R.I.P. - Yrsa Sigurdardóttir - E-Book
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Yrsa Sigurdardóttir

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Beschreibung

Er mordet kalt und brutal: Zwei Jugendliche sind seine Opfer. Über Social Media müssen Freunde deren letzte qualvolle Minuten mitansehen. Und dieser Mörder ist noch nicht fertig: Ein weiterer Junge wird vermisst. Was verbindet die Jugendlichen? Wer glaubt, sie verdienten den Tod? Und kann der Junge noch gerettet werden?

Huldar und sein Team ermitteln. Auch Psychologin Freyja wird wieder in die Untersuchungen einbezogen, trotz anfänglichen Widerwillens. Gemeinsam müssen sie den gnadenlosen Mörder finden, bevor er wieder zuschlägt...

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Zum Buch

Er mordet kalt und brutal: Zwei Jugendliche sind seine Opfer. Über Social Media müssen Freunde deren letzte qualvolle Minuten mitansehen. Und dieser Mörder ist noch nicht fertig: Ein weiterer Junge wird vermisst. Was verbindet die Jugendlichen? Wer glaubt, sie verdienten den Tod? Und kann der Junge noch gerettet werden?

Huldar und sein Team ermitteln. Auch Psychologin Freyja wird wieder in die Untersuchungen einbezogen, trotz anfänglichen Widerwillens. Gemeinsam müssen sie den gnadenlosen Mörder finden, bevor er wieder zuschlägt..

Zur Autorin

YRSA SIGURDARDÓTTIR, geboren 1963, ist eine vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin, deren Thriller in über 30 Ländern erscheinen. Sie zählt zu den »besten Kriminalautorinnen der Welt« (Times). Sie debütierte 2005 mit »Das letzte Ritual«, der Erfolgs-Serie von Thrillern um die junge Rechtsanwältin Dóra Gudmundsdóttir. »R.I.P.« ist nach dem Spiegel-Bestseller »DNA« und »SOG« der dritte Teil der Thriller-Serie um Kommissar Huldar und Kinderpsychologin Freyja. Yrsa Sigurdardóttir in Reykjavík.

Yrsa Sigurdardóttir

R.I.P.

Thriller

Aus dem Isländischenvon Anika Wolff

Die isländische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Aflausn« im Verlag Veröld, Reykjavík.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © 2016 by Yrsa Sigurdardóttir

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Getty Images/Cory Voecks; Getty Images/Roman Kharlamov

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-17234-3V003

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

1. KAPITEL

Die Toiletten im Keller des Kinos waren leer. Die weißen Kera­mikwaschbecken waren getrocknet, und die Kabinen­türen standen offen. Früher an diesem Abend hatten die Frauen hier noch Schlange gestanden, und dementsprechend sah es jetzt aus: Die Mülleimer randvoll mit zerknüllten Papierhandtüchern, auch auf dem Boden lagen welche. Überall standen leere Colapappbecher herum, und der Inhalt einer Tüte Popcorn war über den ganzen Boden verteilt, größtenteils von ungeduldigen Füßen platt getreten.

Stella ging davon aus, dass es bei den Männern nicht anders aussah, und war froh, hier nicht putzen zu müssen. Heute war es wirklich schlimm, nach zwei ausverkauften Filmen und zwei weiteren halbwegs gut besuchten. Es hatte ein riesen Gedränge an der Snackbar gegeben, sowohl vor Filmbeginn als auch in der Pause. Die Popcornmaschine war gar nicht hinterhergekommen, obwohl sie auf Vorrat produziert hatten, und die Cola Light war zu allem Überfluss auch noch ausgegangen. Es war Stella extrem schwergefallen, nicht pampig zu reagie­ren, als die Gäste ihren Ärger an ihr ausließen. Als wäre sie für den Einkauf oder das Vorratsmanagement verantwortlich.

In der Tür zögerte Stella kurz. Auf einmal war ihr bewusst, dass sie ganz allein im Keller war. Ganz allein im Gebäude.

Das Dröhnen der Soundsysteme in den Kinosälen war verstummt, und auch das Geplauder der anderen Mädchen. Sie hatte ihnen angeboten, den Rest allein zu machen, damit sie ihren Bus erwischten. Durch die Glasscheibe am Eingang hatte sie zugesehen, wie die anderen im Schneegestöber verschwanden. Und es schlagartig bereut, so nett gewesen zu sein. Klar, sie hatte das nicht aus reiner Nettigkeit getan, sondern auch ein bisschen vor den anderen prahlen wollen. Ihnen unter die Nase reiben wollen, dass sie einen Freund hatte. Mit Auto. Im Gegensatz zu ihnen war sie auf keinen nervigen Bus angewiesen.

Stella musste auf einmal an den Snap denken, den sie kurz nach der Pause erhalten hatte. Sie hatte keine Ahnung, wer der Absender war, hatte ihn nie geadded. Sie musste endlich mal einstellen, dass Unbekannte ihr keine Nachrichten mehr schicken konnten, jetzt, wo auch die Erwachsenen diese App entdeckt hatten. Erst hatten sie Facebook kaputt gemacht, und jetzt rissen sie auch noch Snapchat an sich. Wahrscheinlich kam die Nachricht von irgendeiner Freundin ihrer Mutter oder einer entfernten Verwandten, an die sie sich nicht erinnerte. Zumindest sagte ihr der Nutzername nichts: Bara13. Aber vielleicht war damit ja auch gar nicht der Frauenname Bára gemeint, sondern es steckte irgendein Kind dahinter, gerade dreizehn geworden. Das würde zumindest die bescheuerte Nachricht erklären.

Der Snap war ein Foto von ihr, hier im Kino aufgenommen, wie sie in der Pause eine Tüte Popcorn über die Theke reicht. Ein total unvorteilhaftes Bild, auf dem sie das Gesicht verzieht und auch sonst irgendwie dämlich aussieht. Keine Pose, kein Lächeln. Über das Foto hatte der Absender oder die Absenderin einen kurzen Text geschrieben, der genauso merkwürdig war wie das Foto: Wir sehen uns. Was auch immer das sollte. Die Person war offenbar im Kino gewesen, ohne sich zu outen. Vielleicht irgendein Typ, der sich dann doch nicht getraut hatte, sich an sie ranzumachen. Glück gehabt – für ihn, denn auf so etwas hatte sie überhaupt keinen Bock. Sie hatte kein Interesse daran, irgendwelche Nervensägen kennenzulernen, denn nur Nervensägen schickten einem so einen Mist.

Hinter Stella fiel die Toilettentür zu. Der Dämpfer war ­kaputt, daher schloss sich die Tür erst langsam, fiel dann aber plötzlich laut zu. Der Knall schallte durch den gefliesten Raum und hallte noch in ihren Ohren nach, als er schon längst wieder verklungen war. Das Geräusch machte ihr die Stille und die Tatsache, dass sie ganz allein war, noch einmal bewusst. Auch wenn sie sich oben nicht viel besser gefühlt hätte, war es hier unten im Keller noch deutlich schlimmer, dabei lag er nur ein paar Treppenstufen unter dem Hauptgeschoss. Oben konnte man wenigstens nach draußen gucken, auch wenn man bei dem Schnee sicher sowieso fast nichts sah. Wahrscheinlich hatte das Wetter all die Leute ins Kino getrieben, denn die Filme waren eigentlich gar nicht so toll; Stella hatte sie alle ­gesehen. Aber wenigstens ließen sie einen für eine Weile den fiesen Wind und Schnee vergessen.

Doch das eklige Wetter draußen war trotzdem immer noch besser als ein verlassenes Kino. Stella konnte es kaum erwarten, hier rauszukommen und zu Höddi ins Auto zu steigen. Das war zwar eine absolute Schrottkiste mit kaputter Heizung, aber immer noch besser als der Bus. Ein bisschen wie bei Höddi: Er war kein Traumprinz, aber das war immer noch besser als Single zu sein. Er würde so lange genügen, bis sie einen Besseren gefunden hatte. Einen Gutaussehenden mit coolem Auto, um den ihre Freundinnen sie beneiden würden. So einen Freund wollte sie haben. Nicht einen wie Höddi, bei dem man immer aufpassen musste, dass er auf den Fotos, die man posten wollte, nicht drauf war.

Stella entschied sich für die hinterste Kabine und schloss die Tür schnell ab. Gegenüber den Toiletten hingen die Wasch­becken, darüber ein langer Spiegel. Aber sie war nicht scharf darauf, sich darin zu sehen, so fertig und abgekämpft. Außerdem musste sie dringend zum Frisör, Haare schneiden und färben und Augenbrauen zupfen. Am Scheitel sah man schon den dunklen Haaransatz. Wie der Rallyestreifen auf ­Höddis rostiger Motorhaube. Schrecklich. Bevor sie zum ­Pinkeln runtergegangen war, hatte sie überlegt, ihren Freundinnen einen Snap von sich neben dem Geist aus dem Horrorfilm zu schicken, der im großen Saal lief, sich dann aber doch dagegen entschieden, denn sie wollte nicht, dass die Mädels sie so sahen. Außerdem war es irgendwie unheimlich, neben diesem finsteren Typen zu stehen. Obwohl ihr natürlich bewusst war, dass es sich nur um eine riesige Pappfigur handelte. Das mit dem Foto würde sie ein andermal nachholen, wenn sie nicht allein hier war und besser aussah. Bald war Monatsende, dann konnte sie sich um ihren Look kümmern. Hoffentlich kam das Geld pünktlich, denn sie hatte gleich den ersten verfügbaren Frisörtermin am Ersten ausgemacht. Dass schöne Haare aber auch so verdammt teuer sein mussten …

Stella ließ die Hose runter und pinkelte, ohne die Brille zu berühren. Wer wusste schon, welche Bakterien die Kinogäste hinterlassen hatten. Sie hatte nicht vor, sich hier irgendeine fiese Geschlechtskrankheit einzufangen. Auf keinen Fall. Wenn sich so etwas herumsprach, blieb das ewig an einem hängen.

Durch das Plätschern in der Kloschüssel hörte sie, dass die Toilettentür aufging. Ihr Hals schnürte sich zu, und alle Härchen auf ihren nackten Beinen stellten sich auf. Wer zur Hölle konnte das sein? War eines der Mädchen noch mal zurückgekommen? Aber wie sollte das gehen, durch die geschlossene Eingangstür? Oder hatten sie die Tür gar nicht richtig zugemacht? Wieder musste sie an den Snap denken. Das war doch wohl nicht Bara13?

Ein lauter Knall – die Tür war wieder zu. Stella hielt den Atem an und lauschte, ob jemand im Raum war. Vielleicht war das nur der Mann vom Sicherheitsdienst gewesen, der heute früher dran war und alle Räume kontrollieren musste? Doch knarzende Schuhsohlen machten jegliche Hoffnung zunichte. Sie war nicht mehr allein.

Aus dem Strahl waren einzelne Tröpfchen geworden, die im Takt mit den Schritten des unbekannten Toilettenbesuchers fielen. Toilettenbesucherin. Es musste eine Frau sein. Was sollte ein Mann so spät auf der Damentoilette eines verlassenen Kinos? Es war ja nicht so, dass die Männerklos alle besetzt wären. Stella spielte mit dem Gedanken zu fragen, wer da ist, entschied sich aber dagegen. Sie streckte die Hand nach dem Klopapier aus und riss so leise wie möglich ein Stück ab. Sie richtete sich auf und zog die Hose hoch. Danach ging es ihr etwas besser, sie fühlte sich zumindest nicht mehr ganz so schutzlos. Doch dieses Gefühl währte nur kurz.

Unter der Tür tauchten zwei Schuhspitzen auf, blieben genau vor ihrer Kabine stehen. Sie mussten zu Stiefeln gehören, der Breite nach Männerstiefel. Stella erstickte einen Schrei in ihren Händen. Warum stand da jemand? Die Füße rührten sich nicht, der Unbekannte stand dort wie vor einer Haustür, an der er klingeln wollte. Und tatsächlich schlug er im nächsten Augenblick mit aller Kraft gegen die Tür. Stella starrte sie an wie einen riesigen Bildschirm, auf dem jeden Moment eine Erklärung für all das erscheinen würde.

Ihr Handy piepte, und sie zog es wie in Trance aus der Tasche. Am liebsten hätte sie es weggeschleudert, als sie sah, dass es ein weiterer Snap von Bara13 war. Doch wie automatisch wischten ihre Finger über das Display, und die Nachricht öffnete sich: ein Foto von einer verschlossenen Toilettentür. Sie unterdrückte einen Schrei. Das konnte nur diese Tür sein, zwischen ihr und dem Absender. Diesmal hatte er keinen Text hinzugefügt.

Wieder hämmerte es kräftig an die Tür. Stella wich zurück. Dabei stießen ihre Beine an den harten Rand der Toilette, und sie ging leicht in die Knie. »Wer ist da?« Keine Antwort. Diese Frage war ihr rausgerutscht, ohne dass sie darüber nachgedacht hatte. Ihre Stimme klang zittrig und ängstlich, was völlig untypisch für sie war. Normalerweise gab sie in der Gruppe den Ton an. War stark. Selbstbewusst. Nahm keine Rücksicht auf die Mäuschen, die so klangen wie sie jetzt.

Jetzt wurde so fest gegen die Tür geschlagen, dass sie wackelte. Panisch blickte Stella auf die lächerliche Verriegelung, die nicht lange standhalten würde. Ihre Gedanken spielten verrückt, während sie nach etwas suchte, das sie retten konnte, aber natürlich fand sie nichts. Eine Rolle Klopapier und die Halterung. Ein Plastikmülleimer mit Deckel. Die Kloschüssel hätte sie ihm vielleicht entgegenschleudern können, wenn er die Tür aufbrach, aber wie sollte sie die von der Wand kriegen? Dann fiel ihr das Handy ein, das sie noch in der feuchten Hand hielt. Wie war noch mal die Nummer vom Notruf? Eins, eins, nochwas … Eins, eins, zwei oder eins, eins, drei? Oder vier? Sollte sie Höddi anrufen? Er musste schon auf dem Weg sein und war sicher näher am Kino als die Polizei. Oder nicht?

Doch Stella musste keine Entscheidung treffen. Der Mann warf sich gegen die Tür, die aufbrach und Stella vor den Kopf knallte. Sie taumelte zurück und landete rückwärts auf der Toilette, benommen von dem heftigen Schlag. Ihr war übel, doch irgendwie schaffte sie es, den Kopf zu heben und dem Mann ins Gesicht zu blicken. Im ersten Moment dachte sie, ihm würde ein Schatten ins Gesicht fallen, so dunkel war es. Erst dann erkannte sie eine glänzende Darth-Vader-Maske unter der Kapuze eines schwarzen Anoraks. Aus den mandelförmigen Sehschlitzen funkelten sie Augen an, aus denen sie nichts herauslesen konnte. Ein Handschuh schnellte auf sie zu und riss ihr das Handy aus der Hand. Der Mann wischte darauf herum, und Stella hoffte inständig, dass er einfach ein Dieb war und nur hier, um ihr das Smartphone zu klauen. Er sollte es ruhig nehmen. Alles sollte er nehmen, ihr Portemonnaie, alles aus ihren Taschen, ihr Gehalt, alles. Was immer er wollte. Wenn er nur ging und sie nicht anfasste.

»Na schön.« Die Stimme des Mannes klang merkwürdig, Darth Vader gar nicht so unähnlich. Rau. Als wäre der Hals mit Schmirgelpapier ausgekleidet. Wahrscheinlich war die Maske mit einem billigen Stimmverzerrer ausgestattet. Er richtete das Handy auf sie, als wollte er sie dort auf der Toilette sitzend foto­grafieren. Tränen liefen ihr über die Wangen. Was machte er da? Warum sollte ein Handydieb eine Aufnahme vom Besitzer des Geräts haben wollen? »Dann wollen wir mal sehen.«

»Was?« Stella rutschte so weit wie möglich nach hinten, bis ihr Rücken die harte Wand berührte. Durch den dünnen Pulli spürte sie die kalte, glatte Oberfläche. Es schauderte sie.

»Bitte um Entschuldigung.«

Sie versuchte nicht, das zu hinterfragen, sondern stieß das gewünschte Wort hervor.

»Tss. Das war nicht gut. Kein bisschen überzeugend. Mach es besser.«

Und sie versuchte es. Immer wieder. Wiederholte es, bis es ganz komisch klang, als wäre es gar kein richtiges Wort. Doch der Mann war nie zufrieden.

Dafür musste sie büßen.

2. KAPITEL

»Wir brauchen einen größeren Bildschirm.« Endlich sprach einer der Polizisten im Besprechungsraum aus, was alle dachten. Seit die Videoaufzeichnung lief, waren alle mit ihren Stühlen immer näher an den lächerlich kleinen Bildschirm herangerutscht, auf dem die Überwachungskamera-Aufnahmen aus dem Kino liefen.

Erla lehnte an einem Tisch direkt vor dem Bildschirm. Ärger­lich blickte sie auf und funkelte den Polizisten an. »Konzentrier dich halt. Bei der miesen Auflösung bringt ein größerer Bildschirm auch nichts. Aber wenn es dir eine Herzensangelegenheit ist, kannst du ja einen Antrag stellen.«

Darauf sagte der Mann nichts mehr. Was Huldar gut nachvollziehen konnte. Erla reagierte selten freundlich auf Wider­spruch. Sie war in vielerlei Hinsicht eine gute Chefin, aber Kommunikation zählte definitiv nicht zu ihren Stärken. Huldar würde einen Besen fressen, wenn der Kollege die Bitte um einen vernünftigen Screen im Besprechungsraum tatsächlich weiterleitete. Das Beschwerdesystem in diesem Laden war ein Friedhof für Wünsche.

»Guckt. Jetzt kommt es.« Erla hatte sich wieder dem Bildschirm zugewandt. »Da. Beobachtet den Pappaufsteller, diesen Geist oder was immer das auch sein soll.«

Alle Augen waren auf die Ecke des Bildschirms gerichtet, in der die überdimensionale Figur stand. Das Mädchen war kurz zuvor an ihr vorbeigegangen, hatte angehalten, das Gesicht verzogen und auf ihrem Smartphone herumgewischt, ein paar Selfies geschossen und war dann aus dem Bild verschwunden. Laut Erla war das das letzte Mal, dass man sie unversehrt gesehen hatte. Im Keller, wo sich die Toiletten befanden, gab es keine Überwachungs­kameras, und auch an der Treppe nach unten nicht. Der Zeitangabe im Video und den Clips nach, die vom Handy des Mädchens versendet worden waren, war sie in dieser Videosequenz wahrscheinlich auf dem Weg runter zur Toilette gewesen.

Ein Schattenwesen kam jetzt hinter dem Aufsteller hervor, und im Besprechungsraum lehnten sich alle mit angestrengtem Blick nach vorn. Das musste der Täter sein, daran bestand kein Zweifel. Wie Erla schon gesagt hatte, war die Aufnahme schlecht; auch als der Mann ins Licht trat, wurde es nicht besser. Doch selbst wenn die Aufnahme stechend scharf gewesen wäre, hätte man ihn nicht identifizieren können. Er trug einen weiten dunklen Anorak, und unter der Kapuze war eine Darth-Vader-Maske zu sehen. Er hatte eine dunkle Hose an, die Hosen­beine waren in schwarze Stiefel gestopft. Die Hände steckten in Handschuhen. Der Mann verschwand aus dem Bild, in dieselbe Richtung wie Stella kurz zuvor.

»Da haben wir’s also. Er hat sich hinter dieser dämlichen Figur versteckt und auf die Gelegenheit gewartet, das Mädchen überfallen zu können.« Erla stoppte das Video. Nur noch der Pappgeist war zu sehen. »Wir müssen uns die Aufnahmen von den Stunden davor ansehen, von dem Zeitpunkt an, als das Kino geöffnet wurde, und herausfinden, wie und wann der Täter reingekommen ist. Ich bezweifle, dass er das Kino mit Maske betreten hat.« Erla stand auf und wandte sich an ihr Team. »Das wird kein leichtes Spiel. Laut Kinobetreiber wurden gestern rund sechzehnhundert Tickets verkauft. Geöffnet wurde um zwei, wie jeden Sonntag. Wir haben keinerlei Anhaltspunkte, wann der Mann ins Kino gekommen ist. Vielleicht ist er schon gleich zur ersten Vorführung gekommen und hat sich die ganze Zeit dort versteckt. Möglicherweise nicht hinter dem Aufsteller, das müssen wir anhand der Videos herausfinden.«

Huldar und seine Kollegen verhielten sich möglichst unauffällig und beteten im Stillen, dass diese Aufgabe nicht ihnen zufiel. Für Erla mussten sie wie die eingefrorenen Tänzer beim Stopptanz aussehen. Sie verzog das Gesicht. »Und dann müssen wir uns die Ticketverkäufe ansehen. Wahrscheinlich gehen nicht viele allein ins Kino, daher könnte ein erster Schritt sein, sich eine Liste von allen Personen geben zu lassen, die ein einzelnes Ticket gekauft haben. Wenn wir wissen, wann er das Kino betreten hat, können wir die Liste möglicherweise auf diejenigen reduzieren, die um diese Zeit ein Ticket an der Kasse gekauft haben. Sofern mit Kreditkarte bezahlt wurde. Wenn er bar gezahlt hat, sieht die Sache anders aus.«

»Er könnte das Ticket aber auch online gekauft haben. Im Vorfeld.« Wie immer errötete Guðlaugur leicht, als er das sagte. Er saß neben Huldar, der bekräftigend nickte. Die beiden waren zu einer Art Team zusammengewachsen, saßen sich im Großraumbüro gegenüber und bekamen oft gemeinsame Aufgaben. Obwohl Huldar manchmal lieber mit jemand Erfahrenerem zusammenarbeiten würde, wusste er seinen jungen Kollegen inzwischen zu schätzen. Wenn sein geringes Selbstbewusstsein und die Schüchternheit ihn nicht ausbremsten, war er oft richtig clever. »Ich meine … Tickets werden nicht nur vor Ort verkauft. Du weißt schon … und das …«

Als er merkte, dass Guðlaugur ins Stocken geriet, übernahm Huldar. »Wenn der Täter online gekauft hat, kann er auch zwei Tickets genommen haben. Um den Verdacht von sich abzulenken. Es wird ihm bewusst gewesen sein, dass wir uns die Ticketverkäufe ansehen, und zwar vor allem die Einzelkäufe. Aber online müsste er immerhin per Karte bezahlt haben, das wäre natürlich von Vorteil für uns. Zumindest, sobald wir die Namen von einem oder mehreren möglichen Tätern haben.«

Erlas Gesichtszüge entspannten sich während dieser Wortmeldung nicht. Als sie wieder das Wort ergriff, richtete sie ihre Antwort an Guðlaugur, ohne Huldar auch nur eines Blickes zu würdigen. Das war nichts Neues, ihr Verhältnis war zweifellos belastet, seit man die beiden durch ein Ermittlungsverfahren gezerrt hatte, in dem untersucht worden war, ob sie ihn ­sexuell belästigt hatte. Obwohl die Sache ohne Folgen von offi­zieller Seite abgeschlossen worden war, hatte das Ganze einen bitteren Nachgeschmack bei den beiden hinterlassen. Sie tat so, als ob er Luft wäre, guckte ihn nicht an, sprach ihn nicht an. Ob sie Angst hatte, dass jeglicher Kontakt zwischen ihnen falsch interpretiert würde, oder ob sie ihn einfach nicht ertrug, wusste er nicht. Für ihn war jede einzelne Minute, in der er sich die lächerlichen Fragen hatte anhören müssen, der blanke Horror gewesen. Aber im Nachhinein hatte sich diese Folter vielleicht doch gelohnt. Zumindest war er froh, auf diese Weise auf einen Schlag alle möglichen Konsequenzen ihrer gemeinsamen Nacht los zu sein. Jetzt musste er ihr nicht mehr begreiflich machen, dass es ein Fehler gewesen war. Das hatte die Untersuchungskommission für ihn übernommen.

Erla guckte verbissen und verschränkte die Arme. »Natürlich gibt es auch Onlinetickets. Mit Einzeltickets meinte ich ­sowohl die Onlinetickets als auch die an der Kasse gekauften. Aber wenn der Täter kein Vollidiot ist, hat er das Ticket bar bezahlt. Davon sollten wir erst mal ausgehen, wobei wir natürlich auch die Onlineverkäufe checken. Zufrieden?« Erla fixierte Guðlaugur, der auf seinem Stuhl herumrutschte. Er hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Guðlaugur nickte. »Gut. Ansonsten hätte ich dir angeboten, meinen Job zu übernehmen.« Alle lachten, bis auf Guðlaugur und Huldar.

Erla verzog keine Miene. Per Fernbedienung wechselte sie zum nächsten Video und startete die Aufnahme. »Hier verlässt er das Gebäude. Wie ihr seht, ist es unwahrscheinlich, dass wir nach einem lebenden Opfer suchen.«

Auf dem Bildschirm erschien die Aufnahme einer weiteren Überwachungskamera. Sie war auf eine gläserne Flügeltür gerichtet, die Huldar als den Notausgang wiedererkannte, den vor allem Raucher wie er in der Pause nutzten. Der Blick des Kollegen, der die Aufnahmen bereits mit Erla durchgesehen hatte, verhieß nichts Gutes.

Der Schwarzgekleidete erschien im Bild, mit dem Rücken zur Kamera. Er hatte Stella am Knöchel gepackt und schleifte ihren reglosen Körper hinter sich her. Ihre Arme waren nach hinten gefallen, dazwischen schleiften die langen Haare über den Boden. Der Pulli war hochgerutscht; ihr nackter Bauch und ihr BH waren zu sehen. Als der Mann die Tür erreichte, ließ er ihr Bein fallen. Er wollte den schweren Stahlbügel anheben, der quer über beiden Türflügeln lag, doch dann zögerte er, warf einen Blick auf das Mädchen hinter sich.

»Krass!« Ein Polizist aus der ersten Reihe zeigte auf den Bildschirm. »Guckt da! Sie bewegt sich.«

Erla hielt das Video an und drehte sich um. Ihr Blick war von Beginn dieses Meetings an finster gewesen, doch jetzt verdüsterte er sich noch mehr. »Wir gehen davon aus, dass das Mädchen ein Geräusch gemacht hat – dass es zu sich gekommen ist. Wenn das nicht nur die letzten Todeszuckungen waren. Aber egal. Seht selbst.« Sie drehte sich wieder zum Bildschirm und ließ das Video weiterlaufen.

Stumm sahen sie sich an, wie der Mann zu dem Mädchen ging und es mit dem rechten Fuß anstieß. Der nackte Bauch zuckte leicht, wie im Krampf, und die Finger der einen Hand krümmten sich. Der Mann sah sich um. Dann ging er zielstrebig zu einem Feuerlöscher, nahm ihn von der Wand und trug ihn in Richtung des Mädchens.

»Oh, Shit …« Huldar schämte sich nicht dafür, dass ihm das rausgerutscht war. Obwohl es ihm widerstrebte, wandte er den Blick nicht ab. Aus dem Augenwinkel sah er Guðlaugur die Augen zusammenkneifen, doch er schloss sie nicht ganz. Der Mann riss den schweren Feuerlöscher in die Luft und schmetterte ihn mit voller Wucht auf den Kopf des Mädchens. Ein heftiger Krampf durchzuckte ihren Körper, doch nur kurz. Danach lag sie regungslos.

Der Mann öffnete die Tür und schnappte sich wieder den Fuß des Mädchens. Er zog sie zur Türöffnung, wo er sich die Zeit nahm, sich umzudrehen und in die Kamera zu winken. Dann verschwand er in den wirbelnden Schneeflocken, mit der Toten im Schlepptau.

Die Tür blieb offen stehen. Auf dem Boden hatte der blutende Kopf des Mädchens eine breite Spur hinterlassen.

– – –

Guðlaugur stand von seinem Computer auf und fuhr sich mit den Händen durch das blonde Haar. »Ich hole Kaffee. Willst du auch einen?« Er war immer noch ganz blass, was Huldar ihm nicht verdenken konnte. Mit so brutaler Gewalt kam auch er selbst nicht klar. Manch einer gewöhnte sich daran, andere nicht. Zu welcher Gruppe Guðlaugur gehörte, musste die Zeit zeigen.

»Ja, danke. Schwarz.« Dabei hatte er eigentlich überhaupt keine Lust auf Kaffee, sondern brauchte etwas Stärkeres.

Guðlaugur blieb regungslos stehen und machte keine Anstalten, den Kaffee zu holen. »Glaubst du, er hat sie gekannt, oder war das völlig willkürlich?«

»Wahrscheinlich hat er sie gekannt. Zumindest scheint er der Meinung gewesen zu sein, dass sie sich für irgendetwas entschuldigen sollte. Aber das muss nichts heißen. Vielleicht war sie an der Snackbar auch einfach nur unfreundlich zu ihm.« Huldar musste das nicht näher erläutern. Guðlaugur wusste genau so viel wie Huldar, hatte die widerlichen Snaps gesehen, die von Stellas Handy an ihre gesamte Snapchat-Freundesliste versandt worden waren. Diese Nachrichten hatte Erla ihnen im Anschluss an die Ausschnitte der Überwachungskamera-Videos gezeigt. Kurze Clips, in denen Stella immer verzweifelter um Entschuldigung bat, ohne dass klar wurde, wofür.

Im letzten Clip, den Huldar im Nachhinein lieber nicht gesehen hätte, sah man Stellas Kopf immer wieder auf die Kloschüssel knallen, die schwarze Hand des Täters in ihr Haar gekrallt. Zum Glück war die Bildqualität dieser Clips noch schlechter als die der Überwachungskamera-Videos, denn man hatte sie von einem kleinen Handydisplay abgefilmt. Da bei Snapchat nichts gespeichert wurde, mussten sie sich damit begnügen. Vorerst. Sie bemühten sich bereits, die Videos in voller Qualität direkt von Snapchat zu erhalten. Doch die geringe Auflösung machte das Weinen und die schrillen Schreie des Mädchens, die immer schwächer wurden und zuletzt ganz verstummten, kein bisschen erträglicher. Folglich war Huldar nicht scharf darauf, sich diese Szenen noch einmal in voller Qualität anzutun.

Er hatte nicht viel über den Instant-Messaging-Dienst Snapchat gewusst, als das Team an diesem Morgen in groben Zügen darüber aufgeklärt wurde. Wenn er es richtig verstanden hatte, konnten sich die Empfänger Snaps wie die, die der Mörder von Stellas Handy versandt hatte, nur zweimal ansehen. Wenn das alle Empfänger getan hatten, wurde das Video vom Unternehmensserver gelöscht. Damit verschwand die Nachricht, und es gab keine Möglichkeit mehr, sie wiederherzustellen. Unwiederbringlich gelöscht. Selbst wenn es um polizeiliche Ermittlungen ging oder die Sicherheit eines Landes gefährdet war. Es war das reinste Glück, dass die Nachrichten von Stellas Account auf so vielen Handys gelandet waren. Trotzdem hatten sie letzte Nacht schnell einige von Stellas Freundinnen auftun und herausfinden müssen, ob sie über Snapchat vernetzt waren. Sie hatten ihnen die Handys abgenommen, um sicherzustellen, dass einige der Empfänger die Snaps nicht öffneten, und zu verhindern, dass sie endgültig gelöscht wurden. Stellas Handy war noch nicht gefunden, man ging davon aus, dass der Täter es zerstört hatte und dann hatte verschwinden lassen. Er schien kein Idiot zu sein, daher war es unwahrscheinlich, dass er das Handy bei sich trug, geschweige denn dass er es einschaltete und sich orten ließ.

»Wie sich wohl ihr Freund gefühlt hat, als er sich das an­sehen musste?« Guðlaugur stand immer noch am selben Fleck, hatte den Kaffee offenbar vergessen.

»Schrecklich. Ich kann gut nachvollziehen, dass er unter Schock steht.« Der junge Mann war auf dem Weg gewesen, Stella abzuholen, als der erste Snap kam. Er hatte ihn sich an einer roten Ampel angesehen und nichts kapiert, ihn im ersten Moment für einen schlechten Witz gehalten. Dann kam ihm der Verdacht, dass sie fremdgegangen sein könnte und sich bei ihm entschuldigen wollte, auch wenn ihm schleierhaft war, weshalb sie das im Kino tat, noch dazu auf der Toilette.

Als der letzte Snap kam, wurde dem Jungen klar, dass es sich weder um einen Scherz handelte, noch dass sie ihn ­wegen eines Seitensprungs um Verzeihung bat. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich schon ganz in der Nähe des Kinos, doch anstatt sofort die Polizei anzurufen, raste er mit vollem Tempo dorthin und hämmerte wie ein Verrückter an die Glasscheiben des Haupteingangs. Wie man inzwischen rekonstruiert hatte, musste der Täter das Gebäude ungefähr um dieselbe Zeit durch den seitlichen Notausgang verlassen haben. Als der Junge schließlich in der Hoffnung, irgendwo anders in das Gebäude hineinzukommen, um das Haus lief, stieß er auf den offenen Notausgang, sah die Blutspur und wählte den Notruf.

Guðlaugur starrte aus dem Fenster. Dort war nichts zu sehen, der Himmel war grau. Der Schnee, den der Sturm gestern Abend über das Hauptstadtgebiet gefegt hatte, war inzwischen dreckig geworden, vom morgendlichen Verkehr in Matsche verwandelt. Guðlaugur sah Huldar an. »Was hat sie diesem Mann getan, dass er meint, sie hätte so etwas verdient?«

»Nichts. Nichts rechtfertigt so etwas. Sie war gerade erst sechzehn geworden.« Huldar hätte nichts antworten müssen. Guðlaugur wusste das genauso gut wie er. »Aber trotz allem lautet die Aufgabe des Tages, genau das herauszufinden. Je eher wir uns mit ihrem Leben und ihrer Persönlichkeit ausei­nandersetzen, desto eher stoßen wir vielleicht auf etwas, das den Mann zu einer solchen Brutalität getrieben hat.« Er zog die Maus zu sich heran, als wollte er sich an die Arbeit machen. Ihre Aufgabe war vielleicht nicht die spannendste, aber immer noch besser als andere. Huldar hätte sich zum Beispiel nicht darum gerissen, neben Erla zu sitzen und mit den Eltern des Mädchens zu sprechen. Er hatte sie mit Erla in den kleinen Besprechungsraum gehen sehen und den Anblick kaum ertragen. Nicht nur er hatte den Blick abgewendet. Die Eltern waren wie in Trance an den Polizisten vorbeigegangen, die sich auf einmal tief über ihre Arbeit beugten. Die Mutter trug den Laptop ihrer verstorbenen Tochter im Arm, drückte ihn an ihre Brust, als könnte er sie vor irgendetwas bewahren.

Jener Laptop lag jetzt auf Huldars Schreibtisch und wartete darauf, durchsucht zu werden. Er stach aus dem schwarzen Büro-Equipment deutlich heraus, weiß und mit Marienkäferbildchen verziert. Der Computer eines jungen Mädchens, fast noch ein Kind. Das Gespräch mit den Eltern musste die Hölle gewesen sein. Da das Mädchen noch nicht gefunden war, hegten sie sicher noch die Hoffnung, dass sie lebend wieder auftauchte. Dementsprechend hatte Erla ihnen beibringen müssen, dass ihre Tochter definitiv tot war. Sich ihren Laptop anzusehen mochte zwar unangenehm und bedrückend sein, aber er hätte nicht tauschen wollen. Um keinen Preis.

Aber es war auch nicht so, als legte Erla in irgendeiner Weise Wert auf seine Anwesenheit bei solchen Gesprächen. Der Gesprächspartner und dessen Worte waren entscheidend und verlangten volle Konzentration. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, parallel damit beschäftigt zu sein, einander nicht anzusehen, oder so zu tun, als wäre der andere nicht anwesend.

Huldar ließ den Blick durch den Raum schweifen, zu Erlas Büro, das einmal seins gewesen war und das er kaum vermisste. Sie stand vor der Glaswand, die Hände unter der Brust verschränkt, wie auch vorhin im Besprechungsraum. Für einen kurzen Moment sahen sie sich in die Augen, bis es ihnen bewusst wurde und sie den Blick fast gleichzeitig abwandten.

Guðlaugur hatte nichts mitbekommen. Er schien ebenso tief in Gedanken versunken zu sein wie Huldar, wenn er auch sicher nicht an Erla dachte. Schließlich seufzte er und schien endlich den Kaffee holen zu wollen. Bevor er losging, fragte er, ohne wirklich mit einer Antwort zu rechnen: »Aber warum zur Hölle hat er die Leiche mitgenommen? Das kapier ich einfach nicht.«

Da war er nicht der Einzige.

3. KAPITEL

»Was weißt du über pubertierende Mädchen?« Kein Hallo, ­guten Tag, wie geht’s; geschweige denn, dass er sich vernünftig meldete. Aber das war auch gar nicht nötig. Selbst wenn Freyja Huldar monatelang nicht gesehen oder von ihm gehört hätte – sie kannte seine Stimme besser, als ihr lieb war. War ja typisch: Von einem netten Anruf wurde sie nie überrascht.

»Hallo.« Kam gar nicht infrage, dass Freyja so tat, als befänden sie sich bereits mitten in einem Telefonat. Doch schlag­artig bereute sie es, nicht anders reagiert zu haben, dass sie nicht die Stimme verstellt und vorgegeben hatte, jemand anders zu sein. Freyja hatte den nächsten Monat frei und würde im Ausland sein. Ein Anruf von Huldar konnte nur Aufregung und Chaos bedeuten. Das hatte sie inzwischen zu oft erlebt.

»Ja. Hi. Sorry. Hier ist Huldar.« Er schwieg, und als sie nichts sagte, fügte er hinzu: »Ich wollte fragen, ob du mich wohl ein wenig unterstützen könntest. Wir arbeiten an einem Fall, der ein junges Mädchen betrifft, und ich wollte kurz etwas mit dir besprechen.«

Freyja ahnte, um was es ging, und ihre Neugier war geweckt. Ihr eigentlicher Plan, das Gespräch sofort zu beenden, trat in den Hintergrund. Seit dem Mittag kursierten Meldungen zu schwerer Körperverletzung und einem Mädchen, das am Abend zuvor aus dem Kino, in dem sie arbeitete, verschwunden war. Normalerweise sorgte die Polizei dafür, dass solche Nachrichten nicht in Umlauf kamen. Doch diesmal schienen die wichtigsten Informanten der Medien Freunde und Klassenkameraden des Mädchens zu sein, die Nachrichten mit kurzen Videosequenzen von diesem Überfall empfangen hatten.

Der Inhalt der Videos wurde zurückhaltend beschrieben, doch zwischen den Zeilen klang es so, als seien diese Clips nichts für schwache Nerven. Zumindest die jungen Gesprächspartner der Journalisten waren geschockt. Wie wahrscheinlich alle Isländer wollte Freyja mehr darüber erfahren. Nicht aus Sensationslust, sondern weil sie das Schicksal des Mädchens erfahren und eine Erklärung dafür haben wollte, was in dem Angreifer vorgegangen war. Was natürlich blauäugig war, denn Gewalt gegenüber einem so jungen Mädchen würde sich nie erklären oder rechtfertigen lassen. »Hat das mit dem Mädchen zu tun, das angegriffen wurde?« Näher musste sie das nicht ­erläutern.

»Ja.« Sie hörte, wie Huldar tief Luft holte. »Ich muss sicher nicht betonen, wie dringend wir diese Sache aufklären müssen. Kannst du heute ins Kommissariat kommen? Am besten sofort?«

Freyja brachte es nicht über sich, sofort zuzusagen, obwohl für sie schon feststand, dass sie helfen würde. Auf dem kleinen, schäbigen Küchentisch lagen Lehrbücher und unzählige Blätter mit misslungenen Versuchen, eine Rechenaufgabe zu lösen, die sie am nächsten Tag abgeben musste. Schon lange vor Huldars Anruf war ihr klar geworden, dass selbst wenn sie noch tausendmal nachrechnete, das Ergebnis immer dasselbe bleiben würde: eine Suppe aus Zahlen und Zeichen, die einfach nichts miteinander zu tun haben wollten. Der Entschluss, ihren Job beim Kinderhaus auf eine halbe Stelle zu reduzieren und sich parallel an der Uni in BWL einzuschreiben, erwies sich als Fehler. Das Studium hatte ihr weder aus der Existenzkrise geholfen noch ihr Leben auf irgendeine Weise bereichert. Wenn überhaupt, war alles nur noch schlimmer geworden. »Ich habe heute frei.«

»Ich weiß. Ich habe beim Jugendamt angerufen, um dich auszuborgen, und die haben mich ans Kinderhaus verwiesen. Die Leiterin meinte, du seist zu Hause, aber ich solle ruhig trotzdem anrufen. Du bekämst dann ein andermal frei.«

»Bitte?« Freyja glaubte, falsch gehört zu haben. Es hatte nicht gerade für Begeisterung gesorgt, als sie um weniger Arbeitsstunden gebeten hatte. Seitdem hatte man es ihr alles andere als leicht gemacht, Job und Studium zu vereinbaren. »Das hat sie gesagt?«

»Ja. Nachdem sie mir diverse andere Psychologen genannt hat, die ich aber nicht wollte. Ich will nur dich.« Schnell fügte er hinzu: »Für diesen Fall, meinte ich.«

Freyja rang mit widerstreitenden Gefühlen. Einerseits fand sie es gut, dass Huldar ihrer Chefin so klar sagte, dass er sie gegenüber ihren Kollegen bevorzugte, keine Frage. Aber gleichzeitig nervte es sie, dass er offenbar immer noch nicht von ihr abließ, obwohl die Erfahrung ihnen bereits mehr als deutlich gemacht hatte, dass aus ihnen beiden nichts werden würde. Sie hatten sich in einer Kneipe kennengelernt, miteinander geschlafen, und alles war perfekt gewesen, bis er es dadurch vermasselt hatte, dass er sich früh am Morgen verdrückt hatte. An dieser Stelle hätte das zwischen ihnen beendet sein müssen. Doch so leicht sollte es für Freyja nicht werden, denn über Huldars Arbeit bei der Polizei und ihre beim Kinderhaus hatten sich ihre Wege wieder gekreuzt. Zuerst war das nur unangenehm gewesen, doch bald schon war es richtig ärgerlich geworden. Dieser Mann hatte etwas Unerträgliches an sich. Zum Beispiel gab er vor, sehr an einer Erneuerung ihrer Bekanntschaft interessiert zu sein, konnte aber gleichzeitig der Versuchung nicht widerstehen, mit anderen Frauen zu schlafen, wenn Freyja sich nicht sofort vor ihm auf den Boden warf und sich die Kleider vom Leib riss.

Huldar war ein Mängelexemplar. Punkt. Dumm nur, wie attraktiv seine kaputte, männliche Art auf sie wirkte und wie gut er im Bett war. Aber das reichte einfach nicht. Huldar war die falsche Person im richtigen Körper. Leider.

Doch in diesem Moment war er trotz allem die verheißungsvollere Wahl als die Rechenaufgabe. »Was müsste ich denn tun, wenn ich käme?«

»Mit ein paar Mädchen sprechen, die das Opfer kannten. Die Schule hält es für besser, dass sie herkommen, als dass wir dorthin fahren. Das könnte falsch interpretiert werden, denn die Schüler wissen alle von ihrem Verschwinden, man weiß nicht, wie sie das deuten würden. Die Eltern sind damit einverstanden, unter der Bedingung, dass ein Vertreter des Jugend­amts anwesend ist und sicherstellt, dass wir nicht über die Stränge schlagen. Was ohnehin nicht passieren wird, weil sie nicht unter Verdacht stehen. Das ist in erster Linie eine Formalität, aber man weiß ja nie. Ich würde mich besser fühlen, wenn jemand bei mir wäre, der sich mit solchen Mädchen besser auskennt als ich. Ich weiß noch nicht einmal, ob für Teenager dasselbe gilt wie für Kinder, ob sich die Formulierung der Fragen auf die Antworten auswirkt. Das darf auf keinen Fall passieren. Je früher wir ein Gesamtbild von Stellas Leben haben, desto besser. Wir gehen davon aus, dass der Täter sie gekannt hat.«

»Warum sprichst du in der Vergangenheit von ihr? Wurde sie gefunden? Tot?«

»Nein, wir haben sie noch nicht gefunden.«

Freyja bemerkte, dass er ihre letzte Frage nicht beantwortete. Das verhieß nichts Gutes. »In einer halben Stunde kann ich da sein.« In dem Moment, in dem sie das sagte, fiel ihr Blick auf Hündin Mollý, die in der Küche lag und wie immer ihre Futterschale bewachte. Falls es absurderweise tatsächlich mal jemand auf ihr Fressen abgesehen haben sollte, war klar, wie dieser Konflikt ausgehen würde, denn die Hündin war groß und furchteinflößend. Wenn Freyja mit ihr Gassi ging, sah sie regelmäßig die Besitzer kleinerer Hunde miteinander plaudern, während sie dazu verurteilt war, allein zu gehen. Die meisten, die sie mit Mollý kommen sahen, wechselten auf die andere Straßenseite. Aber diese abschreckende Wirkung war ganz nach dem Geschmack ihres richtigen Herrchens, Freyjas Bruder Baldur, für den sie auf die Hündin aufpasste, solange er im Gefängnis saß. Dieser Hund gehörte zu den zahlreichen Abstrichen, die sie machen musste, solange sie in seiner Wohnung wohnte, diesem erbärmlichen Loch. Aber die Vorteile überwogen nun mal. Der größte war, dass sie ein Dach über dem Kopf hatte und nicht auf einer Parkbank schlafen musste. Aber wenn Baldur aus dem Gefängnis freikam, musste sie sich eine eigene Bleibe suchen. Zum Glück hatte sie noch ein paar Monate, um dieses Problem zu lösen.

Die Hündin schloss langsam die Augen und drehte sich beleidigt von ihr weg. Wahrscheinlich hatte sie aus Freyjas Tonfall geschlossen, dass aus dem ersehnten Spaziergang doch nichts würde. Freyja bekam mal wieder ein schlechtes Gewissen. Sie hatte immer das Gefühl, sich nicht genug um das Tier zu kümmern. Dass sie häufiger mit ihr rausgehen und ihr besseres Futter geben müsste. Eine sicher gängige Begleiterscheinung der Hundebesitzerliebe. Auch wenn man Freyjas Beziehung zu Mollý nicht wirklich als innig bezeichnen konnte, war die Hündin ihr nicht egal. »Ach nein. Ich schaffe es doch erst in einer Stunde. Reicht das?«

– – –

Die jungen Mädchen wirkten auf dem Kommissariat völlig fehl am Platz. Sie waren zu fünft und sahen alle gleich aus, sodass Freyja Schwierigkeiten hatte, sie auseinanderzuhalten. Langes blondes Haar, weit aufgerissene blaue Augen, die Wimpern mit Mascara eingekleistert und die Augenbrauen unnatürlich schwarz. Und um es noch schwieriger zu machen, schienen sie sich auch noch in Sachen Kleiderwahl abgesprochen zu haben: dunkle, knallenge Jeans, weiße Turnschuhe und kurze Anoraks, alle in genau derselben Farbe. Ihre Hände hatten sie in den Jackentaschen vergraben, und zur Krönung hingen auch noch ähnlich lange Schals über ihren Schultern. Ihre Körper waren noch fast die von Kindern, die Hüften noch kaum zu sehen. Dies würde das letzte Jahr sein, in dem sie gerade noch als Kinder durchgingen und in dem sie sich so einheitlich stylten. Im Herbst würden sie auf die weiterführende Schule kommen und jede ihren eigenen Geschmack entwickeln. Dieser Entwicklungsschritt blieb Stella vorenthalten, wenn es stimmte, was Huldar über ihr Schicksal gesagt hatte. In der Erinnerung ihrer Eltern und Freunde zum ewigen ­Teenie verurteilt.

Freyja war nach ihrer Ankunft kurz auf den aktuellen Stand gebracht worden. Was nicht viel mehr war als das, was sie bereits aus dem Internet wusste, abgesehen davon, dass Stella tot war und der Täter ihre Leiche aus dem Kino geschleift hatte. Huldar hatte sie gebeten, diese Informationen für sich zu behalten. Ein Kopfnicken ihrerseits hatte genügt. Sie hatten schon früher unter ähnlichen Umständen zusammengearbeitet, und Huldar wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte.

»Na schön«, sagte Huldar, als Freyja und Guðlaugur, sein junger Kollege, rechts und links von ihm Platz genommen hatten, gegenüber der fünf Mädchen, die in einer Reihe an der anderen Seite des Konferenztischs saßen. Sie hatten ihre Stühle so nah wie möglich aneinandergerückt und sahen aus, als würden sie einander am liebsten auf den Schoß klettern.

Freyja lugte zu Huldar rüber. Er sah gut aus, deutlich ­besser als bei ihrer letzten Begegnung. Die Augenringe waren fast verschwunden, er war rasiert, und die Haare wirkten frisch geschnitten. Und er schien gut in Form zu sein. Zu dumm, dass er so ein Idiot war. Insgeheim war Freyja trotzdem froh, dass sie sich nach dem Spaziergang mit Mollý noch kurz zurechtgemacht hatte. Sie hätte es nicht ertragen, neben ihm zu sitzen und zu wissen, dass er besser aussah als sie. Aber so waren sie gleichauf.

»Habt ihr alle an dem Abend, als Stella angegriffen wurde, die Snaps von ihrem Handy erhalten?«

Drei nickten, eine sagte Ja, und eine andere hob die Hand. Letztere ließ sie schnell wieder sinken, als sie merkte, dass sie die Einzige war.

»Also alle.« Huldar schob Schreibblock und Stift zu Guðlaugur. »Könntest du bitte mitschreiben?« Guðlaugur nickte und kritzelte etwas aufs Papier. Huldar wandte sich wieder den Mädchen zu. »Wer von euch hat sie sich angesehen?«

Diesmal antworteten die Mädchen zögerlich. Sie warfen sich Blicke zu, entweder weil sie nicht als Erste antworten wollten, oder um sich nonverbal auf eine gemeinsame Antwort zu einigen.

»Es wäre gut, wenn ihr mit mir sprechen würdet. Habt ihr euch die Snaps angesehen?« Huldar beugte sich vor und lächelte matt.

Das Mädchen in der Mitte antwortete als Erste. »Ja. Ich.« Auch wenn sie sich dadurch als die Mutigste erwiesen hatte, war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Fast als würde sie zugeben, sich einen Porno angesehen zu haben.

Huldar tat, als wenn nichts wäre, sah die Mädchen an und fragte noch mal: »Und ihr anderen? Ja oder nein.«

Eine nach der anderen murmelte ein Ja. Dann meldete sich das erste Mädchen wieder zu Wort. »Ich wusste ja nicht, was das war. Stella hat oft was gesnappt. Wenn ich gewusst hätte, was das ist, hätte ich es mir nicht angesehen.«

»Dann hast du dir also nur das erste Video angesehen?« Freyja wusste die Antwort schon, genau wie Huldar und Guðlaugur. Vor dem Gespräch hatte man ihr gesagt, dass alle fünf sich alle Snaps angesehen hatten. Da sie Stellas engste Freundinnen waren, hatte man auf der Suche nach ungeöffneten Snaps als Erstes sie kontaktiert. Vergeblich, da diejenige, die die Nachrichten zuerst entdeckt hatte, sofort die anderen angerufen und die es sich auch angesehen hatten.

»Nein. Ja. Ich meine … Nein.« Sie senkte den Blick und starrte auf die Tischplatte. »Ich habe alle gesehen. Zuerst habe ich das für einen Scherz gehalten und darauf gewartet, dass am Ende noch was Lustiges kommt. Aber als ich gemerkt habe, dass es ernst ist, konnte ich nicht aufhören. Ich wollte wissen, was passiert.«

»Und ihr? Dieselbe Geschichte?«

Die anderen vier nickten. Sie blickten zum Mädchen in der Mitte, die Freyja für ihre Anführerin hielt. Dass sie in dieser Rolle so unsicher war, deutete Freyja als Zeichen dafür, dass bis jetzt Stella diesen Posten innegehabt hatte. Wahrscheinlich waren Stella und sie sogar beste Freundinnen gewesen, daher gingen die anderen davon aus, dass sie nun Stellas Platz einnahm.

»Ihr habt nichts falsch gemacht«, sagte Huldar und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ihr seid nicht hier, weil ihr euch diese Videos angesehen habt. Wir haben euch hergebeten, weil wir hoffen, dass ihr uns helfen könnt, denjenigen zu finden, der sie aufgenommen und eurer Freundin wehgetan hat. Versteht ihr?«

Wieder nickten sie synchron, und Huldar fuhr fort: »Fällt euch irgendwer ein, der Stella Böses gewollt haben könnte?« Jetzt schüttelten sie die Köpfe. »Ganz sicher? Kein Liebhaber, von dem niemand wissen durfte? Vielleicht deutlich älter?«

»Sie hat einen Freund. Der ist älter. Hat ’nen Führerschein und so.« Wieder hatte das Mädchen in der Mitte das Wort für die Gruppe ergriffen. Die anderen nickten.

»Meinst du Hörður? Hörður Kristófersson?«

»Ich weiß nicht. Sie hat ihn immer nur Höddi genannt. Sie hat ihn mir noch nicht vorgestellt, ich kenne ihn nur von einem Foto. Und da war er auch nur halb drauf.« Das Mädchen verzog leicht das Gesicht. »Stella meinte, er will nicht foto­grafiert werden. Schon ein bisschen komisch.« Auf einmal riss sie die Augen auf. »War er das etwa?«

»Nein. Dieser Höddi steht nicht unter Verdacht. Aber gab es vielleicht noch wen anders, jemand älteren als ihn? Sie muss nicht unbedingt mit ihm zusammen gewesen sein, vielleicht haben sie sich nur irgendwoher gekannt. Vielleicht hat ihr ­jemand Nachrichten geschickt oder so?«

Wieder schüttelten sie die Köpfe.

»Hätte Stella euch das gesagt?«

Die Mädchen zögerten, warfen sich verstohlene Blicke zu oder starrten vor sich hin.

»Ja oder nein? War keine von euch ihre beste Freundin?«

»Doch. Ich.« Das Mädchen in der Mitte richtete sich auf. Freyja war zufrieden, dass ihre Vermutung sich bestätigte. »Aber sie hat nie etwas in der Art erwähnt. Wir passen alle auf, dass wir auf Facebook und so keine alten Kerle als Freunde haben. Die sind alle pervers. Das wusste Stella auch. Wenn irgendeiner hinter ihr her gewesen wäre, hätte sie mir das gesagt. Hundertpro.«

»Bist du dir da ganz sicher? Sie hat dir nicht ihren Freund vorgestellt. Kann es nicht sein, dass sie dir noch andere Dinge vorenthalten hat?« Huldars Stimme klang kalt.

Das Mädchen funkelte ihn an, und eine erwachsene Ausgabe ihres Gesichts schimmerte durch. »Sie hatte vor, mir ihren Freund vorzustellen. Es war einfach nur zu viel zu tun. Sie hat ständig gearbeitet. Im Kino.«

»Na schön.« Huldar lächelte. »Ich habe mir Stellas Computer angesehen.« Die Augen der Mädchen schienen fast aus den Höhlen zu springen. Sie hielten den Atem an. Das Mädchen in der Mitte guckte nicht mehr verärgert, sondern entsetzt. Für den Fall, dass Huldar die Veränderung entgangen sein sollte, tippte Freyja ihm unterm Tisch ans Bein. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass er nicht so gut darin war, die Gefühle anderer zu lesen. »Und was meint ihr, was ich da gefunden habe?«

Die Mädchen starrten ihn mit großen Augen an; keine sagte etwas. Wieder lächelte Huldar. »Nichts.« Die angespannten Schultern der Mädchen sanken. Huldar sprach weiter. »Jedenfalls nichts Spannendes. Halb fertige Aufsätze und Schularbeiten. Einen Haufen Fotos, die meisten von ihr selbst. Kinofilme, die sie illegal runtergeladen hat, Musik und so weiter. Macht ihr das auch?«

Die Mädchen erröteten leicht, doch eine nach der anderen murmelte ein Nein.

»Gut.« Huldar blickte die Mädchen an. »Aber so, wie ihr ­reagiert habt, muss ich mir den Laptop noch einmal genauer ansehen. Ich habe das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Wollt ihr mir vielleicht einen Hinweis geben, wonach ich ­suchen sollte? Oder es mir auch einfach direkt sagen?«

Die Mädchen schwiegen erschrocken. Huldar schien davon auszugehen, dass sie ihm nichts verraten würden, und schlug einen anderen Kurs ein. Er stellte ihnen alle möglichen Fragen zu Stella, was für ein Mensch sie sei, was ihr Spaß mache und was nicht, womit sie sich nach der Schule die Zeit vertreibe, nach weiteren Freundinnen, Freunden und Bekannten. Ganz allmählich wurden die Mädchen etwas gesprächiger.

Doch es kam dabei nichts wirklich Interessantes heraus. Stella schien ein recht farbloses, aber beliebtes Mädchen gewesen zu sein, das sich für Popmusik, berühmte Leute, Jungs, Schminke und Mode interessierte. Je mehr ihre Freundinnen erzählten, desto stärker wurde Freyjas Eindruck, dass sie recht eindimensional gewesen war. Aber vielleicht war dieser Gedanke auch ungerecht, möglicherweise hätte sich das Mädchen im Laufe der Zeit noch weiterentwickelt und bedeutsamere Interessensfelder für sich entdeckt.

Als sich die Beschreibungen der Mädchen zu wiederholen begannen, kam Huldar auf das letzte Wochenende zu sprechen und fragte, wann sie Stella zuletzt gesehen oder gehört hätten. Wie sich herausstellte, hatte keine von ihnen sie gesehen, seit sie am Freitag nach der Schule auseinandergegangen waren. Das Mädchen in der Mitte hatte mit ihr telefoniert und über die sozialen Netzwerke mit ihr kommuniziert, doch Stella hatte nichts mit ihr unternehmen wollen, da sie am Freitagabend, am Samstag und von Sonntagnachmittag bis abends im Kino arbeiten musste. Außerdem sei sie mit ihren Haaren unzufrieden gewesen und wollte deshalb am Samstagabend nicht ausgehen. Auch hier kam nichts heraus, das die Ermittler auf die richtige Spur zu bringen schien.

Nach ungefähr einer Stunde beendete Huldar das ­Gespräch. Die Mädchen wirkten erleichtert. Sie zogen die Reißverschlüsse ihrer Jacken hoch, ließen die Hände wieder in den ­Taschen verschwinden und brachen schnell auf. Huldar, Guðlaugur und Freyja beobachteten durch ein Fenster, wie sie das Kommissariat verließen. Draußen blieben sie im Kreis stehen und unterhielten sich aufgeregt. Sie sahen sich um, eine blickte am Gebäude hinauf, und während Freyja und Guðlaugur einen Schritt zurücktraten, rührte Huldar sich nicht, sondern winkte ihr zu und lächelte kalt.

Dann wandte er sich an Freyja und Guðlaugur. »Und, was sagt ihr? Was verbergen sie?«

Freyja schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Vielleicht einen älteren Freund. Vielleicht hat Stella sich prostituiert, diese Möglichkeit solltet ihr im Hinterkopf haben. So etwas kommt vor, wie ich euch sicher nicht erklären muss. Der Reaktion der Mädchen nach muss es auf jeden Fall etwas Schlimmes sein. Aber vielleicht empfinden sie das auch nur so, obwohl es unter den gegebenen Umständen vergleichsweise harmlos ist. Aber mich hat etwas anderes überrascht.«

»Was?« Huldar sah sie fragend an.

»Es ist keinen Tag her, seit sie erfahren haben, dass ihrer Freundin etwas Schlimmes zugestoßen ist. Aber keiner dieser sogenannten Freundinnen ist anzusehen, dass sie geweint hat. Keine Spur von roten Augen, geschwollenen Lidern oder ­fleckigen Wangen.«

4. KAPITEL

Freyja leerte die Tasse in einem Zug. Danach ging es ihr etwas besser. Sie hatte schon besseren Kaffee getrunken, aber auch noch schlechteren. Die Bedienung war wie ein Kind, das sich vergeblich bemüht hatte, den Milchschaum mit einem Laubblatt zu verzieren. Das Ergebnis ähnelte am ehesten noch einem nadellosen Tannenbaumzweig. Freyja war kein Stammgast in diesem Café, sie war einfach in das erstbeste hineingestürmt, nachdem sie das Kommissariat verlassen hatte, nach etwas Erbaulichem lechzend. Huldar hatte ihr nach dem Gespräch mit den Mädchen die Videos von Stellas Handy und die Mitschnitte der Überwachungskameras gezeigt, die ihr richtig an die Nieren gegangen waren. Danach wusste sie, warum Huldar in der Vergangenheit von Stella sprach. Doch sie hatte Huldar weder einen Einblick in die Gedanken des Mannes gegeben, noch irgendetwas aus seinen Handlungen herauslesen können, wie Huldar gehofft hatte. Außer dass die Polizei es mit einem gestörten Gewalttäter zu tun hatte. Das stand außer Frage und schien auch Huldar klar zu sein.

Und als wäre das alles nicht schon genug, musste sie auf dem Weg nach draußen auch noch Erla über den Weg laufen. Der Blick, den sie ihr zuwarf, hätte die meisten wohl dazu gebracht, den Schritt zu beschleunigen. Freyja hingegen ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen, sondern grüßte lässig. Nicht aus Nettigkeit, sondern um Erla zu ärgern. Und das wirkte. Erla lief rot an, und sobald Freyja an ihr vorbei war, hörte sie sie gereizt nach Huldar rufen, in dessen Haut sie jetzt definitiv nicht stecken wollte. Schon allein diese kurze ­Begegnung hinterließ einen bitteren Geschmack bei Freyja. Obwohl diesmal sie als Siegerin aus diesem dämlichen Wettstreit hervorgegangen war, der sich irgendwie zwischen ihnen entwickelt hatte. Erla hatte sie von Anfang an nicht leiden können, und Freyja hatte dieses Gefühl bald gespiegelt. Diese Frau regte Freyja ­jedes Mal auf. Dasselbe galt für Huldar, auch wenn Freyja ihn noch deutlich besser ertragen konnte. Schon merkwürdig, dass die beiden Menschen, die Freyja am meisten verunsicherten, am selben Ort arbeiteten. Im Nachhinein hatte es vielleicht so kommen müssen, dass die beiden zusammen im Bett gelandet waren. Was für ein Nachwuchs wohl aus dieser Mischung entstehen würde …

Aber Freyjas Verlangen nach einem Kaffee lag nicht nur an Erla und den abstoßenden Videos. Das Gespräch mit den jungen Mädchen hatte alte Geister in ihrem Kopf geweckt. Sie guckte in die Tasse, die so gut wie leer war. Doch indem sie den Kopf in den Nacken legte, rang sie ihr noch ein paar letzte Tropfen ab. Der Geschmack von Kaffee auf der Zunge, der ihr Erwachsenenleben prägte, verschaffte ihr beinahe ein wohliges Gefühl. Sie war ein erwachsener Mensch, der sein Leben selbst steuerte, und auch wenn nicht alles klappen wollte, hatte sie zumindest ihre Kindheit und Jugend hinter sich gelassen.

Es klackerte auf der Untertasse, als sie die endgültig leere Tasse schwungvoll abstellte. Am liebsten würde sie nie wieder an die Vergangenheit denken. Das brachte nichts, genauso wenig, wie körperliche Verletzungen immer wieder zu durchleben. Ihre und Baldurs Kindheit, an die sie außer der geschwisterlichen Beziehung kaum schöne Erinnerungen hatte, war anders verlaufen als die vieler anderer Kinder. Die Jahre bei ihren strenggläubigen Großeltern mütterlicherseits waren hart, die Verhältnisse sehr einfach gewesen, aber das war nicht das Hauptproblem, sondern vielmehr ihre dogmatische Auffassung von Erziehung. Die Gebote und Verbote in diesem Haus waren dieselben, denen sich schon Moses’ Kinder beugen mussten. In Kutte und Sandalen musste sie zwar nicht herum­laufen, aber im Vergleich zur Kleidung der anderen Kinder waren ihre Sachen bieder und altmodisch. Sogar die Pausenbrote waren anders.

Dadurch gehörte sie nie dazu, hatte sie nicht, was andere hatten, und durfte nicht, was andere durften. Dementsprechend schwer fiel es ihr, sich in die Gedankengänge von Stellas Freundinnen einzufühlen. Andererseits hatte sie viele solcher Cliquen von außen beobachtet. Sie wusste, wie sie aufgebaut waren, und konnte leicht identifizieren, wer die Anführerin und wer ihre beste Freundin war und wer kurz davorstand, aus der Clique ausgeschlossen zu werden. Nämlich diejenige, die ständig Angst hatte, etwas Falsches zu sagen oder zu tun und dafür von der Klippe gestoßen zu werden. Und dann gab es noch die Lückenfüllerin, die an der richtigen Stelle lachte und die Anführerin bei jeder Gelegenheit in den Himmel lobte.

Doch das half nicht dabei, herauszufinden, was Stellas Freundinnen geheim halten wollten.

Der Kellner im Café nahm die leere Tasse und fragte, ob sie noch mehr Kaffee wolle. Obwohl Freyja locker noch mehr hätte trinken können, lehnte sie dankend ab und bat um die Rechnung.

Das Café war gut besucht, nur ganz hinten hatte sie noch einen Platz gefunden. Als sie sich nun zwischen den ­Tischen hindurch zum Ausgang schlängelte, fiel ihr auf, dass alle ande­­ren Gäste ausländische Touristen waren. Auf allen ­Tischen lagen Landkarten oder Reiseführer, an den meisten Stuhl­rücken hingen Rucksäcke, und die Leute waren besser fürs isländische Wetter gerüstet als jeder Isländer. Unwillkürlich ging sie schneller – nicht, dass noch jemand auf die Idee kam, sie nach Land und Leuten zu befragen, oder sie zu bitten, ein Foto zu machen. Oder gar ein Huh von ihr hören wollte.

Der Himmel war noch genauso grau wie vorher, aber sie hatte auch nicht lange im Café gesessen. Sie schlang ihren Mantel fester um sich und wünschte sich so einen Schal wie die Mädchen. Den bräuchte sie nicht nur auf dem Weg bis zum Auto, sondern auch in der Schrottkiste. Die Heizung war mal wieder kaputt, und da sie das Teil schon zweimal hatte repa­rieren lassen, hielt sie weitere Versuche für reine Geldverschwendung. Aller guten Dinge sind drei – dieser Spruch hatte ihr noch nie einleuchten wollen. Etwas, das zweimal missglückt war, würde sehr wahrscheinlich auch beim dritten Mal nicht gelingen.

Auf dem Weg zum Auto klingelte Freyjas Handy. Es war die Leiterin des Kinderhauses, die ihr verkündete, es sei nun geregelt, dass sie in den nächsten Tagen die Polizei unterstütze. Freyja musste stehen bleiben, so verdattert war sie. Sie müsse diese Woche nicht ins Kinderhaus kommen. Eiliges sei bereits an einen Kollegen übergeben worden. Man gehe davon aus, dass die Polizei sie nur bis zum Wochenende brauche, in der nächsten Woche solle sie wieder normal zur Arbeit kommen. Die Polizei brauche bei den Gesprächen mit den jungen Leuten im Rahmen der Ermittlungen zu dem verschwundenen Mädchen einen Kinderpsychologen oder eine -psychologin an ihrer Seite. Außer ihr käme dafür niemand infrage, da sie bereits einem dieser Gespräche beigewohnt habe. Außerdem wolle man nicht noch weitere Personen in die sensiblen Informationen bezüglich dieses Falls einweihen. So ein Quatsch, fand Freyja, das musste auf Huldars Mist gewachsen sein. Doch ihr Protest zeigte keinen Erfolg; von Hausaufgaben und Seminaren ließ sich die Chefin nicht erweichen. Mit dem Ergebnis, dass Freyja bis zum Wochenende in nicht näher definiertem Umfang für die Polizei parat stehen musste.

Doch bis Freyja das Auto erreichte, war die größte Wut schon wieder verflogen. Alles in allem war das gar nicht so schlecht. Sie konnte ja mit dem Handy auf dem Tisch im Seminar sitzen und schnell gehen, wenn sie gebraucht wurde. Und zwischen ihren Einsätzen konnte sie sich um die Rechenaufgaben kümmern. Das war im Kinderhaus unmöglich, dort verlangte die Arbeit ihre volle Aufmerksamkeit. Vielleicht konnte sie so in Sachen Studium sogar noch die Kurve kriegen. Ein Anfang wäre, nach Hause zu fahren, sich in die Aufgaben zu vertiefen und vielleicht doch noch irgendeine Logik in dem Zahlensalat zu erkennen.

Doch Freyja hatte diesen Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, als ihr schöner Plan auch schon zerschlagen wurde. Wieder klingelte ihr Handy, und Huldar sprudelte los, ob sie noch in der Nähe sei, sie werde wieder gebraucht. Es gelang ihm kaum, seine Freude darüber zu verbergen.

– – –

Die letzte Reihe der Aula war dicht besetzt, als befürchteten die Schüler, dass von der Bühne ein Flammenwerfer auf sie gerichtet würde. In dieser Hinsicht schien sich nicht viel geändert zu haben, seit der Zeit, als Freyja in ihrem Alter gewesen war. Die besten Plätze waren am weitesten von den Erwachsenen entfernt, ganz hinten im Klassenraum, in der Aula, im Bus. Vorne saßen nur vereinzelte Leute, hauptsächlich Erwachsene, wahrscheinlich Lehrer. Dazwischen vier Schüler, die aussahen, als wären sie am liebsten unsichtbar. Zwei Jungen, der eine richtig dick und der andere so mickrig, dass man meinen konnte, er habe sich aus den untersten Jahrgängen dorthin verirrt. Die beiden Mädchen waren völlig unscheinbar, hatten sich das braune Haar zu Pferdeschwänzen gebunden und ließen die Schultern hängen, als hätten sie gerade in einem Finale ein Eigentor geschossen. Alle vier starrten vor sich auf den Boden und schienen kaum Luft zu holen. Freyja kannte diese Körperhaltung; sie selbst hatte sich erst auf dem Gymnasium eine aufrechte Haltung angewöhnt. Wahrscheinlich musste sie dankbar dafür sein, dass sie nicht ihr ganzes Leben zum Krummsein verurteilt war.

Huldar lehnte sich zu ihr und flüsterte: »Beobachte du die Schüler. Tipp mich an, wenn dir irgendetwas auffällt. Dann versuchen wir hinterher, mit den entsprechenden Personen zu reden.«

Freyja nickte und ließ den Blick noch einmal über die Schüler schweifen. Sie, Huldar und Guðlaugur standen etwas abseits. Während sie unter Touristen Kaffee getrunken hatte, hatten die beiden Männer ihre Uniformen angelegt, wahrscheinlich um den Kindern den Ernst der Sache bewusst zu machen. Und tatsächlich schien ihnen nicht entgangen zu sein, dass die Polizei vor Ort war. Als die drei die Aula betreten hatten, waren alle Augen auf Huldar und Guðlaugur gerichtet. Den Gesichtern nach schien ihre Anwesenheit in erster Linie Erstaunen auszulösen. Niemand wich zurück oder wandte ­panisch den Blick ab. Aber es war auch nicht davon auszugehen, dass sich der Täter unter ihnen befand. Den Aufnahmen aus dem Kino nach musste es sich um einen erwachsenen Mann handeln, und nicht um einen schlaksigen, dürren Teenager.

Auf der Bühne klopfte die Direktorin ans Mikro und begrüßte die Anwesenden. Es quietschte laut, als sie sprach, sodass ihre ersten Sätze kaum zu verstehen waren. Erst als sie sich ein wenig vom Mikro entfernte, hörte das Jaulen auf. Sie fing noch einmal von vorne an. Mit ernster Stimme verkündete sie, was bereits alle wussten, nämlich dass sie hier seien, um darüber zu reden, was Stella zugestoßen war. Sie bedankte sich dafür, dass die Anwesenden außerhalb der Unterrichtszeit gekommen waren, und dem Sprecher des Schülerrats für die Initiative zu dieser Zusammenkunft.

Freyja ließ ihren Blick von der Bühne zu den Stuhlreihen wandern und beobachtete die Reaktion der Zuhörenden. Die meisten beugten sich vor, um nichts zu verpassen. Nur an vereinzelten Stellen war der blaue Schimmer eines Smartphone-Displays zu erahnen.