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Nachtdenken heißt die Welt zerdenken. Es ist ein Nachdenken über die Nacht, vor allem aber ein Denken von einer unbegreiflichen Nacht aus, die zutiefst vom Tode geprägt ist. Die vorliegende Studie ist eine Lektüre zweier Texte Maurice Blanchots, die beide unter dem Titel Thomas lObscur veröffentlicht wurden und zu den hermetischsten Werken der neueren französischen Literaturgeschichte zählen. Sie verbindet Philologie und Philosophie, indem sie mit der Denkfigur der anderen Nacht Blanchots Versuch, den Tod zu schreiben, in einem textnahen und philosophisch verortenden Kommentar nachzeichnet.
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Seitenzahl: 629
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Martina Bengert
Nachtdenken Maurice Blanchots „Thomas l’Obscur“
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0039-7
Für meine Mutter – Le pas au-delà
Mit dem 2008 erschienenen Buch Tiefer als der Tag gedacht – Eine Kulturgeschichte der Nacht der Anglistin Elisabeth Bronfen1 sowie dem 2011 publizierten Buch Die Ästhetik der Nacht – Eine Kulturgeschichte2 von Heinz-Gerhard Friese liegen zwei umfangreiche aktuelle Studien vor, die einen kenntnisreichen Einblick in zahlreiche Stationen der Nacht von der Antike bis in die Moderne geben.3 Obwohl Bronfen sich in ihren Nachtbetrachtungen stark auf die englischsprachige Literatur fokussiert, umfasst ihre Kulturgeschichte auch die Bereiche des Kinos (film noir) und der europäischen Malerei. Frieses Nachtwerk widmet sich auf der Basis von Hesiods Theogonie ausgiebig den Nachtkonzepten im alten Griechenland, um sich sodann dem „Nachtleib“ und seinen Inszenierungen, z.B. in Form von Monstern und dem Motiv des literarischen Nachtmahls, zuzuwenden.
Das vorliegende Buch ist keine weitere Kulturgeschichte der Nacht, sondern konzentriert sich im Gegensatz zu motivgeschichtlichen Nachtbüchern auf die philosophisch-literarische Denkfigur der anderen Nacht in Maurice Blanchots Thomas l’Obscur. Eine solche Konzentration entspricht dem, was Blanchot in der Verschränkung von philosophischem und literarischem Schreiben als Gegenentwurf zu einem Denken über die Nacht in Gestalt eines Denkens der Nacht entwickelt. Durch die Entfaltung dieses Nachtdenkens wird Blanchots Versuch, den Tod zu schreiben, in Form eines Textkommentars nachgezeichnet.
Kein anderer hat wohl wie der Mystiker Johannes vom Kreuz (1542–1591) den Topos der noche oscura in der spanischen, aber auch der europäischen Literatur geprägt. Ist in einem literarischen Werk von der dunklen Nacht die Rede, verweisen die Kommentatoren bis heute zumeist auf sein Bild der noche oscura.1 Die Rezeption seiner Schriften war unter den französischen Intellektuellen Mitte des 20. Jahrhunderts weit verbreitet. Blanchot weist in seinem Briefwechsel mit Pierre Madaule darauf hin, dass er von den Gedichten des Heiligen Johannes vom Kreuz (San Juan de la Cruz im Spanischen) sogar eigene Übersetzungen angefertigt habe.2 Aber auch Jacques Lacan zählt zu den Lesern San Juans, wenn er in seinem séminaire die noche oscura eine nennt, „que tout le monde lit et personne ne comprend.“3 Dieses Nicht-Verstehen-Können begründet sich ganz wesentlich in San Juans Versuch, das Unsagbare zu umkreisen und damit in einen Raum der (mystischen) Erfahrung vorzudringen, der sich dem logischen Erkennen entzieht. Auf Basis einer solchen grundlegenden Unmöglichkeit des Begreifens wird sich meine Arbeit in die dunkle Nacht und mit dieser in die andere Nacht wagen.
Dabei gäbe es scheinbar einen einfacheren und geführten Zugang zum Dunklen: In Dante Alighieris Divina Commedia findet sich der Ich-Erzähler zu Beginn des 1. Gesangs inmitten eines dunklen Waldes (selva oscura) wieder.4 Diese Metapher wurde meist als Beschreibung eines Krisenzustandes geistiger und intellektueller Dunkelheit und Orientierungslosigkeit interpretiert. Der Protagonist steht am Anfang eines Läuterungsweges, der ihn durch die verschiedenen Kreise der Hölle, des Fegefeuers bis hin ins Empyreum führen wird.
Anders als bei Dante, doch auch mit einem Läuterungsweg verbunden, verhält es sich mit der Thematik der noche oscura des heiligen Johannes vom Kreuz. In dem gleichnamigen Gedicht, vor allem in den von Johannes vom Kreuz selbst verfassten Prosakommentaren,5 ist der Weg eine Flucht, die in Überschreitung etlicher literarischer wie gesellschaftlicher Konventionen von einem weiblichen, sehnsuchtsvoll liebenden Subjekt ausgeführt wird. Die selva oscura wird ersetzt durch eine noche oscura, welche gleich mehrmals (im Sinne einer Umnachtung der Sinne und des Geistes) durchschritten werden muss, um zur Vereinigung mit dem Geliebten zu finden. Bemerkenswert vor dem Hintergrund der abendländischen Theologie und Philosophie ist die Anerkennung der Nacht als Erkenntnisgrund bzw. Erkenntnismöglichkeit, die sich gerade aus ihrem Negations- und Subversionscharakter ergibt. Aus diesem Grund scheint es angebracht, mit Bezug auf die noche oscura von einer „Nachterfahrung sui generis“ zu sprechen.6 Wie schon beispielsweise Teresa de Ávila oder Fray Luis de León vor ihm, stellt Johannes vom Kreuz den Weg hin zu Gott und die Vereinigung mit Gott als einen Stufenweg dar, der von jedem Menschen allein bewältigt werden muss und der vor allem aus einem schmerzhaften Entwerden des Ichs besteht. Doch deutlicher als bei allen anderen vor ihm und nach ihm steht die Nacht explizit im Zentrum dieses Weges.7
Das Gedicht „Noche oscura“, 1577 während einer neunmonatigen Kerkerhaft in Toledo verfasst, ist die Beschreibung eines Hinaustretens der Gott suchenden Seele in vollkommene Dunkelheit, Unwissenheit und Verlorenheit. Es schildert die Überwindung einer ersten, ‚gewöhnlichen‘ Nacht, die Johannes vom Kreuz in der Subida del Monte Carmelo, einem Prosakommentar zum Gedicht, als Finsternis identifiziert, in der die weltlichen Dingen verhaftete menschliche Seele lebt.
Das Durchleben der zweiten Nacht hingegen, der dunklen Nacht, bildet eine weitaus extremere Nachterfahrung der Seele, die einem Gefühl der vollkommenen Geworfenheit und Einsamkeit entspricht. Sie ist nicht als romantisch zu verstehen, d.h. nicht als erstrebter Einsamkeitszustand, der Erhabenes verspricht, sondern als (dreifache) absolute Negation der Sinne und des Geistes, die in ihrer Gewaltigkeit und Präsenz den erlebenden Menschen mit Angst erfüllt. Das weitere Durchschreiten dieser Negation bis zu ihrem Höhepunkt in der absoluten Leere, führt in ein Oxymoron: zur Erfahrung von Präsenz Gottes gerade in der absoluten Abwesenheit.
Als eine mögliche Spur einer unbeschreiblichen göttlichen Präsenz könnte die unerklärte plötzliche Wunde der Sprecherin des Gedichts betrachtet werden, die ihr paradoxerweise ein Windhauch zufügt und all ihre Sinne suspendiert.8 In der Kulmination des Gedichts klafft sie unvermittelt am Hals des lyrischen Ichs und manifestiert sich als Spur eines Geschehens, das selbst nicht dargestellt wird. Der Text zeigt hierin möglicherweise – in Anlehnung an Paul de Mans Auslegung der Allegorie als ein selbstreferentielles Zeichen, das auf das Scheitern jeglicher sprachlicher Ausdrucksform verweist – seine eigene Verletzlichkeit, nämlich die der Uneinholbarkeit des Sinns durch die (Nachträglichkeit und Begrenztheit der) Sprache.
Johannes vom Kreuz hat als erster spanischer Schriftsteller und Philosoph den grundlegend allegorischen Charakter der Nacht (und der Schrift) quasi als Vordenker der (Post)moderne literarisch umgesetzt, indem er in der Rede seines Gedichtes „Noche oscura“ durch mystisches Sprachspiel, wie auch in Korrelation mit dem Textkommentar, mannigfaltige Allegorien auf eine unsichtbare und unbegreifliche Nacht kreiert. Die dunkle Nacht des Johannes vom Kreuz scheint in Martin Heideggers Begriff des Existenzials wiederzukehren. Er beschreibt die Erfahrung des In-der-Welt-Seins als eine Erfahrung des „Hineingehaltenseins der Existenz in die Nacht“,9 die, so meine These, in der französischen Rezeption Heideggers und ganz besonders in Blanchots Thomas l’Obscur umgedeutet wird in ein Hinausgehaltensein der Existenz in die Nacht. In der Betonung der Nacht als gänzlich andere, jenseits einer möglichen Innerlichkeit und oppositionellen Beziehung zum Tag, denkt Maurice Blanchot die andere Nacht.
Wie eingangs erwähnt, kannte Blanchot die Texte des Heiligen Johannes vom Kreuz. Die Tatsache, dass er San Juans Gedichte sogar selbst übersetzte, lässt sich nicht nur als Nachweis seiner profunden Textkenntnisse lesen, sondern als Zeichen größter Anerkennung:
Aminadab m’a été donné par saint Jean de la Croix que j’ai beaucoup lu jadis, traduisant même ses admirables poèmes. Aminadab est comme le gardien de l’énigme de la ‚Nuit obscure‘. J’en dirais plus, si les écrits de St Jean étaient ici pour réveiller ma mémoire. Mais tous mes livres sont dispersés comme mes textes du reste.1
Der Verweis auf Aminadab zu Beginn des oben zitierten Briefausschnitts deutet in zwei Richtungen, zum einen auf Blanchots 1942 veröffentlichten Roman Aminadab, zum anderen auf die Herkunft dieses Titels als Effekt der Lektüren mystischer Texte San Juans – Aminadab tritt als Figur in der letzten Strophe des Cántico espiritual auf. Wer er ist und ob er überhaupt eine wesenhafte Erscheinung bezeichnet, ist nicht mit Eindeutigkeit festzumachen. Wie Bernhard Teuber in seiner Auslegung des Lexems ‚Aminadab‘ zeigt, bewegen sich die Deutungsmöglichkeiten vom „Wagenlenker“ der Braut des biblischen Hohelieds, über „Satan“ und „Christus“ bis hin zu Zergliederung der Signifikanten in „a mí nada“2. Wenn Blanchot in seinem Brief an Pierre Madaule schreibt, dass Aminadab ihm von San Juan de la Cruz „gegeben“ wurde, dessen Werk er darüber hinaus aufgrund eigener Übersetzungen der – von Blanchot mit dem Adjektiv „admirables“ bewerteten – Gedichte bestens zu kennen betont, dann verdeutlicht er damit auch, dass er sich der Vielschichtigkeit dieses Namens und seiner Einbettung in eine besondere Form der christlichen Mystik bewusst ist. Dabei handelt es sich um eine Mystik, die sich sehr affirmativ der Nacht zuwendet und sie insbesondere im Gedicht „Noche oscura“ – von Blanchot in der französischen Form „Nuit obscure“ erwähnt – als Erkenntnisgrund setzt. In Aminadab sieht Blanchot den Türhüter dieser „Dunklen Nacht“ des Heiligen Johannes vom Kreuz, wobei auch an dieser Stelle die Trennung zwischen Blanchots Aminadab und der im Cántico espiritual vorkommenden Lautkette ‚Aminadab‘ nicht streng vollzogen, ja vielmehr gerade als Dopplung und Ambiguität sehr deutlich offen gelassen wird. Blanchots Verweis auf seine intensive Auseinandersetzung mit San Juan ist zudem zu entnehmen, dass sie in der Vergangenheit liegt. Da der Brief zeitlich entweder dem 30.12.1985 (Blanchots eigene Datierung auf dem Brief) oder dem 30.12.1989 (Poststempel) zuzuordnen ist3 und der Roman Aminadab1942 ein Jahr nach der Erstfassung von Thomas l’Obscur erschien, lässt sich folgern, dass Blanchot sich schon in den Jahren vor 1942 intensiv mit der Denkfigur der noche oscura beschäftigt hat und seine denkerische Leidenschaft für die Nacht in Thomas l’Obscur, ebenso wie in Aminadab und insbesondere den frühen literaturkritischen Essays ihren Ausgang von der frühneuzeitlichen spanischen Mystik nimmt. Blanchots Denken bekennt sich zur Nacht, nicht jedoch zu Gott. In der dunklen, gottlosen Nacht aber, aus der es kein Entkommen gibt, die fasziniert ohne zu bergen, findet Blanchot eine Denkfigur, die sein Werk bis in die späten Texte durchzieht.
Denn der Tag ist für Blanchot verbunden mit Ordnung, Licht und Rationalität, mit gesetzten Aussagen und allzu festen Strukturen, wohingegen die Literatur, und insbesondere die Dichtung, ihren Ort in der Nacht als Raum des Unkontrollierbaren und Kreativen hat. Der Tag bricht an, die Nacht bricht ein. Jedoch läuft die Nacht Gefahr, gebändigt und als dichotomisches Gegenstück des Tages gedacht zu werden: sei es als ein Zustand der zu überwindenden Orientierungslosigkeit, Passivität oder Ausgesetztheit, sei es als romantischer Zufluchtsort des nach Verschmelzung mit sich und dem Universum strebenden Ichs. Eine weitere Möglichkeit der Abschwächung besteht darin, die Nacht mit Gespenstern, Monstern, Gewalt und Verdammnis zu bevölkern und dadurch ihre Leere anhand von abschreckenden Gestalten zu überdecken.
All diese Aspekte versucht Blanchot zu überschreiten, indem er die Nacht, die er auch als première nuit, als erste Nacht, bezeichnet, von einer radikaleren und absoluteren Nacht, der ‚autre‘ nuit, abgrenzt. Die andere Nacht Blanchots bezeichnet damit explizit nicht, wie etwa bei Gérard Genette4, das Andere des Tages, sondern vielmehr das Andere der Nacht.5 Die ‚autre‘ nuit ist folglich als eine Nacht aufzufassen, die keine Opposition im Sinne einer Dialektik zulässt und somit als radikales Außen und radikales Anderes (der Schrift oder auch des Erkennens), das kein Innen determiniert, zu verstehen ist.
Nur das Tagesdenken maßt sich an, die andere Nacht, die man sich gerade nicht aneignen kann, vereinnahmen zu wollen. Das Nachtdenken hingegen weiß um dieses Unbegreifliche und Uneinholbare der anderen Nacht.
Quand on oppose la nuit et le jour et les mouvements qui s’accomplissent, c’est encore à la nuit du jour qu’il est fait allusion, cette nuit qui est sa nuit […]. Mais l’autre nuit est toujours autre. C’est dans le jour seulement qu’on croit l’entendre, la saisir. […] Mais, dans la nuit, elle est ce avec quoi l’on ne s’unit pas, la répétition qui n’en finit pas […] la scintillation de ce qui est sans fondement et sans profondeur.6
In L’espace littéraire benennt Blanchot das, was jede Bewegung überschreitet bzw. fundiert, mit der ‚autre‘ nuit. Er setzt das ‚autre‘ durchgängig kursiv und verweist derart von der Ebene der Signifikanten auf eine Metaebene, die die andere Nacht als infinite Verschiebung ausmacht.7 Die andere Nacht ist immer anders als alles, was bezeichnet werden kann, und referiert als Aufflackern des Ungrunds auf ein sich stets entziehendes und verschiebendes A/anderes.
Diese radikale Negativität und Alterität rückt Blanchots Konzeption der anderen Nacht in deutliche Nähe zu jenen Formen der Annäherung an Gott, wie sie in der Tradition der negativen Theologie seit Proklos’ Deutung der ersten Hypothese des platonischen Parmenides, über den dreistufigen Weg der Negation des Dionysius Areopagita und insbesondere seit Nikolaus von Kues bekannt sind.8 San Juans noche oscura und vor allem die von ihm in ihrer gesteigerten Nächtlichkeit noch einmal gegen die „Nacht der Sinne“ abgegrenzte „Nacht des Geistes“ steht nicht nur in dieser Tradition, sondern scheint mir auch den zentralen Nexus zu Blanchots ‚autre‘ nuit herzustellen:
Es [der zweite, tiefere Teil des Glaubens bzw. der Nacht bzw. das dritte Durchschreiten der Nacht; Anm. der Verfasserin] también más oscura que la primera, porque ésta pertenece a la parte inferior del hombre, que es la sensitiva y, por consiguiente, más exterior; y esta segunda de la fe pertence a la parte superior del hombre, que es la racional, y por el consiguiente, más interior y más oscura […]. Y así, es bien comparada a la media noche, que es lo más adentro y más oscuro de la noche.
Pues esta segunda parte de la fe habemos ahora de probar cómo es noche para el espíritu, así como la primera lo es para el sentido.9
Die zweite Nacht ist dunkler und verstörender als die erste. Von ihr wird wesentlich das weiter innen und damit im Dunkleren liegende Denken des Menschen erfasst. Sofern sie als Nacht der Nacht verstanden wird und damit die Dunkelheit als Abwesenheit des Lichts verdoppelt, bezeichnet die noche oscura jene existenzielle Entzogenheit und Differenz, die im 20. Jahrhundert in der ‚autre‘ nuit unter anderen Vorzeichen wiederkehrt. Die andere Nacht ist das radikal A/andere, das für einen die Innerlichkeit invadierenden Prozess steht. Statt einer Letztbegründungsebene setzt Blanchot die Denkfigur der ‚autre‘ nuit, die weniger Gott, als dem Tod zugewandt ist. Während der Gang durch die dunkle Nacht ein notwendiger Prozess des Ich-Sterbens hin zu Gott ist, wird die andere Nacht Blanchots zur Fährte, den Tod zu schreiben, zu lesen und als Grenze auswegslos zu erfahren.
Wo bist du, Nachdenkliches! das immer muß
Zur Seite gehn, zu Zeiten, wo bist du, Licht?
Wohl ist das Herz wach, doch mir zürnt, mich
Hemmt die erstaunende Nacht nun immer.1
Friedrich Hölderlin
Das Nachtdenken ist ein Nachdenken über die Nacht, ein Die-Nacht-Denken und Denken der Nacht. Letzteres sucht in der Nacht eine eigene Form der Logik, die anders funktioniert als die binäre Logik und bis zu einem gewissen Grad mit der Traumlogik vergleichbar ist. Nachtdenken heißt die Welt zerdenken. Das Nachtdenken Blanchots ist ein Denken, das die andere Nacht als Unvordenkliches umkreist und ihrer Differenz zur (ersten) Nacht Rechnung trägt. Nachtdenken ist ein Denken, das vom Tod herrührt und zum Tod führt. So wie die ‚autre‘ nuit Tag und Nacht bedingt, bedingt der Tod das Leben als dessen einzige Sicherheit.
Man darf jenseits jeglicher Religiosität davon ausgehen, dass das Leben mit Sicherheit in den Tod mündet. Der Weg vom Tod ins Leben oder in einen anderen Zustand obliegt dagegen nicht mehr der rationalen Erkenntnis, sondern ist Sache des Glaubens. Blanchots Verschränkung der ‚autre‘ nuit mit dem Tod ist die Verschränkung einer absoluten Unbegreifbarkeit mit einer gewissen Erfahrbarkeit. Beide können aus Sicht der Lebenden nicht unmittelbar, sondern nur über hinterlassene Spuren erfahren werden. Eine solche Spur ist beispielsweise der Tod anderer Menschen, der Affekte wie Schmerz, Verlorenheit, Leere und Trauer bei den Angehörigen verursacht. Man kann der anderen Nacht im Sinne einer Nachträglichkeit immer nur nachdenken. Wenn Blanchot über Rilke sagt: „Lorsque Rilke médite sur le suicide du jeune comte Wolf Kalckreuth, méditation qui prend la forme d’un poème […]“, dann ist Blanchots Nach(t)denken eines, das in Thomas l’Obscur seine literarisch-philosophische Form sucht.2 Ein zentraler Aspekt dieser Form ist die Perspektivlosigkeit bzw. Überperspektiviertheit, welche Emmanuel Levinas als Effekt der Erfahrung des nächtlichen Raumes bezeichnet:
[L]es points de l’espace nocturne ne se réfèrent pas les uns aux autres, comme dans l’espace éclairé; il n’y a pas de perspective, ils ne sont pas situés. C’est un grouillement de points. […] L’absence de perspective n’est pas purement négative. Elle devient insécurité. […] L’insécurité ne vient pas des choses du monde diurne que la nuit recèle, elle tient précisément au fait que rien n’approche, que rien ne vient, que rien ne menace; ce silence, cette tranquillité, ce néant de sensations constituent une sourde menace indéterminée, absolument.3
Das Nachtdenken in Thomas l’Obscur versucht nicht, dieses „Punktegewimmel“ zu bändigen, sondern es als widersprüchliches Kraftfeld zu erschreiben und die Verunsicherung auf allen Ebenen der Sprache gegenwärtig werden zu lassen. In der Folge soll nachgezeichnet werden, wie die Dynamik der Sprache in Thomas l’Obscur in ein Nachtdenken mündet. Die Schärfung der Konturen seines Nachtdenkens soll über unterschiedliche Ähnlichkeitsbeziehungen zu anderen Formen der Annäherung an Undenkbares – oder zumindest schwer Denkbares – geschehen.
Eine Studie zu Blanchot, insbesondere aber eine über Thomas l’Obscur, wird sich aufgrund der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes immer auf der Grenze zur Unverständlichkeit bewegen müssen. Dabei selbst ins Unverständliche abzugleiten, stellt keine geringe Problematik dar. Der Anspruch des vorliegenden Buches liegt nicht zuletzt darin, sich dem Unverständlichen über eine Dynamik von Verständlichem und Komplexem zu nähern, die das Nachtpotential von Blanchots Text(en) in seinen Paradoxien und logischen Abgründen zumindest in einigen Facetten nachvollziehbar wiederzugeben vermag. Die Grenze zwischen Komplexem und Unverständlichem ist dünn und die zwischen Verständlichem und Unverständlichem ebenso. Vielleicht könnte man dieses Verhältnis sogar so denken, dass die Komplexität eine Grenze zwischen Verständlichem und Unverständlichem bildet. Verständliches ist in Thomas l’Obscur eine Rarität, auch weil es immer eine Reduktion bedeutet: vom Virtuellen des Unverständlichen in die Aktualisierung des Verständlichen, des Realisierten, des Ausgesagten. In anderen Worten formuliert, ist die Verständlichmachung des Unverständlichen eine Reduktion des Nachtdenkens auf ein Tagdenken. Dieses Nachtdenken nachzuzeichnen, ohne von ihm schreibend gänzlich ergriffen zu werden, aber auch ohne der analytischen Ordnung des Tages zu verfallen, wird bedeuten, immer an der Grenze zwischen den beiden Logiken zu arbeiten. Der Leser dieser Arbeit wird selbst entscheiden müssen, wo sich meine Ausführungen über das Nachtdenken bewegen. Im Idealfall sind sie in regelmäßigen Abständen klare und pointierte Gedanken zu bisweilen doch recht anspruchsvollen theoretischen und literarischen Figurationen, wie z.B. der Höhle, des Abgrunds, der Wiederkehr vom Tod oder der Nacht. Meine Studie stellt dabei keine Motivgeschichte der Nacht dar, sondern vielmehr eine Lektüre von Thomas l’Obscur, die unter dem Stern der Nacht steht. Dies bewirkt unter anderem, dass in manchen Kapiteln Textstellen analysiert werden, in denen es vordergründig gar nicht um die Nacht geht, wohl aber um ihre Spuren und Konsequenzen.
Mit dem Nachtdenken sollen Prozesse und Bewegungen des Textes umfasst werden, die dem Begreifen stets vorhalten, dass die erkannte Bedeutung oder der gefolgerte Zusammenhang nur relativ ist und immer eine metonymische, metaphorische, analogische (die Reihe könnte um einige weitere Adjektive angereichert werden) Dimension dahinter liegt, die den Wahrheitsgehalt des Gelesenen ins Wanken bringt.
Wenn Literaturwissenschaft bedeutet – wie ich schon in meinen romanistischen Studienjahren gelernt habe – nicht nur festzustellen, dass ein Text bestimmte Effekte beim Leser erzeugt, sondern nach den Operationen des Textes zu forschen, die diese Effekte hervorbringen, so soll die vorliegende Arbeit über die Hinzunahme verschiedener philosophischer, psychoanalytischer und kultursemiotischer Konzepte genau eine solche Lektüre versuchen.
Meinen Textzugang kann man als philologisch-philosophischen Ansatz bezeichnen, der unter dem Zeichen eines Close Readings steht und strukturell die Form eines Textkommentars hat. Er ist eine Verbindung von Philologie und Philosophie, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Trennung zwischen philosophischem Denken und literarischem Schreiben bei Blanchot nicht leichtfertig zu machen ist. Beide sind über eine Erfahrung der Sprache verbunden, die Jacques Derrida wie folgt beschreibt: „Faire l’expérience, c’est avancer en naviguant, marcher en traversant. Et en traversant par conséquent une limite ou une frontière. L’expérience de la langue devrait être une expérience comme à la poésie et à la philosophie, à la littérature et à la philosophie.“1 Derridas Wunsch, Philosophie und Literatur zu vereinen, ist in Thomas l’Obscur realisiert über eine Erfahrung der Sprache, die eine Erfahrung der anderen Nacht darstellt.
Sofern es mir weniger um Blanchot-Exegese, als vielmehr um den Versuch geht, Blanchots mikropoetischer Sprache in Thomas l’Obscur zu folgen, rücke ich meine Methodik ganz bewusst in eine dekonstruktive Praxis des Kommentars als eine Praxis des Ränder-Vollschreibens. Hans Ulrich Gumbrecht, der in seinem 2003 ins Deutsche übersetzten Werk Die Macht der Philologie die Dekonstruktion als „philosophische Verkörperung des textuellen Prinzips des Kommentars“2 bezeichnet, betont dort auch:
Kommentare sollten der Traum eines jeden Dekonstruktivisten sein. […] Eine dekonstruktive Lektüre wird immer an einem Primärtext ‚entlang‘ lesen, und das ist zugleich eine Form der Lektüre, deren textuelle Äußerung notwendig von diesem Verhältnis zu dem betreffenden Primärtext geprägt sein wird. Es ist eine Lektüre, die sich der eigenen ‚Supplementarität‘ ebenso ständig bewußt ist wie der des Primärtexts, d.h. der in jedem Augenblick gegebenen Möglichkeit, dem Primärtext oder der dekonstruktiven Lesart weitere Worte hinzuzufügen.3
So ist sich meine Vorgehensweise des Eingreifens in den Text bewusst und betrachtet – mit Derrida und Roland Barthes gedacht – den Text als Textur, deren Auftrennung und Ausbreitung viel Zeit in Anspruch nimmt. Bei diesem Prozess wird indessen nicht einfach etwas bereits Vorhandenes freigelegt, sondern überhaupt der Text erst erschaffen, neue Fäden in den Text eingezogen und das Gewebe mit anderen verknüpft.
Der Begriff des Kommentars wird gezielt dem der Analyse vorgezogen, weil er schon in seinem Selbstverständnis weniger gewaltsam vorgeht, indem er den Text nicht mutwillig zerstückelt und Sequenzen aus seinen narrativen Zusammenhängen reißt, welche gerade bei Blanchot äußerst wichtig sind. Im Sinne des dekonstruktiven Kommentars ist dabei ein wesentlicher Anspruch, nicht von außen Theoreme über den Text zu stülpen, sondern aus dem Geschriebenen heraus Bewegungen des Textes nachzuzeichnen und diese in einem zweiten Schritt mit literarischen, philosophischen oder anderen Subtexten zu verknüpfen. Dabei verschiebt sich automatisch jedes Mal der Zugang entsprechend und muss neu gesucht werden. Dies bedeutet konkret ein Schreiben an den Kapiteln von Thomas l’Obscur entlang: Zum einen sind die Kapitel eine von der Textstruktur selbst vorgegebene Ordnung, die so im Sinne des Respekts vor dem Text beibehalten wird. Ein nicht zu vernachlässigender anderer Grund ist zudem, dass Thomas l’Obscur ein Text ist, der mit allen Mitteln und auf allen Wegen versucht, von innen heraus das Gesagte stetig zu relativieren, umzukehren oder zwischen Bezugsebenen gleiten zu lassen. Die Kapitelstruktur bildet daher auf diesem unsicheren Textboden eine der wenigen klaren Markierungen, die Blanchot dem Leser als Orientierungshilfe zugesteht.4
Darüber hinaus gibt es in der mittlerweile üppigen Blanchot-Forschung bislang keine derartige Lektüre. Viele Forschungsansätze sind eher dadurch gekennzeichnet, dass sie aus dem Kontext gerissene Sätze aus Blanchots Thomas l’Obscur relativ isoliert interpretieren, ohne dabei den Nebenspuren und dem jeweiligen Kontext in seinem Verlauf zu folgen, was jedoch meines Erachtens für die omnipräsente Doppelbödigkeit der Sprache Blanchots äußerst wichtig wäre und was sich meine Untersuchung folglich zum Ziel gesetzt hat. So entspricht jede Kapitelziffer meines Buches chronologisch einem Kapitel von Thomas l’Obscur. Die Anzahl der insgesamt 12 Kapitel ist infolgedessen das Resultat der 12 Kapitel des von Thomas l’Obscur in seiner Fassung von 1950.5
Thomas l’Obscur dient dabei als Plateau, von dem ausgehend Fluchtlinien und Querverbindungen gezogen werden. Dies impliziert auch, dass Thomas l’Obscur eine Art Basisstation formt, von der aus und zu der hin stetig gedacht wird. In Anlehnung an den Begriff des Plateaus von Gilles Deleuze und Félix Guattari soll auch die Kapitelstruktur der Studie funktionieren: als Plateaus, die tendenziell unendlich weitergeschrieben werden können, die nicht hierarchisch geordnet, sondern in ihrer Abfolge Konsequenz des untersuchten Textes, und deren Relationen zueinander beweglich und verschiebbar sind. Das wesentliche Ordnungsprinzip der Arbeit geht dabei vom Untersuchungsgegenstand selbst aus: Es sind dies die mehrmaligen Durchgänge durch die Nacht, die ein wichtiges Strukturelement des Textes formen. Sie verlaufen auf der Ebene der Kapitel durchaus in einer gewissen Chronologie, als zyklische Sukzession von mittags, nachmittags, abends und nachts. Dieser Bewegung folgt meine Lektüre. Sie nimmt das Segmentierungsangebot des Textes ernst, indem sozusagen an den Kapiteln von Thomas l’Obscur ‚entlang geschrieben‘ wird, sie verfolgt sodann aber auch die Brüche dieser Makrostruktur, von denen es unzählige gibt. Diese Brüche verlaufen teilweise quer durch die Kapitel und kreieren eine Art Ungrund des Textes.
Im Zentrum meiner Überlegungen steht der Text Thomas l’Obscur in seiner zweiten Fassung von 1950. Im Sinne der Einheit von Gegenstand und Methode wird von ihm ausgegangen und anderes Textmaterial mit einbezogen, um ihn zu lesen und ein bestimmtes Nachtdenken herauszuarbeiten, das ich in ihm dominant verhandelt sehe. Das zusätzliche Material setzt sich aus anderen Texten Blanchots zusammen – sowohl literaturkritisch-philosophischen (darunter Texte aus den Sammlungen L’espace littéraire, Faux Pas, De Kafka à Kafka, L’entretien infini) wie auch literarischen Schriften (darunter La folie du jour, Aminadab oder L’instant de ma mort), Texten von Autoren, die er rezipiert hat (Pascal, Hegel, Heidegger, Husserl, Rilke, Novalis, die Gebrüder Schlegel, Nietzsche, Thomas Mann, Kafka), Texten von Zeitgenossen, mit denen er im Austausch stand (Levinas, Sartre, Derrida, Bataille, Merleau-Ponty), Autoren, die über ihn geschrieben haben (Foucault, Deleuze) und schließlich der Bibel, die einen wesentlichen Referenztext bildet.
Thomas l’Obscur mit diesen anderen Texten zu lesen, bedeutet, die Lektüre mit den aus dieser Annäherung entstehenden Resonanz- oder Dissonanzeffekten anzureichern und im Nachvollzug eines Nachtdenkens zentrale Theoreme Blanchots in einem größeren Denkraum zu verorten. An einigen wenigen Stellen wird weiteres Gedankengut hinzugefügt, bei dem ich, von Thomas l’Obscur ausgehend, historischen oder systematischen Klärungsbedarf hinsichtlich bestimmter Motive oder Denkfiguren gesehen habe. Die Theorien werden nicht um ihrer selbst willen, sondern funktional in die Lektüre einbezogen, was mitunter eine methodische Konsequenz des Anreißens einiger großer Denkgebäude, die für sich genommen jede schon einer eigenen umfassenden Untersuchung würdig wären, bewirkt. Jedoch: Um mit einem Text sorgfältig und behutsam umzugehen, muss notwendigerweise anderen Texten Raum vorenthalten werden. Elemente werden ihnen entnommen und – bezogen auf Thomas l’Obscur – in einen neuen Kontext gebracht. Der Grund einer Vielfalt unterschiedlichster Theorien entspringt zum einen der unglaublichen Belesenheit Blanchots, die sich in einem gewaltigen Œuvre ausdrückt und insbesondere in Thomas l’Obscur vielerorts zum Vorschein kommt, ja hier geradezu eine Keimzelle der späteren literaturtheoretischen Texte bildet. Zum anderen sind die Fluchtlinien zu anderen Philosophen und Theoretikern darin begründet, dass bei Blanchot literarisches und philosophisches Schreiben stetig ineinander übergehen bzw. in ihrer Verschmelzung einen ganz eigenen Duktus entwickeln.
Thomas l’Obscur wird in der Folge auch als ein Zeugnis diverser Auseinandersetzungen Blanchots mit seiner Zeit gelesen. Diese Zeit – von den Anfängen der Arbeiten an der ersten Version des Textes Anfang der 1930er Jahre bis hin zur Veröffentlichung der zweiten Fassung 1950 – umfasst historisch die Phase des 2. Weltkrieges und seine unmittelbaren Nachwirkungen. Die in Thomas l’Obscur verhandelte Erfahrung des Todes lässt sich meines Erachtens nicht ohne das Wissen um die Gräuel des Nationalsozialismus, das Faktum der Massengräber und das kollektive Trauma des Holokausts nachvollziehen. Ein Bewusstsein ob dieser unverarbeitbaren Ereignisse muss jeder Lektüre des Textes anhaften, zumal einer, in der es darum geht, die existentialphilosophischen, phänomenologischen, mystischen, religionskritischen, psychoanalytischen und verantwortungsethischen Einflüsse anderer Denker in die Auseinandersetzung mit Thomas l’Obscur einzubeziehen. Der Text entscheidet sich nicht für einen dieser Einflüsse, den man folglich als Haupteinwirkung lesen könnte. Er entwickelt sich vielmehr an den für den Tod bzw. die damit aufs Engste verbundene Struktur der anderen Nacht relevanten Punkten dieser Theorien entlang, deren gemeinsamer Nenner eine bestimmte Form der Leiblichkeit zu sein scheint, ein Wiederbeleben des Somatischen und eine Kritik am Subjektdenken der abendländischen Philosophie. Es ist angesichts der geschichtlichen Zäsur durch den 2. Weltkrieg kein Zufall, dass Maurice Blanchot, Maurice Merleau-Ponty, Martin Heidegger, Jacques Lacan, Ernst Cassirer, aber auch Elias Canetti sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts vermehrt mit der Wahrnehmung als Wirklichkeitszugang auseinandersetzen. Mit dieser Wiederentdeckung der Sinne und des Körpers erfolgt eine Neuauflage der Nacht als Erfahrungsraum, in dem die visuelle Wahrnehmung zu Gunsten anderer Kanäle, vor allem aber zu Gunsten des Imaginären, eingeschränkt ist und neue Wege, die zerstörte und aus den Angeln gerissene Welt zu erfassen, gesucht werden.
Der Tod ist ein widerspenstiges Thema.1
Thomas Macho
Wie kann man über den Tod sprechen ohne ihn diskursiv zu vereinfachen? Diese Frage lässt sich möglicherweise in Analogie zur Frage des Sprechens über Gott beantworten: gar nicht oder wenn, dann nur unzulänglich. Schon François de La Rochefoucauld schrieb in seinen Maximes: „Le soleil ni la mort ne se peuvent regarder fixement.“2
Maurice Blanchot hat dennoch das Unmögliche gewagt: Sein Werk kann man als unendlichen Versuch lesen, sich der Erfahrung des Todes über die Sprache zu nähern. Sein Denken widmet sich dabei weniger der Betrachtung des hellen Sonnenlichts, als vielmehr der dunklen Nacht, die sich jedoch ebenso unmöglich direkt anblicken lässt wie Sonne und Tod in der eben genannten Sentenz La Rochefoucaulds. Die beiden Fassungen von Thomas l’Obscur nehmen dabei eine Sonderrolle innerhalb des Werkes von Blanchot und der Behandlung des Todes ein, denn in ihnen wird nicht nur über den Tod reflektiert. Der literarische Text wird selbst zur Todeserfahrung. Die Todeserfahrung im Speziellen und mit ihr in etwas abgeschwächter Form diverse Grenz-, und Transgressionserlebnisse sind nicht nur inhaltlich zentral in Thomas l’Obscur, sondern sprachlich performativ angelegt, insofern als sich erzählte Erfahrungen auf die discours-Ebene auswirken und so eine Erzählweise generieren, deren Verortbarkeit sich äußerst schwierig gestaltet. Die Erfahrung der Figuren wird zur Form des discours und dieser zum affizierten Eintrittstor des Lesers, was wiederum von Letzterem verlangt, dass er sich auf diese Performanzästhetik auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen einlässt und dabei Abschied nimmt von jeglicher Mimesisästhetik.3
Hinter vielen zunächst schwer verständlichen, von Jean-Paul Sartre als phantastisch bezeichneten, Satzkonstruktionen hochfiktiven Charakters in Thomas l’Obscur stecken selbstreferentielle Äußerungen der Sprache. Sofern der Inhalt unmittelbar auf die Vermittlungsebene übergreift, wird diese sichtbar, stellt sich als Sichtbares vor den dadurch verdeckten Inhalt und erfordert gerade in ihrer Ausstellung der Selbstbezüglichkeit die permanente Wachsamkeit des Lesers.
Die Sprache Blanchots ist jedoch nicht nur performativ und selbstreferentiell, sondern selbstimplikativ, wie Michel Foucault 1966 in seinem bekannten Artikel „La pensée du dehors“ andeutet und in seinem Buch über Roussel weiterverfolgt.1 Selbstimplikatives Sprechen baut nicht auf einem Zeichenzusammenhang auf, sondern entwirft Bedeutungen als reine Möglichkeiten, ohne sie ganz zuzulassen. Die Äußerung sagt primär nicht etwas aus, sondern nur dass sie eine Äußerung ist. Sie dreht sich auf sich selbst zurück und lässt sich dadurch nicht einfach entziffern oder deuten. Die Selbstimplikation ist ein Verfahren der Sprache, was unterhalb der Zeichen im Bereich des Nicht-Signifikativen stattfindet. Im Denken des frühen Foucaults geht das Nicht-Signifikative sprachontologisch dem Signifikativen voraus. Wenn selbstreferentielles Sprechen das Zeigen der Zeichen zeigt, dann wiederholt es sich selbst als Gleiches. Wenn das selbstimplikative Sprechen das Nicht-Zeigen zeigt, dann wiederholt es sich selbst als Ähnliches und nicht mehr als Gleiches, um auf eine unaufhebbare Differenz allen Sprechens hinzuweisen.
Dieses Zeigen des Nicht-Zeigens nimmt zahlreiche Formen in Thomas l’Obscur an. In allen Fällen kollabiert dabei die Ebene des Zeichens. Dieses Kollabieren und Zerschreiben der Sprache durch die Sprache lese ich in meiner Arbeit als Nachtdenken, d.h. als Denken der anderen Nacht, wie ich sie zu Beginn erklärt habe. Der Vorteil der Denkfigur der anderen Nacht im Gegensatz zum Begriff der Selbstimplikation ist, dass sie in der Anordnung dieser beiden Worte, ‚autre‘ und nuit, schon zeigt, was selbstimplikatives Sprechen ist.
Mit zunehmender Vertiefung in Blanchots Werk kristallisierte sich ein Zugang zu Thomas l’Obscur heraus, der das Somatische, das Materielle, aber auch das Mediale und die Affizierung immer wieder als Ausgangs-, oder Zielpunkte der Lektüren der einzelnen Kapitel in den Blick nahm. Mein Ansatz ist insofern als phänomenologisch-konstruktivistisch zu bezeichnen, als er die Erfahrung und Variabilität von Welt als Resultat der Wahrnehmung in den Vordergrund setzt. Indessen gehen damit keinerlei ontologische Setzungen einher. Die Wahrnehmungstheorie Maurice Merleau-Pontys bildet in meiner Lesart von Thomas l’Obscur eine wichtige Grundlage, insbesondere bezüglich der verhandelten Blickkonzeption, wenngleich dies nur einer von diversen Textzugängen ist. Denn Blanchot geht, mit Edmund Husserl gesprochen, in Thomas l’Obscur seinen ganz eigenen Weg „zu den Sachen selbst“. In Thomas l’Obscur haben wir es mit einem Text über Leiblichkeit im Angesicht des Todes als Abstoßung vom geistfixierten Subjektdenken der abendländischen Philosophie zu tun.
Der Tod ist das Ereignis des Unfassbaren schlechthin. Das Schreiben über den Tod, d.h. Blanchots Art, den Tod zu schreiben, ist ein Denken der anderen Nacht, die als als Medium und Unvordenkliches, d.h. als etwas, was Ermöglichungsgrund und Ermöglichungsraum ist, zwischen Leib und Bewusstsein gesetzt wird. Die andere Nacht Blanchots generiert sich aus dem ewigen Aufschub des Denkens und auch des Schreibens, den der Tod provoziert. Konzepte wie das Offene, das Außen, il y a, die psychoanalytische Krypta, mystische sowie neomystische Denkfiguren, lassen sich alle über die andere Nacht in ihrer radikalen Exteriorität verbinden. Mit ihr verweisen sie im Falle Blanchots, den qua Unsichtbares insbesondere die Nacht hinter der Nacht interessiert, die ‚autre‘ nuit, auf eine ganz spezielle Art, das Verhältnis von Körper und Geist, von Buchstaben und Bedeutungen zu lesen. Entscheidend ist dabei, dass dies eine Absage an jedwede Geschlossenheit und fixierbare Ordnung bedeutet, sofern jedes Gefühl und jeder Gedanke als Wahrnehmung vermittelt Veränderungen evozieren, die sich nur partiell an der sprachlichen Oberfläche zeigen. Ein nicht geringer Teil geschieht unter der sichtbaren Textstruktur und zeitigt Effekte der Selbstaffizierung an unvorhergesehenen Orten und Stellen.
Dies ermöglicht es, eine oder mehrere Verbindungslinien zwischen Blanchots Nachtdenken in Thomas l’Obscur und Affizierungstheorien zu ziehen. Letztere hat Michaela Ott in bemerkenswerter Weise in ihrem Buch Affizierung – Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur gebündelt. Sie profiliert darin mit starker Gewichtung des Affizierungsdenkens von Gilles Deleuze und Félix Guattari Affizierungsprozesse als Basis jedweden Denkens oder Handelns. Unterschieden wird das Affektive in Affekte, Affektion „als körperlich-seelische Vermittlung“ und Affizierung „als subjektkonstituierender Vorgang“.1 Eine grundlegende Eigenschaft des Affektiven ist es nach Ott, auf zweierlei Ebenen zu wirken, nämlich auf der Ebene der „Repräsentation“ sowie der Ebene der „Performanz“. Dieses doppelte Operationsfeld des Affektiven, das von „nicht-sichtbaren, aber zu erschließenden dynamischen Vorgängen Zeugnis ablegt“,2 wird auch in meinem Kommentar zu Thomas l’Obscur herangezogen, um unterschiedliche Wirkweisen und Erscheinungsformen der Sprache zu benennen und sie als Effekte der anderen Nacht auszuweisen.
Diese Effekte resultieren aus dem permanenten Versuch Blanchots, sich via Sprache dem Tod zu nähern bzw. die Sprache dem Tod zu nähern. Er spielt in Thomas l’Obscur unzählige Varianten durch, um mit der Sprache die Sprache in ihrem Bedeuten zu zerschreiben, z.B. indem er metaleptisch Vorder-, und Hintergrund vertauscht, Perspektiven so überschneidet, dass sie ihre Zuordnung verlieren, indem er das Ursache-Wirkungs-Prinzip verunklart, Subjekt-Objekt-Besetzungen in ihrer Konstruiertheit und Kontextabhängigkeit zusammenbrechen sowie in Abundanz Motive in den Text einfließen lässt, nur um sie wieder zerstückelt fallen zu lassen und mit anderen zu überschreiben. Das Zusammenspiel dieser Strukturen bewirkt eine Bewegung infiniten Regresses, die in die ewige Differenz der anderen Nacht führt oder ihr entspringt, je nachdem wie man sich dieser zyklischen Struktur ohne Anfang und Ende unzureichend zu nähern gedenkt. Mit Sätzen, die ein ständiges Anhalten, Überlegen und Wieder-Lesen erzwingen, erweist sich Thomas l’Obscur in seinen beiden Fassungen als ein Text, der nicht aufhört von sich zu sagen, dass man ihn in all seiner Buchstäblichkeit und Körperhaftigkeit lesen und ihn beim Wort nehmen muss, um von dort aus der sprachlichen Affektlogik zu folgen, die ihresgleichen sucht. Inspiriert hat sie viele, nicht zuletzt Michel Foucault, Gilles Deleuze und Jacques Derrida. Möge nun der Leser des vorliegenden Textes sich auch dazu inspirieren lassen, einer gemeinsamen Lektüre von Thomas l’Obscur mit Genuss zu folgen:
„Meinem Leser.
Ein gut Gebiss und einen guten Magen –
Diess wünsch’ ich dir!
Und hast du erst mein Buch vertragen,
Verträgst du dich gewiss mit mir!“
Friedrich Nietzsche
Die vorliegende Studie wird sich dem mit Thomas l’Obscur betitelten Text von Maurice Blanchot widmen.1 Dem Text? Schon hier muss eine Präzisierung stattfinden, denn streng genommen wird es vor allem um Blanchots vierten Roman gehen, um die zweite Version von Thomas l’Obscur, die Blanchot 1950, neun Jahre nach der ersten, veröffentlicht hat. Zwischen der ersten Version des Romans aus dem Jahre 1941 und der zweiten, der „Nouvelle version“, erschienen die Romane Aminadab (1942) und Le Très-haut (1948). Was hat Blanchot dazu bewogen, seinen mit „Roman“ untertitelten Text von 1941 zu überarbeiten, massiv zu kürzen und unter fast demselben Titel neu herauszugeben? Eine mögliche Antwort darauf findet sich in einem Brief an seinen langjährigen Freund und Denkgefährten Georges Bataille aus dem Jahr 1948:
J’ai mis au point ces jours-ci une version autre de ‚Thomas l’obscur‘. Autre: en ce sens qu’elle réduit des deux tiers la première édition. C’est cependant un livre véritable et non des morceaux de livre; je puis même dire que ce projet n’est pas un projet de circonstance ou inspiré par des complaisances d’édition, mais j’y ai souvent pensé, ayant toujours eu le désir de voir à travers l’épaisseur des premiers livres, comme on voit dans une lorgnette l’image très petite et très lointaine du dehors, le livre très petit et très lointain qui m’en paraissait le noyau.2
Blanchot betont, dass der Grund für diese neue Version ein bereits länger bestehender Wunsch nach Distanzierung oder Verkürzung war, um aus der Tiefe oder auch Dichte seiner ersten Romane heraussehen oder durch sie hindurch sehen zu können. Das über lange Zeit nur angedachte kleine Buch ist der Kern seines Frühwerks, nur dass die Ursprungslogik von Kern und daraus entstehender Pflanze invertiert ist, da Blanchot den Kern im Umkehrprozess aus dem bereits Geschriebenen kreiert. Die ‚andere‘ Version von Thomas l’Obscur ist demnach sowohl im romanesken Frühwerk bereits enthalten als auch dessen Destillat. Sie stellt ein „wahrhaftes Buch“ dar und kein mangelhaftes Stückwerk des Originals. Das Faszinosum der beiden Versionen des Romans besteht in ihrer Gleich-Gültigkeit, die Blanchot in seinem Vorwort zur zweiten Version betont. Allerdings wurde lange Zeit vor allem letztere rezipiert, wenn von Thomas l’Obscur die Rede war. Erst 2005 wurde die Erstfassung von 1941, welche schnell nach dem Erscheinen der zweiten vergriffen war, neu verlegt.3 Die Vermutung liegt nahe, dass ihre Länge und Dunkelheit (diskursiv wie semantisch) gewichtige Gründe für die mäßige Rezeption waren.4 Mittlerweile steigt das Interesse für die ältere Version wieder. In der gegenwärtigen Rezeption zeigt sich ein zunehmendes Bewusstsein für den Sonderfall einer Koexistenz zweier Fassungen, sodass neuere Arbeiten zu Thomas l’Obscur in der Regel herausstellen, welche Version des Textes der Analyse zu Grunde liegt.
Durch die Präsenz der beiden Versionen – nicht zuletzt im Sinne eines Drehens oder Umstülpens – stellt sich die Frage nach dem Original neu. Handelt es sich doch bei der zweiten Fassung, die Blanchot „nouvelle version“ nennt, ausdrücklich um eine gleichberechtigte Fassung in Bezug auf die erste, nicht jedoch um eine Version, die leichtfertig die erste ersetzen solle. So schreibt Blanchot in der Gallimard-Ausgabe von 1950 vor dem Beginn des eigentlichen Romantextes:
Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de variantes possibles. Aux pages intitulées Thomas l’Obscur, écrites à partir de 1932, remises à l’éditeur en mai 1940, publiées en 1941, la présente version n’ajoute rien, mais comme elle leur ôte beaucoup, on peut la dire autre et même toute nouvelle, mais aussi toute pareille, si, entre la figure et ce qui en est ou s’en croit le centre, l’on a raison de ne pas distinguer, chaque fois que la figure complète n’exprime elle-même que la recherche d’un centre imaginaire.5
Bemerkenswerterweise ist in der deutschen Übersetzung der neuen Version (die erste gibt es noch nicht in übersetzter Form) dieses Vorwort oder vielmehr dieser Vorsatz nicht abgedruckt, wodurch wichtige Aspekte der Beziehung von erster und zweiter Fassung nicht berücksichtigt werden können.6 Denn die Position der ersten Fassung wird von Blanchot, wie über die beiden Zitate ersichtlich, nicht unter die der zweiten, der neuen gesetzt.
Die Tatsache, dass der Text in zwei Fassungen existiert, ist für Blanchots Schaffen an sich nichts Ungewöhnliches, sondern stellt eher ein erprobtes Verfahren dar: Blanchot hat viele seiner Texte mehrfach überarbeitet und nach einer Erstveröffentlichung zahlreiche Artikel in neuen Kontexten oder Textsammlungen in anderer Form publiziert – nicht zuletzt zeigt sich darin eine tiefe Skepsis Blanchots gegenüber Ursprungslogiken und eindeutigen Zuordnungen. Dass jedoch wie im Falle von Thomas l’Obscur beide Fassungen7 als gleich-gültig gelten und folglich unter demselben Titel koexistieren sollen, ist schon bemerkenswerter und schreibt ihnen auf diese Art eine Sonderrolle im Gesamtwerk zu.8
Blanchot verweist darauf, dass die zweite Version nichts hinzufüge, sondern der ersten sogar viel (weg)nehme. Die beiden Versionen sind gleich-gültig oder ebenbürtig, ohne gleich zu sein. Denn je nach Betrachtung oder Bedingung ist die neue Version gänzlich neu, anders als die frühe Version oder ihr sehr ähnlich.9 Die Ähnlichkeitsbeziehung konstituiert sich durch die Suche nach einem imaginären Zentrum, welches nach Blanchots Biographen Christophe Bident der Tod der Protagonistin Anne ist.10 Liest man nun den Abschnitt aus dem Brief an Georges Bataille und den Paratext zusammen, so ergibt sich die Möglichkeit, das doppeldeutige Bild des nachträglichen Kerns als anderen Ausdruck für die Suche nach einem azentrischen Zentrum zu begreifen. Diese Struktur eines Fluchtpunktes – oftmals artikuliert über vorangestellte Paratexte – kehrt an vielen Stellen in Blanchots Werk wieder, unter anderem in einer kleinen Notiz zu Beginn von L’espace littéraire, in der das Kapitel zu Orpheus, „Le regard d’Orphée“, als das bewegliche Zentrum benannt wird, zu dem alle Seiten des Buches hinlaufen:
Un livre, même fragmentaire, a un centre qui l’attire: centre non pas fixe, mais qui se déplace par la pression du livre et les circonstances de sa composition. Centre fixe aussi, qui se déplace, s’il est véritable, en restant le même et en devenir plus central, plus dérobé, plus incertain et plus impérieux. […] quand il s’agit d’un livre d’éclaircissements, il y a une sorte de loyauté méthodique à dire vers quel point il semble que le livre se dirige; ici vers les pages intitulées Le regard d’Orphée.11
In dieser Konzeption des Fluchtpunktes wird selbiger zu einem Kraftpunkt, der den Text zusammenhält und ihn sich übersteigen lässt. In L’espace littéraire, einer Sammlung früher literaturtheoretischer Texte Blanchots, auf die ich kontinuierlich Bezug nehmen werde, ist das Zentrum eines, das sich in Richtung der Seiten befindet, die mit „Le regard d’Orphée“ überschrieben sind. Das Zentrum ist folglich nicht leicht auffindbar, sondern eine Metapher für die zum Scheitern verurteilte Suche nach einem Zentrum. Wenn es in L’espace litteraire ein Zentrum gibt, dann das sich verschiebende Zentrum, in das man nicht gelangen kann. Der Tod Annes, der in der ersten Version bereits sehr wichtig ist, jedoch noch durch andere Handlungen und Figuren überlagert wird, rückt in der zweiten Version deutlich in den Vordergrund und wird, hier stimme ich Bident zu, dessen meditatives Zentrum – sofern man dies wiederum als ein soeben skizziertes Zentrum im Sinne Blanchots versteht. Analog dazu macht sich der récit als Textform mit der späteren Fassung zum nachträglichen Zentrum des Romans, als welcher die erste Fassung von Thomas l’Obscur untertitelt wird. Von diesem Zeitpunkt an wird Blanchot keine Romane mehr schreiben, sondern neben seiner journalistischen Tätigkeit zahlreiche récits verfassen, die sich in ihrer Fähigkeit, etwas zu erzählen, stetig selbst hinterfragen.
Blanchot hat nicht nur récits verfasst, er hat auch innerhalb seiner récits über diese reflektiert. Das insbesondere in der deutschen Literaturwissenschaft bekannteste Beispiel hierfür bildet La folie du jour, meist zusammen mit Jacques Derridas „La loi du genre“, einer Interpretation von La folie du jour, rezipiert. Kernpunkt des Blanchotschen récit ist es, seine eigenen Entstehungsbedingungen als konstitutive Unerzählbarkeit wieder in sich eintreten zu lassen. Obschon erzählt werden muss, kann die Erzählung eigentlich keinen Inhalt, sondern einzig die Tatsache vermitteln, dass trotz aller Unmöglichkeit das Erzählen erzählt werden muss. Der Anfangssatz von La folie du jour kehrt metaleptisch als Aufforderung an den Ich-Erzähler, seine „eigentliche“ Geschichte zu erzählen, in der Geschichte wieder.1 Dabei ist diese Wiederholung des Anfangs der Erzählung nicht als Zitat über Anführungszeichen markiert, wodurch innerhalb der Erzählung diese erneut beginnt. Somit wird die Erzählung sowohl mit Blick auf ihren Status als geschlossener Text als auch als Gattung dekonstruiert, indem sich der Anfang oder Rand der Erzählung in einem Akt der „invagination inocclusive“ in den Binnenraum des Textes faltet.2 Diese Einfaltung, die Innen und Außen narratologisch kollabieren lässt, verhandelt der Text ebenfalls auf semantischer Ebene. Der letzte Satz, „Un récit? Non, pas de récit, plus jamais.“, wird angesichts des unendlich fortsetzbaren Wiedereintritts des récit zur Antriebsbewegung eines Erzählens zwischen Konstativ und Performativ, das sich zwar nicht mehr unter den Begriff des récit fassen lässt, jedoch als Narration fortgesetzt werden muss.3
Die zweite Fassung von Thomas l’Obscur trägt wie La folie du jour den récit nicht im Untertitel. Stattdessen findet sich der Zusatz „nouvelle version“, der an die Stelle des Untertitels „roman“ der ersten Fassung gesetzt wird.4 Das Fehlen dieses Teils des Untertitels wird in der Blanchot-Forschung meist als Hinweis auf den Übergang von Blanchots Romanschaffen hin zu den wesentlich kürzeren récits gewertet. Die „nouvelle version“ trägt jedoch in der ersten Auflage der Gallimard-Ausgabe von April 1950 noch den Untertitel „roman“, der sodann verschwindet und in der heute erhältlichen Fassung nicht mehr abgedruckt ist.5 Einerseits hat Blanchot folglich nach der ersten Auflage eine Änderung vorgenommen, indem er den Zusatz „roman“ nicht mehr für gültig erklärte, andererseits wurde der roman nicht einfach durch den récit ersetzt. Daraus lässt sich schließen, dass TO2 weder das Eine noch das Andere ist und sich einer Gattungszuordnung entzieht. Sofern TO2 über den vorangestellten Paratext auf seinen Vorgänger TO1 verweist und die Beziehung zu diesem als eine zwischen Andersheit und Fremdheit erklärt, nimmt TO2 die erste Fassung fragmentiert in sich auf und faltet sie in sich ein.6
1962 erscheint L’attente l’oubli – das letzte fiktionale Buch, das unter den Blanchotschen Begriff des récit fällt, und so den endgültigen Übergang Blanchots von den Erzählungen hin zum Fragmentarischen einleitet. Sein Schreiben durchläuft folglich stetige Zersetzungsprozesse: vom Roman zum récit, vom récit zum Fragmentarischen und von den Fragmenten in die Mikrosphäre begrifflicher Konstrukte. Anzumerken sei aber, dass diese Auflösungsbewegung des Erzählens zwar über den Wandel der Textform zu beobachten ist, gleichzeitig sind aber schon die ersten Romane von philosophischen Denkfiguren durchsetzt. Narrative Elemente bilden zudem Rezidive im literaturkritischen Spätwerk.7
Bei einer ersten Betrachtung der beiden Texte mit dem Titel Thomas l’Obscur fällt die unterschiedliche Erscheinung der Kapiteleinteilung ins Auge. Die Kapitel in TO1 beginnen nicht mit einer neuen Seite, während in TO2 die strukturierende und trennende Funktion der einzelnen Kapiteleinheiten deutlicher ist und somit ein wichtiges Textmerkmal bildet, an dem sich meine Interpretation orientiert und worauf ich in den Präliminarien bereits hingewiesen habe. Neben der Kapiteleinteilung unterscheidet TO2 von TO1 die Textlänge, denn TO2 umfasst nur etwas mehr als ein Viertel des Textvolumens von TO1.1 Eine auffällige Differenz zwischen den beiden Fassungen des Textes Thomas l’Obscur ist die Reduktion der 15 Kapitel der ersten Version auf 12 Kapitel in der zweiten Fassung. Die Zahl 12 scheint bei dieser Reduktion der Kapitel kein Zufall zu sein. Zum einen verweist sie auf eine Anlehnung an die großen epischen Texte, vor allem aber erscheint sie als eine Hinterfragung derselben, die entweder 12 Kapitel oder als Verdopplung der 12 eine Anzahl von 24 Kapiteln umfassen.2TO2 schreibt sich aufgrund seiner Kürze wie seiner metaliterarischen Hinterfragung des Erzählens als andere Art des Erzählens jenseits der Ausschmückung in den Diskurs ein. Darüber hinaus ist, wie im 3. Kapitel meiner Untersuchung näher ausgeführt wird, Thomas einer der 12 Apostel Jesu, was sich ebenfalls hinsichtlich der Zahl 12 als nicht kontingent darstellt. Zudem erschließt sich ein weiterer Bibelbezug über die 12 Stämme Israels des Alten Testaments, worauf mein 5. Kapitel eingehen wird. Schließlich aber ist die 12 in der Tag/Nacht-Rhythmisierung als Zäsur von Tag und Nacht sowie abermals in ihrer Verdopplung als Einheit eines Tages von 24 Stunden wichtig. Einen letzten Zusammenhang der 12er-Rhythmisierung wird das 12. Kapitel durch Referenzen auf Franz Kafkas Romanfragment Der Proceß erfahren: Das Handlungsgeschehen dieses Romans erstreckt sich zeitlich vom Morgen des 30. Geburtstag Josef K.s bis zum Vorabend seines 31. Geburtstages. Daraus folgt, dass vom Beginn des Prozesses gegen K. bis zu seiner Tötung genau 12 Monate vergehen.
Das erheblich reduzierte Textvolumen von TO2 resultiert hauptsächlich aus Kürzungen der mittleren Passagen von TO1. Hier finden, anders als in den ersten und den letzten Kapiteln, umfangreiche Streichungen und Umordnungen statt.3 Die Streichungen in TO2 reichen von ganzen Kapiteln bis hin zu einzelnen Lexemen, wodurch die Sorgfalt, mit der Blanchot an TO2 gearbeitet hat, klar zum Vorschein kommt.4TO1 weist deutlich mehr Weltreferenz als TO2 auf. Dies äußert sich z.B. in konkreten Ortsangaben (Paris, ein Museum, ein Café etc.), die in TO2 zu generischen Orten werden. In TO1 werden Geschehnisse zumindest teilweise erklärt, während der Text von TO2 diese Explikationen kürzt und ins Implizite überführt.5 Ein wichtiges Beispiel ist die in Ansätzen vorhandene Tiefenschärfe der Protagonisten in TO1, die in TO2 zu einer transpersonalen Oberfläche von Wahrnehmungen und Beobachtungen einer neutralen Erzählstimme wird.
Eine allgemeine Folgerung Stillers zu den Unterschieden der beiden Versionen sei noch erwähnt. Diese betrifft das Verhältnis von Änderungen auf der Wortebene: „Insgesamt lassen sich 187 Fälle registrieren, in denen in B ein einzelnes Wort gegenüber dem Text von A getilgt ist, während die benachbarten Ausdrücke beibehalten oder allenfalls modifiziert sind.“6 Unter anderem anhand solcher Streichungen soll meine Lektüre den Nachvollzug des Nachtdenkens als entgrenzendes, Differenzen verschiebendes oder neutralisierendes Sprachwalten ermöglichen, das in TO2 von Blanchot in den Vordergrund gerückt wird.
Die zweite Fassung von Thomas l’Obscur (= TO2) bildet die Basis meiner Überlegungen, da sich in ihr im Vergleich zur älteren Version eine Radikalisierung des Nachtdenkens abzeichnet.1 Radikalisierung meint hier, dass die struktur- und handlungsbeeinflussende Gewalt der anderen Nacht in der jüngeren Version des Textes greifbarer, weil von Blanchot daraufhin zugespitzt, ist. Die implizite Dunkelheit von TO1 wird in TO2 auf der Ebene der Darstellung verstärkt. Dies bedeutet, dass der Text von TO2 nicht nur inhaltlich und durch schwere Lesbarkeit als Nachtdenken zu bezeichnen ist, sondern sich fast emphatisch metasprachlich dazu bekennt. Es findet eine Verdichtung und Verschiebung als Grundstruktur der Radikalisierung der anderen Nacht insbesondere auf der Ebene des discours statt. Die metasprachlichen Eingriffe werden durch die Überarbeitung der ersten Version umso deutlicher, da die Kürzungen hauptsächlich Weltbezüge betreffen, die in TO2 einer verstärkten Performanz des Diskursiven weichen. Daher wird von TO2 ausgegangen und – wo es für meine Thesen notwendig ist oder andere Bezüge ermöglicht – die ältere Version kontrastierend sowie erweiternd zur Sprache gebracht. Hinsichtlich des Nachtdenkens als eines wiederkehrenden Bezugspunkts meiner Lektüre von Thomas l’Obscur kann so auch ein strukturelles Moment fruchtbar gemacht werden. Das 50-jährige Verschwinden der ersten Fassung hinter der zweiten aufgrund der schon angedeuteten schwierigen Rezeptionsgeschichte, die Blanchot nolens volens vielleicht auch mit der Alternative einer Kurzfassung beflügelt hat, soll als Ausdruck einer der wichtigsten Verschiebungsbewegungen im Schreiben Blanchots gelesen werden: der Selbstverdunklung der Nacht hin zur anderen Nacht. In einem Vorgriff auf das 2. Kapitel kann man daher von einer Bewegung der Kryptierung sprechen, mit der sich die Rezeption von TO2 entgegen der paratextuellen Leseanweisung Blanchots über TO1 gelegt und TO1 in sich eingeschlossen hat.
Mein Ansatz, von TO2 auszugehen und TO1 dennoch in den Textkommentar einzubeziehen, weiß um diese 50-jährige Verdeckung. Es kann jedoch nicht im Sinne eines Ursprungsdenkens um eine Rehabilitierung der vernachlässigten älteren Fassung gehen, sondern stattdessen um die Bezugnahme von TO2 auf TO1 als Ausdruck einer verdoppelten Dunkelheit des Titels Thomas l’Obscur. Die Wiederholung des Titels unter Beibehaltung beider Fassungen wird zur Meta-Dunkelheit, deren begriffliche Fassung Blanchots ‚autre‘ nuit ist.
Der Beiname „der Dunkle“ verbindet Thomas mit dem Beinamen „ho skoteinos“ (der Dunkle) des Vorsokratikers Heraklit. Ob dessen Beiname von seiner Vorliebe für Paradoxa und Fragmentarisches herrührt oder von seiner Methode, bereits Gedachtes neu zu perspektivieren, ist nicht geklärt. Martin Heidegger setzt in seinen Vorlesungen über Heraklit gegen Hegel wie auch Cicero eine ganz eigene Interpretation dieses Beinamens: „Er [Heraklit, Anmerkung der Verfasserin] ist der ‚dunkle‘ Denker, weil er, anfänglicher als die anderen, in dem Zu-denkenden dasjenige denkt, was darin das ‚Dunkle‘ genannt werden kann, insofern er den Grundzug hat, sich zu verbergen.“2 Heraklit wird von Heidegger in seiner Dunkelheit an den Anfang der abendländischen Philosophie gesetzt. Während Heidegger einerseits den verbergenden Aspekt des Heraklit’schen Denkens so weit wie möglich ergründen will – auf das Problem der Gründung werde ich im 2. Kapitel eingehen –, scheint Blanchot mit den beiden gleich-gültigen Fassungen unter dem Namen Thomas l’Obscur der Frage nach Ursprung und Originalität eine Absage zu erteilen. Er führt diese Frage in die unendliche Bewegung zwischen den beiden Fassungen – eine Bewegung, die jedoch erst mit dem Paratext von TO2 auf eine metatextuelle Ebene gebracht wird.
Den Inhalt der 2. Version von Thomas l’Obscur wiederzugeben, ist beinahe unmöglich und muss sich den Vorwurf einer Reduktion, aber auch der Verfälschung gefallen lassen. Rainer Stillers hat dennoch versucht, die Handlung von TO2 mit den folgenden Worten zu beschreiben:
Thomas, ein Mann unbestimmten Alters und unbekannter Herkunft, lebt, augenscheinlich isoliert und unter der Kommunikationslosigkeit der Umwelt leidend, in einem Hotel an der Küste. Dort lernt er Anne kennen, eine junge Frau, deren Vergangenheit ebenfalls nicht erzählt wird. Anne versucht bei ihren Begegnungen, Spaziergängen und Unterhaltungen mit Thomas dessen ‚Dunkelheit‘ zu durchbrechen und zu erfahren, wer und was für ein Mensch er ist. Bei diesem Versuch scheitert sie jedoch. Sie erkrankt und stirbt schließlich. Thomas bleibt allein zurück; in Annes Tod aber versucht er seine eigene Existenz zu begreifen.1
Dazu ist anzufügen, dass Thomas nicht grundlos an der Kommunikationslosigkeit seiner Mitmenschen leidet, sondern geprägt ist von Grenzerfahrungen, die ihm das Weiterleben unter Menschen erheblich erschweren. Ob er Anne erst im Hotel kennenlernt, ist nicht mit Eindeutigkeit zu behaupten. Anne versucht in der Tat zu begreifen, wer Thomas ist, doch hängt dies meines Erachtens mit ihrer schon bestehenden Krankheit zusammen, die sie erst mit der Möglichkeit und dann mit der Realität des Todes konfrontiert.
Die Kapitelanfänge bieten als Koordinaten einer Handlung, die man als äußere Handlung bezeichnen kann, eine Minimalorientierung. Den Beginn des 8. und 9. Kapitels ausgenommen – hier wird eine nicht beendete Erfahrung der Nacht weitererzählt und somit eine starke Verbindung zum vorangegangenen Kapitel hergestellt, wodurch die Kapitelgrenze aufweicht –, bewegt sich der erste Satz in allen anderen Kapiteln noch auf einer Ebene der Aussage, d.h. noch nicht auf der Ebene der Wahrnehmung einer ortlosen Erzählstimme. Das zeigt sich auch an der Kürze der Anfangssätze der Kapitel 1–5 sowie 10–12. Die Geschichte, nur anhand des jeweils ersten Satzes eines jeden Kapitels erzählt, läse sich wie folgt: