NACHT - Yrsa Sigurdardóttir - E-Book

NACHT E-Book

Yrsa Sigurdardóttir

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Beschreibung

Yrsa erneut in Top-Form — das Verbrechen beginnt in einer fatalen, eisigen NACHT

Island, ein abgelegener Fjord: An einem kalten Winterabend klopft ein Nachbar an das Haus einer Familie, von der es seit einer Woche kein Lebenszeichen mehr gibt. Er bemerkt Spuren, aber niemand öffnet. Als er ins Haus eindringt, sieht er, dass die ganze Familie ermordet wurde. Der Polizist Týr und die Gerichtsmedizinerin Iðunn werden an den Tatort gerufen, um das schreckliche Verbrechen zu untersuchen. Das Ermittlerteam erkennt dabei schnell, dass der Fall Verbindungen zu einer längst vergangenen Zeit aufweist, die alle von ihnen gern für immer vergessen würden. Yrsa Sigurdardóttir schreibt atemberaubend spannend und mit archaischer Wucht. Ihr gelingt es meisterhaft, die schaurige Atmosphäre von Islands gnadenlos eisigen Winternächte heraufzubeschwören.

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Seitenzahl: 556

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Yrsa Sigurdardóttir

Nacht

Thriller

Aus dem Isländischenvon Anika Wolff

Die isländische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Lok lok og læs im Verlag Veröld, Reykjavík.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © Yrsa Sigurdardóttir, 2021

Published by Agreement with Salomonsson Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30032-6V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Dieses Buch ist meiner Mutter Kristín Halla Jónsdóttir gewidmet.

1. Kapitel — Mittwoch

Eine ungewöhnliche Stille lag über dem Hof Hvarf. Niemand war zu sehen, weder Mensch noch Tier. Auch die Luft bewegte sich nicht, die dunklen Wolken hingen wie erstarrt am Himmel. Sie änderten ihre Gestalt so langsam, dass man es kaum wahrnahm. Karl hatte das Gefühl, dass selbst die Zeit langsamer verging. Noch während des Wetterberichts schaltete er das Radio aus. Der Sprecher kommentierte die Fangaussichten für die verschiedenen Fischgründe in der Umgebung, was Karl nicht interessierte. Als junger Mann war er ein einziges Mal mit einem Fischereiboot hinausgefahren und hatte danach beschlossen, zukünftig an Land zu bleiben.

Karl nahm seine Mütze vom Beifahrersitz und stieg aus dem Wagen. Er setzte sie noch nicht auf, um besser lauschen zu können. Draußen herrschte Totenstille. Die meisten Vögel waren schon längst gen Süden gezogen, in wärmere Länder, an die Küste oder in dichter besiedelte Gegenden. Flüsse und Bäche waren zu Eis erstarrt, die Urlauber zu Hause und die Tiere im Stall. Selbst das Meer im nahen Fjord war nicht zu hören.

Von der Familie hingegen, die auf dem Hof lebte, hätte man etwas hören müssen. Es waren ja wohl nicht alle vier am helllichten Tag eingeschlafen. Vor knapp einer Woche hatte Karl noch mit dem Ehepaar geredet, mit Ása und Reynir, und sie hatten nichts davon gesagt, dass sie wegwollten. Leute, die Landwirtschaft betrieben, verreisten nicht so einfach, sie hätten es sicher erwähnt. Er konnte selbst ein Lied davon singen. Wenn er mal eine Reise plante, redete er von nichts anderem mehr, erzählte es jedem, der es hören wollte, und auch allen anderen.

Die beiden Autos der Familie standen auf dem Hof, unter einer dicken Schneedecke. Ein höhergelegter Jeep und ein sportlicher Pkw, der nur im Sommer genutzt wurde. Zumindest hatte Karl sie in den gut zwölf Monaten, die sie hier wohnten, noch nicht einmal im Winter damit fahren sehen. Vernünftigerweise. Eine solche Fahrt würde bei den verschneiten Schotterpisten hier mit ziemlicher Sicherheit im Graben enden. Bei dem Jeep sah das anders aus – ein Luxusgefährt, das angeblich so viel wie ein guter Traktor kostete. Damit würde Karl gerne mal eine Probefahrt machen, auch durch Schneewehen oder bei Glatteis. Schon allein, um herauszufinden, was man für so viel Geld geboten bekam. So teure Schlitten sah man bei den Bauern hier auf dem Land schließlich nur selten. Aber Hvarf war ja auch kein normaler Bauernhof, und normale Bauern lebten hier auch nicht.

Man musste sich nur die Gebäude ansehen. So sah kein anderer Hof aus: ein riesiges, modernes Wohnhaus, das über einen gläsernen Gang mit dem alten, zweistöckigen Bauernhaus verbunden war, das allein schon groß genug für eine vierköpfige Familie gewesen wäre. Doch die neuen Besitzer hatten andere Ansprüche. Sie selbst bewohnten den Neubau, sodass sie das alte Haus für Gäste und als Unterkunft für das Personal nutzen konnten. Gäste hatte es bislang allerdings nicht viele gegeben, und abgesehen von den jungen Angestellten, die allesamt nicht lange geblieben waren, hatten sie auch kein Personal gehabt. Er wusste nicht, weshalb diese jungen Leute ihren Aufenthalt jedes Mal so schnell abgebrochen hatten, wahrscheinlich waren sie mit der Einsamkeit nicht zurechtgekommen. Junge Menschen brauchten andere junge Menschen, damit sie sich weiterentwickeln konnten, aber die gab es hier nicht, abgesehen von Íris, der älteren Tochter auf dem Hof, und dem Sohn des Bauern vom Nachbarhof. Aber die beiden waren noch Teenager und für über Zwanzigjährige auf der Suche nach Gesellschaft uninteressant.

Die Umbauten gingen Karl im Grunde nichts an, aber er hatte dennoch eine klare Meinung zu dem Verbindungsgang zwischen dem alten und dem neuen Wohnhaus, das eine ein Zeugnis der Sparsamkeit früherer Zeiten, das andere ein Paradebeispiel für die heutige Maßlosigkeit. Diese beiden Häuser zu verbinden, kam ihm genauso abwegig vor, als würde man Pferde vor einen Sportwagen spannen.

Aber er sah auch das Positive, zum Beispiel, wie viel Wert Reynir und Ása auf eine schöne Umgebung legten. Das jedenfalls verfolgten die beiden mit deutlich mehr Hingabe als gewöhnliche Bauern, die für so etwas weder die Zeit noch das Geld übrig hatten. Nicht nur, dass das gesamte Gelände absolut gepflegt und aufgeräumt war – nichts war zerschrammt oder rostete vor sich hin, nirgends die üblichen Holz- und Gerümpelstapel –, sondern es war alles auch noch so hübsch anzuschauen, dass Karl sich jedes Mal fühlte wie in einer Skyr-Werbung.

Er staunte immer wieder, wie mühelos diese herausgeputzte Landidylle daherkam. Diesen Anschein zumindest musste sie bei Besuchern erwecken. Er hingegen hatte die Arbeiten am alten Wohnhaus, dem Stall und den Nebengebäuden mitverfolgt und wusste es besser. Ein ganzes Heer von Handwerkern hatte sich daran abgearbeitet. Günstiger wäre es sicher gewesen, den gesamten Hof abzureißen und neu zu errichten. Doch die jungen Eigentümer hatten so viel wie möglich im Originalzustand erhalten wollen, zumindest äußerlich, und legten großen Wert auf eine Verbindung zur Geschichte und zum ursprünglichen Zweck des Hofs. Dies war ein Bauernhof, und so sollte er auch nach den Umbauten noch aussehen. Nicht wie ein Ferienhaus. Die Handwerker lachten sich ins Fäustchen, während Karl und die anderen Bauern die Köpfe schüttelten. Sie behielten für sich, dass dieser Hof nie etwas Besonderes gewesen war, weder baulich noch als landwirtschaftlicher Betrieb. Er hatte keine Geschichte, die es wert war, bewahrt zu werden. Ganz im Gegenteil.

Beim neuen Wohnhaus hingegen hatte niemand die Geschichte des Orts oder etwas Landwirtschaftliches im Sinn gehabt. Nicht die Spur. Das Haus war riesig, hatte absurd hohe Decken und war damit alles andere als schlicht und zweckmäßig. Von vorn eine Betonfestung, wartete das wuchtige Gebäude an der Rückseite mit einem gigantischen gläsernen Anbau auf, mit Fenstern vom Boden bis zum Dach. Darin war die riesige Küche untergebracht, die nahtlos in Wohn- und Kaminzimmer überging. Die neuen Eigentümer hatten Karl erklärt, dass sie auf diese Weise so dicht wie möglich an der Natur kochen, essen und entspannen könnten. Er hatte bloß genickt und im Stillen gedacht, dass genau solche Leute auch Übernachtungen in diesen durchsichtigen Plastikkugeln draußen in der Einöde buchten, um sich der Natur näher zu fühlen. So etwas konnte er nicht begreifen. Selbst wenn die Trennwände durchsichtig sein mochten – er spürte die Natur lieber direkt.

Inzwischen lebten die beiden hier seit gut einem Jahr mit ihren zwei Töchtern, und Karls Bild von ihnen hatte sich komplett gewandelt. Er sah sie nicht mehr nur als die reichen Verrückten an. Obwohl er nach wie vor die Hälfte von dem, was sie machten, nicht nachvollziehen konnte, mochte er diese Leute. Es ging gar nicht anders.

Die Frau war richtig nett und konnte über sich selbst lachen und über ihre Bemühungen, sich an das Leben hier draußen anzupassen. Soweit er das einschätzen konnte, war ihr größtes Problem, dass sie einfach zu verzärtelt für das Landleben war und sich zu sehr einmischte. Auch ohne ihr Zutun hatte das Leben hier bisher ganz gut funktioniert.

Ihr Ehemann war nicht ganz so kontaktfreudig und wirkte oft abwesend. Aber auch er machte einen aufrichtigen und unkomplizierten Eindruck. Vor ihrem Umzug aufs Land war er schwer krank gewesen. Wenn er im Wind stand, blitzte manchmal eine große Narbe am Haaransatz hervor, die vom Ohr über die Schläfe bis zur Mitte der Stirn reichte. Wenn man bedachte, was sein Kopf durchgemacht haben musste, war es nicht verwunderlich, dass der Mann nicht immer gut beisammen war.

Am wichtigsten aber war für Karl, dass beide bereit waren, von denen zu lernen, die sich besser auskannten, unter anderem von ihm. Das kam auf dem Land gut an – bei allen, außer beim Bauern von Minna-Hvarf, dem Nachbarhof.

Dem unberührten Schnee nach zu urteilen war niemand über das Gelände gelaufen, seit sich die Wolken am Vortag geleert hatten. Doch als Karl sich dem Haus näherte, musste er seinen ersten Eindruck korrigieren. Da waren doch Spuren, zwischen dem Wohnhaus und dem kleinen Stall, in dem die wenigen Tiere der Familie untergebracht waren, abgesehen von den Hennen im Hühnerstall hinter dem Haus. Anfangs waren auch ein paar Ziegen auf dem Hof gewesen, doch das hatten sie schnell wieder aufgegeben. Seitdem stand der beheizbare, aufwendig in Schuss gebrachte Schafstall leer, und das würde sich vermutlich auch nicht mehr ändern. Diese Leute hielten keine Tiere, um die Erzeugnisse zu nutzen, wie normale Bauern das taten. Sie behandelten ihre Tiere wie Haustiere. Karl hatte Kühe auf der Weide gesehen, die Kränze aus Löwenzahn um den Hals trugen, und Islandpferde mit rosa Schleife an der geflochtenen Mähne. Vermutlich waren die Mädchen für diesen Schmuck verantwortlich, aber ganz sicher war er sich nicht. Denn die Tiere spielten eine wichtige Rolle bei der Hoffotografie, die die Frau betrieb und von der Karl sich fragte, ob sie ein Beruf sein sollte oder nur ein Hobby war.

Dass jemand die Tiere versorgt hatte, war ein sicheres Zeichen dafür, dass die Familie zu Hause war. Wären sie unterwegs, hätten sie jemanden aus der Gegend gebeten, sich um den Hof zu kümmern. Aber dann gäbe es diese Spur vom Haus zum Stall nicht. Wahrscheinlich hätten sie sogar Ella und ihn gefragt. Sie waren die nächsten Nachbarn, wenn man die Bewohner von Minna-Hvarf nicht mitrechnete. Sie waren in solchen Situationen auch früher schon für Ása und Reynir eingesprungen.

Seit knapp einer Woche hatten sie jetzt nichts mehr von der Familie gehört. Deshalb war er hier, und aus demselben Grund hatte er auch gestern schon einmal auf dem Hof vorbeigeschaut. Ella hatte Ása und eine der Töchter zum Haareschneiden erwartet, aber sie waren nicht gekommen. Die Pläne für den Tag konnten sich natürlich ändern, selbst auf dem Land, wo die Leute in der Regel frei über ihr Tagwerk entschieden. Aber in solchen Fällen gab man für gewöhnlich kurz Bescheid, was Ása aber nicht getan hatte. Ella hatte die Familie nicht erreichen können, sowohl Ása als auch Reynir hatten kein Netz gehabt oder ihre Handys ausgeschaltet. Auch die Nachrichten, die sie daraufhin geschickt hatte, waren nicht angekommen oder wenigstens nicht gelesen worden. Das ließ Ella keine Ruhe und auch Karl nicht.

Als er auf das Wohnhaus zulief, hörte er ein Bellen aus dem Stall, begleitet von einem schrillen Gekläff. Das waren die beiden Hofhunde, ein Border Collie und ein kleiner Zottel, der an die Wollbausche erinnerte, die manchmal an den Zäunen von Schafkoppeln hingen. Gestern hatten die beiden genauso gebellt, nur im Haus. Eigentlich waren es freundliche Hunde, die ohne ersichtliche Aufgabe ihr Leben lebten und sich über Karls Besuche freuten, wenn sie frei auf dem Hof herumliefen. Doch da sie nun eingesperrt waren, reagierten sie wie alle Hunde in dieser Situation auf Besucher: Sie bellten. Das musste nichts bedeuten, auch wenn es komisch war, dass sie im Stall eingesperrt waren, das hatte er noch nie erlebt.

Als Karl gerade an die Tür klopfen wollte, beschlich ihn der Gedanke, dass vielleicht die gesamte Familie erkrankt war. Er zögerte. Wenn er selbst mal krank war, was äußerst selten vorkam, war Besuch wirklich das Letzte, worauf er Lust hatte. Nach kurzer Überlegung klopfte Karl dennoch an die Tür. Er hatte einfach ein ungutes Gefühl und sich angewöhnt, darauf zu hören. Er konnte sich nicht entsinnen, dass ihn dieses Gefühl je getäuscht hatte. Nein, es hatte sogar dafür gesorgt, dass er in manchen Situationen eingegriffen hatte, die andernfalls ein schlimmes Ende genommen hätten.

Er starrte eine Weile auf die hohe, breite Haustür, dann klopfte er noch einmal. Im selben Moment setzte das Hundegebell wieder ein. Auch die beiden Kühe waren jetzt zu hören und verstummten wieder, als er erneut klopfte. Fast schien es, als lauschten die Tiere im Stall genauso gespannt darauf wie er, dass sich die Tür öffnete. Karl legte ein Ohr an die Tür, doch es war nichts zu hören. Er trat einen Schritt zurück und fragte sich, ob er Geräusche von drinnen durch das schwere Eichenholz überhaupt hören konnte.

Dann spähte er durch ein Fenster. Drinnen brannte Licht, doch er nahm keine Bewegung wahr. Sein ungutes Gefühl wuchs, und dann tat er etwas, das ihm bei seinem Aufbruch hierher noch völlig undenkbar erschienen wäre.

Er beugte sich zum Briefschlitz hinunter und drückte die Klappe hoch. Diese Klappe war völlig sinnlos, erdacht von einem Architekten, der offenbar nie auf dem Land gelebt hatte. Genauso wenig wie die Auftraggeber, die nichts dazu gesagt hatten. Denn hier draußen kam die Post nicht durch einen Schlitz in der Tür, sondern wurde in den Briefkasten am Abzweig zum Hof geworfen.

Karl wollte gerade etwas durch den Schlitz rufen, da schreckte er unwillkürlich zurück. Er kannte den Geruch, der ihm mit der warmen Luft entgegenschlug. Das war der Gestank des Todes, und er sprach hier nicht von vertrockneten Zimmerpflanzen. Diesen speziellen Geruch hatte Karl schon öfter gerochen, als ihm lieb war, diesen Geruch, den alle toten Säugetiere verströmten, die eine Weile unbemerkt herumlagen. Wirklich streng roch es nicht, doch für Karl bestand kein Zweifel. Da drinnen lag etwas Totes.

Er zog die Hand zurück, und die Klappe fiel mit einem lauten Knall herunter. Diesmal wurde das Geräusch von keinem Bellen, Wiehern oder Muhen erwidert; im Stall herrschte nun dieselbe Stille wie im Haus. In diesem Moment wurde Karl unangenehm bewusst, dass er allein war. Er überlegte kurz, ob er auch im Stall nachschauen sollte, und nahm gleich wieder Abstand von diesem Gedanken. Wenn dort jemand wäre, hätte er schon längst nachgesehen, wer auf den Hof gekommen war. Außerdem befürchtete er, dass die Hunde entwischten, sobald er die Tür öffnete. Die beiden waren nicht gerade die Pfiffigsten und machten sich vermutlich kopflos vom Acker.

Karl ließ seine Zunge über die trockenen Lippen kreisen. Dann fuhr er sich mit den Händen durchs Haar, strich sich über die unrasierten Wangen und versuchte, klar zu denken. Der Geruch allein musste noch nichts bedeuten. Vielleicht lag vergammeltes Fleisch auf dem Küchentisch. Möglicherweise hatten sie grillen wollen, etwas war dazwischengekommen, und das Fleisch hatte zu lange bei Zimmertemperatur herumgelegen. Dann wieder dachte er, dass dieser Gedanke abwegig war. Aber das Leben war schließlich selten logisch und voraussehbar.

Karl beschloss, um das Haus herumzugehen. Vielleicht konnte er durch die große Glasfront etwas erkennen, denn die Raffrollos wurden dort nie heruntergelassen. Karl war einmal versucht gewesen, die Leute darauf hinzuweisen, dass sie die Heizkosten beträchtlich senken konnten, wenn sie die Rollos nutzten. Doch im gleichen Moment hatte er gedacht, dass Geld für diese Familie wirklich keine Rolle spielte. Außerdem hatten sie eigens nach heißem Wasser bohren lassen – da fielen Heizkosten ohnehin nicht ins Gewicht.

Hinter dem Haus war die Schneedecke unversehrt. Niemand hatte die Glastür geöffnet und war auf die Terrasse getreten. Die weite Wiese war schneebedeckt, genau wie die Berge im Osten. Die Aussicht, die die Bewohner so liebten, war so strahlend weiß wie frischgewaschenes Leinen.

Doch Karl war nicht hier, um die Aussicht zu bewundern. Er spähte durch die Scheibe. Ließ die Augen durch die schicke Küche wandern. Keine Oberschränke, keinerlei Griffe an Schranktüren und Schubladen. Wenn man sich die ausgeklügelte, verchromte Kaffeemaschine und den Wasserhahn in der Spüle wegdachte, konnte die Küche glatt als Fortsetzung des Kaminzimmers durchgehen.

Auf dem Küchentisch standen Lebensmittel, und Karl atmete auf. Also waren sie zu Hause und am Leben. Sie hatten gegessen und sich dann hingelegt. Offenbar tatsächlich krank, denn außerhalb der Mahlzeiten hatte er noch nie etwas auf dem Küchentisch stehen sehen. Jetzt waren dort eine offene Milchpackung, ein Glas, ein Teller, Brot und verschiedener Aufschnitt. Verdorbenes Fleisch konnte er jedoch nicht entdecken …

Karl überlegte, was er tun sollte. Am vernünftigsten wäre es, wieder zu gehen. Er wollte nicht riskieren, dass plötzlich ein Familienmitglied auftauchte und ihn durchs Fenster spähen sah. Doch schon nach wenigen Schritten befielen ihn Zweifel. Ása und Reynir waren die penibelsten Leute, die er kannte. Einmal hatten sie ihn sogar gefragt, wie man den Mistgeruch im Stall loswerden könne. Ob es ein Spray oder Pulver gegen den Gestank gebe. Wer auf solche Ideen kam, ließ nicht zu, dass sein Haus wie eine Gruft während einer Hitzewelle stank. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Entschlossen trat Karl auf die Glastür zu und legte die Hand auf den Türgriff. Dann würde er die Bewohner eben im Schlaf überraschen, aber er wollte nicht nach Hause fahren und Ella ein zweites Mal erklären, dass er wieder umsonst hergekommen war. Sie merkte es sofort, wenn man ihr nicht die Wahrheit sagte, da musste er schon ehrlich sein: An sich sei alles in Ordnung gewesen, bis auf einen leichten Verwesungsgeruch.

Die Tür war unverschlossen. Karl öffnete sie einen Spaltbreit und rief nach Ása und Reynir. Der furchtbare Geruch strömte ihm mit der warmen Luft entgegen. Mit besorgtem Blick wartete er auf eine Antwort. Doch niemand erwiderte sein Rufen.

Karl machte einen Schritt in den Raum und rief erneut. Wieder keine Reaktion. In der Nähe der Tür sprangen ihm ein paar dunkle Flecken auf dem Parkett ins Auge, die wie Fußabdrücke aussahen. Das war in diesem Haus genauso ungewöhnlich wie der Gestank, denn normalerweise war der Boden glänzend sauber. Die Spur führte ins Haus, und er beschloss, ihr zu folgen.

Sie hatten ihn schon häufiger hereingebeten, aber er kannte bisher nur den Wohnbereich und die große, schicke Küche. Die Spur führte jedoch weiter zu dem Flur, von dem vermutlich die Schlafzimmer abgingen. Die Tür zum Flur war geschlossen, und ihm fiel auf, dass sie völlig zerkratzt war. Senkrechte Schrammen an zwei Stellen des Türblatts, kürzere im unteren Bereich und deutlich längere, tiefere neben der Türklinke. Dafür konnten nur die beiden Hunde verantwortlich sein, das Ergebnis etlicher erfolgloser Versuche, durch die Tür zu gelangen. Auch diese Spuren mussten frisch sein, denn in diesem Haus wurden alle Schäden sofort beseitigt, drinnen wie draußen.

Karl vergrub Mund und Nase in der Armbeuge und öffnete die Tür. Wie erwartet, nahm der Gestank zu. Sein Herzschlag beschleunigte sich.

Karl betrat einen Flur mit mehreren Türen, die alle geschlossen waren. Er folgte der Spur zu einer der Türen, hielt sich immer noch den Arm vor das Gesicht. Hinter der Tür befand sich das Elternschlafzimmer. Karl erstarrte noch auf der Schwelle. In dem ungewöhnlich breiten Bett lag eine Frau, in der er Ása zu erkennen meinte. Das Bettlaken war zerwühlt, die Doppelbettdecke am Fußende halb auf den Boden gerutscht. Von den drei Kissen befand sich nur noch eines am Kopfende, die beiden anderen waren auf den Boden gefallen. Ása lag auf dem Rücken, in Unterhose und T-Shirt. Ein Bein hing genau wie die Decke über die Bettkante, der Fuß berührte den Boden; das andere Bein lag angewinkelt auf dem Bett. Die Position der Arme war merkwürdig, der eine weit ausgestreckt zur leeren Seite des Betts, der andere angewinkelt, die Finger am Kinn. Ihr ursprünglich weißes Shirt war mit getrocknetem Blut besprenkelt, ebenso die Bettwäsche. Das Hemd war hochgerutscht, und ihr Bauch darunter schimmerte merkwürdig grün. Die Haut an den Beinen und dem restlichen Körper hingegen war gräulich, aufgedunsen und von dunklen Adern durchzogen. Karl war den Anblick des Todes gewohnt, jedoch nur von Tieren. Von Tieren, unter deren Fell man die Haut kaum sah. Doch er wusste genug über den Tod, um zu erkennen, dass die Frau nicht mehr zu retten war.

Karl hätte nicht hundertprozentig sicher sagen können, dass es sich tatsächlich um Ása handelte, denn das Gesicht war ähnlich entstellt wie ihre Gliedmaßen. Es sah sogar noch schlimmer aus. Im Kopf klaffte ein tiefer Spalt, vom Scheitel bis zur Mitte der Stirn. Zwischen den farblosen Lippen war die Zungenspitze zu sehen, und die hervorquellenden, matten Augen waren nach oben verdreht. Als hätte die Frau im Sterben ihre Verletzung begutachten wollen. Es bestand kein Zweifel: Etwas Schreckliches war hier geschehen. Das bezeugten nicht zuletzt die Blutspritzer auf dem Boden und an allen Wänden bis hinauf zur Decke.

Karl schlug sich die Hand vors Gesicht und taumelte zurück. Er rang mit der Übelkeit und zwang sich, in den anderen Zimmern nach Reynir und den Mädchen zu suchen. Die erste Tür, die er öffnete, führte zum Zimmer der älteren Tochter. Als er sie sah, verlor er endgültig die Beherrschung. Der Schwall, der aus seinem Mund schoss, ergoss sich über die getrocknete Blutlache auf dem Boden. Ein zweites Mal erbrach er sich, als er durch die Haustür ins Freie stolperte. Er hatte mehr als genug gesehen.

Er wischte sich mit dem Jackenärmel über den Mund, sprang in sein Auto und kramte mit zitternden Händen das Handy heraus. Da er keinen Empfang hatte, warf er es auf den Beifahrersitz und startete den Motor, stand wieder kurz davor, sich zu erbrechen. Während er hastig zurücksetzte, um den Wagen zu wenden, streifte sein Blick die beiden Wohnhäuser. In der oberen Etage des alten Bauernhauses waren die Vorhänge an einem der Fenster zugezogen. Er war sich ziemlich sicher, dass bei seiner Ankunft alle Vorhänge offen gewesen waren.

Karl drehte das Lenkrad und raste vom Hof. Als er die Zufahrt verließ, begann es zu schneien.

2. Kapitel — Vorher

Sóldís war es nicht gewohnt, längere Strecken mit dem Taxi zu fahren. Wenn überhaupt, nahm sie mal eins, um am Wochenende vom Feiern nach Hause zu kommen, todmüde und benebelt. Das war heute anders. Und dies war auch kein gewöhnliches Taxi. Es war nicht als solches zu erkennen und deutlich schicker. Auf der Rückbank hatte sie eine gekühlte Flasche Wasser vorgefunden, und in den Taschen an den Vordersitzen steckten Zeitschriften. Die hatte sie nicht angerührt. Wenn ihr danach war, gab es auf dem Handy genug zu lesen.

Anders war auch, dass es – trotz der Dunkelheit draußen – Tag war und sie sich weder müde noch betrunken fühlte. Wobei ihre Gedanken ähnlich verworren waren wie in einer Partynacht, als würden sie draußen auf dem tosenden Meer ertrinken. Ein Gedanke tauchte auf, verlangte kurz ihre Aufmerksamkeit und versank dann in der Tiefe, und sofort folgte der nächste. Es war ihr unmöglich, auch nur einen Gedanken zu Ende zu denken.

Machte sie gerade einen gewaltigen Fehler? Hätte sie ihren Stolz überwinden und einfach in Reykjavík bleiben sollen? Würde sie auf dem Bauernhof Internet haben? Was, wenn sie dort mit ihrer Masterarbeit nicht weiterkam? Wo würde sie einkaufen können, wenn sie etwas brauchte? Wie in die Stadt kommen, wenn sie mal auftanken musste? Würden die Mädchen auf dem Hof sie mögen? Würde Jónsi sie aufspüren können? Sollte sie das Seitenfenster als Spiegel nutzen und ihr mattes Gesicht ein bisschen schminken?

Fragen gab es viele, aber keine Antworten.

Sóldís sah an sich herunter und betrachtete ihre Hosenbeine. Sie hatte sich für schlichte Kleidung entschieden, alte Jeans und Turnschuhe. Damit wollte sie zeigen, dass sie anpacken konnte. Auf dem Land. Doch auf einmal wurde sie unsicher. Hätte sie sich eher schick kleiden sollen? Würden es ihre neuen Arbeitgeber als respektlos empfinden, dass sie zum ersten Arbeitstag nicht gepflegter erschien?

Sóldís seufzte innerlich und schob diese Gedanken beiseite. Jetzt ließ es sich ohnehin nicht mehr ändern. Sie drehte sich um und warf einen Blick durch die Heckscheibe. Außer der Straße war nichts zu sehen. Genau wie zuvor, als sie sich umgedreht hatte. Sie waren nur wenigen anderen Fahrzeugen begegnet und schienen die Einzigen zu sein, die so früh am Sonntagmorgen so weit fuhren. Im Rückspiegel traf ihr Blick den des Fahrers.

»Glaubst du, dass wir verfolgt werden?« Seine Stimme klang verschmitzt, aber der Blick wirkte ernst.

»Nein, nein, natürlich nicht«, log Sóldís. Dabei stellte sie sich tatsächlich vor, dass Jónsi ihre Racheaktion bemerkt hatte, und fürchtete, dass ihr Ex in seinem Auto auf den Hof brettern würde, sobald das Taxi an ihrem neuen Arbeitsplatz hielt. Bei diesem Gedanken schmerzte ihr Bauch. Die Familie sollte nicht gleich beim ersten Kennenlernen ein Drama mit ihr erleben. Das war zwar abwegig, aber bei wem war der Realitätssinn schon stärker als die Sorge? Schon allein, wenn sie daran dachte, wie Jónsi ausgetickt war, als er festgestellt hatte, dass sie bei seinem liebsten Computerspiel den gesamten Spielverlauf gelöscht hatte. Er hatte ihr eine ziemlich deutliche Nachricht geschickt: Ich bringe dich um. Sie rechnete zwar nicht damit, dass er seine Drohung wirklich in die Tat umsetzte, aber er war wütend genug, um sie zu verfolgen und sich in Anwesenheit von Zeugen über sie auszulassen – und das fürchtete sie fast ebenso sehr wie den Tod.

Da der Fahrer weiterhin mit einem Auge in den Rückspiegel schielte, versuchte sie, entspannt zu wirken. Das war sie selten, auch unter den bestmöglichen Umständen nicht. Besser versuchte sie, sich und ihn mit einem anderen Thema abzulenken.

»Ist es noch weit?«, fragte sie und sofort wurde ihr klar, wie armselig dieser Versuch war.

»Nein. Eine Viertelstunde. Etwas um den Dreh.« Der Mann schwieg. Sóldís rechnete bereits damit, dass sie die restliche Fahrt schweigend mit ihren Gedanken zubringen musste, als der Mann erneut das Wort ergriff: »Bist du noch nie dort gewesen?«

»Nein. Das ist das erste Mal.« Sóldís sah aus dem Fenster, blickte an dem Berg empor, an dem sie gerade entlangfuhren. Er war so steil, dass der Schnee, der sonst alles bedeckte, dort keinen Halt fand. Hier und da schimmerten weiße Flecken, aber ansonsten waren die Berghänge kalt und grau. Allmählich setzte die Morgendämmerung ein, und sie konnte einzelne größere Felsbrocken auf dem kargen Hang ausmachen, Geröll auf dem langsamen Weg nach unten. »Wir haben nur telefoniert. Das ging alles ganz schnell.«

»Du wirst bei ihnen arbeiten, stimmt’s?«

»Ja, erst mal für zwei Monate auf Probe.«

»Darf ich fragen, was deine Aufgabe sein wird?«

Sóldís musste an den komplizierten Absatz im Arbeitsvertrag denken, in dem sie zur Verschwiegenheit verpflichtet wurde. Sie hatte die lange Passage mehrfach lesen müssen, bis sie sie verstanden hatte. Und trotzdem war sie sich immer noch nicht ganz im Klaren darüber, was genau das für sie bedeutete. Oder vielmehr: Was sie alles zu unterlassen hatte. In der Klausel ging es vor allem um die Familie selbst. Sie durfte nicht mit anderen über sie reden, Fotos in den sozialen Netzwerken posten oder sich in irgendeiner Weise über sie äußern. Aber sie durfte doch wohl erzählen, welche Aufgaben sie dort hatte. »Ich soll ihnen helfen. Bei verschiedenen Dingen. Die Tiere auf dem Hof versorgen. Den Mädchen mit Isländisch helfen. Ab und zu kochen, putzen und so. In der Anzeige stand Haushaltshilfe.«

»Verstehe.« Der Mann sah sie durch den Rückspiegel an. Jetzt zeigten sich Lachfältchen. »Die sind echt nett, und der Hof ist toll. Ein bisschen isoliert, aber wenn das dein Ding ist, wird das super.«

Sóldís war sich beinahe sicher, dass es ihr nicht verboten war, sich nach den Leuten zu erkundigen. Sie hatte es mit Googeln versucht, aber war danach kaum schlauer gewesen. Auf den Wirtschaftsseiten einiger Onlinemedien war sie auf die Meldung gestoßen, dass die Familie ihr Unternehmen im Ausland verkauft habe. Die Summe, die in diesem Zusammenhang genannt wurde, versetzte Sóldís in den Astronomiekurs am Gymnasium zurück, so unfassbar hoch war die Zahl. Die Frau war auch in den sozialen Netzwerken aktiv, aber ihre Posts waren ziemlich unpersönlich und wirkten gestellt. Die Hofhunde würde Sóldís sofort wiedererkennen, aber von der Familie war niemand auf den Fotos zu sehen. Auf der Straße wäre sie wohl einfach an ihnen vorbeigelaufen. »Sie kennen die Leute also?«

»Ich arbeite für sie. Nicht so wie du. Nur hin und wieder. Bringe ihnen etwas aus der Stadt, in seltenen Fällen auch Mitarbeiter oder Gäste. Ich biete Fahrdienste an und habe einen Vertrag mit ihnen. Wenn sie anrufen, springe ich ins Auto.«

»Arbeiten dort denn noch andere Leute?« Von weiteren Personen außer der vierköpfigen Familie war keine Rede gewesen.

»Nein. Nicht dass ich wüsste. Ich denke, dass du die Einzige sein wirst.«

Das Schweigen, das daraufhin einsetzte, war unangenehm. Sóldís hatte das Gefühl, dass irgendetwas unausgesprochen geblieben war. »Behandeln sie ihre Leute nicht gut?«

Der Fahrer schwieg eine Weile. »Das würde ich nicht sagen. Es ist dort einfach ziemlich einsam. Diese Abgeschiedenheit ist nicht jedermanns Sache. Nicht ohne Grund zieht es die Leute in die Stadt. Die meisten Menschen sind gesellige Wesen. Wenn du mich fragst, sind die Tage des Landlebens gezählt. Das Internet zieht den Todeskampf nur in die Länge.«

»Bin ich die Erste, die sie für diese Arbeit einstellen?« Diesen Eindruck hatte sie bei dem Telefonat gewonnen. Dabei hatten sie nichts dergleichen erwähnt. Diesen Schluss hatte sie selbst gezogen, indem sie die Lücken gefüllt hatte. Wie so oft war sie davon ausgegangen, dass die Dinge besser waren, als die Realität erahnen ließ. Ihre Beziehung mit Jónsi war das beste Beispiel dafür. »Oder gab es bereits andere, die dann wieder gegangen sind?«

Der Fahrer zögerte. »Du bist die Dritte, die ich aus diesem Anlass dorthin fahre. Sie hatten erst ein junges Mädchen wie dich und danach einen jungen Mann, der gerade erst weg ist. Sie sind beide nicht lange geblieben. Aber behalte das bitte für dich. Wenn sie es dir erzählen wollen, werden sie es schon tun.«

Wahrscheinlich hatte der Mann eine ähnliche Klausel unterschrieben wie sie. »Ich verspreche es. Wissen Sie, warum die anderen gegangen sind? Ich bin nur neugierig.«

»Keine Ahnung. Der junge Mann ist auf eigene Faust abgereist. Das war gerade erst, kurz vorm Wochenende, und auch ziemlich unvermittelt, wenn ich das richtig verstanden habe. Ich habe keine Ahnung, wieso. Die junge Frau habe ich damals nach Borgarnes gebracht. Sie hat die gesamte Fahrt über geschwiegen, kein einziges Wort hat sie gesagt. Aber die beiden kamen mir auch etwas merkwürdig vor. Die Leute glauben, sie gehen aufs Land, und damit sind alle Probleme gelöst. Sie fliehen vor etwas, wollen einen Neuanfang. Aber egal, wohin man geht, man wird doch wieder sich selbst begegnen. Ich glaube, das ist ihnen klar geworden.«

Der Mann schwieg. Offenbar war ihm eingefallen, dass dieses Dilemma auch auf Sóldís zutreffen konnte. »Ich sage nicht, dass das auch bei dir so ist. Versteh mich bitte nicht falsch.«

»Nein. Kein Problem.« Sie war nicht beleidigt. Überhaupt nicht. Sie dachte einfach nur über die Familie nach, bei der sie leben würde. Warum waren sie so weit rausgezogen? Waren sie womöglich auch vor irgendetwas auf der Flucht?

Die restliche Fahrt schwiegen sie. Vermutlich bereute der Fahrer, dass er so viel geplaudert hatte. Sie hingegen dachte an das, was sie erwartete. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie ein Haus für sich allein haben, ein altes renoviertes Bauernhaus, das die Leute sonst nur für Gäste nutzten. Hin und wieder musste sie das Haus mit anderen teilen, aber angeblich kam das nur selten vor, im Winter wahrscheinlich überhaupt nicht. Sie hatten ihr gesagt, dass außerhalb der Sommermonate kaum Besuch komme. Daher habe sie das Haus für sich allein, zumindest bis zum Frühjahr. Und bis dahin war es noch lang.

Und so achtete Sóldís mehr auf das alte zweistöckige Bauernhaus als auf den riesigen Neubau, als sie auf den Hof fuhren. Es gefiel ihr auch deutlich besser. Generell mochte sie Altes lieber als Neues, auch die neueste Mode interessierte sie kaum. Das wurde ihr schmerzlich bewusst, als sich die Tür des Hauses öffnete und eine Frau heraustrat, um sie zu begrüßen. Das musste Ása sein, ihre neue Chefin.

Ása war eine dieser Frauen, die elegant aussahen, ohne dass sie etwas dafür tun mussten. Schlank und hübsch, mit langem blondem Haar, das ihr gewellt über die Schulter fiel und von dem Sóldís nur träumen konnte. Sie selbst hatte dünne mausbraune Strähnen, platter als Dänemark, die sich ständig elektrisch aufluden, als wäre das ihre einzige Chance, Aufmerksamkeit zu erregen. Bei diesem Gedanken schnellte ihre Hand ganz automatisch nach oben, eine sinnlose Angewohnheit, denn selbst wenn sie sich über den Kopf strich, blieben die Haare nicht liegen. Aber sie trat hier ja keine Stelle als Model an, und die Leute hatten sie ja auch schon gesehen, während des Bewerbungsgesprächs per Videokonferenz. Die Familie selbst hatte die Kamera nicht eingeschaltet und ihr die Zusage anschließend telefonisch gemacht. Sie hatte ihren neuen Arbeitgeber also noch nie gesehen. Aber so wussten die Leute wenigstens, dass Sóldís ganz passabel aussah. An guten Tagen. Das zumindest hatte ihr Jónsi bei der Trennung an den Kopf geworfen. Und dass sie so langweilig sei wie Ketchup. Er stehe aber auf Béarnaise. So bescheuert sie auch waren, seine Worte hatten sich bei ihr eingebrannt. Und sie schmerzten immer noch.

»Hallo!« Die Frau kam mit einem breiten Lächeln auf Sóldís zu und gab ihr die Hand. Sie hatte strahlend weiße, supergerade Zähne, wie in einer Zahnpasta-Werbung. Ihre Hand samtweich, der Händedruck kräftig. »Ása. Willkommen. Hattet ihr eine gute Fahrt?«

Sóldís nickte. »Ja, alles bestens.«

»Schön. Die Mädchen können es kaum erwarten, dich kennenzulernen. Sie sind im Stall, aber ich habe ihnen verboten, sofort angestürmt zu kommen. Nicht dass dich der Schlag trifft und du gleich wieder abreist. Wobei Íris dir nicht um den Hals springen wird, sie ist im Teenageralter und will nicht zu interessiert wirken. Aber Gígja ist das zuzutrauen. Definitiv.«

Sóldís musste daran denken, was der Fahrer über ihre Vorgänger gesagt hatte. Doch es gelang ihr, zu lächeln und sich nichts anmerken zu lassen. »Ich freue mich auch schon sehr auf die beiden.«

Der Fahrer hob Sóldís’ Tasche aus dem Kofferraum und schlug die Heckklappe zu. »Ist das alles?«, fragte Ása erstaunt.

»Nicht zu vergleichen mit dem Jungen.« Der Fahrer lächelte Ása zu. »Da konnte man glatt meinen, er wollte für immer bei Ihnen einziehen. So viel Gepäck …«

Sóldís errötete leicht. »Ich brauche nicht viel. Habe nicht viel.« Sie wollte nicht erklären, dass sie den Großteil ihrer Sachen bei Jónsi gelassen hatte, in ihrer gemeinsamen Wohnung. Sie war zu aufgewühlt gewesen, um klar zu denken, und hatte nur mitgenommen, was sie in eine Tasche stopfen konnte. Diese Tasche, die in der Hand des Fahrers jetzt so leer wirkte. Sie hätte natürlich später noch mal zurückkehren und den Rest holen können. Sie hatte immer noch den Schlüssel zu der Mietwohnung. Doch die Angst davor, Jónsi in die Arme zu laufen, hatte sie davon abgehalten. Nicht nur wegen der Zerstörung, die sie als letzten Racheakt vor ihrem Aufbruch an der Spielkonsole angerichtet hatte. Sie wollte sich nicht weiter erniedrigen lassen, nachdem sie wusste, wie Jónsi über sie dachte. Lieber verzichtete sie auf ein paar Dinge, als dass sie das Risiko einging, ihrem Ex zu begegnen.

Der peinliche Moment fand ein Ende, als die Frau die Hände zusammenschlug, lächelte und fragte, ob Sóldís sich zunächst ein bisschen einrichten wolle. Im Moment stünde nichts Dringendes an, aber es wäre schön, wenn sie um zwölf zum Mittagessen ins große Haus käme. Dann könne sie die anderen drei Familienmitglieder kennenlernen, essen und anschließend eine kleine Haus- und Hofführung bekommen.

Dem stimmte Sóldís dankbar zu. Das gab ihr Zeit zum Durchatmen, und sie konnte in Ruhe das alte Haus erkunden, das für mindestens zwei Monate ihr Zuhause sein würde. Der Fahrer trug ihr die Tasche bis zur Tür und verabschiedete sich.

Ása ging voraus, und als sie ihnen den Rücken kehrte, steckte der Fahrer Sóldís seine Visitenkarte zu. »Nur für den Fall.« Er lächelte verlegen und kehrte zu seinem Wagen zurück.

Sóldís steckte das Kärtchen in die Jackentasche und folgte Ása hinein. Das Haus war deutlich schicker, als sie erwartet hatte. Bei ihrem Gespräch hatte es so geklungen, als müsste sie mit einer Bruchbude vorliebnehmen. Dabei war das Haus von Grund auf renoviert, die Wände waren gestrichen und das Parkett erneuert. Auch die größtenteils alten, aber aufgearbeiteten Möbel waren in einem guten Zustand. Die Fenster waren neu, genau wie die beiden Bäder und die Küchengeräte. Es gab sogar ein extra Fernsehzimmer, und Ása betonte, dass sie dort alle großen Streamingdienste nutzen könne, sowohl die isländischen als auch die ausländischen. Auch die Internetverbindung funktioniere gut, sie hätten extra ein Glasfaserkabel bis zum Hof legen lassen. Und eine GSM-Basisstation errichtet, da es bei ihrem Einzug keinen Handyempfang gegeben habe. Das alles erzählte sie, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, so wie normale Leute von ihrem neuen Handyvertrag mit unbegrenztem Datenvolumen berichten. Die Realität von Menschen, die in Geld schwammen, war zweifelsohne eine andere als die der Allgemeinheit.

Sóldís fehlten die Worte, so schick war ihr neues Zuhause. Doch es machte nichts, dass sie schwieg, denn Ása redete in einem fort, während sie von Zimmer zu Zimmer gingen. Sóldís sollte sich eines von insgesamt drei Schlafzimmern aussuchen. Ása empfahl ihr das größte. Dort gebe es auch den größten Kleiderschrank. Dann fiel ihr wohl wieder ein, wie wenig Sóldís mitgebracht hatte, und sie wechselte schnell das Thema.

Nachdem sie – außer dem Keller – das ganze Haus besichtigt hatten, klatschte Ása wieder in die Hände, riss die großen, blauen Augen auf und lächelte. »Also. Das ist das Haus. Nicht das Neueste, aber ich hoffe, es reicht.«

Sóldís nickte. »Das Haus ist toll. Wirklich super. Hier werde ich mich ganz sicher wohlfühlen. Keine Frage.«

Nachdem sie gegangen war, sah Sóldís sich alles noch einmal in Ruhe an, insbesondere die drei Schlafzimmer. Die beiden kleineren Zimmer befanden sich im Erdgeschoss, das große Schlafzimmer war oben. Gleich daneben das Bad. Sóldís tendierte dazu, Ásas Rat zu befolgen. Doch bevor sie sich endgültig entschied, wollte sie kurz die gemachten Betten in den unteren Zimmern Probe liegen. Vielleicht fühlte sie sich in einem kleineren Raum wohler. Denn sie schlief ja jetzt allein, und das würde sich in der nächsten Zeit auch ganz bestimmt nicht ändern. Die Vertragsklausel dazu war klar und deutlich gewesen. Keine Besuche von Partnern oder Liebhabern, was kein Problem war, denn da gab es ja niemanden.

Keines der beiden unteren Zimmer gefiel ihr so richtig. Sie lag im Bett und starrte an die Decke, dann stand sie auf und warf einen Blick in die Schubladen der Nachttische und Kommoden und in die Kleiderschränke. Alles war leer, nur der Schrank in einem der unteren Zimmer hing voller Kleidung. Sie sah sich die Sachen genauer an. Sie gehörten einem Mann. Einem jungen Mann. Die Sachen waren völlig anders als ihre eigene billige, nichtssagende Kleidung, die allein dem Zweck diente, ihre Nacktheit zu verbergen und sie warm zu halten. Diese Sachen hier waren extravagante Markenklamotten und deutlich schicker als alles, was sie je getragen hatte.

Mit gerunzelter Stirn schloss Sóldís den Schrank. Wahrscheinlich gehörten die Sachen einem Verwandten oder Freund der Familie. Jemandem, der ähnlich reich sein musste wie sie, wenn er all die teuren Kleider zurückließ. Es kam ihr so achtlos vor, seine Sachen einfach dazulassen. Dann kam ihr der Gedanke, dass nicht unbedingt Verschwendung und Achtlosigkeit dahinterstecken mussten, sondern der Besitzer möglicherweise überstürzt aufgebrochen war. Vielleicht gehörten die Sachen ihrem Vorgänger, der so plötzlich das Weite gesucht hatte. Doch das kam ihr unwahrscheinlich vor. Wer sich so schick kleidete, der arbeitete wohl kaum als Haushaltshilfe auf dem Land. Sie dachte an den Kommentar des Fahrers, dass der junge Mann mit unglaublich viel Gepäck angereist sei. Vielleicht war er vermögend gewesen, aber dann in finanzielle Schwierigkeiten geraten. So etwas kam vor. Dann konnte es durchaus sein, dass ihm die Sachen gehörten, er fürs Erste nur das Wichtigste mitgenommen hatte und den Rest später holen würde.

Sóldís nahm sich vor, das mit den Sachen drüben anzusprechen und anzuregen, dass sie an ihren Besitzer zurückgeschickt würden. Am besten, solange sie noch aktuell waren.

Sóldís trug ihre Tasche ins Obergeschoss und räumte die Sachen binnen weniger Minuten in den großen, leeren Schrank. Sie fragte sich, warum der Eigentümer der vielen Kleidungsstücke nicht das große Zimmer gewählt hatte. Vielleicht hatte ihm der große Schrank allein nicht gereicht, und er hatte das untere Zimmer noch zusätzlich genutzt. Oder sie gehörten tatsächlich einem Gast, und das obere Zimmer war von ihren beiden Vorgängern belegt gewesen.

Sóldís warf sich auf das große Bett. Als sie dort lag und sich an der Matratze erfreute, musste sie an diese beiden jungen Leute denken. Sie hätte viel dafür gegeben, zu erfahren, weshalb sie die Segel gestrichen hatten. Sie hoffte, dass der Fahrer recht hatte und das Problem bei ihnen selbst lag. Nicht bei ihren Arbeitgebern, deren Töchtern, dem Haus oder dem Ort.

Auf einmal überfiel sie die Angst. Sie konzentrierte sich aufs Atmen. Ein und aus. Ein und aus. Sie starrte an die holzverkleidete Decke und lenkte sich ab, indem sie die Latten zählte, während die Balken des alten Hauses knarzten und knackten. Sie musste an die Worte ihres Urgroßvaters denken, der einmal gesagt hatte, wenn die Balken eines Hauses laut knarrten, sei der Hausherr dem Tode geweiht. Sie entspannte sich ein bisschen. Was für ein alberner Aberglaube! Jeder Mensch war dem Tod geweiht, eine solche Prophezeiung würde sich früher oder später natürlich erfüllen. Ob es im Haus nun knarzte oder nicht.

Das hier würde schon werden. Und mehr als das. Es würde schön werden, denn es war genau das, was sie jetzt brauchte. Sie atmete weiter tief durch den Mund ein und durch die Nase wieder aus.

Langsam fühlte sie sich besser. Die Angst verschwand allmählich, und sie sagte sich, dass sie genauso wenig zu bedeuten hatte wie das Knarzen im Gebälk. Sie war einfach allein in diesem großen Haus, weit weg von der Stadt und von allem, was sie kannte. Und sicher spielte es auch eine Rolle, wie plötzlich sich ihre Lebensumstände geändert hatten. Nachdem sie aus der Wohnung geflüchtet war, hatte sie gleich bei der Arbeitsvermittlung angerufen und nach einem Job auf dem Land gefragt. Sie wollte einfach nur weg, so weit wie möglich, weg von Jónsi und ihrem früheren Leben. Sie hatte einen ziemlich knappen Lebenslauf abgeliefert und damit gerechnet, dass sie vielleicht nach einer Woche ein Jobangebot von einem Hotel oder so erhalten würde. Doch schon nach wenigen Stunden meldete sich die Agentur und bot ihr diese Stelle an. Gleich am nächsten Tag telefonierten sie ein erstes Mal miteinander, ein zweites Telefonat folgte noch am selben Abend, und am Tag darauf waren sie zu dem Online-Meeting verabredet gewesen. Drei Stunden später hatte sie die Zusage, und sie vereinbarten, dass sie bereits am nächsten Tag anreisen würde. Alles in trockenen Tüchern.

Sóldís bereute es nicht, dass sie sich so schnell entschieden hatte. Es war deutlich rübergekommen, dass die Familie jemanden suchte, der sofort anfangen konnte. Mit jedem Zögern hätte sie riskiert, dass ein anderer den Job bekam. Für Sóldís war diese Möglichkeit ein Geschenk des Himmels. Dementsprechend leicht war ihr die Entscheidung gefallen, so musste sie nicht bei Freunden oder Verwandten unterschlüpfen, bis sie eine neue Bleibe und ein neues Leben gefunden hatte. Schon allein das war Grund genug.

Es würde eine Weile dauern, bis sie sich an die neue Situation gewöhnt hatte. Aber es würde ihr gelingen. Ganz bestimmt.

3. Kapitel — Mittwoch

Die Scheibenwischer fegten über die Windschutzscheibe, doch sie hatten kaum eine Chance. Bereits zweimal hatte Týr angehalten und den Schnee darunter weggewischt, und bald würde er ein drittes Mal aussteigen müssen. Der pappige Schnee hinterließ Spuren auf der Scheibe, die immer breiter wurden. Dennoch war dies ein Kinderspiel im Vergleich zum ersten Teil der Fahrt. Bei Glatteis und tückischen Windböen auf Kjalarnes hatte er alle Hände voll damit zu tun gehabt, den Wagen in der Spur zu halten. Seine Fingerknöchel waren weiß geworden, so fest hatte er das Lenkrad umklammert. Und es war auch nicht gerade beruhigend gewesen, dass seine ansonsten stumme Beifahrerin in regelmäßigen Abständen leise aufgeschrien hatte.

Zuerst dachte er, ihre Schweigsamkeit rührte daher, dass ihr die schwierigen Straßenverhältnisse Angst machten, doch inzwischen glaubte er, dass die Frau einfach von Haus aus wenig sprach. Sie zeigte alle Anzeichen eines introvertierten Charakters, und auf seine Versuche, sie ein wenig aus der Reserve zu locken, hatte sie nur einsilbig geantwortet. Mit zusammengepressten Lippen starrte sie konzentriert geradeaus, damit sich ihre Blicke auch ja nicht trafen. Denn jeder Blickkontakt konnte die Vorstufe zu einem Gespräch sein. Er vermutete, dass auch seine Kollegen Iðunns ungesellige Art kannten und sie deshalb so erleichtert gewesen waren, als sie hörten, dass sie mit Týr fahren würde. Diese Frau war wirklich keine erfrischende Gesellschaft.

Als das GPS-Gerät ankündigte, dass sie in Kürze rechts abbiegen mussten, drosselte Týr das Tempo. Die Angabe stimmte. Zur Sicherheit hatte er die Route gegengecheckt, bevor sie losgefahren waren, kurz vor dem Ende des Fjords ging es rechts ab. Er war noch nie zuvor um den Hvalfjörður gefahren, sondern hatte immer den Tunnel genommen, wenn er nach Norden oder Westen wollte. Zu allem Übel war heute die Sicht extrem schlecht, und man konnte die Abfahrt leicht verpassen. Es gab nur eine Spur in jede Richtung und nichts, was die Bezeichnung Seitenstreifen verdient hätte. Daher war es kein schöner Gedanke, in diesem Wetter umdrehen zu müssen. Die Chancen, dass sie dann im Graben landeten, standen fifty-fifty. Besser hätte er Anschluss an die anderen aus dem Team gehalten, aber aus Rücksicht auf seine Beifahrerin war er langsamer gefahren und immer weiter zurückgefallen. Es war lange her, dass er ein Rücklicht gesehen hatte, daher konnte er sich jetzt nicht einfach an seinem Vordermann orientieren und wie ein Entenjunges seiner Mama hinterherschwimmen.

Als Týr abbog, brach Iðunn plötzlich das Schweigen: »Ist es noch weit?« Erschrocken löste Týr seinen Blick von der Straße und sah Iðunn an. Sie starrte immer noch stur geradeaus und machte sich nicht die Mühe, einen Blick auf das GPS-Gerät zu werfen, wo die Antwort zwischen vielen unnötigen Informationen schwarz auf weiß zu finden war.

»Nicht mehr weit. Ungefähr eine Viertelstunde.« Týr umfasste das Steuer fester, als der Wagen in der Kurve leicht wegrutschte.

Iðunn redete weiter: »Ich habe jetzt schon Bammel vor der Rückfahrt. Schnee und Glatteis kann ich nicht ausstehen. Ich bin im Norden aufgewachsen und hab die Schnauze echt voll von unpassierbaren Straßen.«

Týr beschlich der Gedanke, dass er seine Mitfahrerin doch falsch eingeschätzt hatte. Vielleicht war Iðunn normalerweise gar nicht schweigsam, sondern tatsächlich nur so sehr mit ihrer Angst beschäftigt gewesen, dass es für ein Gespräch keine Kapazitäten mehr gab. Eigentlich hätte er sich gerne unterhalten, aber er befürchtete, dass ihm dann eines der Gespräche bevorstand, mit denen er sich am schwersten tat: ein Gespräch über sich und seine Herkunft. Was? Du bist in Schweden aufgewachsen? Wieso? Und weshalb bist du wieder heimgekommen?

Dabei war es eigentlich genau andersherum: Er hatte seine Heimat verlassen, als er nach Island gezogen war. Ein Großteil der Isländer setzte Heimat automatisch mit Island gleich. Heimat konnte nirgendwo anders sein. Da spielte es auch keine Rolle, ob jemand mehr als die Hälfte seines Lebens im Ausland gelebt hatte, so wie er. Wenn du Isländer bist, ist Island ja wohl deine Heimat. Vielleicht entwickelte sich dieses Gefühl bei ihm noch. Aber dafür musste er erst einmal eine Weile hierbleiben, was im Moment überhaupt nicht sicher war. Er hatte sich nach einer schwierigen Trennung aufgemacht, ohne groß über die Tragweite seiner Entscheidung nachzudenken. Jetzt saß er hier. Immerhin hatte die Entfernung ihm geholfen zu begreifen, dass die Beziehung wirklich am Ende gewesen war. Er hatte eingesehen, dass sie beide unglücklich gewesen waren und eine Trennung die einzig vernünftige Option.

Die Kehrseite seines Standortwechsels hingegen war, dass er fast umkam vor Einsamkeit. Noch war es ihm nicht gelungen, einen Bekannten- oder Freundeskreis aufzubauen. Aus reinem Pflichtbewusstsein hatte sich anfangs die spärliche Verwandtschaft um ihn gekümmert, aber nach und nach waren sie wieder in ihr altes Leben abgetaucht. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Sie hatten sich zwar jedes Jahr im Sommer gesehen, aber er war kein fester Bestandteil ihres Lebens. Obwohl er sich sehr nach Gesellschaft sehnte, wollte er nicht zum Wohltätigkeitsprojekt werden, also drängte er sich auch nicht weiter auf.

Er hatte sich vorgenommen, ein Jahr lang durchzuhalten. Doch wenn es so weiterging wie bisher, würde er sich eingestehen müssen, dass diese Suche nach seinem Ursprung gescheitert war. Dann würde er den Schwanz einziehen und nach Schweden zurückkehren. Das war mit Sicherheit angenehmer, als in der Einsamkeit auszuharren. Und vielleicht war es dann an der Zeit einzusehen, dass seine Wurzeln nicht in Island lagen. Im Zweifel sogar nirgendwo. Er war bei isländischen Eltern in Schweden aufgewachsen und daher weder richtig schwedisch noch isländisch.

Und um es noch komplizierter zu machen, war er adoptiert und hatte keinerlei Erinnerungen an seine leiblichen Eltern, die schon in jungen Jahren aus seinem Leben verschwunden waren. Seine Mutter war an Brustkrebs gestorben, als er vier Jahre alt gewesen war, und kurz darauf war sein Vater bei einem Unfall ums Leben gekommen. Wobei er den Verdacht hegte, dass die Todesursache auch eine andere gewesen sein könnte. Seine Adoptiveltern reagierten immer sehr merkwürdig, wenn er sie bat, ihm von dem tödlichen Unfall seines Vaters zu erzählen. Daher ging er stark davon aus, dass er sich entweder das Leben genommen hatte oder drogenabhängig gewesen und an einer Überdosis gestorben war und sie ihn aus falscher Fürsorglichkeit heraus vor der Wahrheit schützen wollten. Allerdings spielte es auch eine Rolle, dass sein leiblicher Vater nicht mit seiner Mutter zusammengelebt und sich nur widerstrebend zu seinem Sohn bekannt hatte. Dementsprechend wenig wussten seine Adoptiveltern über diesen Mann.

Über seine leibliche Mutter hingegen wusste Týr viel mehr. Ihr Andenken wurde in seiner Kindheit in Ehren gehalten, zumal er bei ihrer Schwester und ihrem Schwager aufwuchs. Auf dem Kaminsims stand eine hübsche Urne mit der Asche seiner Mutter, neben einem Bild von ihr, auf dem sie strahlend lächelte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte sie sicher noch nichts von ihrem Schicksal. Tante und Onkel war kein eigenes Kind vergönnt, und so adoptierten sie den Jungen, als er mutterlos dastand, mit einem Vater, der kein Interesse an ihm zeigte und erleichtert seine Unterschrift auf die Papiere setzte. Týr hatte sich lange nicht mit der väterlichen Zurückweisung abfinden können, obwohl sie im Nachhinein eher eine glückliche Fügung gewesen war. Bessere Eltern als seine Tante und seinen Onkel konnte man sich kaum vorstellen. Das war ihm mit den Jahren klar geworden, und inzwischen hatte er kein Interesse mehr daran, etwas über seinen leiblichen Vater zu erfahren. Seitdem ging es ihm besser. Da er diesem Menschen gleichgültig gewesen war, konnte er ihm gegenüber nun dieselbe Gleichgültigkeit an den Tag legen.

Und dennoch: Seine Wurzeln hatte er nach wie vor nicht gefunden.

Um zu verhindern, dass seine Mitfahrerin auf Persönliches zu sprechen kam, übernahm Týr das Ruder. Und die einfachste Lösung war wohl ein Gespräch über die Arbeit, über das Einzige, was sie verband. »Welche Informationen hast du über den Einsatzort? Könnte es sich um einen Unfall handeln?«

»Ich denke, ich habe dieselben Informationen wie du. Mehrere Bewohner eines Bauernhofs wurden tot in ihrem Haus aufgefunden. Laut demjenigen, der sie gefunden hat, wurden sie ermordet. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Möglicherweise war es auch eine Kohlenmonoxidvergiftung, und die Verletzungen, die der Mann gesehen haben will, sind lediglich dem Verwesungsprozess geschuldet.«

Týr nickte. Iðunn war Rechtsmedizinerin und sollte wissen, wovon sie sprach. Die Untersuchung von Leichen war in seinem Kriminologiestudium nur am Rande behandelt worden, zum Glück. Es war gut, dass sich darum andere kümmerten. Dennoch wäre er davon ausgegangen, dass selbst Laien es erkannten, wenn Fleisch verweste. Insbesondere Bauern wie der Mann, der die Leichen gemeldet hatte. Es war mit Sicherheit nicht das erste Mal, dass er dem Tod ins Gesicht blickte.

»In jedem Fall schlimm. Was auch immer passiert sein mag.« Iðunn seufzte schwer. Týr kannte das, das brachte ihr Beruf einfach mit sich. Wenn er seufzte, dann war es nicht so ein theatralisches Wangenaufblasen und Luftablassen. Es kam ganz von selbst. Als versuchte der Körper, die schlimmen Eindrücke auf diese Weise wieder loszuwerden – was von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Diese Dinge wurde man nicht durch Stöhnen und Seufzen wieder los. Leider.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Týr, dass Iðunn ihn von der Seite ansah. Schnell wandte er sich ihr zu und lächelte, um die unangenehme Situation zu beenden. Er wollte, dass sie wusste, dass er wusste, dass sie ihn angestarrt hatte. »Ich muss dich etwas fragen. Hoffentlich findest du es nicht unhöflich.«

Er ahnte schon, was sie wissen wollte, er hatte diese Frage schon unzählige Male gehört. Und er behielt auch dieses Mal recht.

»Woher kommt die Narbe auf deiner Stirn?«

»Leider ist das keine besonders coole Story. Ich bin als Kind vom Dreirad gefallen. Bin mit vollem Tempo gefahren und habe nicht aufgepasst. Der Vorderreifen ist in ein Loch im Gehweg geraten, ich habe mich überschlagen und mich übel verletzt. Der Schädelknochen war gebrochen. Aber es hätte noch schlimmer kommen können.«

»Du könntest einen Pony tragen, dann würde man es nicht sehen.«

Das hatte Týr bereits ausprobiert. Auf allen Kinderfotos, bis zum Alter von zwölf Jahren, trug er einen dichten, langen Pony, der bis zu den Augenbrauen reichte. Dann war ihm bewusst geworden, dass er wie einer der Beatles aussah, nur viel uncooler. Seitdem trug er die Haare kurz. »Ich lasse es einfach so. Es bietet Anlass zu interessanten Gesprächen.«

»Ich interessiere mich einfach für alles, was mit Verletzungen zu tun hat. Deshalb habe ich gefragt. Auch wenn die Verletzungen, mit denen ich zu tun habe, in der Regel nicht verheilt sind.«

Týr hatte Mühe, sein Befremden zu verbergen. Und Iðunn merkte offenbar, wie seltsam er dieses Gespräch fand. »Wirst du oft darauf angesprochen?«, fragte sie.

»Ja. Ziemlich oft. Aber das ist kein Problem für mich.«

»Davon kann ich auch ein Lied singen. Ich bekomme auch immer wieder dieselbe Frage zu hören. Spar es dir also einfach, du kriegst die Antwort sofort: Ich habe mich auf Rechtsmedizin spezialisiert, weil das ein interessantes Fachgebiet ist. Interessanter als allgemeine Medizin. Ich habe nicht viel für Menschen übrig. Für lebendige Menschen.«

»Verstehe. Das wollte ich zwar nicht fragen, aber interessant zu wissen.« Das stimmte nicht ganz. Týr hatte sehr wohl darüber nachgedacht und hätte irgendwann auch gefragt. Wahrscheinlich erst auf dem Rückweg.

Endlich schneite es nicht mehr ganz so heftig, und Týr konnte etwas mehr sehen als nur ein winziges Stück Straße vor sich und den nächsten Leitpfosten.

»Echt beschissen, wie die mit den Tieren umgehen«, brummte Iðunn. Týr spähte in dieselbe Richtung wie Iðunn und entdeckte eine Herde von Islandpferden, dicht zusammengedrängt auf der Suche nach dem wenigen Schutz, den die Tiere einander bieten konnten. Ein Unterstand war nirgends zu sehen, aber die Sicht war auch nach wie vor schlecht.

Týr konzentrierte sich wieder aufs Fahren. »Ich denke, die halten das schon aus. Sonst stünden sie nicht dort. Dem Besitzer ist sicher an ihnen gelegen. Islandpferde sind robuste Tiere.«

»Was du nicht sagst.« Iðunn schien nicht überzeugt. »Bist du ein Pferdekenner?«

»Ich? Nein.« Týr lächelte zum ersten Mal, seit sie ausgerückt waren. Der Gedanke, dass er sich gerade Reiten als Hobby aussuchen würde, war einfach zu abwegig. »Und du? Bist du eine Pferdekennerin?«

»Nein«, antwortete Iðunn knapp. Offenbar hatte er die Chance verpasst, den Ball in der Luft und das Gespräch in Gang zu halten.

Die Straßenverhältnisse wurden immer schlechter, je weiter sie sich von der Landstraße entfernten. Sie fuhren an einem Schild vorbei, auf dem »Minna-Hvarf« stand. Sie schienen sich ihrem Ziel zu nähern. Man hatte ihn vorgewarnt, dass er dort noch nicht abbiegen, sondern geradeaus weiterfahren sollte bis zum nächsten Schild mit der Aufschrift »Hvarf«. Dort bogen sie ab und fuhren in eine Talsenke hinunter, die von der Straße aus nicht zu sehen gewesen war. Hvarf bedeutete so viel wie »Verschwinden« – ein wirklich passender Name für diesen versteckt gelegenen Hof.

Die Zufahrt zum Hof war nicht geräumt, und Týr war dankbar dafür, dass er einen der höhergelegten Jeeps bekommen hatte. Er versuchte, in der Spur der anderen Fahrzeuge zu bleiben, was aber nicht immer gelang. Dann wurden Iðunn und er hin und her geworfen, als wären sie bei starkem Wellengang auf See. Iðunn krallte sich am Griff über dem Seitenfenster fest und verhinderte mit der anderen Hand, dass der große Fotoapparat von ihrem Schoß rutschte.

Auf dem Hofgelände gab es reichlich Platz, obwohl dort schon jede Menge anderer Fahrzeuge standen. Zwei vom selben Typ wie Týrs Wagen, sie gehörten zu der Kolonne, die ihnen davongefahren war. Außerdem standen dort noch zwei weitere Jeeps, vermutlich von der örtlichen Polizei. Und schließlich noch zwei Zivilfahrzeuge, ein Pkw und ein Jeep, beide unter einer dicken Schneedecke. Normalerweise sah man an solchen Einsatzorten auch den großen Transporter der Spurensicherung, doch in diesem Fall hatte man entschieden, ihn erst auf den Weg zu schicken, wenn es weniger stark schneite und die Zufahrt zum Hof geräumt war. Bis dahin wollten sie den Einsatzort mit den Gerätschaften untersuchen, die sie mitgebracht hatten.

Das riesige, moderne Wohnhaus fiel als Erstes ins Auge, was nicht zuletzt daran lag, dass es hell erleuchtet war. Daneben gab es vier weitere Gebäude: ein altes Bauernhaus, das mit dem Neubau verbunden war, einen Pferdestall, einen Schafstall und einen Schuppen.

Aus dem Pferdestall war lautes Bellen zu hören, als Týr und Iðunn ausstiegen, doch das Gekläffe ebbte schnell ab, als sie sich dem neuen Wohnhaus und den Personen näherten, die sich im Schutz des Vordachs am Eingang versammelt hatten. Týr wunderte sich nicht, dass so viele Kollegen vor Ort waren. Der Hof lag im Zuständigkeitsgebiet der Polizei Vesturland, und außer der Truppe aus Reykjavík waren auch Vertreter der Kriminalpolizei Akranes ausgerückt. Angesichts der vielen Toten und der Schwere des Verbrechens, das hier vermutlich begangen worden war, hatten die Kollegen aus Akranes sofort entschieden, Verstärkung aus der Hauptstadt anzufordern.

Ein übler Gestank lag in der Luft. Eine Frau, die bemerkt hatte, wie Týr das Gesicht verzog, zeigte auf einen großen Fleck auf den beheizten Bodenplatten am Eingang. Der Bereich war abgesperrt, damit niemand versehentlich hineintrat. »Der Mann, der die Leichen entdeckt hat, hat sich auf dem Weg nach draußen übergeben. Auch drinnen schon.«

Damit starb Týrs zarte Hoffnung, dass der Schauplatz nicht ganz so schrecklich sein würde wie befürchtet.

Die Leute am Eingang trugen weiße Overalls mit Kapuze, Maske und Schutzbrille. Einer von ihnen drückte Týr und Iðunn verschweißte Tüten mit derselben Ausrüstung in die Hand, die sie schnell überzogen.

Mit der Kapuze auf dem Kopf sah Iðunn ziemlich merkwürdig aus. Sie hatte ihr langes, dickes und krauses Haar daruntergestopft, wodurch ihr Kopf mehrere Nummern zu groß für ihren Körper wirkte. Nur mit Mühe konnte sie sich den Tragegurt ihrer Kamera über den Kopf ziehen.

In voller Montur sahen sie alle fast gleich aus. Einige Kollegen hatte Týr aber dennoch identifiziert, unter anderem seinen Chef Huldar, der größer war als die meisten anderen hier. Auch seine klein gewachsene Kollegin Lína ließ sich schnell ausfindig machen. Eine weitere Kollegin erkannte er an ihrer schwarzen Hautfarbe. Sie hieß Karólína und hatte zur selben Zeit wie Týr und ein weiterer Kollege polnischer Herkunft bei der Polizei angefangen. Alle drei waren eingestellt worden, um die Diversität im Team zu fördern. Diese Initiative war von Huldar ausgegangen, und obwohl Týr ihn ansonsten für einen eher unfähigen Chef hielt, hatte er in diesem Fall ein gutes Werk getan. Týr war froh gewesen, dass er den Job bekommen hatte, was auch daran lag, dass die Konkurrenz nicht allzu groß gewesen war, und um das Diversitätskriterium zu erfüllen, reichte es aus, dass er in Schweden gelebt hatte. Da die Kriminalität in Island sich allmählich an das Niveau in den Nachbarländern anglich, waren seine Erfahrungen aus Schweden sehr willkommen.