind. Man sollte sie so laut hinausschreien, dass jeder die Schreie hören kann. Sie sind stets präsent und hängen uns noch immer wie ein Mühlstein um den Hals.

Es ist schwierig, nach Solschenizyns Buch über den Gulag zu schreiben. Es enthält einen solchen Reichtum an Faktenmaterial und bietet eine derart hervorragende Analyse, dass es noch lange Zeit die grundlegende Wissensquelle zu dieser merkwürdigen Realität sein wird. Einige seiner Ansichten kann ich jedoch nicht teilen. Solschenizyn betrachtet die Lager aus einer russischen Sicht. Sein Blick von innen her ist im Allgemeinen sehr schätzenswert, bestimmte Dinge bemerkt er jedoch nicht, die einem Europäer im Gulag auffallen. Ein Europäer reagierte vom Zeitpunkt seiner Verhaftung bis zu seiner Entlassung in vielerlei Hinsicht anders als ein Russe. Seine politische und moralische Situation war anders, was zu einer anderen Sichtweise auf die Gesamtheit der Gepflogenheiten und Ereignisse in den Lagern führte.

Vor langer Zeit, als wir noch in den Lagern waren, haben wir uns gegenseitig versprochen, diese Zeit irgendwann mit einem Sinn für Humor als eine Welt kolossaler Absurdität zu beschreiben. Heute ist es schwieriger, diesen Humor zu bewahren, vielleicht weil ich das Ganze aus der Distanz betrachte. Ich bin nicht mehr der Akteur, sondern ein bewusster Zeuge der moralischen und physischen Verwüstung, die diese Jahre angerichtet haben. Dennoch unterläuft es mir mehr als einmal, dass sich Spott in meine Feder schleicht, weil Spott manchmal schärfer sieht und klarer zeichnet als bitterer Ernst.

Mein Buch bietet keine kompakte Gesamtkomposition. Die aus der Vergessenheit hervorgekramten Erinnerungen ließen sich nur schwer in eine thematische Ordnung bringen. Ich will ihnen keine neue, logische Struktur geben. Die Erinnerungen sollten einfach so fließen, wie sie aufgeschrieben wurden. Und das Schreiben dauerte lange! Ich habe dieses Buch vor etwa fünf Jahren begonnen. Aber ich habe die Arbeit daran mehrfach unterbrochen. Und wenn ich mich wieder daranmachte, tat ich das mit Gram. Ohne Freunde hätte ich dieses Buch wahrscheinlich nie vollendet. Wobei ich nicht weiß, ob man es überhaupt als vollendet bezeichnen kann. Ich könnte noch viel mehr schreiben, vielleicht genügt aber das, was das Buch bereits jetzt enthält?

 

Barbara Skarga, 1984

1Der Alltag: das Gefängnis

Das Wecken fand um fünf Uhr morgens statt. Das Hämmern an die Türen diente als Signal. Der Tag begann: die Morgentoilette, das Anstehen in der morgendlichen Reihe vor der Parascha. Man musste seine Notdurft schnell verrichten. Ehe man sichs versah, wurde die Tür geöffnet und der Befehl gegeben, den Kübel wegzutragen. Natürlich konnte man seine Notdurft auch auf später verschieben, aber das bedeutete, dass unsere Exkremente die Luft bis spät in die Nacht verpesteten. Alle trieben sich gegenseitig an, aber in der Regel nützte das wenig, denn unsere Mägen waren völlig in Unordnung geraten, und nur wenige schafften es, sich innerhalb des begrenzten Zeitrahmens zu entleeren. Manchmal wurden wir gemeinsam zu einem Waschplatz gebracht, wo wir uns die Hände mit lauwarmem Wasser waschen konnten. So viel Glück hatten wir selten. Dazu mussten diensthabende Wärter besonders gut gelaunt sein. Nachdem die Tür geöffnet worden war, mussten zwei von uns den großen Kübel mit den zwei Eisengriffen wegtragen. Mit größter Mühe und zugleich auch majestätisch – um nicht zu kleckern – trugen wir den randvollen Kübel, der mindestens achtzig Liter Fäkalien enthielt, aus der Zelle. Es war keine angenehme Arbeit, aber sie wurde gern gemacht, wegen des Wassers, woran es uns immer mangelte, wegen der Möglichkeit, den Waschraum zu benutzen, und auch wegen des Gangs über den Korridor an sich. Immer diese hundert Meter hin und zurück, genug, um sich die Beine zu vertreten.

Die Parascha kam immer sauber in die Zelle zurück, völlig rein, was nicht bedeutete, dass sie ihren starken Gestank losgeworden wäre. Der nur mit Wasser ausgespülte Deckel war vom Urin angefressen. Nachdem sie in die Ecke zurückgestellt war, diente die Parascha als Waschbecken. In den ersten Monaten unserer Gefangenschaft bekamen wir noch kein Wasser. Wir wuschen uns damals noch mit Morgenkaffee, ein halber Liter dieser schwarzen Brühe musste dazu dienen, Augen, Mund und ein wenig den Körper frisch zu machen und anschließend den ganzen Tag über davon zu trinken, bis wir abends um sechs Uhr einen halben Liter Tee bekamen: Wasser, das diesmal nicht bräunlich, sondern gelblich war. Es hatte einige Zeit gedauert, bis wir unser Recht auf einen Eimer Wasser erkämpft hatten. Von da an konnten wir die Parascha bis zum Rand mit Wasser gefüllt zurückbringen. Wir konnten uns also ein bisschen besser waschen, aber auch nicht viel besser. Die Parascha musste bis zum Abend reichen. Jeder von uns durfte sich nicht mehr als einen Becher füllen. Das war eine strenge Absprache, die auch strikt eingehalten wurde. Abends, wenn Platz dazu war und das Wasser noch nicht ganz getrunken war, konnten sich ein oder zwei von uns gründlicher waschen.

Die Zelle ist nicht groß. Fünf Meter lang, zweieinhalb Meter breit. Wir sind vierzehn Personen. Acht Gefangene schlafen auf der einen Seite, sechs auf der anderen (weil dort die Parascha steht). Wir schlafen nackt, zusammengepfercht wie Sardinen in einer Büchse. Wir tun unser Bestes, um die Lumpen, die wir tagsüber tragen, zu kleinen Quadraten zusammenzulegen und so in der Mitte der Zelle Platz zu schaffen. Abwechselnd versuchen wir zu gehen, nach hinten und nach vorne, nach hinten und nach vorne, zigmal. Es gibt keine Möbel. Wir sitzen auf dem Boden und sind froh, dass es ein Holzboden ist. Der ist immer wärmer als Beton. Wir warten auf den Morgenappell. Das dauert nicht lange. In der Ferne hören wir schon, wie sich die Türen öffnen, das Kommando, sie sind in der Nähe, wir hören wieder das Geräusch von Schlüsseln in Schlössern. Wir stellen uns in eine Reihe. Sie treten ein, es folgt ein stereotypes Muster: Wie viele seid ihr hier, vierzehn? Der Kerl, der unseren Wärter ablöst, zählt uns mit den Fingern. Das Zählen ist schließlich ein bisschen kompliziert. »Gibt es Kranke?«, fragt er. Nein. Noch ein ernster Blick, vielleicht kann er noch etwas anmerken, um Schwierigkeiten zu machen. Ist nichts Verdächtiges festzustellen? Aber der Wärter will schlafen gehen. Wir warten jetzt auf das Frühstück. Brot. Ein halber Liter Kaffee. Das ist alles. Nur wenige haben Päckchen bekommen. Sie teilen sich eine Knoblauchzehe oder ein Stück Zwiebel mit den anderen. Es schmeckt wie die köstlichste Wurst.

Die Morgenstunden verbringen wir damit, Läuse zu töten. Dabei gibt Frau H., die Kunsthistorikerin und Architektin ist, immer einige phantastische Betrachtungen zur Ästhetik des Alltags zum Besten. Ich selbst bin weniger kultiviert, doch ich schätze diese Tätigkeit, weil sie die Zeit schneller vergehen lässt. Wir haben viele Läuse, und die Kontrolle aller Nähte unserer Unterwäsche und Kleider zieht sich über einige der endlosen Stunden hin. Wir sinnieren auch über das Verhalten dieser braven Tierchen, ihre chamäleonhafte Begabung und ihren räumlichen Scharfsinn. Wir wissen, dass die braunen Läuse von A. stammen – sie sind aus ihrem braunen Pullover gekrochen und über die Ritzen der Regale direkt zu H. gewandert, um sich mit den Läusen zu streiten, die dort schon waren und leicht schwarz schimmern. Es gibt große Läuse, kleine Läuse, meistens sind alle sehr lebendig. Gespräche über dieses Thema sind für die einen ein ständiges Ärgernis, für die anderen ein Spiel. Aber worüber sollen wir am Ende noch sprechen, da wir wissen, dass es unter uns eine Denunziantin gibt, die jedes unserer Worte in ihrem Kopf notiert. Nur Helka beginnt manchmal zu träumen. Sie sitzt neben der Parascha, da sie als Letzte dazugekommen ist. Sie ist die einzige Bytowitschka unter uns (eine Bytowitschka ist eine Gefangene, die wegen eines kriminellen Vergehens eingesperrt ist). Ich vermute, dass sie eine Prostituierte war. Sie scheint zumindest eine Menge einschlägiger Erfahrungen zu haben. Die meisten ihrer Geschichten handeln von polnischen Gefängnissen aus der Vorkriegszeit. Wir glauben ihr nichts von dem, was sie sagt; ihre Geschichten scheinen uns nicht wahr zu sein. »In so einer Zelle«, sagt sie, »waren wir zu zweit, und es gab zwei Betten.«

»Betten?«, fragen wir erstaunt.

»Ja, so Dinger, auf denen man liegt, mit Matratzen und auch mit Decken, Bettlaken und Kissen.«

Das mit der Decke kann ich noch glauben, doch dass es in einem Gefängnis ein Kissen geben soll, erscheint mir doch arg übertrieben. Der Mensch neigt dazu, die Vergangenheit zu idealisieren. Aber Helka schwelgt weiter in Erinnerungen: »Wir hatten ein Damebrett und ein Schachspiel, ein richtiges, nicht so eines, wie ihr es aus Brot macht.« Das ist nicht gut, sie hat gemerkt, dass wir Schach spielen, und das ist verboten.