Nach Hause kommen zu sich selbst - Tara Brach - E-Book

Nach Hause kommen zu sich selbst E-Book

Tara Brach

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Beschreibung

Jenseits unserer turbulenten Gedanken und Emotionen ist eine tiefe, von grenzenloser Liebe erfüllte Stille. An diesem Ort des Gewahrseins, der immensen Weisheit und Güte erwartet uns aller Reichtum und alles Glück, wonach wir so lange gesucht haben. Wer sich beharrlich, ängstlich und trotzig gegen Krisen und Verluste wehrt, vergrößert nur sein Leiden; indem wir uns verzweifelt, verärgert, mit Selbstverachtung oder Suchtverhalten in alte Strategien der Alltagsbewältigung stürzen, wenn unser Dasein erschüttert wird, wenn Krankheiten unsere Lieben bedrohen oder traumatische Erlebnisse uns quälen, vertiefen wir den unaufhörlichen Schmerz. Doch durch das Ja zur Fülle des Lebens stellt sich Herzensfrieden ein, und in unserem inneren Heiligtum finden wir die wahre Zuflucht! Tara Brach kennt das Refugium des Heilseins aus eigener und profunder therapeutischer Erfahrung - und sie hilft unser Sehnen zu stillen, indem sie uns mit spirituellen Lehren, geführten Meditationen und inspirierenden Geschichten den Weg des Erwachens entschlüsselt.

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Tara Brach

Nach Hause kommen zu sich selbst

Im eigenen erwachten Herzen Zuflucht und Geborgenheit finden

Wichtiger Hinweis

Die im Buch veröffentlichten Empfehlungen wurden von Verfasserin und Verlag sorgfältig erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Ebenso ist die Haftung der Verfasserin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.

Aus dem Englischen von

Nayoma de Haën

Titel der Originalausgabe:

True Refuge.

Finding Peace and Freedom

in Your Own Awakened Heart.

Copyright © 2012 by Tara Brach

First published in 2013 in the US by Bantam Press

Deutsche Ausgabe:

© KOHA-Verlag GmbH Burgrain

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2014

Lektorat: Traudel Reiss

Fotos: Fotolia – S. 2/3, 10, 204/205, 354/355, 403;

Shutterstock – S. 18/19, 96/97

Cover: © Kim Hoang, Guter Punkt, unter Verwendung

von Motiven von shutterstock und thinkstock

Layout: Birgit-Inga Weber

Gesamtherstellung: Karin Schnellbach

ISBN 978-3-86728-734-0

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Für Jonathan,

dessen Herz eine liebevolle, sichere Zuflucht ist,

und seinen guten Humor,

eine der großen Freuden dieses Lebens.

Inhaltsverzeichnis

PrologDas Leben lieben, wie es ist

Teil IUnsere Suche nach Zuflucht

1.Winde der Heimkehr

2.Das Heim verlassen – Die Trance des kleinen Selbst

3.Meditation – Der Weg zur Präsenz

4.Drei Tore zur Zuflucht

Teil IIDas Tor der Wahrheit

5.RAIN – Achtsame Präsenz in schwierigen Zeiten kultivieren

6.Zum Leben im Körper erwachen

7.In den Fängen des Verstands – Das Gefängnis des zwanghaften Denkens

8.Zentrale Überzeugungen erforschen

Teil IIIDas Tor der Liebe

9.Herzensmedizin für traumatische Ängste

10.Selbstmitgefühl – Den zweiten Pfeil entfernen

11.Der Mut, zu vergeben

12.Hand in Hand – Gelebtes Mitgefühl

13.Verlieren, was wir lieben – Der Schmerz der Trennung

Teil IVDas Tor des Gewahrseins

14.Zuflucht zum Gewahrsein

15.Ein zu allem bereites Herz

Danksagung

Genehmigungen

Auswahl an Kommentaren zu diesem Buch

Über die Autorin

Geführte Besinnungen und Meditationen

1 • Innehalten für Präsenz

2 • Herzensgüte – Freundliche Zuwendung zu sich selbst

3 • Zurückkommen

• Hier sein

4 • Das Wichtigste erinnern

5 • Sich mit RAIN Schwierigkeiten zuwenden

• Eine »Leicht«-Version von RAIN für die unmittelbare Anwendung im Alltag

6 • Sich mit RAIN Schmerzen zuwenden

• Das Lächeln des Buddha

7 • Meine Top-Ten-Hits

• Sich mit RAIN zwanghaftem Denken zuwenden

8 • Bestandsaufnahme von Überzeugungen

• Überzeugungen auf frischer Tat ertappen

9 • Herzensgüte – Liebe annehmen

• Tonglen – Heilsame Präsenz und Angst

10 • Selbstvergebungs-Scan

• Den Krieg mit sich selbst beenden

11 • Anderen von Herzen vergeben

12 • Tonglen – Das mitfühlende Herz erwecken

• Herzensgüte – Hinter die Fassade schauen

13 • Gebet für schwierige Zeiten

14 • Den Innenraum erkunden

• Wer bin ich?

• Einen Schritt zurücktreten

15 • Wunschgebet

• Wahre Zuflucht finden

Wenn du einsam bist oder in Dunkelheit, wünschte ich,

dir das erstaunliche Licht deines eigenen Seins zeigen zu können!

Hafiz

(Nachübersetzung der engl. Übersetzung

Prolog

Das Leben lieben, wie es ist

In meinen frühesten glücklichen Erinnerungen spiele ich im Meer. Nachdem meine Familie dazu übergegangen war, die Sommer in Cape Cod zu verbringen, wurden mir die niedrigen Kiefernwälder, die hohen Dünen und die Weite der weißen Sandflächen zu einer echten Heimat. Stundenlang waren wir am Strand, tauchten in den Wellen, ließen uns von ihnen an den Strand tragen und übten unter Wasser Purzelbäume. Sommer um Sommer füllte sich unser Haus mit Freunden und Verwandten – und später mit Partnern und neuen Kindern. Es war ein gemeinschaftliches Himmelreich. In der salzigen Luft, unter dem weiten Himmel und an der stets lockenden See war Platz für alles, was es in meinem Leben gab, auch für eventuelle Schwierigkeiten, die ich im Herzen trug.

Dann kam der Morgen, es ist noch gar nicht so lange her, an dem zwei Autos voller Freunde und Verwandten ohne mich in Richtung Strand aufbrachen. Aus dem Mädchen, welches zum Abendessen nur mit Mühe aus dem Wasser zu holen war, war eine Frau geworden, die nicht mehr über den Sand gehen oder im Meer schwimmen konnte. Nach zwei Jahrzehnten, in denen sich meine Gesundheit mysteriöserweise immer mehr verschlechterte, erhielt ich schließlich eine Diagnose: Ich hatte eine unheilbare, genetisch bedingte Krankheit, die im Wesentlichen nur durch Schmerzmittel behandelt werden konnte. Auf der Terrasse unseres Sommerhauses sitzend sah ich zu, wie sich die Autos entfernten, und es zerriss mich schier vor Kummer und Einsamkeit. Während die Tränen flossen, war ich mir nur einer einzigen Sehnsucht bewusst: »Bitte, bitte, lass mich Frieden finden, lass mich einen Weg finden, das Leben so zu lieben, wie es ist.«

Aus dieser Suche nach einem inneren Ort des Friedens, der Verbundenheit und Freiheit, der auch unter schwersten Herausforderungen trägt, entstand dieses Buch. Ich nenne diesen inneren Ort »wahre Zuflucht«, weil er von allen äußeren Dingen unabhängig ist – von Situationen, Personen, Heilungen, sogar Stimmungen und Emotionen. Das Verlangen nach einem solchen Zufluchtsort ist universell. All unsere Wünsche und Ängste entspringen dieser Sehnsucht. Wir sehnen uns nach der Gewissheit, mit dem umgehen zu können, was auf uns zukommt. Wir möchten uns selbst vertrauen, dem Leben vertrauen. Wir möchten aus der Fülle dessen leben, was wir sind.

Meine Suche nach Zuflucht führte mich noch tiefer in die spirituellen Lehren und die buddhistischen Meditationen, die in meinem Leben ohnehin schon eine zentrale Rolle spielten. Ich bin eine klinische Psychologin und lehre seit über dreißig Jahren Meditation. Ich bin auch Mitbegründerin und Lehrerin am Insight Meditation Center in Washington D.C. Aus meiner eigenen inneren Arbeit und meiner Arbeit mit anderen entstand mein erstes Buch Mit dem Herzen eines Buddha: Heilende Wege zu Selbstakzeptanz und Lebensfreude. Ich hatte auch angefangen, Psychologen und Laien zu vermitteln, wie sich Meditation und emotionale Heilung verbinden lassen. Die tiefe Unsicherheit dieser Existenz, die meine innere Welt zu der Zeit meiner Diagnose erschütterte, ließ mir die Lehren, die mich schon so lange leiteten, noch unmittelbarer und lebendiger werden.

In der buddhistischen Tradition, in der ich lehre, verwenden wir das Pali-Wort Dukkha, um den emotionalen Schmerz in unserem Leben zu beschreiben. Dieses Wort wird häufig mit »Leiden« übersetzt, doch Dukkha umfasst all unsere Erfahrungen von Stress, Unzufriedenheit, Angst, Kummer, Sorgen, Frustration und allgemeiner Lebensunlust. Ursprünglich bezeichnet Dukkha einen Karren mit einem gebrochenen Rad. Wenn wir leiden, sind wir im Ungleichgewicht und holpern beschwerlich über den Weg unseres Lebens. Wir fühlen uns zerschlagen oder »daneben«, fern von jeglichem Gefühl der Zugehörigkeit. Manchmal zeigt sich dies einfach in einer subtilen Rastlosigkeit oder Unzufriedenheit; zu anderen Zeiten springt es uns als herzzerreißender Kummer oder lähmende Angst an. Doch wenn wir genau hinhören, entdecken wir unter der Oberfläche all unserer Beschwerden und Kümmernisse ein Grundempfinden der Einsamkeit und Unsicherheit, als sei etwas in unserem Leben verkehrt.

In Mit dem Herzen eines Buddha: Heilende Wege zu Selbstakzeptanz und Lebensfreude schrieb ich über den tiefen, alles durchdringenden Schmerz der Scham, das Leiden unter der Überzeugung, dass »etwas mit mir nicht stimmt«. Diesmal wende ich mich Dukkha in einem umfassenderen Sinn zu. Seit mein erstes Buch veröffentlicht wurde, habe ich schwere Verluste durchlebt – den Tod meines Vaters, den körperlichen und psychischen Verfall mir nahestehender Menschen und die Konfrontation mit meiner eigenen chronischen Krankheit. Auch viele meiner Schüler machten große Umwälzungen durch. Manche verloren ihre Arbeit. Sie sorgen sich um ihren Lebensunterhalt und hungern nach einer sinnvollen Tätigkeit. Andere entfremdeten sich von Freunden oder ihrer Familie und sehnen sich nach Verbindung. Und sehr viele mühen sich mit dem Altern, mit Krankheit und der Unausweichlichkeit des Sterbens ab. »Etwas stimmt nicht mit mir« verstrickt sich für sie mit dem Schmerz des Ringens mit dem Leben an sich. Dem Buddha zufolge ist diese Erfahrung der Unsicherheit, Getrenntheit und grundlegender »Verkehrtheit« unvermeidlich. Als Menschen sind wir geprägt, uns getrennt und mit unserem wechselhaften und unkontrollierbaren Leben im Widerstreit zu fühlen. Dieses Grundgefühl ist der Ursprung der ganzen Bandbreite unserer verstörenden Emotionen wie Angst, Ärger, Scham, Kummer, Eifersucht und Neid sowie all der uns einschränkenden Geschichten und all der reaktiven Verhaltensweisen, die unseren Schmerz noch verstärken.

Doch der Buddha bot uns auch eine radikale Verheißung an, die sich in vielen anderen Weisheitstraditionen wiederfindet: Wir können in unserem eigenen Herzen und in unserem eigenen Geist Geborgenheit und Zuflucht finden – genau hier, genau jetzt, mitten in unserem aktuellen Leben. Wir finden wahre Zuflucht, wann immer wir jenseits all unserer Geschäftigkeit und all unseres Strebens den stillen Raum des Gewahrseins erkennen. Wir finden Zuflucht, wann immer wir zartfühlend und mit Liebe unser Herz öffnen. Wir finden Zuflucht, wann immer wir uns mit der Klarheit und Intelligenz verbinden, die unserer wahren Natur zu eigen sind.

In Nach Hause kommen zu sich selbst versuche ich, mit dem Begriff »Präsenz« die Unmittelbarkeit und Lebendigkeit dieses grundlegenden Gewahrseins zum Ausdruck zu bringen. Präsenz ist schwer zu beschreiben, weil sie eine unmittelbare Erfahrung ist und kein Konzept. Wenn ich diese stille innere Wachheit des Jetzt spüre, kehre ich zu einem Empfinden der Ganzheit, des Heilseins zurück. Ich bin zu Hause, in meinem Körper, in meinem Herzen, auf der Erde und in der Gemeinschaft mit allen Wesen. Präsenz erschafft ein grenzenloses Heiligtum, in dem alles Platz hat, was zu meinem Leben gehört – selbst die Krankheit, die mich daran hindert, die Wellen zu reiten.

In diesem Buch finden Sie viele Geschichten von Menschen, die inmitten von Krisen und Verwirrung Präsenz erlebten. Ich erzähle auch von einigen der großen Herausforderungen, mit denen ich selbst in den letzten Jahrzehnten konfrontiert wurde. Ich hoffe, manche dieser Geschichten stellen eine Verbindung zu Elementen Ihrer eigenen Situation her. Anhand dieser Erfahrungen werden wir die Kräfte erforschen, die uns davon abhalten, präsent zu sein, und uns so häufig dazu verleiten, falschen Zufluchten nachzugehen. Ich rege auch zu vielen verschiedenen Übungen an, die mir und anderen zuverlässig halfen, Präsenz zu erfahren. Manche davon sind alt, manche neu, und manche entsprechen direkt den Erkenntnissen der modernen Neurowissenschaften. Zu diesen Übungen gehört auch eine der praktikabelsten, alltagstauglichsten Achtsamkeits-Meditationen, die ich kenne. Das Akronym RAIN steht für die vier Schritte dieses Prozesses, mit dem wir uns vielen schwierigen Emotionen an Ort und Stelle zuwenden können und der sich an praktisch jede persönliche Situation anpassen lässt.

Die Struktur von Nach Hause kommen zu sich selbst orientiert sich an den drei grundlegenden Toren der Zuflucht, die sich in jeder buddhistischen Strömung und in vielen anderen Traditionen finden: Wahrheit (des gegenwärtigen Augenblicks), Liebe und Gewahrsein. Jedes dieser Tore öffnet uns unmittelbar für Heilung und spirituelle Freiheit. Diese Tore enthalten die Schlüssel zur Überwindung weit verbreiteter Schwierigkeiten wie zwanghaftes Denken, begrenzende Überzeugungen und traumatische Ängste. Mit ihrer Hilfe können wir uns tiefer mit Selbstmitgefühl verbinden und mehr Intimität in Beziehungen erleben. Sie sind auch der Schlüssel zu Frieden und Glück und dazu, uns in unserem Leben zu Hause zu fühlen.

An jenem Tag in Cape Cod wusste ich nicht, ob ich angesichts einer Zukunft voller Schmerzen und körperlicher Einschränkungen je wieder meines Lebens froh werden könnte. Während ich weinte, setzte sich Cheylah, einer unserer Pudel, neben mich und stupste mich besorgt an. Cheylahs Gegenwart tröstete mich und verband mich wieder mit dem Hier und Jetzt. Nachdem ich sie eine Weile gestreichelt hatte, erhob ich mich, um mit ihr ein Stück spazieren zu gehen. Ich überließ ihr die Führung, und wir schlenderten einen bequemen Fußweg entlang, von dem aus man die Bucht überschauen konnte. Das Weinen hatte mich ruhig und offen gemacht. Mein Herz umfasste alles – die Beschwerden in meinen Knien, die Weite des glitzernden Wassers, Cheylah, meine unbekannte Zukunft, das Schreien der Möwen. Nichts fehlte, nichts war falsch. In diesen Momenten wahrer Zuflucht erahnte ich eines der größten Geschenke des buddhistischen Wegs: die Fähigkeit, »grundlos glücklich« zu sein; das Leben zu lieben, wie es ist.

Wenn Sie sich zu diesem Buch hingezogen fühlen, haben Sie sich einem Weg wahrer Zuflucht bereits geöffnet. Vielleicht haben Sie gegen sich angekämpft und sehnen sich danach, freundlicher mit sich selbst umzugehen. Vielleicht ringen Sie mit einer Abhängigkeit und sehnen sich danach, ein Leben ohne Zwang und Scham zu führen. Vielleicht sind Sie mit einem Verlust konfrontiert worden – einer Arbeitsstelle, eines lieben Menschen, Ihrer Gesundheit – und fragen sich, ob sich Ihr Herz je wieder davon erholen wird. Vielleicht belastet Sie die ungeheure Menge an Leiden in unserer Welt, und Sie suchen nach einem Weg, zu dessen Heilung beizutragen. Wie schwierig die Situation auch immer ist – der Weg der Zuflucht in eine heilsame und befreiende Präsenz steht immer offen.

Das Verfassen dieses Buches war eine Entdeckungsreise. Jeden Tag lernte ich aus meinen eigenen Erfahrungen und aus den Erfahrungen der Menschen in meiner Umgebung. Mögen Ihnen diese Lehren und Übungen während unseres gemeinsamen spirituellen Weges als Gefährten dienen und Ihnen Zuversicht schenken.

Teil I

Unsere Suche nach Zuflucht

1

Winde der Heimkehr

Ach, nicht getrennt sein,

nicht durch so wenig Wandung

ausgeschlossen vom Sternen-Maß.

Innres, was ist’s?

Wenn nicht gesteigerter Himmel,

durchworfen mit Vögeln und tief

von Winden der Heimkehr.

Rainer Maria Rilke

Am Ende eines eintägigen Meditationsseminars nahm mich Pam, eine Frau Ende sechzig, beiseite. Pam und ihr Mann Jerry befanden sich am Ende eines schweren Weges, der drei Jahre zuvor begonnen hatte. Nun stand Jerry kurz davor, an seinem Lymphom zu sterben. Er hatte Pam gebeten, ihn durch diese letzte Phase seines Lebens zu begleiten.

»Tara«, flehte sie, »ich brauche dringend Hilfe.« Pam versuchte verzweifelt, alles Menschenmögliche für ihren Mann zu tun. »Ich möchte ihn so gerne retten«, erklärte sie mir. »Ich habe mich mit Ayurveda, chinesischer Medizin, Kräuterheilkunde und jeder alternativen Therapiemethode beschäftigt, die ich finden konnte. Ich habe alle Studien durchforstet …, ich war mir sicher, wir kriegen das hin.« Sie lehnte sich erschöpft zurück und ließ ihre Schultern hängen. »Und jetzt bleibt mir kaum mehr, als alle auf dem Laufenden zu halten und die Pflegekräfte zu koordinieren. Wenn er nicht schläft, versuche ich, es ihm angenehm zu machen, ihm vorzulesen …«

»Das klingt, als hättest du alles in deiner Kraft Stehende getan, um gut für Jerry zu sorgen«, antwortete ich mit mitfühlender Stimme. »Und warst damit sehr beschäftigt.«

Bei diesen Worten lächelte sie mir bestätigend zu. »Ja, sehr beschäftigt. Klingt verrückt, oder?« Sie hielt einen Moment inne. »So lange, wie ich mich erinnern kann, bin ich immer sehr beschäftigt gewesen, sogar jetzt, aber ich kann mich nicht einfach zurücklehnen und ihn kampflos gehen lassen.« Pam schwieg ein Weilchen, dann sah sie mich ängstlich an. »Er könnte jetzt jeden Tag sterben, Tara. Gibt es nicht irgendeine buddhistische Praxis, die ich lernen sollte? Oder etwas, was ich lesen sollte? Vielleicht das Tibetische Totenbuch? Wie kann ich ihm bei diesem … Sterben … helfen?«

Bevor ich versuchte, ihr zu antworten, bat ich sie, nach innen zu lauschen und mir zu sagen, was sie fühlt.

»Ich liebe ihn so sehr und habe solche Angst, ihn im Stich zu lassen.« Sie begann zu weinen. Nach einer Weile sprach sie weiter: »Mein ganzes Leben lang habe ich gefürchtet, nicht zu genügen. Ich glaube, ich habe immer so geschuftet, um es besser zu machen. Und jetzt fürchte ich, da zu versagen, wo es am meisten darauf ankommt. Er wird sterben, und ich werde mich total einsam fühlen, weil ich ihn im Stich gelassen habe.«

»Pam«, erwiderte ich sanft, »du hast schon so viel getan, doch die Zeit für all die Aktivität ist jetzt vorbei. Du brauchst zu diesem Zeitpunkt nichts mehr in Gang zu setzen, du brauchst jetzt gar nichts mehr zu tun.« Ich wartete einen Moment und fügte dann hinzu: »Es geht darum, einfach bei ihm zu sein. Vermittle ihm deine Liebe durch deine volle Präsenz.«

In dieser schweren Situation bezog ich mich auf eine einfache Lehre, die in meiner Arbeit mit meinen Meditationsschülern und Therapieklienten eine zentrale Rolle spielt: Wenn wir liebevolle Präsenz als unsere eigentliche Essenz erkennen, wenn wir diese Essenz sind, entdecken wir wahre Freiheit. Angesichts eines unausweichlichen Verlustes kann diese zeitlose Gegenwärtigkeit unserem eigenen Herzen und dem Herzen anderer Heilung und Frieden bringen.

Pam nickte. Jerry und sie seien Katholiken, erklärte sie mir, und die Achtsamkeitsübungen aus meinen wöchentlichen Kursen hätten ihnen zu einer tieferen Erfahrung ihres Glaubens verholfen. Doch die dramatische Verschlechterung von Jerrys Zustand überwältigte Pam. »Ich weiß, dass die Hospiz- und Pflegekräfte alles tun, um zu helfen, aber ich finde einfach, all dies sollte nicht so sein – so viel Erschöpfung, so viel Schmerz. Niemand sollte so etwas durchmachen müssen. Es ist einfach verkehrt.« Wie so viele Menschen empfand auch Pam Krankheit als ungerecht, als einen Feind, dem es zu widerstehen gilt. Sie war mit Dukkha konfrontiert, dem Leiden, das mit dem Leben einhergeht.

»In diesen besonders schwierigen Momenten könntest du innehalten und dir bewusst machen, was du fühlst – die Angst, den Ärger oder den Kummer«, schlug ich ihr vor. »Und dann könntest du dir innerlich zuflüstern: ›Ich stimme zu.‹« Ich hatte diesen Satz kürzlich von Pater Thomas Keating gehört und dachte, als Katholikin könnte Pam damit vielleicht etwas anfangen. Wenn wir »Ich stimme zu« sagen – oder einfach »Ja«, wie ich meistens lehre –, entspannt sich unser Widerstand gegen den gegenwärtigen Augenblick, und wir können den Herausforderungen des Lebens mit einem offeneren Herzen begegnen.

Pam nickte, aber sie wirkte immer noch besorgt. »Ich möchte das gerne tun, Tara, aber wenn ich aufgeregt bin, wird mein Denken immer schneller. Ich fange an, mit mir selbst zu reden, mit ihm zu reden – wie kann ich mich daran erinnern, innezuhalten?«

Das ist eine gute Frage, und ich höre sie oft. »Du wirst es höchstwahrscheinlich immer mal wieder vergessen«, antwortete ich, »das ist ganz normal. Alles, was du tun kannst, ist, getreulich an der Absicht festzuhalten, innezuhalten, zu spüren, was gerade vor sich geht, und es so sein zu lassen.«

Pams Gesicht wurde weicher, als sie verstand. »Das kann ich. Ich kann von ganzem Herzen beabsichtigen, für Jerry da zu sein.«

Unser Ruf um Hilfe

»Alle Religionen und spirituellen Traditionen beginnen mit einem Hilferuf«, schrieb der amerikanische Psychologe und Philosoph William James im 19. Jahrhundert. In meiner Beratungspraxis und in den Gesprächen mit Übenden höre ich viele verschiedene Arten von Hilferufen. Wie kann ich mit dieser lähmenden Angst fertig werden, mit diesem Gefühl, versagt zu haben, mit der Qual dieses Verlustes?

Wir merken, ähnlich wie Pam, dass wir gegen die grundlegenden Realitäten wie Veränderung, Verlust und Sterblichkeit nichts ausrichten können, sosehr wir uns auch um eine Kontrolle über unser Leben bemühen. Unsicherheit wohnt dieser vergänglichen Welt inne. Und so beten wir um Zuflucht: »Hilfe! Ich sehne mich danach, mich sicher und beschützt zu fühlen, geliebt und in Frieden. Ich möchte zu etwas gehören, was größer ist als ich. Ich möchte mich in meinem Leben zu Hause fühlen.«

Doch wenn wir uns unser Leben genauer anschauen, wird deutlich, dass wir oft nicht weise im Sinne unseres Gebetes handeln. Statt nach echter Zuflucht zu streben, wenden wir uns dem zu, was ich »falsche Zufluchten« nenne. Sie sind falsch, weil sie zwar vorübergehend Trost oder Sicherheit zu geben scheinen, aber langfristig das Leiden vermehren. Vielleicht fürchten wir uns wie Pam vor dem Versagen und flüchten uns daher in Geschäftigkeit, einen hohen Leistungsanspruch oder die Sorge um andere. Oder wir fühlen uns nicht liebenswert und flüchten uns in das Streben nach Erfolg oder Wohlstand. Vielleicht fürchten wir uns vor Kritik und suchen Zuflucht darin, dass wir Risiken vermeiden und anderen immer gefallen wollen. Oder wir fühlen uns bedrückt oder leer und flüchten uns in Alkohol, übermäßiges Essen oder stundenlanges Surfen im Internet. Statt es zuzulassen und uns dem zu öffnen, was wir gerade fühlen, flüchten wir uns in diese Dinge, um den emotionalen Schmerz zu vermeiden. Doch das entfernt uns nur noch weiter von zu Hause.

Solange wir diesen falschen Zufluchten nachgehen, wird uns das Leiden verfolgen. Wie viele von uns schlafen unruhig und erwachen mitten in der Nacht voller Angst und Sorgen? Oder schlagen sich mühsam durch den Tag und können vor Anspannung oder Getriebenheit nicht genießen, was gerade vor sich geht? Statt uns zufriedenzustellen oder unsere Ängste zu lindern, nähren die falschen Zufluchten unsere grundlegenden Selbstzweifel. Pam hatte sich ganz und gar der Fürsorge für Jerry gewidmet, doch alles, was sie tat, erschien ihr ungenügend. Ihr ängstliches Bemühen, es »richtig« zu machen, bestärkte sie in ihrem Eindruck, nicht zu genügen. Sie fühlte sich nicht im Einklang mit sich selbst und dem, was sie Jerry anbieten konnte.

Häufig erkennen wir erst, wenn uns eine Krise erschüttert – ein Herzenskummer, der Tod eines nahestehenden Menschen oder unser eigener bevorstehender Tod –, dass unsere falschen Zufluchten nicht funktionieren. Sie können uns nicht vor dem retten, was wir am meisten fürchten: dem Schmerz des Verlustes und der Trennung. Eine Krise hat die Macht, unsere Illusionen zu zerschmettern und zu offenbaren, dass es in dieser unbeständigen Welt keinen festen Boden gibt, auf dem wir stehen könnten, und nichts, woran wir uns festhalten könnten. In solchen Zeiten, wenn unser Leben in die Brüche zu gehen scheint, kann uns bewusst werden, wie sehr wir um Hilfe rufen. Dieser Hilferuf entspringt der Sehnsucht des Herzens nach einer Zuflucht, die so umfassend ist, dass auch unsere tiefsten Leidenserfahrungen darin aufgehoben sind.

Heimkehren zur liebevollen Gegenwärtigkeit

Einen Monat nach meinem Gespräch mit Pam rief sie mich an, um mir mitzuteilen, dass Jerry gestorben sei. Und sie erzählte mir, was nach unserem Gespräch geschehen war. Als sie an jenem Abend nach Hause kam, hatte sie Jerry eingeladen, still mit ihr zu beten. »Als wir fertig waren«, sprach sie weiter, »haben wir einander erzählt, worum wir gebetet hatten. Ich sagte ihm, wie sehr ich mir wünschte, dass er meine Liebe spürt.« Pam schwieg einen Moment, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme rau. »Er hatte um genau dasselbe gebetet …, nur umgekehrt. Wir umarmten uns und weinten zusammen.«

Pam gab zu, wie sehr sie selbst in jenen letzten Wochen mit dem Impuls zu kämpfen hatte, sich nützlich zu machen, geschäftig zu sein. Eines Nachmittags fing Jerry an, darüber zu sprechen, dass ihm nur noch wenig Zeit bliebe und dass er sich nicht vor dem Tod fürchte. Sie hatte sich über ihn gebeugt, ihm einen Kuss gegeben und rasch erwidert: »Ach, mein Lieber, heute war ein guter Tag, heute scheinst du mehr Kraft gehabt zu haben. Ich mache dir einen Kräutertee.« Er verfiel in Schweigen, und die Stille erschütterte sie. »Mir wurde in diesem Moment so deutlich, wie sehr es einzig und allein darum ging, einander zuzuhören, ganz präsent zu sein, und wie sehr uns alles andere nur trennte. Ich wollte nicht laut zugeben, was vor sich ging; das machte es so real. Also wich ich aus, indem ich Tee machte. Doch indem ich der Wahrheit auswich, entfernte ich mich von ihm, und das war herzzerreißend.«

Während sie den Tee zubereitete, betete Pam und bat darum, mit ganzem Herzen für Jerry da zu sein. An diesem Gebet orientierte sie sich in den Tagen, die danach kamen. »Im Laufe der letzten paar Wochen musste ich all meine Vorstellungen davon loslassen, wie sein Sterben sein sollte und was ich noch tun sollte, und erinnerte mich immer wieder daran, zu sagen: ›Ich lasse es zu.‹ Zuerst wiederholte ich die Worte nur mechanisch, aber nach ein paar Tagen spürte ich, wie mein Herz tatsächlich anfing, zuzulassen.« Sie beschrieb, wie sie innehielt, wenn starke Gefühle aufwallten, um innerlich wahrzunehmen, was gerade vor sich ging. Wenn sich ihr Bauch vor Angst und Hilflosigkeit zusammenzog, verweilte sie bei diesen Gefühlen und ließ ihre tiefe Verletzlichkeit zu. Wenn der rastlose Drang, »etwas zu tun«, auftauchte, nahm sie ihn wahr, blieb ruhig und ließ ihn wieder verebben. Wenn die Wellen der Trauer sie überrollten, sagte sie sich: »Ich lasse es zu«, und öffnete sich der schmerzhaften Schwere des Verlustes.

Die präsente Nähe zu ihrem inneren Erleben ermöglichte es Pam, ganz für Jerry da zu sein. »Als alles in mir die Angst und den Schmerz wirklich zuließ, wusste ich, wie ich für ihn sorgen kann. Ich spürte, wann es Zeit war, Worte der Ermutigung zu flüstern, und wann es einfach darum ging, zuzuhören, ihn mit Berührung zu beruhigen, für ihn zu singen, mit ihm still zu sein. Ich wusste, wie ich mit ihm sein kann.«

Am Ende des Gesprächs erzählte mir Pam, was für sie das Geschenk jener letzten Tage mit Jerry war und wie ihre Gebete erhört worden waren: »In der Stille schaute ich jenseits von ›er‹ und ›ich‹. Ich erkannte, dass wir uns in einem Feld des Liebens befanden – totale Offenheit, Wärme und Licht. Er ist jetzt von uns gegangen, aber dieses Feld des Liebens ist immer bei mir. Mein Herz weiß, dass ich heimgekehrt bin …, wirklich heimgekehrt zur Liebe.«

Lernen, sich den Wellen anzuvertrauen

Pams Bereitschaft, sich ganz auf ihre innere Erfahrung einzulassen, wie schmerzhaft sie auch sei, ermöglichte es ihr, sich mit der endlosen Weite der Liebe zu verbinden. Ihre zunehmende Fähigkeit zur Präsenz, ihre Bereitschaft, sich der Wahrheit ihrer Erfahrung in jedem Augenblick zu stellen, ließ sie mitten in einem großen Verlust nach Hause finden. Gegenwärtigkeit ist die Essenz wahrer Zuflucht.

Eine andere Art von Verlust hatte mich zu meinem ersten buddhistischen Retreat getrieben. Mein Sohn Narayan war zu jener Zeit vier Jahre alt, und ich stand kurz vor der Scheidung. Ich hatte bereits erlebt, wie gut mir die buddhistische Meditation tat, und hoffte, eine Zeit intensiver Praxis würde mir helfen, mit meinen Ängsten und meinem Stress umzugehen. Ich hatte Narayan zu meinen Eltern in New Jersey gebracht und fuhr durch dichtes Schneegestöber zu dem Retreatzentrum in Massachusetts. Auf dieser langsamen Fahrt durch die Kälte hatte ich jede Menge Zeit, um darüber nachzudenken, was mir wirklich wichtig war. Ich wollte nicht, dass die Liebe, die ich immer noch für meinen Mann empfand, durch die Trennung verschüttet würde. Ich wollte nicht, dass wir füreinander zu rücksichtslosen, gar feindseligen Fremden würden. Und mir lag daran, dass sich Narayan trotz unserer Trennung sicher und geliebt fühlte. So betete ich aus tiefstem Herzen, in all dem, was vor sich ging, einen Weg zu finden, mit meinem Herzen verbunden zu bleiben.

Im Laufe der stundenlangen stillen Meditationen der folgenden fünf Tage kreiste ich viele Male durch klare, aufmerksame Geisteszustände und Phasen, in denen mich die Müdigkeit übermannte, mich körperliches Unwohlsein plagte oder ich in Gedanken abschweifte. An einem Abend verlor ich mich in Gedanken über die kommenden Monate: Sollten wir für den Scheidungsprozess Anwälte oder einen Mediator einschalten? Wann sollten wir auseinanderziehen? Und vor allem: Wie konnte ich in dieser schmerzhaften Übergangsphase für meinen Sohn da sein? Jeder sorgenvolle Gedanke, der auftauchte, lockte mich, alles durchdenken und innerlich klären zu wollen. Doch etwas in mir wusste, dass ich bei den unangenehmen Gefühlen in meinem Körper zu bleiben hatte. Ein Vers von Ryôkan, einem Zen-Dichter aus dem 18. Jahrhundert, kam mir in den Sinn: »Um das Buddha-Dharma zu finden, treibe nach Osten und Westen, komme und gehe, vertraue dich den Wellen an.«

Der »buddhistische Weg« bezieht sich auf die Wahrheit davon, wie die Dinge wirklich sind. Wir können die Natur der Wirklichkeit erst verstehen, wenn wir aufhören, unsere Erfahrung kontrollieren zu wollen. Es gibt keinen Weg, zu erkennen, was vor sich geht, solange wir auf einer gewissen Ebene versuchen, das Unwetter zu ignorieren oder ihm auszuweichen. Während der letzten paar Tage des Retreats versuchte ich wieder und wieder, loszulassen, doch meine lang erprobte Strategie, um mich besser zu fühlen − wiederholtes Darüber-Nachdenken −, hinderte mich immer wieder daran. Ryôkans Worte verwiesen auf neue Möglichkeiten: Vielleicht konnte ich mich tatsächlich den Wellen anvertrauen. Vielleicht bestand der einzige Weg zu echtem Frieden darin, mich dem Leben zu öffnen, wie es eben war. Sonst hatte ich hinter meinen Bemühungen, alles im Griff zu behalten, ständig das bedrohliche Gefühl, dass hinter der nächsten Ecke etwas Schreckliches lauern könnte.

Ich versuchte, mich den Gefühlswellen zu öffnen, aber meine alten Gewohnheiten ließen sich nicht so leicht abschütteln. Ich spürte die Anspannung in meiner Brust, und schon machte ich mir wieder Sorgen über die neue Vorschule meines Sohnes, über die Fahrgemeinschaft und wie ich einen flexibleren Babysitter finden könnte. Dann ärgerte ich mich über mich selbst und verurteilte mich dafür, meine Retreatzeit zu »vergeuden«. Ganz allmählich begriff ich, wie krampfhaft zusammengezogen mein Herz war, wie sehr ich mich davor fürchtete, die Intensität des Lebens durch mich hindurchströmen zu lassen. Ich brauchte Hilfe, um mich »anzuvertrauen«.

Jeden Nachmittag hatten die Lehrer die ganze Gruppe durch eine Herzensgüte-Meditation geführt. Ich beschloss, zu versuchen, diese Übung in meine persönliche Praxis einzubeziehen. In der klassischen Form besteht diese Meditation darin, liebevolle Gebete für uns selbst und in sich erweiternden Kreisen für andere Wesen auszusenden. Ich begann, mir selbst Gutes zu wünschen: »Möge ich glücklich und zufrieden sein. Möge ich glücklich und zufrieden sein.« Zuerst fühlte es sich wie eine oberflächliche mentale Übung an, aber schon bald änderte sich etwas. Mein Herz begann, es wirklich zu meinen, ich kümmerte mich um mein eigenes Leben, und das Bewusstsein dieser Fürsorge löste ein wenig von der Anspannung in meinem Herzen.

Jetzt konnte ich mich leichter den Wellen der Angst und des Kummers hingeben und die vorüberziehenden Gedanken und Körperempfindungen − Druck und Schmerz − einfach in ihrem Kommen und Gehen wahrnehmen. Wenn die Sorgen, die mich gequält hatten, auftauchten, spürte ich, dass auch sie Wellen waren, hartnäckige Wellen, die mir schmerzhaft gegen die Brust schlugen. Doch indem ich keinen Widerstand leistete und die Wellen durch mich hindurchströmen ließ, stellte sich Entspannung ein. Statt gegen die stürmischen Brecher zu kämpfen, ruhte ich in einem Meer des Gewahrseins, welches alle Wellenbewegungen einbezog. Ich war in einem Heiligtum angekommen, das groß genug schien, alles aufzunehmen, was in meinem Leben vor sich ging.

Natürliche Präsenz: Wach, offen und feinfühlend

Präsenz ist kein exotischer Zustand, nach dem wir suchen oder den wir irgendwie erzeugen müssten. Ganz einfach ausgedrückt ist Präsenz das Empfinden von Wachheit, Offenheit und Feinfühligkeit, welches entsteht, wenn wir ganz bei unserer Erfahrung im Hier und Jetzt sind. Sie haben sicherlich schon Präsenz erlebt, auch wenn Sie es vielleicht nicht so genannt haben. Vielleicht haben Sie Präsenz erfahren, als Sie in einer lauen Sommernacht wach im Bett lagen und den Grillen lauschten. Oder als Sie allein durch den Wald gingen. Auch bei einer Geburt oder einem Sterben anwesend zu sein, kann einen in einen Zustand vollkommener Präsenz versetzen.

Präsenz ist das Gewahrsein, welches uns von Natur aus innewohnt. Präsenz ist eine unmittelbare, körperliche Erfahrung, die durch die Sinne wahrgenommen wird. Die genauere Betrachtung einer Erfahrung von Präsenz offenbart die drei oben genannten Qualitäten:

Wachheit heißt, dass wir uns dessen, was gerade geschieht, bewusst sind. Mit dieser Intelligenz erkennen wir den sich von Augenblick zu Augenblick ständig verändernden Fluss der Erfahrung – die Geräusche, die uns gerade umgeben, unsere Körperempfindungen, unsere Gedanken. Wachheit bezeichnet die »wissende« Qualität des Gewahrseins.

Offenheit bezieht sich auf den Raum der Bewusstheit, in dem das Leben stattfindet. Diese Bewusstheit widerspricht unserer Erfahrung nicht und wertet sie auch nicht auf. Selbst wenn schmerzhafte Gefühle oder Gedanken ausgelöst wurden, erkennt sie einfach, was vor sich geht, und erlaubt unserem Gefühlsleben, so zu sein, wie es ist. Wie der Himmel, durch den das Wetter zieht, ist auch der offene Raum der Bewusstheit unabhängig von den wechselhaften Ausdrucksformen des durch uns hindurchziehenden Lebens. Doch dieses Gewahrsein verfügt über eine natürliche Sensibilität und einen Ausdruck von Wärme. Diese empfindsame Art der Zuwendung nenne ich Feinfühligkeit. Unsere warmherzige Feinfühligkeit ermöglicht es uns, auf all die Schönheit und all den Kummer, auf alles, was sich zeigt, mit Mitgefühl, Liebe und Staunen einzugehen.

Wir können also von drei Qualitäten der Präsenz sprechen, doch letztlich sind sie untrennbar. Denken Sie an einen sonnendurchfluteten Himmel. Es ist unmöglich, das Licht des Himmels von dem Raum zu trennen, den es durchleuchtet; es ist unmöglich, die Wärme, die wir spüren, von dem Raum und dem Licht zu trennen. Licht, Raum und Wärme sind alles inniglich miteinander verwobene Ausdrucksformen eines Ganzen.

Unsere Sehnsucht, ganz und aus unserem Sein heraus zu leben, ruft uns heim zu dieser natürlichen Gegenwärtigkeit. Unser Erkennen der Wahrheit erwächst aus der Klarheit der Präsenz. Liebe strömt aus der Empfänglichkeit der Präsenz. Lebendigkeit und Kreativität entfalten sich, wenn wir in der Offenheit der Präsenz sind. Alles, was uns kostbar ist, ist bereits hier, durch Gegenwärtigkeit. Jedes Mal, wenn wir nach Hilfe rufen, kann uns unsere Sehnsucht daran erinnern, uns unserer wahren Zuflucht zuzuwenden, der Heilung und Freiheit natürlicher Gegenwärtigkeit.

Rückkehr zur Präsenz

Nach jenem Retreat fuhr ich mit der Absicht zurück, jedes Mal, wenn ich mich gereizt, ängstlich und angespannt fühlte, Zuflucht zur Präsenz zu nehmen. Eine Woche nach meiner Rückkehr bot sich die erste Gelegenheit, und ich nahm sie wahr. Mein Exmann rief mich an und teilte mir mit, er könne an diesem Abend nicht auf Narayan aufpassen. Das bedeutete, dass ich in kürzester Zeit einen Babysitter organisieren musste, um meine Klienten empfangen zu können. »Ich bringe hier das ganze Geld ins Haus, und dann kann ich mich nicht mal in dieser Hinsicht auf ihn verlassen!«, schimpfte mein Geist. »Schon wieder übernimmt er nicht seinen Anteil, schon wieder lässt er mich im Stich!«

Doch am Ende jenes Tages setzte ich mich hin und nahm mir Zeit, mich den Bewertungen und den Schuldzuweisungen zuzuwenden, die in meinem Körper zu spüren waren, und meine Selbstgerechtigkeit ließ nach. Ich saß still da, während die beschuldigenden Gedanken und die Wogen des Ärgers kamen und gingen. Unter meinem Groll spürte ich die ängstliche Frage »Wie kann ich das alles schaffen?«. Und als ich diese untergründigen Wellen der Angst und Sorge durch mich hindurchlaufen ließ, eröffnete sich mir ein ruhiger, innerer Zustand, in dem ich mehr Spielraum und einen weiteren Horizont hatte. Natürlich wusste ich nicht, was die Zukunft bringen würde. Ich hatte nur den gegenwärtigen Augenblick, und dieser Augenblick war in Ordnung. Aus diesem Zustand heraus konnte ich spüren, wie schwierig es für meinen Exmann war, eine neue Wohnung zu finden, unsere Zeitpläne abzustimmen und sich auf tieferer Ebene auf eine völlig andere Zukunft, als er sich vorgestellt hatte, einzustellen. Das half mir, toleranter und freundlicher auf die Situation zu schauen.

Zu anderen Zeiten tat ich mich schwerer damit, mich den Wellen anzuvertrauen, vor allem, wenn mein Ex und ich unterschiedliche Ansichten über Finanzen oder Sorgerechtsvereinbarungen hatten. Jedes Sich-Anvertrauen fühlte sich an, als würde ich damit zulassen, ausgenutzt zu werden. Ich erkannte, dass ich zunächst mich selbst mitfühlend annehmen und meine Fürsorge für mich selbst wirklich ernst nehmen musste. Dann konnte ich mir selbst meine wütendsten, gemeinsten Gedanken verzeihen. Allmählich entspannte sich mein Herz ein wenig, und ich konnte die schmerzhaften Strömungen der Wut und der Angst besser durch mich hindurchfließen lassen.

Wie auf dem Retreat stellte sich dann in mir eine Verbindung mit einer weiten Präsenz ein, die das aktuelle Geschehen mit einbezog und mir ermöglichte, mein Leben mit mehr Weisheit zu betrachten. In dieser Gegenwärtigkeit ruhend, konnte ich anfangen, mir klarer meiner gesunden Bedürfnisse bewusst zu werden – nach einer fairen Aufteilung unserer Finanzen, nach eigenem Wohnraum – und sie von Impulsen zu unterscheiden, die aus Angst oder Misstrauen entstanden. Wenn ich für das einstand, was ich brauchte, fühlte ich mich mehr in mir selbst zu Hause, jedoch nicht, wenn ich enge Kontrolle auszuüben versuchte. Und ich bemerkte, wie mein Exmann umso respektvoller und flexibler wurde, je mehr er spürte, wie ich mich um genau diese Qualitäten bemühte.

Diese Zuflucht zur Präsenz ermöglichte es meinem Exmann und mir, Freunde zu bleiben und einander immer noch als Teil der Familie zu betrachten. Aber es war nicht leicht. Wir waren beide auf dem spirituellen Weg und glaubten naiverweise, uns deshalb auf eine ehrenhafte und erwachsene Art voneinander trennen zu können. Keiner von uns beiden rechnete damit, dass wir einander aus dem Stress heraus absichtlich wehtun würden. Und doch taten wir es bisweilen – wir waren unehrlich, wir sagten Dinge, die wir hinterher bereuten, und konfrontierten einander mit unserem Ärger und unserer Verachtung. Wir hielten in dieser emotional schmerzhaften Zeit nur durch, weil uns die Bedürfnisse unseres Sohnes so wichtig waren und weil wir die Liebe zueinander nicht aufgaben. Die Praxis, Zuflucht zur Präsenz zu nehmen, ermöglichte es mir, uns beiden unsere Menschlichkeit zu verzeihen, und sie half, unsere Zuwendung zueinander aufrechtzuerhalten.

Wenn wir leiden, steigt manchmal aus unserer Tiefe der Ruf nach Hilfe auf. Wie damals bei Pam während Jerrys Sterben oder bei mir am Ende meiner ersten Ehe kann uns dieses tiefe, aufrichtige Sehnen aufwecken und zu der Vollständigkeit und Freiheit führen, die im gegenwärtigen Augenblick zu finden sind. Doch wenn wir in Schwierigkeiten sind, ist das Hier und Jetzt oft der letzte Ort, wo wir sein wollen. Was hält uns davon ab, zur wahren Zuflucht der Präsenz heimzukehren? Was hindert uns daran, uns zu entscheiden, hier zu sein? Ich nenne es »die Trance des kleinen Selbst«. Dem wollen wir uns im nächsten Kapitel zuwenden.

Geführte Meditation

Innehalten für Präsenz

Ein natürlicher Zugang zur Präsenz geht durch den Körper. Die folgende kurze Meditation können Sie durchführen, wann immer Sie ein wenig Ruhe und Zeit dafür haben.

Setzen Sie sich ruhig und bequem hin und schließen Sie die Augen. Beginnen Sie mit drei bewussten Atemzügen: Atmen Sie lang und tief ein, füllen Sie die Lungen, und dann atmen Sie langsam aus. Spüren Sie beim Ausatmen, wie sich Spannungen in Körper und Geist lösen.

Laden Sie Ihr Gewahrsein ein, Ihren ganzen Körper zu erfüllen. Können Sie sich Ihre physische Form als ein Feld von Empfindungen vorstellen? Können Sie die Bewegungen und die Qualitäten dieser Empfindungen spüren – sei es ein Kribbeln, ein Beben, Wärme oder Kühle, Härte oder Weichheit, Festhalten oder Fließen? Nehmen Sie sich eine Weile Zeit, um mit Ihrer ganzen Aufmerksamkeit bei diesem Tanz der Empfindungen zu verweilen.

Öffnen Sie jetzt Ihr Gewahrsein auch für den Raum um sich herum. Können Sie sich vorstellen, die Symphonie der Sie umgebenden Klänge aufzunehmen, sie durch sich hindurchströmen zu lassen? Können Sie nicht nur mit den Ohren, sondern mit Ihrem ganzen Gewahrsein auf das sich ständig verändernde Spiel der Geräusche lauschen? Nehmen Sie sich etwas Zeit, um sich mit offener Aufmerksamkeit den Geräuschen um Sie herum zuzuwenden.

Lassen Sie mit weiterhin geschlossenen Augen Ihr Gewahrsein das Spiel der Bilder und Lichter aufnehmen, das sich hinter Ihren Augenlidern abspielt. Vielleicht bemerken Sie ein Flimmern von Licht und Dunkel, oder es zeigen sich Ihnen schattenhafte Umrisse oder Lichtformen. Nehmen Sie sich Zeit, bewusst zu sehen.

Spüren Sie Ihren Atem und spüren Sie den Raum um sich herum. Nehmen Sie die Gerüche auf, die in der Luft liegen. Entdecken Sie, wie es ist, zu riechen, wie das Umfeld duftet, in dem Sie sich gerade befinden.

Lassen Sie jetzt alle Ihre Sinne weit offen sein. Ihr Körper und Ihr Geist sind entspannt und empfänglich. Lassen Sie das Leben frei durch sich hindurchströmen. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie möchten, um Ihre Erfahrung von Augenblick zu Augenblick bewusst hörend und fühlend wahrzunehmen. Bemerken Sie den sich ständig verändernden Fluss der Empfindungen und Klänge, bemerken Sie die Lebendigkeit darin und die zugrunde liegende Präsenz. Genießen Sie diesen wachen, inneren Zustand der Präsenz. Vergegenwärtigen Sie sich zum Abschluss die Möglichkeit, dieses wache, offene Gewahrsein in das mitzunehmen, was Sie als Nächstes tun.

Halten Sie im Verlauf Ihres Tages mehrmals inne und erwecken Sie für einen kurzen Moment Ihre Sinne, indem Sie sich vor allem Ihrer Körperempfindungen bewusst werden und auf die Geräusche lauschen. Mit etwas Übung werden Sie sich in der natürlichen Präsenz immer mehr zu Hause fühlen.

2

Das Heim verlassen – Die Trance des kleinen Selbst

Was im Sein erscheint,

verliert sich im Sein, vergisst vor Trunkenheit

den Weg nach Hause.

Rumi

Wir werden mit einem wundervollen offenen Geist geboren, voller Lebendigkeit, Unbefangenheit und Widerstandsfähigkeit. Doch wir bringen diesen Schatz in eine schwierige Welt.

Ich stelle mir vor, wie wir von dem Augenblick der Geburt an anfangen, eine Art Raumanzug zu entwickeln, um uns in diesem merkwürdigen neuen Umfeld zurechtzufinden. Dieser Raumanzug soll uns vor Gewalt und Habgier schützen und uns helfen, die Zuwendung unserer Betreuungspersonen zu gewinnen, die mehr oder weniger in ihrer eigenen Selbstbezogenheit und Unsicherheit verstrickt sind. Wenn unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden, erzeugt unser Raumanzug die besten abwehrenden und proaktiven Strategien, die ihm möglich sind. Dazu gehören Anspannungen im Körper und Emotionen wie Ärger, Angst und Scham, mentale Aktivitäten wie Urteilen, Sich-Festbeißen und Fantasieren und eine große Bandbreite von Verhaltensweisen, um an das zu kommen, was einem fehlt: Sicherheit, Nahrung, Sex, Liebe.

Unser Raumanzug dient wesentlich unserem Überleben, und manche seiner Strategien helfen uns durchaus, produktive, stabile und verantwortungsbewusste Erwachsene zu werden. Doch derselbe Raumanzug, der uns schützt, kann uns auch daran hindern, uns spontan, fröhlich und frei durch unser Leben zu bewegen. Dann wird unser Raumanzug zum Gefängnis. Unser Selbstverständnis wird durch seine Stärken und Schwächen geprägt. Wir identifizieren uns mit unseren Fähigkeiten, Probleme zu lösen oder zu kommunizieren, identifizieren uns mit unseren Urteilen und Zwangsvorstellungen, identifizieren uns mit unserer Angst und unserem Ärger. »Identifiziert« bedeutet, wir meinen, wir sind der Raumanzug! Es scheint uns so, als seien wir tatsächlich jenes Selbst, das ängstlich und wütend ist, das urteilt, von anderen bewundert wird, etwas Besonderes ist oder unvollkommen oder allein.

Wenn wir mit dem Raumanzug verschmelzen, fangen wir an, in einem Zustand zu leben, den ich »Trance« nenne. Unser Selbstverständnis wird dann extrem eng. Wir haben vergessen, wer durch die Maske des Raumanzugs schaut; wir haben unser weites Herz und unser Gewahrsein vergessen. Wir haben die mysteriöse Präsenz vergessen, die immer da ist, jenseits aller flüchtigen Emotionen, Gedanken und Handlungen.

In Trance zu leben, ist, als wäre man in einem Traum gefangen, abgeschnitten von der eigenen unmittelbaren Erfahrung des Augenblicks, getrennt von dieser lebendigen Welt. Wir haben unser Zuhause verlassen – unser Gewahrsein und unsere Lebendigkeit – und uns unwissentlich auf ein verzerrtes Fragment der Wirklichkeit reduziert.

Wir haben alle unsere eigene Art, von zu Hause fortzugehen, und unsere eigenen Strategien, mit dem Schmerz unerfüllter Bedürfnisse umzugehen. Doch das Aufwachen an sich ist ein universeller Prozess. Wir merken – langsam oder schnell –, in welch reduzierter und häufig schmerzhafter Wirklichkeit wir gelebt haben. Wir wollen uns wieder mit unserer Unschuld und grundlegenden Güte verbinden. Wir möchten unser wahres Sein erkennen. Unser tiefes Sehnen drängt uns, einen Weg zu wahrer Zuflucht und Geborgenheit zu finden.

Dieses Erwachen begann für mich etwa acht Jahre vor meinem ersten buddhistischen Retreat. Wie Sie bereits aus dem ersten Kapitel wissen, geschah es nicht einfach alles auf einmal. Doch wenn die Trance sich auch nur für einen kurzen Moment auflöst, können wir das Potenzial für Freiheit und den Weg aus dem Leiden heraus erkennen.

Das Perfektions-Projekt

Solange ich mich erinnern kann, habe ich mich danach gesehnt, die Wahrheit zu erkennen und bewusst und gütig zu sein. Als ich während des College Yoga kennenlernte, war ich überzeugt, eine Abkürzung gefunden zu haben, der Mensch zu werden, der ich sein wollte. Direkt nach meinem Abschluss zog ich in der Nähe von Boston in einen Ashram, eine Gemeinschaft, die dem Weg des Yoga verpflichtet war. Ich war überzeugt, dass dieser Weg mich mit entsprechendem Einsatz zu spiritueller Freiheit führen würde.

Unsere Gemeinschaft folgte strengen Regeln. Wir standen vor Sonnenaufgang auf, nahmen eine kalte Dusche und verbrachten dann mehrere Stunden mit Yoga, Meditation, Singen und Beten. Wir arbeiteten auch hart und viel an dem Betreiben eines Yoga-Zentrums, eines vegetarischen Restaurants und eines Ladens am Harvard Square. Von hingebungsvollem Eifer erfüllt, stand ich oft sogar noch früher auf als meine Mit-Yogis oder setzte mich spätabends noch hin, um meine spirituelle Praxis zu vertiefen.

Mein aufrichtiges spirituelles Streben hatte sich mit einer Überzeugung verknüpft, die in dieser und vielen ähnlichen spirituellen und religiösen Gemeinschaften verbreitet ist: Um glücklich und frei zu sein, müssen wir uns läutern, indem wir unsere Egos von aller Selbstsucht, Aggression und Unsicherheit befreien. Die durch sportliche Yoga-Übungen ausgelösten Hochgefühle und die Verzückung, die ich in Meditationen erlebte, waren mir Zeichen meines Fortschritts. Doch zu anderen Zeiten war ich mir meiner »Unreinheiten« schmerzlich bewusst, was mich motivierte, mich mit noch mehr Eifer in meine spirituellen Praktiken zu vertiefen.

Solches Streben nach Vollkommenheit ist ein äußeres Zeichen für die Trance. Meine Trance wurde von der Überzeugung genährt, dass ich ein begrenztes, unzulängliches Selbst sei. Ohne mir dessen wirklich bewusst zu sein, hatte ich viele Idealvorstellungen davon, wie ein spiritueller Mensch fühlen, aussehen und sich verhalten sollte. Ich hatte auch ein Ideal davon, wie ein »gesunder« weltlicher Mensch sein sollte. Ich prüfte mich regelmäßig, wie ich im Vergleich zu meiner Idealvorstellung dieses perfekten Selbst abschnitt. Natürlich empfand ich mich praktisch immer als unzulänglich – denn direkt unter der Oberfläche lauerten meine Selbstbezogenheit, meine unklaren Motive, mein Ehrgeiz und meine Bewertungen. Im Rückblick kann ich erkennen, wie die Mischung aus echtem spirituellem Bestreben und unbewusstem Perfektionismus für Verwirrung und Zündstoff sorgte. Ich kann erkennen, was Danna Faulds meinte, als sie schrieb: »Perfektion führt zu nichts als Schmerz.«

Das Perfektions-Projekt bricht zusammen

Die morgendliche Praxis im Ashram gab mir Energie und befreite mich vorübergehend von der Anspannung eines selbstzentrierten Fokus. Ich genoss es, mit meinen Freunden zu meditieren und zu singen, ich genoss das gemeinschaftliche Frühstück und die Fahrgemeinschaft. Dieses Wohlgefühl hielt oft stundenlang an, doch an einem Morgen geriet ich in eine tiefe Krise.

Zu jenem Zeitpunkt war ich die Leiterin unseres Yoga-Zentrums, und wir waren spät dran, unsere wichtigste Veranstaltung im Jahr anzukündigen, bei der mehrere bekannte Yoga-Lehrer auftreten würden. An jenem Morgen kam der Leiter unserer Gemeinschaft verspätet und sichtlich erregt zu unserem wöchentlichen Mitarbeiter-Treffen. Ich fragte ihn, was los sei.

»Was los ist?«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Schau dir das doch mal an!« Er warf die Flyer auf den Tisch, die ich für die Veranstaltung gemacht hatte, und ich sah sofort den Tippfehler in dicken, fetten Buchstaben vorne drauf: Es war das falsche Datum! Mir sank das Herz und ich spürte, wie mein Gesicht vor Peinlichkeit errötete. Wir hatten von diesem Flyer gerade 3000 Exemplare drucken lassen. Ich hatte es absolut vermasselt.

Wir sprachen darüber, einen neuen Flyer zu erstellen, die Aussendung zu verschieben und welche anderen Wege es gäbe, den Fehler wieder auszubügeln. Mein Verstand arbeitete hart daran, das Problem zu lösen, doch die Last des Versagens lag mir wie ein Felsbrocken auf der Brust. Am Ende unserer Sitzung begann ich, mich zu entschuldigen: »Ich bin dafür verantwortlich«, sagte ich mit leiser, tonloser Stimme. »Und es tut mir echt leid …« Ich spürte, wie mich die anderen ansahen, und plötzlich blitzte Ärger in mir auf, und die Worte brachen aus mir hervor: »Aber es war echt ein Riesenberg Arbeit, mit dem ich ganz alleine dastand.« Ich spürte ein Brennen in den Augen, aber ich blinzelte die Tränen weg. »Es wäre schön gewesen, wenn jemand da gewesen wäre, um es noch mal Korrektur zu lesen. Vielleicht wäre das dann nicht passiert.«

Den Rest der Woche versank ich in Selbstekel. Stunde um Stunde spulte mein Verstand alles ab, wo ich in letzter Zeit hinter meinen Ansprüchen zurückgeblieben war. Ich sah, wie ich log, um mich einer sozialen Verpflichtung zu entziehen, wie ich einer anderen Lehrerin gegenüber den Umfang meiner Yoga-Kurse übertrieb, wie ich einer anderen Freundin Klatsch und Tratsch weitererzählte, um mich als Insiderin zu zeigen. Statt mit Großzügigkeit und selbstlosem Dienen beschäftigte ich mich nur mit meinem eigenen spirituellen Fortschritt und meinem Bestreben, als Yoga-Lehrerin zu glänzen. Wieder einmal wurde ich mit dem konfrontiert, was ich an mir am wenigsten mochte: Unsicherheit und Selbstbezogenheit. Ich fühlte mich von allen um mich herum getrennt und in einem Selbst gefangen, das ich nicht sein wollte.

Während jener schwierigen Tage wurde mir klar, dass ich, seit ich denken konnte, damit beschäftigt war, zu beweisen, dass ich okay bin, und mich zu vergewissern, dass ich Fortschritte mache. Als Studentin, als politische Aktivistin, als Yogini und als Lehrerin – überall führte ich Checklisten meiner Errungenschaften. In all diesen Rollen versuchte ich, einer gewissen Definition eines »guten Menschen« zu entsprechen – hilfsbereit, zugewandt, gute Zuhörerin, konstruktiv, vertrauenswürdig und in jeder Situation positiv. Ich widmete mich mit brennendem Eifer dem Yoga und der Meditation. Doch mein ganzes Gefühl von Kompetenz hatte sich durch einen einzigen Fehler aufgelöst, und mein ganzes Selbstbild als guter, spiritueller Mensch war durch einen Moment verärgerter Abwehr ausgelöscht worden. Trotz all meiner Selbstverbesserungs-Strategien war ich damit konfrontiert, dass ich mich als ein grundsätzlich mangelhaftes Selbst empfand.

Das Raumanzug-Selbst ist das kleine Selbst

Wenn ich anfange, von der Trance zu sprechen, meinen manche, dass jegliche Erfahrung des Selbst schlecht oder unspirituell sei und ausgemerzt oder transzendiert werden sollte. Damals im Ashram war das meine Überzeugung – mein Selbstverständnis und meine Unvollkommenheit waren unzertrennbar miteinander verbunden. Heute sehe ich das Raumanzug-Selbst als mein kleines Selbst, welches vielfach auch als »Ego« bezeichnet wird.

Dem »Ego« haftet oft ein negativer Beigeschmack an, doch das kleine Selbst (oder Ego) ist ein natürlicher Bestandteil unserer Konditionierung und unbedingt notwendig, um sich im Leben zurechtzufinden. Es entsteht in allen Menschen aus einem »Ich«-Gefühl und umfasst alle mentalen Aktivitäten, die wir brauchen, um zu funktionieren. Dazu gehört auch das ängstliche, schützende Selbst, welches in manchen Traditionen als »Angst-Körper« bezeichnet wird. Und auch das verlangende Selbst gehört dazu, welches nach der Befriedigung seiner Bedürfnisse nach Nahrung, Sex, Sicherheit und Respekt strebt.

Doch dieses kleine Selbst ist nicht unser wahres Selbst – es umfasst nicht die Fülle dessen, wer wir sind. Anders gesagt: Wenn wir mit einem kleinen Selbst identifiziert sind, nehmen wir uns als einzelne Wellen wahr und erkennen nicht, dass wir aus Meer bestehen. Wenn wir uns unseres wahren Selbst als Meer bewusst werden, ist das uns vertraute Wellenmuster – unserer Ängste, Abwehrmechanismen, Vorlieben und Geschäftigkeit – immer noch ein Teil von uns, aber es definiert uns nicht mehr.

Die Lehre des Buddha befasst sich in ihrem Kern mit genau dieser fehlgeleiteten Identität. Der Buddha erkannte, dass wir alle darauf konditioniert sind, an angenehmen oder vertrauten Erfahrungen festhalten zu wollen (was er »Begehren« oder »Anhaften« nannte) und unangenehme Erfahrungen abzulehnen (was er »Widerstand« oder »Ablehnung« nannte). Sowohl das Begehren als auch die Ablehnung verengen unser Verständnis dessen, was wir sind – sie verleiten uns, uns mit einer begrenzten, individuellen, isolierten Existenz zu identifizieren und daran anzuhaften.

Diese fehlgeleitete Identifikation wird durch die Geschichten bestärkt, die wir uns erzählen. Wir glauben, wir seien die Stimme in unserem Kopf, wir glauben, wir seien der Hauptdarsteller unserer Geschichte, und wir glauben, unsere Sicht der Welt »da draußen« sei die Wirklichkeit. Vielleicht haben wir ein prall gefülltes, anstrengendes Leben. Vielleicht stellen die Arbeit, die Familie und Freunde mehr Anforderungen an uns, als wir meinen, erfüllen zu können. Vielleicht ist das die Zusammenfassung all der Geschichten und Gefühle unserer Überforderung – immer zu viel zu tun zu haben, immer so vielen Erwartungen gerecht werden zu wollen, so gerne mehr freie Zeit haben zu wollen, aber sich verantwortlich zu fühlen. Solche Geschichten führen leicht zu falschen Zufluchten wie Überarbeitung, Selbstschutz-Lügen und betäubendem Konsumverhalten. Indem wir unsere Geschichten immer wieder abspulen, verstärken wir unsere Identifikation mit einem überlasteten, überangepassten Selbst. Diese Identifikation bestimmt dann immer mehr unser Selbstverständnis. Wir haben uns im Raumanzug verfangen.

Oder stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn Sie glaubten, dass jeder da draußen nur seine eigenen Interessen verfolgt, und wenn Sie die Situation nicht zu Ihrem Vorteil ausnutzen, werde es nur ein anderer tun. Dann würden Sie vielleicht wütend werden oder sich verletzt fühlen, wenn andere versuchen, ihre Interessen durchzusetzen. Dies kann zu falschen Zufluchten wie Kontrolle über andere, Macht- und Besitzstreben führen. Dann entwickeln wir Geschichten, die unsere Weltsicht untermauern, und bestätigen damit unsere Identität eines aggressiven, kontrollierenden Selbst.

Je mehr unsere Geschichten auf Angst beruhen, desto stärker verfangen wir uns in unserem reduzierten Selbstverständnis. Dann glaubt nicht nur unser Verstand, so wie meiner damals: »Ich bin irgendwie verkehrt« – auch unser Körper wird dann von den Emotionen überflutet, die mit dieser Überzeugung einhergehen: Depression, Scham und noch mehr Angst. Dann ist »Ich bin irgendwie verkehrt« nicht mehr einfach eine Idee, die wir loslassen könnten, sondern eine felsenfeste Überzeugung. Es fühlt sich einfach real an. Und wenn uns jemand verletzt, fühlt sich die Überzeugung, diese Person sei irgendwie verkehrt, ebenso real an. Wir sind dann in einer Trance gefangen, die uns sowohl von unserem Innenleben als auch von anderen trennt.

Unsere Identifikation mit einem kleinen Selbst findet immer außerhalb des Lichts des Gewahrseins statt. Und sie währt so lange, wie wir nicht bemerken, dass unsere Geschichten einfach Geschichten sind (und keine Realität), solange wir die rohen Gefühle in unserem Körper nicht bemerken, solange wir die Angst oder das Begehren nicht bemerken, welches unser Verhalten antreibt. Es entspricht dem Wesen der Trance, dass sie mit Gewahrsein unvereinbar ist und sich auflöst, wenn wir in Präsenz Zuflucht nehmen.

Erwachen aus der Trance

Meine durch einen Tippfehler ausgelöste Woche der Selbstablehnung war der Anfang eines lebenslangen Prozesses des Erkennens und Loslassens meiner Identifikation mit einem kleinen Selbst. Weil ich meine Selbstzweifel so »unspirituell« fand, sprach ich mit niemandem darüber. Bei der Arbeit verhielt ich mich ganz professionell. Ich hielt mich aus dem spielerischen und zwanglosen Geplauder während der Mahlzeiten heraus, und wenn ich versuchte, teilzunehmen, fühlte ich mich wie eine Betrügerin.

Einige Wochen später beschlossen die Frauen des Ashrams, eine Sensibilitäts-Gruppe zu gründen, in der wir über persönliche Schwierigkeiten reden könnten. Ich fragte mich, ob das vielleicht meine Chance war, wieder authentischer zu werden.

Unser erstes Treffen fand an einem Sommerabend statt. Während der ersten Stunde sprachen die anderen Frauen über den Stress bei der Arbeit, die Kinder und gesundheitliche Probleme, und ich spürte, wie die Angst in mir zunahm. Als im Gespräch eine Pause entstand, brach mein Geständnis aus mir heraus. »Ich weiß, ich mache viel Yoga und ich unterrichte viel, und es sieht vielleicht aus, als wäre ich ein hilfsbereiter, freundlicher Mensch … Vielleicht ist das in gewisser Weise auch wahr, aber es ist auch eine Fassade. Niemand soll sehen, wie selbstbezogen ich bin, wie egozentrisch und bewertend.« Ich hielt kurz inne und schaute in die ernsten Gesichter, bevor ich mit dem rausrückte, was mir wirklich auf dem Herzen lag: »Es ist schwer auszudrücken, aber … ich glaube nicht, dass ich ein guter Mensch bin, und das macht es so schwer, mich irgendjemandem wirklich nahe zu fühlen.«

Ich erinnere mich nicht, wie die anderen Frauen auf meinen Versuch der Aufrichtigkeit reagierten. Vielleicht waren sie mitfühlend oder erkannten ähnliche Gefühle auch in sich selbst. Ich war zu sehr in meiner Scham gefangen, um es zu bemerken. Ich verließ das Treffen, so schnell ich konnte, ging in mein Zimmer, rollte mich auf meinem Bett zusammen wie ein Baby und weinte.

Das laute Aussprechen meiner Erfahrung vor den anderen hatte meinem kleinen Selbst seine Schutzschicht genommen. Ich fühlte mich wund und schutzlos und fing an, mich innerlich dafür zu beschimpfen, dass ich etwas gesagt hatte. Wie könnte ich morgen irgendjemandem ins Gesicht schauen? Ich sagte mir, ich sollte sofort aufstehen und Yoga machen. Aber stattdessen begann ich nachzuspüren, was eigentlich wirklich schiefgelaufen war, dass ich mich so schlecht fühlte.

Plötzlich wurde mir klar, dass dieser innere Prozess nur eine weitere Wiederholung war. Ich versuchte immer noch, die Dinge in den Griff zu kriegen, indem ich darüber nachdachte, indem ich mehr übte, indem ich zu beeinflussen versuchte, wie mich die anderen sehen. Als ich diese falschen Zufluchten erkannte, hielt ich abrupt inne. So wollte ich nicht weitermachen.

Eine innere Stimme fragte: »Was würde geschehen, wenn ich jetzt nicht versuchen würde, etwas zu ändern?« Ich spürte sofort die Angst in meinem Körper und dann das vertraute Versinken in Schamgefühlen – genau den Gefühlen, die ich, seit ich denken kann, zu vermeiden versuchte. Aber in dem Moment flüsterte dieselbe innere Stimme ganz leise einen vertrauten Refrain: »Let it be. (Lass es zu.)«

Ich legte mich lang auf den Rücken, atmete ein paarmal tief durch und spürte, wie das Gewicht meines Körpers von dem Futon getragen wurde. Wieder und wieder versuchte mein Verstand, zu entwischen, indem er wiederholte, was ich Stunden zuvor gesagt hatte, oder ausprobierte, was ich sonst noch sagen könnte, um mich zu erklären. Wieder und wieder brachte mich die Absicht »Lass es zu« zurück zu der Angst und der Scham in mir. Während ich die Nacht so allein in der Dunkelheit lag, wurde aus diesen Gefühlen manchmal auch Kummer. Ich war erschüttert, wie viel von meinem Leben – meiner Lebendigkeit, meinem Lieben – verloren ging, wenn ich mich in meinen Gefühlen der Minderwertigkeit verlor. Ich öffnete mich alldem ganz, tief schluchzend, bis der Kummer nach und nach verebbte.

Ich stand auf, setzte mich auf mein Meditationskissen vor meinem kleinen Altar und war weiterhin aufmerksam. Mein Geist kam auf natürliche Weise zur Ruhe und ich wurde mir mehr und mehr meiner inneren Erfahrung bewusst – einer stillen, von Zartgefühl durchdrungenen Präsenz. Diese Präsenz war ein Seinszustand, der alles einbezog: die Wellen der Traurigkeit, das Gefühl meiner trocknenden Tränen, den Gesang der Grillen, die schwüle Sommernacht.

In diesem offenen Zustand tauchten wieder Gedanken auf – die Erinnerung an meine Abwehr bei der Arbeitsbesprechung und meine Versuche einer echten Entschuldigung, dann mein Yoga-Unterricht am nächsten Morgen, wo ich versuchte, eine positive, zuversichtliche Energie auszustrahlen. Während ich mir diese Szenen ansah, fühlte ich mich, als würde ich einer Schauspielerin in einem Stück zusehen. Die Schauspielerin versuchte ständig, sich zu schützen, und trennte sich dabei mehr und mehr von sich selbst, von ihrer Authentizität und von der Möglichkeit, sich durch die Verbindung zu anderen unterstützt zu fühlen. Und in jeder Szene sah ich, wie sie immer etwas »tat«, um sich besser zu fühlen, etwas »tat«, um keinen Schmerz zu spüren, etwas »tat«, um Versagen zu vermeiden.

Während ich da saß und diesem Spiel zusah, hatte ich zum ersten Mal das durchdringende Gefühl, dass ich das nicht wirklich bin. Die Gefühle und Reaktionen dieser Schauspielerin waren mir sehr vertraut, doch sie bildeten nur die Wellen auf der Oberfläche dessen, was ich wirklich bin. Genauso war alles, was in diesem Moment geschah – die Gedanken, die Körperempfindungen des Sitzens auf dem Meditationskissen, die Empfindlichkeit, die Erschöpfung –, Teil von mir, doch es definierte mich nicht. Mein Herz öffnete sich. Wie traurig, so lange in einer derart begrenzten Welt gelebt zu haben, wie traurig, mich so getrieben und einsam gefühlt zu haben!

Trance und Erwachen sind beide natürlich

Wenn wir in Trance sind und uns in einer Emotion wie Angst, Scham oder Ärger verfangen haben, weiß unsere innere Intelligenz, dass etwas nicht im Lot ist. Eine Zeit lang, möglicherweise sogar jahrzehntelang, denken wir vielleicht irrtümlicherweise, »etwas stimmt mit mir nicht« oder »etwas stimmt nicht mit der Welt« und wir müssten unsere Unvollkommenheiten reparieren und uns irgendwie vor Fehlschlägen schützen. Allmählich oder plötzlich erkennen wir dann die eigentliche Ursache des Problems in unserer fehlgeleiteten Wahrnehmung unserer Selbst. Wir erkennen, dass wir in der Identität eines kleinen, isolierten, mangelhaften Selbst gelebt haben. In diesem Moment des Erkennens mögen wir versucht sein, einer weiteren Täuschung zu unterliegen: »Mit mir stimmt etwas nicht, weil ich immer wieder in diese Trance verfalle.« Doch mit jedem Erwachen von Bewusstheit, mit jedem Gewahrsein und Zulassen dessen, »was geschieht«, löst sich unsere eingeengte Identität weiter auf, und wir entspannen uns mehr in unsere natürliche Ganzheit hinein.

In jener Nacht an meinem Altar fiel ein altes Selbstbild von mir ab. Aber wer war ich dann? In jenen Augenblicken spürte ich, dass sich die Wahrheit dessen, was ich war, nicht in einer Idee oder einem Bild meiner selbst erfassen ließ. Sie lag vielmehr in dem Zustand der Präsenz selbst – in der Stille, der wachen Offenheit –, die sich wie Heimat anfühlte. Mich durchflutete ein Gefühl der Dankbarkeit und Ehrfurcht, das mich seitdem nie wieder ganz verlassen hat.

Seitdem habe ich von vielen Wegen des Erwachens erfahren, und zu den meisten von ihnen gehört ein formelles oder informelles Aufmerksamkeitstraining. Eine Freundin von mir lernte in einem Malkurs, jenseits aller Ideen von »Bäumen« oder »Wolken« in eine geheimnisvolle Welt sich ständig wandelnder Formen, Schattierungen und Essenzen zu schauen. Sie erklärte: »Statt als Beobachterin eine bestimmte Art von Baum zu sehen, war da einfach diese subjektive Innigkeit lebendiger Strukturen, Farben … Ich war Teil eines Tanzes der Lebendigkeit.« Eine Mutter berichtete, wie sich ihr Gewahrsein nach einem Kurs zum Dialog mit Jugendlichen veränderte. Während sie ihrer Tochter zuhörte, löste sie sich bewusst von ihren Vorstellungen darüber, wie ihre Tochter sein sollte, und ließ einfach den Klang ihrer Stimme und den Blick aus ihren Augen auf sich wirken und spürte nach, was das Herz ihrer Tochter wohl mitteilen wollte. Dieses wertfreie Zuhören erweiterte auch ihr eigenes Selbstgefühl: »Ich war nicht mehr in der Rolle der kritischen Mutter gefangen – endlich ein frischer Wind!«