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Die Gründe, warum sie ihren Weg in die Therme hoch oben in den Bergen finden, sind vielfältig – alle Figuren in Tim Krohns Nachts in Vals eint allerdings eins: Der Aufenthalt dort wird ihr Leben verändern. Ob um gemeinsam mit der Mutter über eine ungewollte Schwangerschaft nachzudenken, um eine noch junge Liebe zu feiern, als Barmusiker den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen, in sich zu gehen, neue Bekanntschaften zu machen oder eine in alle Welt verstreute Familie zu einem Jubiläum zu vereinen – der Aufenthalt im Ort mit dem vielleicht schönsten Sternenhimmel der Schweiz und dem berühmten Hotel ist für sie alle, mit ihren unterschiedlichsten Motivationen, das Richtige.Da sind Aiuoletta und Luca, das frisch verliebte Teenager-Paar, das an der Rezeption feststellen muss, dass das Geld bestenfalls für zwei Nächte reicht – die beiden nehmen ein billiges Zimmer im Ort, schmuggeln sich heimlich ins Hotel und erleben eine abenteuerliche Nacht in der Therme, die ihn zur ersten Notlüge zwingt und die ihre Beziehung einschneidend verändert. Da ist ein gescheiterter Trompeter, der als Barmusiker sein Geld verdient – und im Maschinenraum des Hotels einen Ort entdeckt, an dem er endlich zu seinem ureigenen Ton findet. Da ist eine junge, ungewollt schwangere Frau, und da ist ein alter Schriftsteller, der sich angesichts des längst herbeigesehnten Todes vom Zyniker zum staunenden Jungen zurückverwandelt.Die Geschichten Tim Krohns umfassen die ganze Spanne des menschlichen Lebens, alle spielen am selben Ort, und in jeder spannt der Himmel sein Sternenzelt auf: Die Nacht in Vals wird zum Wendepunkt im Leben der Protagonisten.
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Seitenzahl: 104
Veröffentlichungsjahr: 2015
Tim Krohn
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Tim Krohn, geboren 1965, lebt als freier Schriftsteller in Santa Maria Val Müstair. Sein Roman Vrenelis Gärtli stand wochenlang auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste. Er war Vorsitzender des Schweizer Schriftstellerverbandes und wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien bedacht. Zuletzt veröffentlichte Tim Krohn bei Galiani den hochgelobten Erzählband Aus dem Leben einer Matratze bester Machart (2014), der auch ins Italienische übersetzt ist.
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In Vals verwandelt sich der Mensch.
Die Gründe, warum sie ihren Weg in die Therme hoch oben in den Bergen finden, sind vielfältig – alle Figuren in Tim Krohns Nachts in Vals eint allerdings eins: Der Aufenthalt dort wird ihr Leben verändern.
Ob um gemeinsam mit der Mutter über eine ungewollte Schwangerschaft nachzudenken, um eine noch junge Liebe zu feiern, als Barmusiker den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen, in sich zu gehen, neue Bekanntschaften zu machen oder eine in alle Welt verstreute Familie zu einem Jubiläum zu vereinen – der Aufenthalt im Ort mit dem vielleicht schönsten Sternenhimmel der Schweiz und dem berühmten Hotel ist für sie alle, mit ihren unterschiedlichsten Motivationen, der richtige.
Da sind Aiuoletta und Luca, das frisch verliebte Teenager-Paar, das an der Rezeption feststellen muss, dass das Geld bestenfalls für zwei Nachte reicht – die beiden nehmen ein billiges Zimmer im Ort, schmuggeln sich heimlich ins Hotel und erleben eine abenteuerliche Nacht in der Therme, die ihn zur ersten Notlüge zwingt und die ihre Beziehung einschneidend verändert.
Da ist ein gescheiterter Trompeter, der als Barmusiker sein Geld verdient – und im Maschinenraum des Hotels einen Ort entdeckt, an dem er endlich zu seinem ureigenen Ton findet. Da ist eine junge, ungewollt schwangere Frau, und da ist ein alter Schriftsteller, der sich angesichts des längst herbeigesehnten Todes vom Zyniker zum staunenden Jungen zurückverwandelt.
Die Geschichten Tim Krohns umfassen die ganze Spanne des menschlichen Lebens, alle spielen am selben Ort, und in jeder spannt der Himmel sein Sternenzelt aus: Die Nacht in Vals wird zum Wendepunkt im Leben der Protagonisten.
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Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln
Verlag Galiani Berlin
© 2015, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
eBook © 2015, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Manja Hellpap und Lisa Neuhalfen, Berlin
Covermotiv: © Adrian Vieli
Lektorat: Wolfgang Hörner
ISBN978-3-462-31509-7
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Widmung
Strahlende Nacht
Heilige Nacht
Lange Nacht
Helle Nacht
Schwarze Nacht
Klare Nacht
Schwere Nacht
Stille Nacht
Letzte Nacht
Hinweise zum Text
Für Annalisa und Peter, die die Seele des Hauses waren
Jlien Meinhard hatte schon immer schnell gefroren, doch seit sie wusste, dass sie schwanger war, hörte die Kälte gar nicht mehr auf. Sie hatte im Jahr davor die Zürcher Schauspielschule abgeschlossen, hatte ein Debütantinnenjahr am Essener Schauspiel hinter sich, aber ihr Vertrag war nicht verlängert worden. Das wunderte sie nicht, sie hatte in jenem Jahr viel Liebeskummer gehabt und schlecht gespielt. Jlien Meinhard war fein von Gestalt, sie hatte große, kindliche Augen und trug das Haar zum Bubikopf geschnitten. Sie war an der Schauspielschule die Frau gewesen, die jeden hätte haben können und die keinen wollte, weil sie sich selbst noch nicht als Frau sah.
Erst im letzten Schuljahr hatte sie eine komplizierte Beziehung zu ihrem Sprecherzieher Urs begonnen, der mehr als doppelt so alt war wie sie, ein brachialer, unreifer Mensch zwar, doch er war auch doppelt so schwer, und sie liebte es, in seinen Armen zu versinken. Allerdings war er bekannt für seine Affären, und kaum war Jlien nach Essen abgereist, schlief er mit einer Regiestudentin aus dem ersten Jahr. Das hinderte ihn nicht daran, Jlien eifersüchtig nachzustellen, nachts rief er alle paar Stunden an und raubte ihr den Schlaf, dabei erschöpfte sie die Arbeit am Theater so sehr. Doch auch Jlien fiel es schwer, Urs hinter sich zu lassen. Als sie nach Spielzeitende das Zimmer in Essen aufgab und nach Zürich zurückkehrte, drängte sich eine Entscheidung auf. Jlien wollte bei ihm einziehen (vorübergehend schlief sie in ihrer alten WG auf dem Sofa), doch Urs fürchtete ihre Kontrolle. Nach heftigem Streit trennten sie sich Mitte Dezember, zehn Tage später stellte sie fest, dass sie schwanger war. Und seither fror sie.
Im Thurgau lebte noch ihre Mutter, sie arbeitete als Bürofachfrau in einer Möbelfabrik. Für die Feiertage fuhr Jlien zu ihr, sie feierten wie stets ein stilles Weihnachtsfest zu zweit. Jliens Vater, ein deutschstämmiger Südafrikaner, war nach Kapstadt zurückgekehrt, als Jlien sechs war, sie hatte keine Geschwister (ihr kleinerer Bruder war als Dreijähriger mit dem Dreirad tödlich verunglückt).
Doris Meinhard war eine schweigsame Frau, und obwohl sie zweifellos gemerkt hatte, dass ihre Tochter aufgewühlt war, wartete sie, bis Jlien von sich aus erzählte. Und auch danach sagte sie nur: »Fahr mit mir nach Vals, in der Therme wird dir wieder warm.«
Anfang Januar fuhren sie, doch Jlien fröstelte selbst im Feuerbecken. Sie teilten sich ein Zimmer im Haus Selva, zweimal täglich gingen sie ins Bad, zweimal täglich aßen sie, das Mittagessen ließen sie aus, stattdessen tranken sie in der Hotellounge Kaffee. Die übrige Zeit saß Jlien auf dem Bett, die Knie unters Kinn gezogen, sah in die verschneiten Lärchen vor dem Fenster und hörte dem Klicken der Nadeln zu, denn Doris Meinhard saß am Tisch und strickte. Beide schwiegen. Erst am Nachmittag des dritten Tages fragte Jlien irgendwann: »Was muss ich tun, um abzutreiben?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ihre Mutter. »Ich will es auch nicht wissen.«
»Mit Kind kann ich die Schauspielerei vergessen«, sagte Jlien. »Und ich bin viel zu jung für ein Kind.«
»Ich war auch vierundzwanzig«, sagte Doris, nachdem sie Maschen gezählt hatte.
»Und was ist aus dir geworden?«, sagte Jlien.
Darauf sagte ihre Mutter nichts.
»Ich kann kein Kind allein großziehen«, sagte Jlien. »Ich brauche einen Mann.«
»Ich helfe dir«, versprach ihr Doris. »Und so, wie du aussiehst, findest du auch mit Kind noch einen guten Mann.«
»Du hast auch keinen gefunden«, sagte Jlien.
»Ich habe keinen gesucht«, sagte Doris.
In der Lounge bestellte Jlien Latte macchiato mit einem doppelten Espresso. »Vielleicht kurbelt das den Kreislauf an«, sagte sie, »und sieh mich nicht so an. Ich brauche keine Rücksicht zu nehmen, ich werde dieses Kind nicht kriegen.«
»Teilen wir uns ein Stück Kuchen?«, fragte Doris nur. Das fragte sie jeden Nachmittag, doch sie bestellten nie Kuchen.
Die Nächte waren lang, denn Doris Meinhard träumte stets heftig, und Jlien lag schlaflos auf dem Rücken, musterte die Schatten an der Decke und fühlte das Fremde, das in ihr nistete und alle Wärme raubte. In der dritten Nacht schrie Doris mehrmals im Schlaf, sie träumte noch oft von jenem Unglücksfall, und schließlich kleidete Jlien sich wieder an – der Kälte wegen hatte sie sich nur halb ausgezogen –, verließ das Haus Selva und machte sich auf den Weg ins Dorf.
Die Straße war zwar geräumt, doch nur vom Neuschnee, darunter lag eine glatte, harte Schneeschicht, auf der man leicht ausglitt. Jlien versuchte, mit Anlauf zu rutschen, doch dafür hatten ihre Schuhe zu viel Profil, stattdessen warf sie Schneebälle, bis der Schnee in Klumpen an den Strickhandschuhen klebte.
Es war eine ausgesprochen klare Nacht. Tagsüber hatte es Flocken geschneit, die fein waren wie Glitter, nun hatte sich der Himmel aufgetan, doch hinter den elektrischen Weihnachtssternen an den Straßenlampenmasten erahnte sie die echten Sterne nur. Während sie über die Brücke ging, glitt sie aus, doch es gelang ihr, sich aufzufangen. »Gelernt ist gelernt«, sagte sie, dachte an den Akrobatikunterricht und sehnte sich danach, wieder auf der Bühne zu stehen. Gleich verstärkte sich das Gefühl im Unterleib.
Sie hatte Angst vor der Abtreibung, die sicherlich schmerzhaft sein würde, und begann nach Zeichen zu suchen, die ihren Entschluss bestätigten. In einem Schaufenster stand die Weihnachtskrippe, das war, entschied sie, kein Zeichen. Die Taschenmesser daneben sahen schon mehr nach Zeichen aus. Beim Dorfbrunnen trank sie schneidend kaltes Wasser aus der hohlen Hand, eine Marienstatue mit Kind schmückte die Brunnensäule. War das ein Zeichen? Eher war ein Zeichen, dass der Schnee das Jesuskind fast ganz verschwinden ließ, nur ein fettes Unterärmchen und das Kinn nicht.
Etwas weiter dorfaufwärts hörte sie ein Bimmeln, das klang wie das Weihnachtsglöckchen in ihrer Kindheit, es kam aus einem Ziegenstall. »Hallo, Ziegen«, sprach sie in die Finsternis und sorgte im Stall für Aufregung. Es rumpelte, sie hörte ein sonores Meckern und dann ein dünnes, herzerweichend helles »Mäh«.
»Ein Frühchen«, dachte sie, »das überlebt die Kälte nicht.« Dann fiel ihr ein, dass es zu Ostern sowieso geschlachtet würde, auch Doris briet fast jedes Jahr ein Osterzicklein.
Doch all das waren keine klaren Zeichen. »Gib mir ein Zeichen«, befahl sie dem Himmel, während sie die Dorfstraße verließ, und setzte sich abseits auf einen Schneehaufen. Der Mond stand als scharfe Sichel über dem Grat des Piz Tomül. Sie malte sich aus, wie ihr mit einer solchen Sichel der Fötus aus dem Leib geschnitten würde, danach wäre sie wieder das unschuldige Kind, das sie bis vor vier Wochen gewesen war, ein Kind, das Wärme, Geborgenheit, Schutz verdient hatte.
Dann kam am Grat des Piz Tomül Wind auf, er blies den Schnee zu Schwaden auf, die den Mond verhüllten, und Jlien staunte, wie tiefschwarz der Himmel sich wölbte. Darin stand eine Flut von Sternen, allein die schiere Menge war unfassbar. Dazu waren sie nicht einfach gelb, wie Jlien sich Sterne bisher gedacht hatte, sie sah, dass es goldene, weiße und grüne gab, stahlgraue, blaue und gar rötliche. Es gab fette, unverrückbare und ganz feine, zittrige, die vielleicht eben erst erglommen oder bereits erloschen. Sie entdeckte, dass die Masse der Sterne Struktur hatte, sich verdichtete zu einer Brücke oder einem Pfad, der sich vom Piz Tomül bis hin zum Dachberg spannte, und sie begriff, dass sie die Milchstraße sah. Sie war davor nie auf den Gedanken gekommen, dass es die geben könnte, sie kannte sie nur aus einem Kinderbuch, das ihr Vater ihr vor sehr Langem vorgelesen hatte, Peterchens Mondfahrt.
Gleich war alle Erinnerung wieder da, die Sternchenwiese mit den tausend Stühlchen, auf denen die Sterne saßen, deren jedes die Aufgabe hatte, ein Menschenkind sein Leben lang zu schützen und ihm Glück zu schenken. Die Weihnachtswiese mit den Pfefferkuchenbäumen, mit einer Marzipanschweinezüchterei und Wegen aus Krachmandelkies. Vor allem aber die Kette winziger Sternenkinder, die noch kein Menschenkind beschützen durften und die doch schon heimlich zur Erde hinabschielten, weil – wer weiß? – vielleicht gerade ein Kind geboren wurde, das eben doch ganz dringend einen Glücksstern brauchte …
Und ebenda sah Jlien in einer abgelegenen Himmelsecke, in der kaum Sterne standen, einen ganz scheuen, der zwinkerte und flackerte und derart winzig war, dass er immer wieder verschwand. Das war das Zeichen, daran zweifelte sie keinen Augenblick, das war das Sternlein ihres ungeborenen Kindes, das gewiss in ihrem Bauch nicht anders mit dem Leben kämpfte. Und schon konnte sie nicht mehr begreifen, wohin sie sich die letzten Wochen verrannt hatte, schon konnte sie nur noch denken, dass das Kind dringend ihre Wärme brauchte, dass sie es beschützen und lieben musste und dass dies und nichts sonst ihre Aufgabe war.
Als sie auf dem Rückweg zum Hotel wieder zu rutschen versuchte, sah sie sich schon mit dem Kind um die Wette schlittern. Sie roch den Ofen einer Bäckerei und stellte sich vor, wie sie mit dem Kind Pfefferkuchen backen würde.
Sie setzte sich in den Speisesaal, lange bevor das erste Personal kam, sie hatte vieles zu denken. Auch Doris kam früh, das Buffet wurde erst aufgebaut. Dem Kellner, der sie an den Tisch begleitete, sagte sie: »Bringen Sie mir doch bitte dasselbe«, und zeigte auf Jliens Latte macchiato.
»Auch ohne Koffein?«, fragte der Kellner, und Doris nickte nur. Dann, nachdem er gegangen war, brach sie in Tränen aus.
