Nachts in Vals - Tim Krohn - E-Book

Nachts in Vals E-Book

Tim Krohn

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Gründe, warum sie ihren Weg in die Therme hoch oben in den Bergen finden, sind vielfältig – alle Figuren in Tim Krohns Nachts in Vals eint allerdings eins: Der Aufenthalt dort wird ihr Leben verändern. Ob um gemeinsam mit der Mutter über eine ungewollte Schwangerschaft nachzudenken, um eine noch junge Liebe zu feiern, als Barmusiker den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen, in sich zu gehen, neue Bekanntschaften zu machen oder eine in alle Welt verstreute Familie zu einem Jubiläum zu vereinen – der Aufenthalt im Ort mit dem vielleicht schönsten Sternenhimmel der Schweiz und dem berühmten Hotel ist für sie alle, mit ihren unterschiedlichsten Motivationen, das Richtige.Da sind Aiuoletta und Luca, das frisch verliebte Teenager-Paar, das an der Rezeption feststellen muss, dass das Geld bestenfalls für zwei Nächte reicht – die beiden nehmen ein billiges Zimmer im Ort, schmuggeln sich heimlich ins Hotel und erleben eine abenteuerliche Nacht in der Therme, die ihn zur ersten Notlüge zwingt und die ihre Beziehung einschneidend verändert. Da ist ein gescheiterter Trompeter, der als Barmusiker sein Geld verdient – und im Maschinenraum des Hotels einen Ort entdeckt, an dem er endlich zu seinem ureigenen Ton findet. Da ist eine junge, ungewollt schwangere Frau, und da ist ein alter Schriftsteller, der sich angesichts des längst herbeigesehnten Todes vom Zyniker zum staunenden Jungen zurückverwandelt.Die Geschichten Tim Krohns umfassen die ganze Spanne des menschlichen Lebens, alle spielen am selben Ort, und in jeder spannt der Himmel sein Sternenzelt auf: Die Nacht in Vals wird zum Wendepunkt im Leben der Protagonisten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 104

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tim Krohn

Nachts in Vals

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Tim Krohn

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungStrahlende NachtHeilige NachtLange NachtHelle NachtSchwarze NachtKlare NachtSchwere NachtStille NachtLetzte NachtHinweise zum Text
zurück

Für Annalisa und Peter, die die Seele des Hauses waren

zurück

Strahlende Nacht

Jlien Meinhard hatte schon immer schnell gefroren, doch seit sie wusste, dass sie schwanger war, hörte die Kälte gar nicht mehr auf. Sie hatte im Jahr davor die Zürcher Schauspielschule abgeschlossen, hatte ein Debütantinnenjahr am Essener Schauspiel hinter sich, aber ihr Vertrag war nicht verlängert worden. Das wunderte sie nicht, sie hatte in jenem Jahr viel Liebeskummer gehabt und schlecht gespielt. Jlien Meinhard war fein von Gestalt, sie hatte große, kindliche Augen und trug das Haar zum Bubikopf geschnitten. Sie war an der Schauspielschule die Frau gewesen, die jeden hätte haben können und die keinen wollte, weil sie sich selbst noch nicht als Frau sah.

Erst im letzten Schuljahr hatte sie eine komplizierte Beziehung zu ihrem Sprecherzieher Urs begonnen, der mehr als doppelt so alt war wie sie, ein brachialer, unreifer Mensch zwar, doch er war auch doppelt so schwer, und sie liebte es, in seinen Armen zu versinken. Allerdings war er bekannt für seine Affären, und kaum war Jlien nach Essen abgereist, schlief er mit einer Regiestudentin aus dem ersten Jahr. Das hinderte ihn nicht daran, Jlien eifersüchtig nachzustellen, nachts rief er alle paar Stunden an und raubte ihr den Schlaf, dabei erschöpfte sie die Arbeit am Theater so sehr. Doch auch Jlien fiel es schwer, Urs hinter sich zu lassen. Als sie nach Spielzeitende das Zimmer in Essen aufgab und nach Zürich zurückkehrte, drängte sich eine Entscheidung auf. Jlien wollte bei ihm einziehen (vorübergehend schlief sie in ihrer alten WG auf dem Sofa), doch Urs fürchtete ihre Kontrolle. Nach heftigem Streit trennten sie sich Mitte Dezember, zehn Tage später stellte sie fest, dass sie schwanger war. Und seither fror sie.

Im Thurgau lebte noch ihre Mutter, sie arbeitete als Bürofachfrau in einer Möbelfabrik. Für die Feiertage fuhr Jlien zu ihr, sie feierten wie stets ein stilles Weihnachtsfest zu zweit. Jliens Vater, ein deutschstämmiger Südafrikaner, war nach Kapstadt zurückgekehrt, als Jlien sechs war, sie hatte keine Geschwister (ihr kleinerer Bruder war als Dreijähriger mit dem Dreirad tödlich verunglückt).

Doris Meinhard war eine schweigsame Frau, und obwohl sie zweifellos gemerkt hatte, dass ihre Tochter aufgewühlt war, wartete sie, bis Jlien von sich aus erzählte. Und auch danach sagte sie nur: »Fahr mit mir nach Vals, in der Therme wird dir wieder warm.«

Anfang Januar fuhren sie, doch Jlien fröstelte selbst im Feuerbecken. Sie teilten sich ein Zimmer im Haus Selva, zweimal täglich gingen sie ins Bad, zweimal täglich aßen sie, das Mittagessen ließen sie aus, stattdessen tranken sie in der Hotellounge Kaffee. Die übrige Zeit saß Jlien auf dem Bett, die Knie unters Kinn gezogen, sah in die verschneiten Lärchen vor dem Fenster und hörte dem Klicken der Nadeln zu, denn Doris Meinhard saß am Tisch und strickte. Beide schwiegen. Erst am Nachmittag des dritten Tages fragte Jlien irgendwann: »Was muss ich tun, um abzutreiben?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ihre Mutter. »Ich will es auch nicht wissen.«

»Mit Kind kann ich die Schauspielerei vergessen«, sagte Jlien. »Und ich bin viel zu jung für ein Kind.«

»Ich war auch vierundzwanzig«, sagte Doris, nachdem sie Maschen gezählt hatte.

»Und was ist aus dir geworden?«, sagte Jlien.

Darauf sagte ihre Mutter nichts.

»Ich kann kein Kind allein großziehen«, sagte Jlien. »Ich brauche einen Mann.«

»Ich helfe dir«, versprach ihr Doris. »Und so, wie du aussiehst, findest du auch mit Kind noch einen guten Mann.«

»Du hast auch keinen gefunden«, sagte Jlien.

»Ich habe keinen gesucht«, sagte Doris.

In der Lounge bestellte Jlien Latte macchiato mit einem doppelten Espresso. »Vielleicht kurbelt das den Kreislauf an«, sagte sie, »und sieh mich nicht so an. Ich brauche keine Rücksicht zu nehmen, ich werde dieses Kind nicht kriegen.«

»Teilen wir uns ein Stück Kuchen?«, fragte Doris nur. Das fragte sie jeden Nachmittag, doch sie bestellten nie Kuchen.

Die Nächte waren lang, denn Doris Meinhard träumte stets heftig, und Jlien lag schlaflos auf dem Rücken, musterte die Schatten an der Decke und fühlte das Fremde, das in ihr nistete und alle Wärme raubte. In der dritten Nacht schrie Doris mehrmals im Schlaf, sie träumte noch oft von jenem Unglücksfall, und schließlich kleidete Jlien sich wieder an – der Kälte wegen hatte sie sich nur halb ausgezogen –, verließ das Haus Selva und machte sich auf den Weg ins Dorf.

Die Straße war zwar geräumt, doch nur vom Neuschnee, darunter lag eine glatte, harte Schneeschicht, auf der man leicht ausglitt. Jlien versuchte, mit Anlauf zu rutschen, doch dafür hatten ihre Schuhe zu viel Profil, stattdessen warf sie Schneebälle, bis der Schnee in Klumpen an den Strickhandschuhen klebte.

Es war eine ausgesprochen klare Nacht. Tagsüber hatte es Flocken geschneit, die fein waren wie Glitter, nun hatte sich der Himmel aufgetan, doch hinter den elektrischen Weihnachtssternen an den Straßenlampenmasten erahnte sie die echten Sterne nur. Während sie über die Brücke ging, glitt sie aus, doch es gelang ihr, sich aufzufangen. »Gelernt ist gelernt«, sagte sie, dachte an den Akrobatikunterricht und sehnte sich danach, wieder auf der Bühne zu stehen. Gleich verstärkte sich das Gefühl im Unterleib.

Sie hatte Angst vor der Abtreibung, die sicherlich schmerzhaft sein würde, und begann nach Zeichen zu suchen, die ihren Entschluss bestätigten. In einem Schaufenster stand die Weihnachtskrippe, das war, entschied sie, kein Zeichen. Die Taschenmesser daneben sahen schon mehr nach Zeichen aus. Beim Dorfbrunnen trank sie schneidend kaltes Wasser aus der hohlen Hand, eine Marienstatue mit Kind schmückte die Brunnensäule. War das ein Zeichen? Eher war ein Zeichen, dass der Schnee das Jesuskind fast ganz verschwinden ließ, nur ein fettes Unterärmchen und das Kinn nicht.

Etwas weiter dorfaufwärts hörte sie ein Bimmeln, das klang wie das Weihnachtsglöckchen in ihrer Kindheit, es kam aus einem Ziegenstall. »Hallo, Ziegen«, sprach sie in die Finsternis und sorgte im Stall für Aufregung. Es rumpelte, sie hörte ein sonores Meckern und dann ein dünnes, herzerweichend helles »Mäh«.

»Ein Frühchen«, dachte sie, »das überlebt die Kälte nicht.« Dann fiel ihr ein, dass es zu Ostern sowieso geschlachtet würde, auch Doris briet fast jedes Jahr ein Osterzicklein.

Doch all das waren keine klaren Zeichen. »Gib mir ein Zeichen«, befahl sie dem Himmel, während sie die Dorfstraße verließ, und setzte sich abseits auf einen Schneehaufen. Der Mond stand als scharfe Sichel über dem Grat des Piz Tomül. Sie malte sich aus, wie ihr mit einer solchen Sichel der Fötus aus dem Leib geschnitten würde, danach wäre sie wieder das unschuldige Kind, das sie bis vor vier Wochen gewesen war, ein Kind, das Wärme, Geborgenheit, Schutz verdient hatte.

Dann kam am Grat des Piz Tomül Wind auf, er blies den Schnee zu Schwaden auf, die den Mond verhüllten, und Jlien staunte, wie tiefschwarz der Himmel sich wölbte. Darin stand eine Flut von Sternen, allein die schiere Menge war unfassbar. Dazu waren sie nicht einfach gelb, wie Jlien sich Sterne bisher gedacht hatte, sie sah, dass es goldene, weiße und grüne gab, stahlgraue, blaue und gar rötliche. Es gab fette, unverrückbare und ganz feine, zittrige, die vielleicht eben erst erglommen oder bereits erloschen. Sie entdeckte, dass die Masse der Sterne Struktur hatte, sich verdichtete zu einer Brücke oder einem Pfad, der sich vom Piz Tomül bis hin zum Dachberg spannte, und sie begriff, dass sie die Milchstraße sah. Sie war davor nie auf den Gedanken gekommen, dass es die geben könnte, sie kannte sie nur aus einem Kinderbuch, das ihr Vater ihr vor sehr Langem vorgelesen hatte, Peterchens Mondfahrt.

Gleich war alle Erinnerung wieder da, die Sternchenwiese mit den tausend Stühlchen, auf denen die Sterne saßen, deren jedes die Aufgabe hatte, ein Menschenkind sein Leben lang zu schützen und ihm Glück zu schenken. Die Weihnachtswiese mit den Pfefferkuchenbäumen, mit einer Marzipanschweinezüchterei und Wegen aus Krachmandelkies. Vor allem aber die Kette winziger Sternenkinder, die noch kein Menschenkind beschützen durften und die doch schon heimlich zur Erde hinabschielten, weil – wer weiß? – vielleicht gerade ein Kind geboren wurde, das eben doch ganz dringend einen Glücksstern brauchte …

Und ebenda sah Jlien in einer abgelegenen Himmelsecke, in der kaum Sterne standen, einen ganz scheuen, der zwinkerte und flackerte und derart winzig war, dass er immer wieder verschwand. Das war das Zeichen, daran zweifelte sie keinen Augenblick, das war das Sternlein ihres ungeborenen Kindes, das gewiss in ihrem Bauch nicht anders mit dem Leben kämpfte. Und schon konnte sie nicht mehr begreifen, wohin sie sich die letzten Wochen verrannt hatte, schon konnte sie nur noch denken, dass das Kind dringend ihre Wärme brauchte, dass sie es beschützen und lieben musste und dass dies und nichts sonst ihre Aufgabe war.

Als sie auf dem Rückweg zum Hotel wieder zu rutschen versuchte, sah sie sich schon mit dem Kind um die Wette schlittern. Sie roch den Ofen einer Bäckerei und stellte sich vor, wie sie mit dem Kind Pfefferkuchen backen würde.

Sie setzte sich in den Speisesaal, lange bevor das erste Personal kam, sie hatte vieles zu denken. Auch Doris kam früh, das Buffet wurde erst aufgebaut. Dem Kellner, der sie an den Tisch begleitete, sagte sie: »Bringen Sie mir doch bitte dasselbe«, und zeigte auf Jliens Latte macchiato.

»Auch ohne Koffein?«, fragte der Kellner, und Doris nickte nur. Dann, nachdem er gegangen war, brach sie in Tränen aus.

»Ich wusste nicht, dass es dich so beschäftigt«, sagte Jlien, während sie zuließ, dass Doris ihre Hände fasste, sie küsste und das tränennasse Gesicht darin verbarg.

Doris lachte nur, sah auf und schüttelte den Kopf, dann betrachteten sie einander, als müssten sie sich neu kennenlernen.

»Du hast endlich mal Farbe im Gesicht«, stellte Jliens Mutter fest.

»Mir ist auch warm«, sagte Jlien, »und hungrig bin ich.« Sie befreite ihre Hände, stand auf und ging zum Buffet. »Wenn es da ist«, sagte sie, als sie an den Tisch zurück- kehrte, »glaubst du, Papa kommt dann mal vorbei?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Doris nur, »ich weiß es wirklich nicht.«

Danach schwiegen sie wieder, und jede ging ihren Gedanken nach.

zurück

Heilige Nacht

Lise Lavoisier war früh Mutter geworden, sie war alleinerziehend und gönnte sich nicht viel. Die kleine Reise in die Berge hatten Bürokollegen und ihr Professor ihr zum achtundzwanzigsten Geburtstag geschenkt, Lise Lavoisier war Sekretärin am Romanischen Institut der Berner Universität. »Ein Wochenende für zwei, damit du mal auf andere Gedanken kommst«, hatten sie gesagt. Frivolere Gedanken meinten sie gewiss, denn das Hotel war eines für Liebende, nicht für Familien. Lise Lavoisier hatte aber weder einen Liebhaber noch Geld für einen Babysitter, daher buchte sie um, drei Nächte im Einerzimmer mit Kinderbett. Sie meldete Marlette vom Hort ab und nahm sie auf die Reise mit.

Marlette war nicht ganz vier, sie war noch nie in einem Hotel gewesen, und sie liebte alles: das große Bett (denn auch das Einerzimmer hatte Doppelbett, und natürlich schloss Marlette gleich kategorisch aus, im Kinderbett zu schlafen), den Plüschteppich und ganz besonders die Nachttischlampe, die nach unten strahlte und nach oben ein ganz mattes tiefblaues Licht abgab, das Maman ›apothekerblau‹ nannte. »Das machen wir die ganze Nacht nicht aus«, rief Marlette und überhörte Mamans Stöhnen, »das ist so schön!«

Auch die Lampen im Salon begeisterten sie, denn obwohl erst Herbst war, schienen sie aus abgesägten Eiszapfen und nassem Schnee zu sein und hingen in Nischen aus richtigem Gold. Allerdings musste sie insistieren, bis ein Kellner und Maman ihren Tisch so verschoben, dass sie nicht erschlagen werden konnten. Dass man unter Eiszapfen nicht stehen bleiben darf, schon gar nicht sitzen, hatte sie letzten Winter gelernt und sich sehr wohl gemerkt.

Das Personal war ausgesprochen nett, Marlette verwirrte es nur etwas, dass niemand Schuhe mit Schnürsenkeln trug. Alle hatten welche mit Schnallen oder Klettverschluss, so wie sie an ihren Schühchen, dabei hatte Maman stets behauptet, es gehöre zum Erwachsenwerden, dass man Schuhe mit Schnürsenkeln trug. Als ein Kellner merkte, dass sie tuschelten, und Maman ihm sagte, worüber, sagte er, er trage solche Schuhe, damit die paar Kinder, die zu Gast ins Hotel Therme kämen, sich nicht ganz so fremd zu fühlen brauchten. Das fand Marlette schon toll, und richtig zum Verlieben fand sie ihn, nachdem sie ihn aufgeklärt