Erich Wyss übt den freien Fall - Tim Krohn - E-Book

Erich Wyss übt den freien Fall E-Book

Tim Krohn

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Beschreibung

»Lesegenuss pur … Aufhören kommt nicht in Frage.« SRF Kultur über Herr Brechbühl sucht eine Katze. Alltagsprobleme, die Folgen von 9/11 und letzte Dinge – für 11 Bewohner eines Zürcher Mietshauses geht es diesmal an die Existenz. Es ist heiß in der Stadt im Sommer 2001. Der Besuch von Efgenia Costas Familie sorgt für viel Fischgeruch, Trubel und Ärger im Treppenhaus. Doch dann wird es wirklich ernst: Ein plötzlicher Todesfall und die Nachricht vom Anschlag auf das World Trade Center haben für die 11 Bewohnerinnen und Bewohner eines Zürcher Mietshauses überraschende Folgen: Die Schauspielerin Selina May erfährt, dass ihr Filmprojekt vertagt wird, Julia gehen Aufträge verloren, Pit macht wieder Musik. Moritz reist nicht wie geplant nach New York, dafür Hubert Brechbühl spontan nach Istanbul. Tim Krohn fuhrt mit diesem Band seine groß angelegte literarische Erkundung aller Gefühle, Charakterzüge und Abgründe des Menschen fort. Klug, sensibel und bisweilen auch schalkhaft ordnet er 68 »menschliche Regungen« den verschiedenen Figuren zu. So lässt er bei Selinas Filmproben drei Vorstellungen von »Perfektionismus« aufeinanderprallen, bringt die sehr ungleichen Frauen Efgenia Costa und Julia Sommer in doppelsinniger »Leselust« zusammen und schickt den 81-jahrigen Erich Wyss auf eine emotionale Berg-und-Tal-Fahrt durch »Transvestitismus«, »Mordlust«, »Sehnsucht« und »Schelmerei«. Tim Krohns liebenswerte, ganz normal verschrobene Haus-WG-Bewohner wachsen dem Leser mit diesem Band noch mehr ans Herz. Und da Krohn das Kunststück gelingt, die Geschichten gerade ausreichend offenzuhalten, bleibt die Spannung bis zum Ende – und darüber hinaus.

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Seitenzahl: 581

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Tim Krohn

Erich Wyss übt den freien Fall

Menschliche Regungen ~ Band 2

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Tim Krohn

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Begriffe

Gemütlichkeit

Geradlinigkeit

Unterhaltsamkeit

Besonnenheit

Sympathie

Tatkraft

Genusssinn

Interesse

Beständigkeit

Courage

Scham

Offenheit

Verlässlichkeit

Kopflastigkeit

Perfektionismus

Reife

Kompromissbereitschaft

Nachahmung

Seelenverwandtschaft

Dezenz

Überraschung

Leselust

Unentschiedenheit

Eloquenz

Anarchie

Lust

Kaprize

Wertschätzung

Geiz

Frühlingserwachen

Todessehnsucht

Wiedersehensfreude

Weitsicht

Gemütsvölle

Flugangst

Familiensinn

Freude

Müßiggang

Sehnsucht

Kuriosität

Zorn

Scharfsinn

Schelmerei

Feinsinn

Zuversicht

Genialität

Vielseitigkeit

Hexerei

Gastfreundschaft

Geist

Begierde

Originalität

Betroffenheit

Eigenheit

Empathie

Beunruhigung

Toleranz

Aufmerksamkeit

Tiefgründigkeit

Mut

Höhenangst

Transvestitismus

Kompetenz

Edelkeit

Wildheit

Mordlust

Neugierde

Schlüpfrigkeit

Nachbemerkung

Liste der in diesem Band beschriebenen menschlichen Regungen und ihrer Unterstützer

Anhang

Inhaltsverzeichnis

Im Anhang finden Sie sämtliche Begriffe, die im Lauf des ›Menschliche-Regungen‹-Projekts mit Leben gefüllt werden sollen. Alle Begriffe, die in diesem Band und den bisher erschienenen Bänden der Serie bereits eine Geschichte bekamen, wurden gefettet.

Inhaltsverzeichnis

Gemütlichkeit

Als Paul Lutz die Tür zu seiner neuen Wohnung aufschließen wollte, stellte er fest, dass von innen bereits ein Schlüssel stecken musste. Er sah die vielen Kinderschuhe auf dem Treppenabsatz und vergewisserte sich nochmals, dass auf dem Klingelschild »Dienstwohnung BGT« stand. Er klingelte, und als er in der Wohnung jemanden in einer Sprache schimpfen hörte, die ihm völlig fremd war, schulterte er wieder seine Tasche, die er abgestellt hatte, weil sein Handwerkszeug so schwer war.

»Hier bin ich, Lutz mein Name«, sagte er, als eine Frau mittleren Alters öffnete, reichte ihr die linke Hand, weil die Tasche abzurutschen drohte und er den Riemen halten musste, und schob sich an ihr vorbei. In der Wohnung herrschte gemütliches Chaos, aber die Kinder, die hier getobt haben mussten, waren ausgeflogen.

»Welches ist denn mein Zimmer?«, fragte er, dann fiel ihm ein, dass die Frau vielleicht nicht wusste, wer er war. »Ich bin der neue Hauswart, ich fange morgen an«, erklärte er. »Das ist die Hauswartswohnung. Aber es stört mich nicht, sie mit Ihnen zu teilen, im Gegenteil. Gesellschaft tut mir gut. Zeigen Sie mir nur, wo ich schlafe.«

Die Frau trat stattdessen ins Treppenhaus und schrie: »Efgenia! Adamo!«, und wieder etwas in jener Sprache, deren Klang ihm außerordentlich gefiel.

»Ist das Russisch?«, fragte er, als sie ihre kleine Litanei beendet hatte. Doch bevor sie Antwort geben konnte, rief von oben eine Frau zurück, und nun ging es eine Weile hin und her. Schließlich ließ er die Tasche wieder zu Boden gleiten und gesellte sich zu ihr ins Treppenhaus.

Inzwischen kam ein Mann mit Pferdeschwanz die Treppe herab. »Wer sind Sie, und was tun Sie hier?«, fragte er.

»Ich bin der neue Hauswart, ich fange morgen an«, erklärte Paul und gab ihm die Hand. »Lutz.«

Der Mann stutzte, dann ergriff er sie und sagte: »Adamo. Adamo Costa. Uns hat keiner gesagt, dass du kommst.«

»Also dann, Paul«, sagte Paul Lutz, als er hörte, dass der andere ihn duzte. »Das ist doch aber die Dienstwohnung, oder?«

»Ja, nur …«, begann Adamo und brach wieder ab. Mittlerweile war ihm eine zweite Frau die Treppe hinab gefolgt, die der ersten glich, sie sah nur älter aus. Sie hatte beim Gehen Beschwerden. »Das ist Lutz«, sagte Adamo zu ihr, »er ist der neue Hauswart. Er braucht die Wohnung.«

Paul winkte ab: »Nein, nein«, doch bevor er weiterreden konnte, sagte die zweite: »Das ist er also.« Und nach kurzem Zögern gab sie ihm die Hand. »Efgenia.«

»Also Paul«, sagte er. »Paul Lutz. Und es stört mich gar nicht, wenn hier Leute wohnen. Ich brauche nicht viel Platz.«

Efgenia redete in jener schönen Sprache auf die erste Frau ein, dann nahm sie ihn am Handgelenk und sagte: »Gehen wir erst mal zu uns.«

Aufwärts lief sie besser. Er begleitete sie in den dritten Stock, während Adamo und die erste Frau unten blieben. »Was sprecht ihr, Russisch? Oder Polnisch?«, wollte Paul wissen.

»Griechisch«, antwortete sie. »Die ganze Familie ist zu Besuch, meine Eltern oben, die Schwester mit den Kindern unten – dachten wir. Sollen sie meinetwegen hochziehen, jetzt ist es ja endlich Sommer geworden, und Adamo und ich können auf dem Balkon schlafen.«

»Ich will wirklich keine Umstände machen«, sagte Paul abermals. »Ich fühle mich in Gesellschaft sehr wohl.« Doch Efgenia überhörte ihn.

Auch in der oberen Wohnung fühlte er sich gleich zu Hause. Es roch nach ganz vielem, unter anderem nach Essen, Kleider lagen überall, irgendwo lief ein Radio. Efgenia führte ihn auf einen kleinen, hübschen Balkon, auf dem ein Grill, Stühle, ein Hocker und ein Tischlein standen und Geranien blühten. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie Efgenia und Adamo hier nachts Platz finden sollten. Aber die Sicht auf die nahe Kirche begeisterte ihn, und dass er mit ausgestrecktem Arm und gerecktem Körper fast in die Krone eines der japanischen Schnurbäume greifen konnte, die die Röntgenstrasse säumten, erinnerte ihn an ein Buch, das ihm vor Langem vorgelesen worden war, die Geschichte eines Barons, der in Baumkronen lebte und nie herabstieg.

Als Efgenia mit einem Krug Eistee und Gläsern wiederkam, hatte er sich auf den Hocker gesetzt und sagte: »Richtig lauschig ist es hier bei euch.« Sie goss ihm nur ein und ging wieder – wenn er recht verstanden hatte, war sie durch seine Ankunft beim Bügeln gestört worden. Kurz darauf zeigte sich Adamo in der Balkontür, er hatte zwei Koffer ins Wohnzimmer gestellt und erkundigte sich, ob er gut versorgt sei.

»Ich habe es hier herrlich«, sagte Paul, dann war er wieder allein. Doch nun hörte er unten auf der Straße abermals Griechisch sprechen, er beugte sich übers Geländer und sah Kinder, dahinter zwei Erwachsene mit Strohhüten. Kurz darauf betraten sie die Wohnung, die Erwachsenen – dem Aussehen nach Efgenias Eltern – hängten im Wohnzimmer Badekleidung und Tücher über die Stühle und setzten sich zu ihm auf den Balkon. Sie mussten sich alle etwas quetschen, denn der Grill stand wirklich unglücklich.

»Kalispera«, sagten sie und schenkten sich Eistee ein, dann bot der Mann ihm eine Zigarette an (Paul rauchte aber nicht). Er zündete sich selber eine an und wollte wissen, ob er ein Freund von Adamo sei. Er sprach mit Akzent, aber fließend Deutsch.

»Nein, ich bin der neue Hauswart«, sagte Paul. »Sie sind Efgenias Eltern, richtig?«

»Richtig«, bestätigte er und übersetzte für seine Frau. Die schlug ihn freundlich vor die Stirn und sagte zwei, drei Worte.

»Meine Frau hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Efgenia uns gerade eben von Ihnen erzählt hat«, erklärte er. »Sie benötigen die Wohnung, deshalb muss Eleni mit den Kindern hochziehen.«

»Nein, das wäre mir nicht recht«, widersprach Paul, »und es ist auch nicht nötig. Ich brauche nicht viel Platz.«

Efgenias Vater übersetzte wieder, und die Mutter gab Antwort, dann ging sie hinein.

»Ich habe sie doch nicht vertrieben?«, fragte Paul. »Ich möchte niemanden vertreiben.«

»Sie geht nur kochen«, sagte der Vater. »Für Sie.«

»Für mich?«, rief Paul, »warum für mich?«

Er antwortete: »Ich hatte ihr übersetzt, dass Sie die Wohnung mit Eleni teilen möchten, und sie meinte, es wäre nicht das Schlechteste, wenn Sie Eleni schwängern. Dass Sie bestimmt der bessere Mann wären als der, mit dem Eleni zusammenlebt, und sie außerdem dann mit den Kindern hierbleiben könnte.«

»Oh«, sagte Paul und wurde rot, »so weit hatte ich gar nicht gedacht.«

Damit endete das Gespräch, denn die drei Kinder drängten gleichzeitig auf den Balkon und stritten sich um den Eistee. Dabei gingen zwei Gläser zu Bruch, und Adamo musste hinunter zu den Nachbarn, weil auf deren Balkon Scherben lagen. Dort war allerdings keiner zu Hause.

»Bestimmt sind sie in diesem Schwimmbad vorn am Fluss, wie heißt es noch gleich?«, sagte Efgenias Vater, den sie im Übrigen Babas nannten, und nachdem Paul gestanden hatte, dass er sich in Zürich noch nicht auskannte, schwärmte Babas lange von jenem Bad gleich um die Ecke, von halb nackten Teenagern, schön wie der Tag, und davon, wie wenig Immigranten es gab. Paul hörte ihm sehr gern zu, obwohl er nicht in allem mit ihm einigging.

Schließlich kam Efgenias Mutter wieder, die sie Mana nannten, und wollte, dass er mit ihr in die Küche kam. Dort war alles voller Dampf und Rauch, denn sie kochte und briet bei geschlossenem Fenster, und auf allen Platten, ebenso im Backofen. »Sonntags macht sie immer großes Familienessen«, erklärte Babas, der ihnen gefolgt war, und schob ihm einen Stuhl in die Kniekehlen. Mana redete nun mehr, als Babas übersetzen mochte. »Sie findet, Sie sind zu mager, und will Sie mästen«, sagte er nur, und so saß Paul die ganze Zeit über neben dem Herd, während Efgenia und Adamo den Tisch auszogen und deckten, Mana ihre Rezepte erläuterte, Babas bei Ouzo auf Eis seine Sehnsucht nach einem Großgriechenland im Geiste Alexanders des Großen ausbreitete, das die Welt wieder an die alten hellenischen Werte heranführen und vor der zionistischen Weltverschwörung retten sollte, Eleni im Wohnzimmer schimpfend Koffer auspackte und den Kindern Notbetten herrichtete, das kleine Mädchen sich erbrach, weil es von den Büschen am Weg gegessen haben musste, was es angeblich dauernd und überall tat – »die reinste Ziege«, sagte Babas –, und die beiden Buben sich schlugen. Paul kam sich vor wie ein König, vor ihm tobte die Welt, und er brauchte nur gelegentlich den Mund zu öffnen, damit Mana ihm die Kochkelle hineinschieben und ihn mit einer weiteren Delikatesse ihrer Familie vertraut machen konnte, die, wenn er recht begriff, aus einer Vorstadt von Athen stammte.

Zum eigentlichen Essen war er leider nicht mehr eingeladen. Kurz bevor es losging, kam Adamo, der für eine Weile verschwunden war, und sagte: »Auf geht’s, Lutz, deine Wohnung ist geräumt und geputzt. Willst du noch ein Bier mit nach unten nehmen?«

»Nein, ich bin schon reich beschenkt«, sagte er, und nachdem Mana ihm noch schnell einen Löffel von etwas in den Mund geschoben hatte, das laut Babas das Gelbe eines hart gekochten Eis an selbst fermentierter Fischsauce war, reichte er allen reihum die Hand (die Kinderhände waren klebrig) und ging hinunter.

Seine Wohnung lag schon im Schatten, und sie sah jetzt sehr karg aus. Aber er konnte noch die Kinder riechen, und als er das Bettsofa von der Wand schob, weil ihm schien, dass eine Schraube lose war, fand er eine unanständige Zeichnung auf die Tapete gekritzelt. Mit einer Mischung aus Wehmut und Befremden dachte er an seine eigenen ersten Fantasien und nahm sich vor, am nächsten Tag die Stelle neu zu streichen.

Kurz experimentierte er damit, seine Kleider in der Wohnung zu verstreuen wie die Costas, doch er merkte schnell, dass es nicht dasselbe war, sammelte sie wieder ein und legte sie gefaltet in den Schrank. Danach machte er einen Spaziergang zum Letten, sah den Jugendlichen zu, wie sie vom Brückengeländer in den Fluss sprangen, und genoss die Sonne, die hier noch überhaupt nicht an Abend und Alleinsein denken ließ.

Inhaltsverzeichnis

Geradlinigkeit

Abends nach zehn, als endlich die Dämmerung hereinbrach, hatte Paul Lutz noch alle Gebäude der Kolonie Röntgen abgeschritten und sich notiert, wo in den Treppenhäusern Glühbirnen zu ersetzen waren. Danach hatte er sich schlafen gelegt. Doch er verbrachte eine sehr unruhige Nacht, denn vor Aufregung über den Stellenbeginn hatte er Bauchkrämpfe, und schon vor sechs Uhr erhob er sich, um seine Arbeit anzutreten.

Als Erstes sichtete er im Hof die Werkstatteinrichtung und das Materiallager, dann studierte er die Manuale einiger Maschinen und vereinbarte Termine mit der Sanitärfirma, um sich die Technik und den Wartungsstand von Heizungen, Wasserleitungen und Waschküchentechnik erklären zu lassen. Um neun Uhr ging er kurz zu Coop, um das Nötigste einzukaufen und im Stehen zu frühstücken, dann erst wagte er, des Schepperns der Leiter wegen, in den Treppenhäusern die defekten Glühbirnen zu ersetzen und die Schließer mancher Haustüren zu justieren, damit sie sanfter schlossen.

Als Genossenschaftssekretär Dr. Häberli und Koloniechef Läubli kamen, um ihn zu begrüßen und durch seine neue Wirkungsstätte zu führen, war ihm das meiste daher schon vertraut, und er fand Gelegenheit, sein Fachwissen unter Beweis zu stellen. So teilte er ihnen mit, dass es für die Treppenhausbeleuchtung Glühbirnen einer anderen Marke gebe, die weit weniger empfindlich auf Erschütterung reagierten und zudem leicht günstiger seien. Für die Türschließer reiche einfacher Gummi, um witterungsbedingte Spannungen auszugleichen und zu verhindern, dass die Tür bei nassem Wetter überhaupt nicht schließe, bei trockenem hingegen fast ungebremst ins Futter falle (und dabei ebenjene heiklen Birnen verschleiße).

Er fühlte sich auf gutem Wege, als er seine Chefs verabschiedete, und erlaubte sich, früh Mittagspause zu machen, denn er wollte sich so bald als möglich seinen neuen Nachbarn vorstellen.

Er begann oben links, bei Frau May. Als er klingelte, rief sie: »Nur herein, es ist offen.« Also trat er ein und sah sie am Küchentisch sitzen und stopfen. Der Anblick war so herzerwärmend, dass er kurz ins Stottern geriet.

»Lutz, also Paul«, sagte er, »ich bin der neue Hauswart, aber deswegen bin ich gar nicht hier. Ich bin nämlich zugleich Ihr neuer Nachbar, und als der wollte ich mich vorstellen.«

»Wer ist denn ausgezogen?«, fragte sie verwundert.

»Niemand«, sagte er, »ich habe die Dienstwohnung bezogen. Also doch, das Ehepaar Costa hatte darin Gäste untergebracht.«

Inzwischen hatte sie das Loch im Wollrock geflickt und gab ihm die Hand, dann rieb sie mit einem Silberlöffel über die Stelle. »Ein Hausfrauentrick, um das neue Garn speckig wirken zu lassen«, verriet sie. »Sehen Sie, jetzt fällt die Flickstelle kaum auf.«

»Sind Sie Schneiderin oder so?«, fragte er.

»Nein, Schauspielerin«, antwortete sie und nahm das nächste Loch in Angriff. »Ich werde die Mutter Courage spielen. Sie ist Händlerin an der Front im Dreißigjährigen Krieg. Ich stelle mir vor, dass sie viele Kleider von Gefallenen flickt und weiterverkauft – woher sonst sollte sie sie auch haben. Und wenn es nach mir geht, sogar die von ihrem eigenen Sohn, der im Stück vor ihren Augen erschossen wird.«

»Wie furchtbar«, sagte er und wagte es, ungefragt auf einem Schemel Platz zu nehmen. »Aber würde eine Mutter das tun?«

»Oh, die schon«, sagte sie. »Der geht der Handel über alles, sie ist da ganz konsequent. Erzählen Sie aber von sich, Herr Paul, wann haben Sie hier angefangen?«

»Heute früh um sechs«, sagte er und kam gar nicht dazu, das Missverständnis um seinen Namen zu klären.

Denn sie rief schon aus: »Da sind Sie ja einer von der schnellen Sorte! Und etwas altmodisch, nicht? Ist es heutzutage noch üblich, sich den Nachbarn vorzustellen?«

»Ich weiß es nicht, ich zwinge mich dazu«, sagte er ehrlich. »Sie müssen wissen, ich bin ein Mensch, der zur Vereinsamung neigt. Deshalb hat meine Mutter mir ein Gespräch mit einem ihrer Bekannten vermittelt, einem Seelsorger. Ich hatte nicht darum gebeten und wollte erst gar nicht hin, aber ich muss sagen, es hat sich gelohnt. Er hat mir nur zwei Fragen gestellt. Die erste: ›Was ist Ihr Ziel im Leben, oder Ihre größte Sehnsucht?‹ Gesellig zu sein, sagte ich. ›Und was ist Ihre größte Furcht?‹ Meine größte Furcht, Frau May, ist, den Menschen zur Last zu fallen, und das habe ich ihm auch gesagt. Danach sah er mich nur an und bemerkte: ›Dann wissen Sie ja, was Sie zu tun haben.‹ ›Moment, Sie fragen gar nicht nach dem Grund für diese Furcht, ich habe nämlich gute Gründe‹, sagte ich. Doch er antwortete – und das war überhaupt das Entscheidende: ›Ihre Gründe interessieren mich kein bisschen, Herr Lutz. Wenn Ihr Wunsch so groß ist, werden Sie die Furcht besiegen, ganz egal, wie begründet sie ist. Denn es gibt keinen anderen Weg.‹«

Mit diesen Worten wollte Paul Lutz sich zurücklehnen, weil er ganz vergessen hatte, dass er auf einem Hocker saß, und konnte sich im letzten Augenblick an der Tischkante festhalten.

Frau May überspielte die Panne, indem sie bat: »Mir verraten Sie aber, was die Gründe für Ihre Furcht sind, oder?«

»Gern«, sagte er. »Meine Mutter hatte meinetwegen schwere Zeiten. Ich bin unehelich geboren, mein Vater gilt als unbekannt. Tatsächlich ist er ein überaus bedeutender Mann in unserer Gemeinde. Meine Mutter hatte als Sekretärin für ihn gearbeitet. Er ist verheiratet und hat drei Kinder, und dummerweise bin ich ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. – Ha, ich weiß, was Sie jetzt denken!«

»Nein, das wissen Sie nicht«, entgegnete sie. »Woher sollten Sie?«

»Weil das alle denken«, sagte er. »›Wie kann einer, der aussieht wie der Lutz, ein bedeutender Mann sein?‹«

»Nein, überhaupt nicht«, sagte sie. »Offen gestanden habe ich überlegt, ob ich Ihre Geschichte irgendwie für meine Rolle nutzen kann. Mutter Courage hat drei Kinder von drei verschiedenen Vätern. Allerdings sind die Väter in diesem Stück nicht wichtig. Ich glaube also nicht, dass mir das etwas nützt.«

Er begann zu strahlen. »So wie Sie will ich auch werden. Alles einem Gedanken unterordnen. Das ist toll. Deshalb habe ich mir nach dem Gespräch mit dem Seelsorger auch vorgenommen, mutiger zu sein und auf die Menschen zuzugehen. Um die Stelle als Koloniewart habe ich mich nur deshalb beworben. Ich war Schulabwart in Rapperswil – glauben Sie mir, das ist ein ganz schön einsamer Beruf. Davor habe ich das Areal einer stillgelegten Fabrik in Uster gewartet, Sie verstehen schon. Hier werde ich erstmals wirklich mit Menschen zu tun haben, mit Menschen in ihrem privaten Umfeld. Gestern war ich schon bei Familie Costa zum Essen eingeladen, sozusagen jedenfalls.«

»Das kann ich Ihnen leider nicht bieten«, sagte Frau May offen. »Ich reise viel, und bin ich zu Hause, möchte ich in Ruhe gelassen werden.« Bei diesen Worten hatte sie auch die zweite Flickstelle mit dem Löffel abgerieben und stand auf, um sich den Wollrock vor den Schoß zu halten. »Sieht man noch etwas?«, fragte sie.

»Vom Geflickten nicht, aber da ist noch ein Loch«, sagte er und zeigte es ihr.

»Motten«, seufzte sie, setzte sich wieder und zog weiteres Garn in die Nadel ein.

»Das erinnert mich an einen Witz«, sagte Paul Lutz, »ich weiß nur nicht, ob er gut ist.«

»Zu spät«, rief sie, »raus damit!«

»Also gut, ich habe Sie gewarnt«, sagte er. »Ein Mann sieht im Restaurant, dass alle Kellner einen Löffel in der Hosentasche tragen. Er fragt, warum. Der Kellner sagt: ›So will es der Chef. Wir sparen damit Zeit, und Zeit ist Geld. Jeden Tag fallen hier etwa vierzig Löffel zu Boden. Müssten wir jedes Mal einen in der Küche holen, würde das pro Schicht eine Stunde Arbeitszeit verschlingen.‹ Das leuchtet dem Gast ein. Er hat aber außerdem bemerkt, dass allen Kellnern ein schwarzer Faden aus dem Hosenlatz hängt. ›Wozu ist der gut?‹, fragt er. Der Kellner wird rot und raunt ihm zu: ›Daran ist unser Johnny befestigt, wenn Sie wissen, was ich meine. So müssen wir ihn auf dem Klo nicht anfassen, brauchen die Hände nicht zu waschen und sparen damit nochmals eine Stunde Arbeitszeit.‹ Der Gast stutzt und fragt: ›Wie bringen Sie ihn danach wieder in den Schlitz?‹ ›Ich weiß nicht, wie die anderen das machen‹, sagt der Kellner, ›aber ich benutze dazu den Löffel.‹«

»Autsch, der ist wirklich mehr als schlecht«, beschwerte sich Frau May.

»Tut mir leid, ich hatte Sie gewarnt«, sagte er und stand gleich auf.

Sie legte das Nähzeug zur Seite und führte ihn zur Tür. »Sie sehen gar nicht aus wie jemand, der Witze erzählt«, stellte sie fest.

»Den und fünf andere habe ich extra auswendig gelernt«, gestand er. »Ich hatte gelesen, dass Frauen Männer mögen, die sie zum Lachen bringen. Das Lachen stimuliert ihren Beckenboden, das soll lustvoll sein.«

Jetzt lachte sie wirklich. »Das hat was, machen Sie so weiter«, sagte sie, und er hörte sie noch lachen, als die Tür schon zu war.

Beflügelt klingelte er gleich bei »Sommer«, und als dort niemand öffnete, einen Stock tiefer, wo auch die Costas wohnten, bei »Wyss«.

Herr Wyss musste wohl achtzig sein und hielt eine Kochkelle in der Hand. »Was gibt’s, wer sind Sie?«, fragte er gereizt.

»Paul Lutz, der neue Hauswart«, sagte er. »Doch vor allem bin ich Ihr …«

Weiter kam er nicht, denn dieser Herr Wyss machte sofort seinem Ärger Luft. »Sehen Sie das?«, fragte er und zeigte mit der Kelle auf die Schuhe der Costas. »Elf Paar habe ich heute früh gezählt, elf«, erklärte er. »Bis gestern waren es vier, das ist schlimm genug. Die Hausordnung verbietet das ganz klar. Und fragen Sie mich nicht, was die da drinnen treiben, in unserer Küche können wir uns zu gewissen Zeiten nicht mehr verständigen, so groß ist der Lärm. Und erst der Gestank. Ich habe denen schon vor zwei Wochen verboten, bei offenem Fenster zu kochen, und sie halten sich daran, will ich meinen. Der Gestank dringt aber durch die Mauern – weiß der Geier, was die da verkochen, Leichen oder Schlimmeres.«

Paul sah seine nächtlichen Bauchschmerzen in neuem Licht. Trotzdem sah er sich gedrängt, die Costas zu verteidigen. »Ich bin nicht unschuldig am Rummel hier oben«, begann er, »aber der ist auch nur vorübergehend.«

»Was wollen Sie damit sagen?«, rief Herr Wyss und fuchtelte immer heftiger mit der Kelle. »Sie haben dafür zu sorgen, dass die Hausordnung befolgt wird, dafür sind Sie eingestellt. Haben Sie sie überhaupt gelesen?«

»Das habe ich«, versicherte Paul, »und ich meinte nur, dass die Schwester mit den Kindern …«

»Ich habe keine Zeit für Geschichten, ich muss kochen«, unterbrach Herr Wyss ihn wieder. »Aber ich sage Ihnen, wenn Sie den Laden nicht innerhalb Ihrer Probezeit auf Vordermann bringen, sorge ich dafür, dass Sie fliegen. Ein so durchmischtes Haus wie dieses – und darin steckt keine Wertung, ich wähle SP, wenn Sie es genau wissen wollen – braucht eine starke Hand. Wussten Sie, dass auf dem Estrich wild kampiert wird? Und die Schlösser sind kaputt, ich will nicht wissen, wer hier unbehelligt ein- und ausgeht. Doch als Erstes räumen Sie gefälligst diese Wohnung.« Damit schwang er nochmals heftig die Kelle, dann schlug er ihm die Tür vor der Nase zu.

Die Szene machte Paul Lutz betroffen, und er bekam wieder Bauchkrämpfe. Deshalb wollte er vor dem Mittagessen noch einen Versuch wagen, in der Hoffnung, versöhnt zum Essen gehen zu können. Im zweiten Stock öffnete wieder keiner, und damit war er schon bei seinem direkten Nachbarn. Er klingelte, obwohl er hörte, dass in der Wohnung musiziert wurde.

Der Mann hieß Hubert Brechbühl und war im besten Alter oder knapp darüber. »Ist schon Mittag?«, fragte er. »Ich spiele nur den Marsch zu Ende.«

»Nein, nein«, rief Paul, als Herr Brechbühl die Tür schon wieder schließen wollte, »ich bin gekommen, um mich vorzustellen. Ich bin Ihr neuer Nachbar, Lutz, Paul Lutz, und außerdem der neue Hauswart.«

»Schön, Herr Lutz, willkommen«, sagte Herr Brechbühl, »ich will aber wirklich noch den Marsch beenden, ehe es zwölf Uhr schlägt.«

Das verstand er. »Spielen Sie etwa Waldhorn?«, fragte er nur noch schnell. »Ich wollte auch immer Waldhorn lernen. Stattdessen wurde es Klavier, aber auch nur kurz, bis mich ein Barpianist warnte, dass Pianospieler der einsamste Beruf überhaupt sei. Und mein Lehrer fand, bei meiner Musikalität empfehle er mir eine Drehorgel. Als sei man als Drehorgelspieler nicht einsam.«

»Ich spiele Tuba«, sagte Hubert Brechbühl, und dann schlug es schon zwölf. »Nun bitte ich Sie sehr, mich zu entschuldigen.«

»Tuba, wirklich? Bringen Sie mir ein paar Töne bei?«, fragte Paul noch, als die Tür zuging. Sie blieb auch zu, obwohl Herr Brechbühl gar nicht mehr spielte.

Inhaltsverzeichnis

Unterhaltsamkeit

Der dicke Brief, den Moritz Schneuwly in seiner Post fand – fast schon ein Päckchen –, verwirrte ihn zuerst, denn der Briefumschlag war von einer Qualität, die ihn an Ostblock denken ließ. Er war zudem speckig und an den Ecken eingerissen, allerdings klebten darauf die neuen A-Post-Marken der Schweizer Post, und abgestempelt war er in Zürich. »M.-C. Arden«, stand als Absender ganz klein an den linken Rand geschmiegt, und das Y in seinem Nachnamen war mädchenhaft zu einer Girlande oder Ranke ausgezogen, die die ganze Adresse einfasste.

Im Umschlag fand er ein vollgeschriebenes Heft in derselben wunderbar schäbigen Papierqualität, in das auch einige Fotos geklebt waren, außerdem einen kleinen, vergilbten Sprachführer aus dem Jahr 1961, der ihm endlich auf die Sprünge half:

Language Guide

(Fante Version)

Bureau of Ghana Languages, Accr.

Bevor ihm Marys Name wieder einfiel, sah er ihr dichtes, offensichtlich gestrecktes Haar vor sich und fragte sich, ob sie wohl in Ghana wieder Locken trug. Das Heft beantwortete diese Frage – wie überhaupt alle nur denkbaren Fragen.

Es begann mit den Zeilen: »Lieber Moritz, es fiel mir nicht leicht, dich zu verlassen. Nun bin ich seit zehn Tagen in Accra, und irgendwie bist du immer noch bei mir. Unser Gespräch hörte, nachdem ich damals aus deiner Wohnung gegangen war, einfach nicht auf, und hier brauche ich dringend jemanden wie dich, mit dem ich mich so blendend unterhalten kann. Auch wenn wir uns nur flüchtig begegnet sind, bist du mir hier, in dieser Situation, doch sonderbarerweise der Mensch, dem ich mich am allernächsten fühle. Und so esse ich mit dir jeden Morgen Rührei mit Tomate in Weißbrot und trinke eine halbe Plastiktasse Milo, die die mollige Ashante-Frau am Ende der Straße auf offenem Feuer zubereitet. Ich hörte dich schallend lachen, als ich weinend am Flughafen auf meinem Koffer saß und vergeblich darauf wartete, dass mich jemand abholt. Onkel Jeremy habe ich bis heute nicht gefunden, sein Auffanglager scheint eine Erfindung zu sein, mit der er Geld gescheffelt hat. Am Strand von Accra lernte ich Deutsche und Holländer kennen, die ihn einen guten Bekannten nennen, aber das sind Leute, die vor allem Karten spielen und trinken, und keiner von ihnen konnte mir sagen, was er eigentlich arbeitet. Es scheint ihn übrigens auch niemand zu vermissen. Egal, Ghana ist ein großes Abenteuer, und es wäre zum Lachen, wenn ich mich hier nicht durchschlüge. Automechaniker sind jedenfalls Mangelware, fast jedes Auto, das vorbeifährt, hat einen hörbaren Schaden. Ab morgen bin ich aber erst einmal Ko-Chauffeurin für eine schwedische Forschergruppe, die unheimlich witzig drauf ist. Also auf nach Kumasi!«

Danach hatte sie ihm alle paar Tage geschrieben und von Reisen auf dem Dach eines Saurer-Busses aus den 40ern zwischen Käfigen mit Hühnern erzählt, von einer Schiffsreise den Voltasee empor – inklusive Foto, das ein versunkenes Dorf zeigte – und von ihrem ersten Malariaanfall. Sie schilderte den Besuch der Krokodile von Paga und die Audienz beim König, dem das Dorf und der Teich gehörten: »Er war sehr charmant (er oder der Dolmetscher), und hätte ich gewollt, wäre ich jetzt Königin. Und wer weiß, ob ich nicht Ja gesagt hätte, hätte ich nicht deinen festen Griff am Handgelenk gespürt und wäre wieder in den Bus gestiegen. Es war übrigens nicht mein erster Heiratsantrag hier. Doch ebenso häufig ruft man mir ›Nutte‹ nach. Die traurige Wahrheit ist, ich lebe so keusch wie Sylvaine, die Nonne, von der ich dir erzählt hatte und die übrigens meine zweite Begleitung ist.« Interessanterweise hatte sie von ihrem zweiten Malariaanfall ein Foto eingeklebt, das ihre schmalen, sehr schönen Füße auf einer abgewetzten Matratze mit verrutschtem Laken zeigte, und zwar neben einem zweiten Paar Füße, einem dunkelhäutigen und ziemlich sicher männlichen. Das ganze Heft war voller solcher Rätsel.

Generell zeigte sie auf den Fotos nur Fragmente von sich: einmal einen Haufen frisch geschnittener Haare auf den Fliesen (Locken), einmal einen Kratzer an der Wade, daneben eine erschlagene Kobra. »Lucky me«, stand darunter. Und sehr humorvoll schilderte sie ihre Odyssee durch Krankenzimmer voller Blutlachen und Spitäler ohne fließend Wasser, ihren desaströsen Durchfall und Fieberattacken alle 48 Stunden.

Er las das Heft in einem durch. Es schloss mit drei kürzeren Episoden: »Heute im Trotro zum Arzt der Reichen, eingeklemmt zwischen zwei Soldaten mit Maschinenpistole, Ashantes, die mir in freundlichem Ton mitteilten, dass der Tag nicht fern sei, an dem sie Afrika endgültig von den Weißen befreien würden. Ich fragte, warum das nötig sei, die Staaten seien doch in ihrer Hand. Sie sagten, das sei eine philosophische Frage, damit würden sie sich nicht auskennen, aber Afrika sei nicht frei, solange ein Weißer darin lebe. ›Und wie werdet ihr es anstellen?‹, fragte ich. ›Mit der Machete‹, war die Antwort.«

Dann: »Habe dem Arzt, einem steinalten Deutschen, von den Soldaten im Trotro erzählt. Er konterte mit einer Geschichte von 1957: ›Das erste Schiff, dessen Fracht nach Inkrafttreten der Unabhängigkeit im Hafen von Accra gelöscht wurde, sank auch gleich. Die Hafenarbeiter hatten es von vorn nach hinten gelöscht statt von der Mitte nach den Rändern hin, wie es die Vernunft verlangt. Es waren dieselben Arbeiter, die all die Jahre über die Schiffe gelöscht hatten. Doch nachdem sie den weißen Vorarbeiter zum Teufel gejagt hatten, wussten sie nicht, wie es geht. Sie hatten sich nie überlegt, was sie da eigentlich tun. Das ist Afrika.‹ Dabei fiel mir die Geschichte eines Jungen aus Accra ein, Jimmy, etwa 16. Er war überzeugt, wir Weißen fliegen wie Superman durch die Lüfte. Dabei fliegen jeden Tag die Passagierjets über die Stadt. Immerhin glaubte er nicht, die Weißen seien verhext, sondern bildete sich ein, er könne selbst auch so fliegen, wenn er erst in Amerika lebe. Dieses Land ist so kindlich, Moritz, du würdest es lieben! Ich wurde noch nie so viel betrogen wie hier, aber auf welch herzliche Art!«

Der letzte Eintrag war: »Shirley nimmt mich mit nach New York! Sie ist Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Internationales Handelsrecht. Ich glaube, sie ist in mich verliebt, aber das soll nicht mein Problem sein. Sie sagt, ich sei Gold wert in ihrem Büro, weil ich so leicht Sprachen lerne, inzwischen kann ich auch schon recht gut Fante. Und rate, Moritz, wo sie ihr Büro hat: Im World Trade Center – wohoo! Gibt es einen radikaleren Gegensatz? Komm mich dort besuchen, ja? Oder lerne etwas Fante, und wir treffen uns am Flughafen in Accra – damit ich dort doch noch einmal glücklich von meinem Köfferchen aufspringen und jemandem um den Hals fallen kann. Dieses Heft gebe ich einer Freundin aus Zürich mit, die gerade hier ist, meine liebe, gute Bäckermeisterin Gisela, sie wird es dir bringen oder schicken. Und du, in jener Nacht, in der nichts geschah und die nun so unwirklich weit weg ist, konnte ich danach nicht schlafen und habe dir in der Gästewohnung etwas hinterlassen. Ich schäme mich ein bisschen dafür, aber du könntest dich freuen.«

Gleich ging Moritz einen Stock tiefer und klingelte, wo sie damals gewohnt hatte. Dass die Wohnung wieder belegt war, hatte er natürlich mitbekommen. Doch nicht die Griechin oder eines ihrer wilden Kinder öffnete, sondern ein blasser Enddreißiger mit hochgeschlossenem Karohemd, der gerade telefonierte.

»Moritz Schneuwly, von oben«, sagte er, als der Mann kurz den Hörer sinken ließ.

»Ich komme gleich hoch«, versprach der Mann und telefonierte weiter. Als er kam, hatte Moritz gerade die wenigen mit Bleistift unterstrichenen Sätze im Sprachführer auf ein Blatt geschrieben, weil er irgendwie erwartete, darin einen verborgenen Sinn zu finden. Doch mehr als Poesie entdeckte er nicht:

He likes arithmetic

Yes, I am waiting for him

You can buy herrings under those trees

The lighthouse is near the Fort, and you can get there by canoe

Show me the new knives, please

»Ich wollte mich Ihnen schon heute Mittag vorstellen«, erzählte der Mann, der Paul Lutz hieß. »Ich bin Ihr neuer Nachbar und der neue Koloniewart.«

»Und ich würde gern kurz in Ihre Wohnung gehen«, sagte Moritz offen. »Eine Freundin hat mir darin etwas hinterlassen. Ich weiß nicht, was und wo, aber ich bin sehr gespannt.«

»Oh, da war nichts, als ich einzog«, entgegnete Paul Lutz, »fragen Sie die Costas, die haben geputzt.«

»Es könnte sehr verborgen sein«, sagte Moritz.

»Ist Ihr Kühlschrank eigentlich in Ordnung?«, fragte der Hauswart völlig unvermittelt, »er klingt fast etwas aggressiv.« Damit schob er sich in die Wohnung, und kaum war er drin und sah das Labor, rief er: »Oh, wie wunderbar! Sind Sie Physiker?« Er klatschte wie ein Kind in die Hände und fasste alles an. »Donnerwetter, das sind noch Magnetspulen«, sagte er. »Ich habe ja eine Leidenschaft für so was. Woran forschen Sie, wenn ich fragen darf?«

»Momentan im Bereich der Motorik«, antwortete Moritz pauschal.

Doch der Hauswart ließ nicht locker, und er schien auch etwas technisches Wissen zu haben. »Magnetfelder und Bewegung, das klingt nach Schwebebahn, tippe ich richtig?«, fragte er und strahlte.

»So halb, ich bin nicht praxisorientiert«, sagte Moritz. »Ich habe einfach gern Spaß. Zurzeit würde ich gern ein Perpetuum mobile bauen, ein ganz simples: einen Kreisel, der sich ewig dreht. Natürlich ist mir klar, dass das ohne Energiezufuhr nicht möglich ist, aber die bloße Illusion wäre schon aufregend genug. Ich denke, wenn man etwas Licht oder Wärme umwandeln könnte, ginge es. Es braucht ja verschwindend wenig Energie, um einen schwebenden Kreisel in Schwung zu halten.«

»Das ist großartig«, rief Paul Lutz wieder. »Lassen Sie mich raten, hat es mit der Lorentzkraft zu tun?« Er untersuchte einen der kleinen Kreisel, die herumlagen, und versuchte, ihn auf dem Magnetfeld zu halten.

»Die Lorentzkraft ist nur eine der Kräfte«, sagte Moritz. »Doch wenn Sie mögen, vergnügen Sie sich hier etwas, und ich gehe so lange in Ihre Wohnung.«

»Ja, aber kommen Sie schnell wieder, zu zweit macht es doppelt so viel Spaß«, sagte Paul Lutz. »Und Achtung, schieben Sie das Bettsofa noch nicht zur Wand, ich habe dort etwas überstrichen.«

»Was haben Sie überstrichen?«, wollte Moritz wissen.

Der Hauswart sagte: »Nur eine kleine Schweinigelei der Costa-Buben, denke ich.«

Moritz nahm Lappen und Eimer mit, ging hinunter und wusch die neue Farbe von der Wand. Leider fand er keine Zeichnung mehr. Doch als er die anderen Möbel von den Wänden rückte, entdeckte er hinter dem Bett, dem Schrank und einem Sessel kleine Kohle- oder Bleistiftzeichnungen von kopulierenden Paaren, und sie taten es an Orten, die mit ihrem damaligen Gespräch zu tun hatten, einmal mitten im Nudelauflauf, einmal im Beichtstuhl, einmal auf dem Rücken eines Flugzeugs. Er holte den Fotoapparat.

»Haben Sie etwas gefunden?«, fragte Paul Lutz, als Moritz ins Zimmer kam. Offenbar war er an den Kreiseln gescheitert.

»Legen Sie die Plexiglasplatte auf den Magneten, bringen Sie darauf den Kreisel in Schwung und heben Sie die Platte langsam hoch, dann schwebt er«, sagte Moritz, um Zeit zu gewinnen, lief wieder hinunter und schoss eine ganze Reihe Fotos, ehe Paul Lutz nachkam.

»Ja, so ein Bildchen war das auch«, sagte der Hauswart.

»Was war denn drauf?«, fragte Moritz.

»Eine Art Kreuzgang und ein Paar, das es trieb«, sagte Paul. »Nichts für die Ewigkeit, wenn Sie mich fragen.«

Moritz lachte. »Was ist schon für die Ewigkeit, außer mein Kreisel.«

»Dann darf ich überstreichen?«, fragte Paul Lutz.

Moritz nickte und sagte: »Mary hatte ihren Spaß, und ich auch. Und was ist mit dem Kühlschrank?«

»Den hatte ich ganz vergessen«, gestand Paul Lutz. »Aber morgen ist ein Sibir-Techniker im Haus.«

»Tut mir leid, ich verreise morgen früh, ich muss Geld verdienen«, sagte Moritz. »Ach, noch für den Fall, dass Herr Wyss sich über mich beschweren sollte: Wir haben im Estrich ein Zelt aufgebaut. Das ist aber ganz harmlos, ein kleines Mädchen aus dem vierten Stock spielt dort vielleicht mal.«

»Ich glaube nicht, dass mich das etwas angeht«, sagte Paul Lutz. »Allerdings habe ich das Schloss repariert. Wie lange verreisen Sie denn? Ich sah mich schon mit Ihnen experimentieren.«

»Den ganzen Sommer über«, antwortete Moritz. »Mein Vater führt in Biel einen Eisenwarenladen, den hüte ich. Damit ich im Herbst nach New York kann.«

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Besonnenheit

Als Julia Sommer von Selina hörte, dass die Kolonie einen neuen Hauswart hatte, rief sie ihn gleich an. Denn die Balkonjalousie klemmte, und die Morgensonne fiel ungehindert ins Wohnzimmer. Die Dachwohnungen heizten sich ohnehin schon sehr auf, und so sah sie einem ungemütlich heißen Hochsommer entgegen. Der Hauswart versprach, gleich am nächsten Morgen zu kommen. Als es, während sie beim Frühstück saß, im Treppenhaus polterte, nahm sie daher an, er sei es, und öffnete die Tür. Der Lärm kam allerdings von weiter unten, sie linste zwischen den Handläufen hindurch und sah, dass Gerda Wyss auf dem Treppenabsatz stand, mit beiden Händen am Geländer, so als fürchte sie zu stürzen, während Erich Wyss eine halbe Treppe darunter etwas aufzusammeln schien.

»Kann ich helfen?«, rief sie und ging hinab.

»Siehst du, sie ist doch da«, sagte Gerda Wyss zu ihrem Mann, dann wandte sie sich an Julia: »Wir wollten Sie und Mona schon längst einladen, mit uns auszugehen, wir schulden Ihnen so viel. Aber Erich war überzeugt, dass Sie arbeiten.«

»Tue ich auch, nur zu Hause. Aber kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte Julia nochmals.

Gerda schüttelte den Kopf. »Erich, den Stuhl«, rief sie, und Erich trug eilig den Stuhl wieder hoch, der ihm offenbar zuvor aus den Händen geglitten war, schob ihn ihr unter, und sie setzte sich vorsichtig, während sie vor Anstrengung zitterte. »Nein, nein, wir haben alles im Griff«, sagte sie dann, »was, Erich? Aber möchten Sie mitkommen? Ich muss zum Optiker, mit meiner Brille sehe ich inzwischen noch schlechter als ohne. Danach wollen wir einkehren.«

»Jetzt, um acht Uhr in der Früh?«, fragte Julia.

»Morgens geht es mir am besten, später kommen die Schmerzen«, sagte Gerda. »Und der Optiker hat nun mal jetzt Zeit. Ich gehe nur noch ein paarmal im Jahr aus, da will alles geplant sein.«

»Mona hat bei meiner Mutter übernachtet und geht von dort direkt in den Hort«, sagte Julia. »aber ich komme gern mit. Ich ziehe nur schnell etwas anderes an.«

Sie rannte hoch, schlüpfte in ein Kleid und Sandalen und stürzte noch eben den Kaffee hinunter. Als sie zurückkam, hatten Wyssens sich bereits an den Abstieg gemacht. Der Stuhl stand wieder auf dem unteren Treppenabsatz, Gerda hatte sich bei Erich untergehakt und nahm sehr konzentriert Stufe um Stufe. Als sie den Absatz erreichte, schob er ihr wieder den Stuhl unter, und sie setzte sich.

»Rast«, sagte sie strahlend zu Julia. »Sie hätten sich gar nicht zu beeilen brauchen, das dauert hier noch etwas.«

Sie stemmte sich gerade wieder hoch, da kam ein Mann im Overall die Treppe empor. Erich Wyss fuhr ihn gleich an: »Die Sippschaft der Costas haust hier noch immer, lange dulde ich das nicht mehr.«

»Ist das der neue Hauswart?«, fragte Gerda, dann wandte sie sich Paul Lutz zu: »Entschuldigen Sie vielmals, mein Mann ist manchmal etwas aufbrausend. Ja, es stimmt schon, die Costas machen Lärm. Aber mit dem Alter wird man auch empfindlicher.«

»Ich muss mich entschuldigen«, erwiderte der Hauswart, »die Kolonie war einige Monate so gut wie unbetreut, ich hinke allem hinterher.«

»Ich nehme an, Sie sind unterwegs zu mir – Sommer, die Jalousie«, sagte Julia. »Ich kann jetzt nur nicht, wir gehen aus.«

Gerda hatte sich inzwischen wieder in Bewegung gesetzt.

»Wenn Sie sich auf den Stuhl setzen, können Frau Sommer und ich Sie vielleicht tragen«, schlug Paul Lutz vor.

»Nein, nein, keine Experimente«, antwortete sie zwischen zwei Stufen, »Das Treppensteigen hält ja auch jung. Man darf nicht jeder Beschwernis aus dem Weg gehen, sonst verweichlicht man.«

»Kann ich wenigstens mal stützen?«, fragte Julia.

»Gern«, antwortete Erich. Julia nahm seine Stelle ein, und er stieg hinab zum Stuhl, um sich zu setzen.

»Das hattest du früher nie nötig«, sagte Gerda.

»Ich glaube aber auch, du hast zugenommen«, antwortete er.

»Quatsch, in meinem Alter nimmt man nicht mehr zu«, sagte sie.

»Doch, doch«, rief er, »und es steht dir nicht schlecht. Das macht der Kuchen, du hast ja mit den Leuten in der letzten Zeit dauernd Kuchen gegessen.«

»Und heute gibt es wieder welchen«, sagte sie, »den lasse ich mir nicht nehmen.«

»Der Hauswart steht immer noch dumm rum«, stellte Erich Wyss fest.

»Nein, ich bin schon unterwegs«, sagte Paul Lutz und machte kehrt.

»Kommen Sie nach Mittag«, rief Julia ihm nach. »Dann knallt die Sonne auch nicht mehr so auf den Balkon.«

Der Weg zum Tram dauerte eine halbe Stunde, der Ablauf war sehr routiniert. Sie deponierten den Stuhl unter der Kellertreppe, gingen bis zur Ecke Heinrichstrasse, wo sich Gerda kurz aufs Mäuerchen setzte, dann hielten sie wieder beim Fahrradgeschäft. Dort kannte man sie schon und reichte einen Schemel raus. »Was tun Sie, wenn das Geschäft zu ist?«, fragte Julia.

»Dann sind auch die Fahrräder weg, und ich setze mich aufs Fenstersims«, erklärte Gerda. Das tat sie diesmal nur bei Schuhmacher Fridli, der sie ebenfalls kannte und launig meinte, sie trage nur die falschen Schuhe, mit besseren würde sie hüpfen wie ein Schulmädchen.

»Ich trage diese Schuhe seit dreißig Jahren, Herr Fridli«, sagte Gerda. »Ich glaube sogar, Ihr Papa hat sie mir verkauft. An denen gibt es nichts auszusetzen.«

Mit der nächsten Etappe erreichten sie das Tram, fuhren eine Station und standen schon fast vor dem Optiker.

Den Gang dorthin hätten sie sich allerdings sparen können. Er warf einen kurzen Blick in Gerdas Augen und sagte: »Frau Wyss, Sie brauchen keinen Optiker, sondern einen Arzt. Das kann alles sein: Diabetes, Grauer Star, Grüner Star, Makuladegeneration. An der Brille liegt es jedenfalls nicht, außer dass man sie mal gründlich putzen sollte.«

Das tat er denn auch, und Gerda Wyss sagte zufrieden: »Sehen Sie, da konnten Sie ja doch etwas tun. Zum Arzt bringen Sie mich jedenfalls nicht mehr, die Ärzte wollen immer operieren, und man weiß ja, was man sich im Krankenhaus alles einfängt. Wir Wyssens sterben zu Hause, nicht wahr, Erich? Das haben wir so beschlossen.«

Danach schlug Julia vor, ins Café El Greco zu gehen. »Dort gibt es nicht nur den besten Kaffee der Stadt«, sagte sie, »sondern auch wunderbar weiche Plüschsessel.«

Doch Erich Wyss entgegnete: »Wir gehen immer ins Migros-Restaurant. Dort stimmen die Preise und die Qualität, und wir kennen das Angebot.« Sie hatten sogar ihren Stammplatz, nahe genug an Toilette und Theke, weit genug entfernt vom Lärm.

Julia bot an, etwas zu holen, aber Erich bestand darauf, sie einzuladen. »Und zu einer Einladung«, sagte er, »gehört auch der Service.«

Während er an der Theke anstand, unterhielt sie sich mit Gerda, und über Kuchen, Geselligkeit und die Mühe des Treppensteigens kamen sie zum derzeit großen Thema der Wyssens.

»Erich gründet für uns gerade eine Alters-WG«, erzählte Gerda. »Deshalb hatte ich überhaupt diese vielen Besuche. Es ging alles schneller, als wir dachten, für Erich wohl zu schnell, er scheint mir etwas durch den Wind zu sein. Vor nicht einem Monat hat er das Inserat entworfen, und schon haben wir nicht nur drei reizende Paare zur Auswahl, sondern sogar eine Wohnung – im Parterre, mit Garten und bezahlbar, es ist wie im Märchen.«

»Donnerwetter«, sagte Julia.

»Ja, und legen alle Paare zusammen, können wir uns sogar eine Haushaltshilfe leisten, jemanden, der einkauft, vorliest, solche Dinge. Nicht den Toilettenkram, den soll die Spitex machen. Ich stelle mir eine Art Gouvernante vor«, sagte sie mit leuchtenden Augen.

»Das klingt tausendmal besser als ein Heim«, stellte Julia fest.

»Vor allem, wenn einer von uns stirbt«, stimmte Gerda zu. »Ich hätte Angst um Erich, wenn er allein ist. Er hat sich Heime angesehen, aber da würde er vereinsamen. Er ist nicht der Geselligste.«

Da kam er auch schon mit dem Kuchen. Julia holte noch das Tablett mit dem Kaffee, dann wünschten sie sich guten Appetit.

»Sind Sie nicht im Verlagswesen tätig?«, fragte Erich nach der ersten Gabel. »Ist das eine lukrative Branche?«

»Nein, das kann man nicht sagen«, antwortete Julia. »Ich weiß nicht, wie das kommt, schließlich werden alle immer reicher. Aber für Bücher ist immer weniger Geld da. Entsprechend gehässig ist der Umgangston bei uns im Verlag. Ich überlege mir gerade, mich selbstständig zu machen.«

»Oh, das will gut überlegt sein. Als was denn?«, fragte er.

»Ich gehe davon aus, dass ich mehrere Standbeine hätte«, erzählte sie. »Ich habe schließlich ein Kind, das verpflichtet. Zum einen würde ich weiter als Lektorin arbeiten, doch im Auftragsverhältnis. In diesen Wochen überarbeite ich aber auch erstmals ein Drehbuch und habe enorm viel Spaß daran.«

»Andererseits«, sagte Erich, »haben Sie erst einmal gekündigt, kommen Sie nicht mehr so schnell zu einer festen Stelle, oder?«

»Vermutlich nicht«, sagte sie. »Aber wenn ich die Wahl habe, Mona in Armut großzuziehen, dafür mit Zeit, oder aber in bescheidenem Wohlstand, dafür täglich fremdbetreut, ist die Antwort klar, oder nicht?«

»Seien Sie nicht vorschnell«, warnte er. »Plötzlich sind Sie 62 und froh um eine geregelte Pension. Darauf, dass Ihr Kind Sie einst ernährt, sollten Sie jedenfalls nicht bauen.«

Gerda hatte ganz im Stillen ihr Stück Himbeerschnitte gegessen. Nun wischte sie sich manierlich den Mund ab und sagte: »Mir kommt da eine ganz verwegene Idee. Ich habe Frau Sommer erzählt, dass wir eine Gouvernante einstellen wollen. Wir dachten, Frau Sommer, dabei an unseren Enkel Augustin. Aber Hand aufs Herz, habe ich die Wahl …«

»Das sind ungelegte Eier«, unterbrach sie Erich.

»Lass mich ausreden«, bat sie freundlich und legte die Hand auf seine. »Eine volle Stelle wäre das kaum, Sie hätten also Zeit für Ihre Bücher und Drehbücher. Und für Mona. Sie könnten sie sogar zu uns mitnehmen, wir hätten ja dann einen Garten.«

»Ein Kind ist doch keine Ziege, die man einfach im Garten anbindet«, herrschte Erich sie an. »Frau Sommer hätte schließlich eine Arbeit zu erledigen. Und nochmals, das sind alles ungelegte Eier. Inzwischen sehe ich das Ganze sehr viel differenzierter.«

»Ach, du hast doch nur die Hose voll«, sagte Gerda Wyss unerwartet spitz. »Ich habe dich bisher machen lassen, Erich, aber deshalb ist es noch lange nicht dein Projekt allein. Und von Augustin haben wir nichts gehört, seit er aus der Tür ging. Er hat es nicht einmal für nötig gehalten uns mitzuteilen, ob er heil angekommen ist.«

»Aber ich rede doch nicht von Augustin«, rief er, »sondern von dem ganzen WG-Kram. Wir müssen das alles nochmals sehr sorgfältig überdenken.«

»Ja, gut«, sagte sie, »überstürzen will ich auch nichts. Vor allem aber musst du die Santinis und Meyers und Kreislers treffen. Du wirst sehen, das sind richtig feine Leute. Und solltest du womöglich Angst haben, dass dir das Projekt über den Kopf wächst und zu viel wird, bin ich sicher, die organisieren gern mit. Die Wohnungssuche haben die Meyers uns ja schon erspart.«

»Ha, zu viel – lächerlich!«, murrte er und stand auf. »Ich gehe auf die Toilette.«

»Müssen Sie vielleicht auch mal?«, fragte Julia, als er weg war.

»Ich gehe immer erst, kurz bevor wir aufbrechen, sonst gibt es unterwegs noch ein Malheur«, antwortete Gerda mit einem Augenzwinkern. »Der Arme, ich glaube, er vermisst den Augustin. Irgendwie hatten die zwei es richtig gut miteinander.«

»Dann wäre Augustin wohl doch der Richtige als Gouvernante«, sagte Julia.

»Um Himmels willen, nein, auf den ist kein Verlass«, sagte Gerda. »Und von Sentimentalitäten sollten wir uns nicht leiten lassen. Aber mit wem redet er denn da?«

Julia folgte ihrem Blick und sah Erich mit einem alten Ehepaar im Gespräch.

»Ich kenne diese Leute nicht«, sagte Gerda nervös. »Und wenn ich ihn so sehe, erkenne ich auch Erich kaum. Er sieht fast irr aus, finden Sie nicht?« Tatsächlich wirkte er auf sonderbare Weise bedrängt.

»Ich bringe mal eben das Geschirr weg«, sagte Julia und suchte einen Trolley, der in Hörweite zu den dreien stand.

»Ihr Projekt wirkte wirklich sehr bestechend«, sagte der Mann soeben, »deshalb haben wir gleich das Geld überwiesen, als der Einzahlungsschein kam. Aber je länger wir darüber nachdenken …«

»Wir haben hier Enkelkinder«, unterbrach ihn seine Frau, »und bald ein Urenkelchen. Was sollen wir da in Ungarn?«

»Abgesehen davon, dass die Jungen das Geld viel dringender brauchen«, sagte wieder der Mann. »Und darum wären wir auch froh, wenn Sie es uns rücküberweisen. Abzüglich Ihrer Unkosten natürlich.«

»Sie haben ja selbst Enkel und werden uns verstehen«, fügte die Frau hinzu. »Wer konnte auch ahnen, dass gerade jetzt Nachwuchs kommt.«

»Ihr Augustin ist übrigens ein patenter Bursche«, sagte der Mann. »Der wird seinen Weg machen, so viel ist sicher.«

Das ganze Gespräch über sagte Erich nur: »Jaja«, zu allem immer: »Jaja«, und tastete dabei mit den Händen, als wollte er sich irgendwo halten.

Da ging plötzlich Gerda quer durchs Lokal auf ihn zu, sie schien Julia stolz und zerbrechlich zugleich. »Erich, willst du uns nicht vorstellen?«, fragte sie und nahm seinen Arm, als müsse sie sich halten. Doch sie hielt eher ihn. »Ich bin die Gattin«, erklärte sie dem Ehepaar.

Die Leute hießen Scholl. »Ihr Mann hat uns von Ihnen erzählt«, sagte Frau Scholl voller Bewunderung. »Wie Sie sich so selbstlos hintanstellen, in Ihrem Alter, das hat mir Eindruck gemacht.«

»Ja, mir auch«, sagte Herr Scholl. »›So wie der Kapitän als Letzter ins Rettungsboot steigt, werden wir als Letzte umziehen.‹ Das hatte Klasse. Überhaupt das Ganze hatte Klasse, allein wenn ich an die Größe des Vorhabens denke! Wie viele Wohneinheiten planen Sie, dreißig?«

»Eine ganze Stadt, Horst«, erinnerte ihn seine Frau.

»Ja, genau – und dann noch in Ungarn!«, sagte Horst.

»Jaja«, sagte nun auch Gerda. »Aber Erich, ich muss mich setzen.«

»Natürlich«, sagte er und führte sie zu einem Stuhl.

Die Scholls nahmen das als Aufforderung zu gehen. Gerda thronte wie eine Königin im Schalenstuhl, während sie ihnen die Hände schüttelte. »Wir danken für Ihre freundlichen Worte«, sagte sie, und Scholls drückten nochmals ihr Bedauern aus und wünschten alles Gute.

Dann waren sie fort, und Gerda sagte: »Erich, setz dich. Was ist in Ungarn?«

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Sympathie

Petzi hatte sich den Sommer in der Röntgenstrasse anders vorgestellt, mit stillen, heißen Tagen, an denen Staubgeruch durch die weit offenen Fenster dringen und sie sich halb nackt in der Wohnung fläzen würden. In Wahrheit war die Hitze mäßig, Zeit zum Fläzen hatten sie auch kaum, und der Lärm war unerträglich. Der Besuch der Costas prägte ihren Tagesablauf, oben schrien die Alten, unten die Kinder. Dann zogen die Kinder um nach oben, und wenn sie dort durch die Wohnung rannten, rutschten auf dem Tisch die Gläser. Nachts liebten die Costas sich auf dem Balkon, tagsüber grillten sie, oder die Kinder veranstalteten Wasserbombenschlachten im Hof. Pit und Petzi hatten Arbeiten zu schreiben. Pit steckte sich einfach Stöpsel in die Ohren, drehte die Musik auf und war sofort in seiner eigenen Welt. Petzi konnte das nicht, sie brauchte Raum um sich, und den fand sie zu Hause nicht.

Außerdem bekam es ihrer Beziehung schlecht, dass sie während der Semesterferien so viel Zeit zu Hause verbrachten. Auch das hatte Petzi sich wunderbar ausgemalt: beide hinter Büchern, ab und zu ein Kuss auf einen verstrubbelten Hinterkopf, der vom Denken raucht, gemeinsam kochen, dabei diskutieren, küssen, Liebe machen, und wieder hinter die Bücher. Doch ihre Arbeitsrhythmen waren verschieden, Petzi schrieb am liebsten in sonnendurchfluteten Räumen, Pit nur nachts, in der Küche, die morgens, wenn Petzi ihren Frühstückskaffee kochte, nach kalter Zigarettenasche stank. (Sie selbst rauchte nur gelegentlich mal eine mit.) Zudem wälzten beide dauernd Gedanken, waren bloß halb ansprechbar und wurden nervös, wenn sie länger als zehn Minuten miteinander schliefen – von Küssen ganz zu schweigen. Auf einer Art Krisensitzung beschlossen sie, täglich zwei Stunden für die Beziehung zu reservieren, und zwar von fünf bis sieben Uhr nachmittags, daneben sollte jeder für sich sehen.

Seitdem arbeitete Petzi wieder in der Zentralbibliothek, zu Mittag aß sie auf einem Mäuerchen im Park der Musikologen, meist einen kleinen Salat oder Müsli. Sie las und schrieb acht Stunden lang konzentriert, und wenn sie heimfuhr, wollte sie sich mit »zwei Stunden Pit« belohnen. Doch selbst das missriet. Oft quälte er sich erst aus dem Bett, wenn sie kam, meist mit Kopfschmerzen, weil er zu faul gewesen war, die Rollläden zu schließen, und in der prallen Sonne geschlafen hatte. Dann musste er essen, rauchen, Kaffee trinken, danach reichte die Zeit für sie höchstens noch, um am Letten kurz ins Wasser zu springen, sich von der Strömung ans Gitter quetschen zu lassen und etwas zu knutschen.

»Ich möchte, dass du parat bist, wenn ich nach Hause komme, sonst macht unsere Abmachung keinen Sinn«, sagte sie nach ein paar Tagen.

»Aber wie?«, fragte er. »Ich habe nun mal nachts die besten Ideen, und irgendwann muss ich auch schlafen.«

»Was tust du denn den ganzen Tag?«, fragte sie. »Du kommst meist um fünf Uhr früh ins Bett, stimmt’s? Wenn ich heimkomme, ist es wieder fünf. Du wirst doch nicht zwölf Stunden schlafen!«

»Nein«, sagte er, »von zehn bis etwa drei Uhr gehe ich schwimmen, treffe Freunde, spaziere zur Werdinsel und denke nach. Dann bin ich schon wieder k.o., denn mittags ist es draußen inzwischen ganz schön heiß. Also haue ich mich kurz hin, bis du mich weckst.«

»Aber warum verabreden wir uns dann nicht mittags, wenn du Zeit hast?«, fragte sie.

»Du hast doch gerade gehört, der Mittag ist verplant«, erklärte er. »Und mir passt unsere Vereinbarung sehr gut. Wach werden muss ich sowieso irgendwann, und dich dabei neben mir zu haben, ist meistens ganz nett. Triff du doch mittags auch mal jemanden.«

»Denkst du etwa, das tue ich nicht?«, fragte sie schnippisch, obwohl sie höchstens mal ein Schwätzchen mit einer Studienkollegin hielt, die sie in der Bibliothek traf, sie hatte in Zürich noch keine Freundschaften geschlossen.

»Ach ja, wen denn?«, hakte Pit auch gleich nach.

»Oh, du bist manchmal so … so …«, rief sie, und weil ihr in der Wut kein Wort einfiel, das stark genug gewesen wäre, ließ sie ihn einfach in der Badeanstalt sitzen und spazierte allein bis zur Werdinsel, um sich abzuregen. Dort aß sie ein Eis, ließ die Füße ins Wasser baumeln und war erst gegen elf Uhr nachts zu Hause.

Sie hatte erwartet, dass Pit an der Arbeit wäre, aber er saß mit einem Fremden auf dem Balkon. Sie ging direkt in die Küche und schmierte sich ein Brot. Erst als er ihr nachkam, um ein neues Päckchen Zigaretten zu holen, fragte sie: »Wer ist das? Warum arbeitest du nicht?«

»Das ist Paul, unser neuer Hauswart«, sagte er. »Er wohnt jetzt unter uns. Er hatte mich vorher gebeten, die Leiter zu halten, während er die Föhre im Hof schnitt, und wollte mich dafür zum Bier einladen. Und weil ich noch nichts Richtiges gegessen hatte, habe ich ihn mit zu uns genommen.«

»Das muss ein toller Hecht sein, dass du deine Pläne für ihn umschmeißt«, sagte sie.

»Ja, irgendwie ist er das«, antwortete er. »Wir können jedenfalls richtig gut reden. Komm, ich stelle euch vor.«

Sie ging mit hinaus, gab Paul die Hand und wechselte mit ihm ein paar Worte, aber sie konnte sich nicht helfen, sie fand ihn furchtbar blass. »Ich gehe schlafen«, sagte sie bei der ersten kleinen Redepause. »Und Pit, lass uns morgen mal nichts abmachen, ja? Ich brauche etwas Zeit für mich.« Er sagte nichts dazu, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil es sich anfühlte, als würde sie ihn versetzen.

Am nächsten Tag kam sie dennoch um kurz vor fünf Uhr nach Hause, weil sie sich plötzlich nicht mehr sicher war, ob sie nicht doch am liebsten bei ihm sein wollte. Als sie aber um die Sankt-Josefs-Kirche bog, sah sie ihn gerade mit dem Hauswart in Richtung Lettenbad gehen. Er sah sie auch und winkte flüchtig, aber er hielt nicht an, und sie fragte sich, warum sie ihn überhaupt liebte.

Dann trat sie in den Hausflur und hörte großes Geschrei, es waren aber diesmal nicht die Costa-Kinder, sondern das kleine Mädchen von oben, dem sie ab und zu auf der Treppe begegnete. Selina aus dem vierten Stock hatte bei ihrem letzten Gespräch erwähnt, dass sie Mona hieß. Sie schluchzte und rief ganz verzweifelt: »Ich will aber Moritz! Ich gehe nur mit Moritz!«

Und weil Petzi auch gerade gedacht hatte, dass es schön wäre, jetzt Moritz zu sehen, ging sie dem Weinen und Zetern nach.

»Hallo, ich bin Petzi«, sagte sie. »Wo steckt denn Moritz?«

»Er ist leider verreist«, sagte Monas Mutter und gab ihr die Hand. »Ich bin übrigens Julia. Die beiden hatten sich unterm Dach eine Hütte gebaut, jetzt wollte ich mit Mona dort picknicken. Aber du hörst ja, sie will nur mit Moritz.«

»Siehst du, Mama, du hast nämlich keine Ahnung«, rief Mona entrüstet, »es ist ein Zelt, keine Hütte. Außerdem kennst du gar nicht die Lieder.«

»Für wie lange ist er denn verreist?«, wollte Petzi wissen.

»Den ganzen Sommer über«, gab Julia Auskunft. »Vielleicht kommt er an den Wochenenden einmal her, aber unter der Woche hütet er den Laden seines Vaters.«

»Oh, das ist lange!«, sagte Petzi.

»Siehst du, Mama?«, rief Mona, »sie sagt auch, es ist lange.«

»Für manche ist das eben lange, für andere nicht«, antwortete Julia leicht gereizt.

Mona rief: »Du bist so was von unsympathisch, Mama«, dann griff sie mit beiden Händen nach Petzis Arm. »Wieso heißt du Petzi? Bist du eine, die petzt?«

Petzi stutzte. »Nein, es ist ein Kosename, glaubte ich jedenfalls immer. Eigentlich heiße ich Patrizia.«

»Ich habe nämlich schon mal gepetzt«, erzählte Mona. »Aber Petzen ist nicht schön.«

»Ach, es gibt Schlimmeres«, meinte Petzi.

»Was zum Beispiel?«, schaltete sich Julia neugierig ein.

»Das wollte ich gerade fragen, Mama«, protestierte Mona, »du bist so was von unsympathisch!«

»Meinetwegen bin ich unsympathisch, aber deshalb interessiert es mich doch«, sagte Julia.

Petzi dachte nach. »Ich weiß gar nicht«, sagte sie mehr zu Mona als zu Julia. »Vielleicht stimmt das auch nicht. Vielleicht ist es eher so, dass schlimme Sachen gar nicht so schlimm sind, wenn man die Person mag, und gar nicht so schlimme Sachen sind plötzlich richtig schlimm, wenn man die Person eben nicht mag. Zum Beispiel finde ich den Krach schlimm, den die Costas machen, vor allem ihr Besuch, aber als ich dich schreien hörte, und du warst ja nicht gerade leise, fand ich das überhaupt nicht schlimm.«

»Heißt das, du magst mich?«, fragte Mona.

»Ja, offenbar mag ich dich«, sagte Petzi.

»Dann mag ich dich auch«, erklärte Mona. »Soll ich dir das Zelt von Moritz zeigen?«

»Oh ja, gern«, sagte Petzi und ließ sich von ihr die Stufen hochziehen.

»Mama, was bummelst du wieder so?«, rief Mona, als sie schon halb oben waren. »Du musst aufschließen!«

»Dann darf ich jetzt doch mit?«, fragte Julia und setzte sich in Bewegung.

»Nein, du darfst aufschließen, danach hast du frei«, sagte Mona.

Petzi und Julia wechselten Blicke, dann sagte Petzi: »Ist gut, ich kümmere mich um sie«, und nahm ihr den Picknickkorb ab.

»Wenn was ist, ich bleibe in der Wohnung«, sagte Julia. »Und danke.«

Auf dem Estrich war es so stickig, staubig und ermattend, wie Petzi sich den Sommer ausgemalt hatte. Außerdem roch sie Vanille, und das weckte wieder die Sehnsucht nach Moritz – nicht weil sie erinnert hätte, dass er nach Vanille roch, doch Vanille war einer ihrer Lieblingsdüfte, und deshalb roch er zumindest in ihrer Fantasie so.

Sie setzten sich ins Zelt, und Petzi fragte: »Was habt ihr denn hier oben jeweils so gemacht?«

»Nichts, nur gequatscht«, sagte Mona.

»Hattest du nicht etwas von Liedern gesagt?«, hakte Petzi nach.

»Doch, wir haben auch gesungen. Aber das Wichtige war das Quatschen«, sagte Mona nochmals. »Mit Moritz kann ich total gut quatschen. Hast du jemanden, mit dem du total gut quatschen kannst?«

Petzi zögerte. Sie hätte gern gesagt: »Mit Pit«, allerdings stimmte das nicht. »Mit Moritz« hätte zumindest halbwegs gestimmt, aber eben nur halbwegs. Außerdem gehörte er gerade Mona. »Mit Selina«, sagte sie schließlich, »ja, da stimmt einfach die Chemie.«

Das fand Mona furchtbar lustig ausgedrückt, und als sie picknickten, sagte sie von allem, was sie aßen: »Da stimmt einfach die Chemie.«

Irgendwann fragte Petzi: »Findest du deine Mama eigentlich wirklich unsympathisch?« Sie fand den Gedanken sehr mutig.

»I wo«, sagte Mona. »Das sagen wir eben so, sie sagt das auch.« Dann zögerte sie aber. »Mama weiß schon, dass ich sie nicht wirklich unsympathisch finde, oder?«

»Keine Ahnung«, antwortete Petzi offen. »Ich würde glauben, du meinst das so, aber ich bin keine Mutter.«

Mona rutschte nervös hin und her, dann sprang sie auf und wollte nach Hause.

»Ja, geh nur, ich räume auf«, sagte Petzi. Sie brachte sie bis vor die Tür, dann ging sie wieder hoch, wischte Krümel zusammen, tat Papier und Plastikgeschirr ins Körbchen zurück und legte sich auf den Schlafsack. Während sie die verwaschene Synthetikdecke des FC Basel betrachtete, die sich über ihr spannte, stellte sie sich erst vor, mit Moritz hier zu liegen. Das war ihr aber doch zu nah an Pit und an ihrem Daheim, deshalb schloss sie die Augen und dachte sich Moritz und sie in einer Senke im Grünen, nahe einem Fluss, in der er die FC-Basel-Decke ausgebreitet hatte. Sie küsste ihren Daumenknöchel, als küsste sie Moritz, fuhr mit zwei Fingern ihre Schamlippen entlang, durch das leichte Baumwollkleid und ihr Höschen hindurch, und mochte sich selbst in dem Moment total gut leiden.

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Tatkraft