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Schleimspuren hinterlassen bei den Leitners nur die Schnecken im Garten. Schleimige Menschen mögen sie nicht, genauso wenig wie solche, die tagsüber vor dem Fernseher sitzen, das machen nur die Faulen. Prinzipien haben sie, die Leitners, und keinen Genierer, sich ihre Billigsdorfer-Mentalität zugute zu halten: keinen Cent zu viel ausgeben, nicht so wie die anderen, die das Geld beim Fenster hinauswerfen! Charlotte, die Nachzüglerin, merkt früh, dass sie weniger hat als andere Kinder. Vor allem wird ihr ständig gesagt, was sie nicht hat: einen Vater. Es ist die Mutter, die alles am Laufen hält. Bis eines Tages ein Aneurysma in ihrem Gehirn platzt. Die Folgen: 50-prozentige Behinderung, Kündigung, Arbeitsamt. Die beiden erwachsenen Halbgeschwister ziehen aus, ein alkoholsüchtiger Mann ein, und Charlotte muss sich damit abfinden, dass ihre Familie nun noch weniger in das Wertesystem der konservativen Kleinstadt passt als zuvor... An den sozialen Klassen haben sich viele abgearbeitet, Annemarie Andre tut es in ihrem Romandebüt Nacktschnecken mit einem raffinierten Kniff: aus der Sicht eines Kindes, das seine Welt nimmt, wie sie ist, sie nicht in Beziehung setzt, nicht wertet, und seine Mutter, die nicht ist wie andere Mütter, dabei noch gut aussehen lässt – das zeugt von großer Klasse! Auszug aus Nacktschnecken Annemarie Andre Dieses Material ist möglicherweise urheberrechtlich geschützt.
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Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Buch
Schleimspuren hinterlassen bei den Leitners nur die Schnecken im Garten. Schleimige Menschen mögen sie nicht, genauso wenig wie solche, die tagsüber vor dem Fernseher sitzen, das machen nur die Faulen. Prinzipien haben sie, die Leitners, und keinen Genierer, sich ihre Billigsdorfer-Mentalität zugute zu halten: keinen Cent zu viel ausgeben, nicht so wie die anderen, die das Geld beim Fenster hinauswerfen! Charlotte, die Nachzüglerin, merkt früh, dass sie weniger hat als andere Kinder. Vor allem wird ihr ständig gesagt, was sie nicht hat: einen Vater. Es ist die Mutter, die alles am Laufen hält. Bis eines Tages ein Aneurysma in ihrem Gehirn platzt. Die Folgen: 50-prozentige Behinderung, Kündigung, Arbeitsamt. Die beiden erwachsenen Halbgeschwister ziehen aus, ein alkoholsüchtiger Mann ein, und Charlotte muss sich damit abfinden, dass ihre Familie nun noch weniger in das Wertesystem der konservativen Kleinstadt passt als zuvor... An den sozialen Klassen haben sich viele abgearbeitet, Annemarie Andre tut es in ihrem Romandebüt Nacktschnecken mit einem raffinierten Kniff: aus der Sicht eines Kindes, das seine Welt nimmt, wie sie ist, sie nicht in Beziehung setzt, nicht wertet, und seine Mutter, die nicht ist wie andere Mütter, dabei noch gut aussehen lässt – das zeugt von großem Feingefühl, das ist große Klasse!
Die Autorin
Annemarie Andre wurde 1994 in Waidhofen an der Ybbs geboren. Sie lebt und arbeitet in Wien und Amsterdam. Studium der Kunstgeschichte, anschließend Journalismus und neue Medien in Wien. Journalistische Beiträge in den Tageszeitungen Der Standard und Die Presse und im Kunstmagazin Parnass, literarische Veröffentlichungen u. a. in die Rampe, etcetera. Preise: Finaleinzug im Teambewerb bei den Deutschsprachigen Poetry Slam Meisterschaften 2015; LitArena 2015, 3. Platz; Junges Literaturkarussell Niederösterreich 2014, 1. Platz. Nacktschnecken ist ihr erster Roman. Für das Manuskript erhielt sie 2022/23 das Hans-Weigel-Literaturstipendium.
Für Mama
1
Heute Morgen erstickte ich beinahe. Ich war auf einem Flug in den Süden, Marcels Arme und Beine waren mein Flugzeug und schaukelten und rüttelten mich auf und nieder. Bildfetzen aus Fernsehzeitschriften rauschten in Sekundenschnelle an mir vorbei. Haare, roter Lippenstift, Busen. Wie im Daumenkino. Wenn Marcel mich hoch hinaufwarf, konnte ich sogar den Genagelten am Kreuz sehen. Guter Gott, wir bitten dich, erhöre uns. In der Tiefe roch es nach zermalmten Bananen und Wurstsalat.
Zum Frühstück aß Marcel immer Wurstsalat mit Zwiebeln, bei dessen Geruch mir mein Müsli in großen Brocken fast bis hinauf in die Backen schoss und ich es noch mal, aber fester, hinunterschlucken musste. Nach dem Frühstück holte Marcel das rot-blau karierte Notizbuch aus seinem Zimmer, schlug es auf und nahm sich eine Banane. Bevor er sie aß, kletzelte er den Aufkleber herunter, verglich ihn mit den anderen in seinem Buch und beurteilte ihn. Ich liebte es, ihm dabei zuzusehen. Marcel war wie ein Fernseh-Richter, der in wenigen Minuten das Urteil der Bananenschale verkünden würde. Fünf Jahre Haft für diesen Aufkleber, der es sich anmaßte, wie alle anderen Aufkleber auszusehen. Trotzdem klebte Marcel ihn in sein Büchlein. Die Freude, dass er sich die Zeit so kostengünstig vertreiben konnte, sah ich ihm an.
Gleich würde er seine Rede beginnen: Weißt du, Charlotte, andere brauchen einen sündteuren Riesen-Fernseher, nein sogar zwei, einen Gameboy und was weiß ich noch alles, um glücklich zu sein. Aber wir, wir sind die Billigsdorfer-Leitners, da ist das Günstigste gerade am besten. Ich wusste zwar, dass ich Leitner mit Nachnamen hieß. Das musste ich für Mama auswendig lernen. Jeden Morgen, bevor ich in die Schule ging, zwang sie mich, den Namen inklusive der Haustelefonnummer aufzusagen. „Damit du nicht verschleppt wirst wie die eine aus Wien“, sagte Mama und rief mir noch vom Balkon herunter: „Und wenn du einen weißen Lieferwagen siehst, dann rennst du schnell daran vorbei.“ Was aber Billigsdorfer hieß, wusste ich nicht. Ich reimte mir zusammen, dass es wohl ein Ort war, in dem alles besonders billig war und niemand Geld ausgeben musste beim Einkaufen. Das war aber bei uns nicht so. Darum sah ich Marcel oft, wie er hinter dem Supermarkt bei den Mistkübeln stand und Lebensmittel herausfischte, die man noch essen konnte. Dabei setzte er denselben Gesichtsausdruck auf, den er hatte, wenn er die Bananenschalen-Aufkleber in sein Buch klebte. Ich war fasziniert von diesem Buch mit den vielen unterschiedlichen Aufklebern und Farben. Wenn Marcel einen guten Tag hatte, durfte ich es mir anschauen. Grün, weiß, gelb, rot, manche Aufkleber waren einfarbig, andere hatten Muster und waren mit Text versehen. Ich malte mir aus, dass das die kostbarsten Exemplare in Marcels Sammlung waren. Oft dachte ich mir, wie klug es von ihm war, die Aufkleber bereits jetzt zu sammeln, wo das noch niemand tat. Wenn es irgendwann alle täten, könnte er sie gegen viel Geld abtreten. „Dann kauf ich uns ein Schloss, in dem wir wohnen“, sagte Marcel und lachte. Nachdem er den Aufkleber eingeklebt und mit aktuellem Datum versehen hatte, schälte er die Banane. Dabei nahm er sich Zeit, es gehörte zu seinem Ritual. Dann biss er ab. Marcel aß eine Banane ganz anders als Mama. Bei ihr musste es schnell gehen. In maximal vier Bissen war die Banane weg, und die Schale landete im Müll. Marcel jedoch nahm kleine Häppchen und zermalmte sie, so hatte er länger was davon. Auch das gehörte zu der von ihm ins Leben gerufenen Billigsdorfer Mentalität. Reiche Leute bräuchten immer etwas Besonderes, eine teure Delikatesse. Was, das wusste Marcel selbst nicht genau, aber er wusste, dass für ihn einfaches Obst ausreichte und er dabei sogar noch sparte.
„Höher, höher“, rief ich Marcel zu, um dem Geruch von Bananenmatsch zu entgehen. Immer wieder hörte ich Mamas Räuspern aus der Küche. Solange sie nichts sagte, ignorierten Marcel und ich ihre Geräusche. Sie war eine Spielverderberin, darin waren wir uns einig. Außerdem war Marcel schon erwachsen und musste nicht auf sie hören. Zwischen mir und Marcel lagen zehn Jahre. Er konnte für sich selbst entscheiden, während ich ständig einen Erwachsenen fragen musste. Mama rief aus der Küche: „Pass auf, Marcel, nicht, dass sie sich verschluckt!“ Marcel und ich grinsten uns an und machten weiter. Noch zweimal flog ich hoch hinauf, sah den Jesus Christus im Herrgottswinkel und unten die Busen-Frau auf der Zeitschrift. Dann kam Marcels Mundgeruch, und ich spürte das Frühstück wieder in die Backen schießen.
Ich schluckte schnell. Dabei hatte ich vergessen, dass ich ein Hustenzuckerl im Mund hatte, das ich mir zuvor von Mama erbettelt hatte. Fest, kräftig, aber es wollte nicht hinunter. Es reckte mich, während der Flug mich durchbeutelte. Marcel war Kapitän, ich nur Passagier. Mir wurde schwindlig, da stoppte Mama den Flug und haute mir mit flacher Hand mehrmals auf den Rücken. Ich wollte Au! rufen, aber das Zuckerl steckte in meinem Hals fest. Unter Mamas kräftigem Schimpfen und Marcels unschuldigem Blick landete es auf dem Teppich. „Was hörst denn nicht auf, wenn ich schon schrei?“, rief Mama. Ihr Gesicht war vor lauter Zorn genauso rot angelaufen wie meines. „Jetzt geh halt raus mit ihr, dann kommt sie wenigstens an die frische Luft“, sagte sie. Marcels Kopf verschwand zwischen seinen Schultern, er war zu einem einzigen großen Zopfstrickpullover geworden.
„Komm, Schuhe brauchst keine, Schlapfen reichen“, sagte Marcel im Stiegenhaus zu mir, als Mama uns nicht mehr hören konnte. Ich zweifelte daran, sah aber Marcel in seinen Schlapfen die Stiegen in großen Schritten hinunterstapfen und die Haustür aufreißen.
Mamas Garten, wie sie ihn nannte, war eigentlich ein aufgeschütteter Erdhaufen, in den öfter Hunde pieselten. Manchmal schafften Autos die scharfe Kurve nicht und arbeiteten sich dann querbeet durch die Erdausläufer und ersten Gräser. Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du werden. So hatte ich es bei den Begräbnissen gehört, die alle zwei Wochen auf dem Friedhof stattfanden. Der Friedhof lag direkt gegenüber unserer Wohnung, und so waren Begräbnisse nichts Besonderes, außer jemand starb, der jünger war als Mama. Dann schaute sie zum Genagelten hinauf und rief in die Runde: „Irgendwann wird’s mich auch treffen – und was macht’s ihr dann?“ Marcel, meine Schwester Anja und ich saßen dabei meist um den Esstisch versammelt wie die Jünger vom letzten Abendmahl, die nicht vor dem Nachtisch gehen wollten. Wir blickten einmal auf, zuckten mit den Schultern, schauten uns an und löffelten weiter in unserem Kompott.
Seit ich den Priester sagen gehört hatte, zur Erde würde man werden, und gesehen hatte, wie er dabei eine Schaufel Erde über das offene Grab leerte, fragte ich mich, ob mir das auch eines Tages passieren könnte. Dass, wenn ich einmal nicht aufaß, nicht nur das Wetter schlecht werden, sondern ich plötzlich zu Erde zerbröseln würde. Dann müsste Mama Schaufel und Besen aus der Schublade unter dem Waschbecken holen und mich auffegen. Niemand würde mich über einen Sarg streuen. Mama würde einfach denken, dass Anja beim Umtopfen ihrer Zimmerpflanzen Mist gemacht hat. „Na geh, mach das das nächste Mal auf dem Balkon“, würde sie sagen und mich in den Restmüll schütten.
Wenn ich mit Mama durch den Friedhof ging, den wir als Abkürzung in die Stadt benutzten, wollte ich oft einen kleinen Abstecher zu den Kindergräbern machen. Die sahen am schönsten aus, was doch eigentlich komisch war, da Kinder weniger hatten als Erwachsene. Weniger Taschengeld, weniger Anziehsachen, weniger Zeug. Aber wenn Kinder plötzlich starben, kamen die schönsten Statuen auf den Sarg und die hübschesten Schriften, die Mama mir vorlesen musste. Buchstaben in Gold und Silber, Nischen für Kerzen. Tote Kinder hatten einfach alles. Als würden sich die Tränen der Eltern in Gold verwandeln, das man gegen viel Zeug tauschen konnte.
Bei mir war es wahrscheinlicher, dass ich zu Blumenerde würde. Schließlich hatte ich nur eine Mama, und die konnte nicht weinen. So schlimm war es aber gar nicht, zu Erde zu werden und gemeinsam mit den Pflanzen meiner Schwester umgetopft zu werden. Dann würde ich in ihrem Zimmer sitzen und mithören, welche Geheimnisse sie ihren Wellensittichen erzählte.
In Mamas Garten waren die Tulpen kurz davor aufzugehen. Ich sah der Nacktschnecke zu, wie sie langsam den Stängel hinaufkroch und sich sanft auf ein Blatt abseilte. Schneckenlänge um Schneckenlänge wurde das Tulpenblatt zerlöchert, rundherum bildeten sich kleine Schleimkronen. Ob Schnecken wegen des Schleims und der schäumenden Blasen als Abschaum bezeichnet wurden? Ich streckte den Zeigefinger meiner linken Hand aus. Der Körper der Schnecke war mit feinen Rillen versehen, und der Kopf mit den kleinen schwarzen Fühlern sah sogar ganz niedlich aus. Ich wollte der Schnecke über den Hinterkopf tätscheln, da zog sie die Fühler ein. Auf dem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens. Arme Schnecke, wenn Marcel herausfindet, dass du von den schönsten Früchten in Mutters Garten gegessen hast! Neben dem wuchernden Rosenstrauch und der Dornenhecke waren die Tulpen sicherlich das prächtigste Gewächs des Erdhügels.
„Spinnst du, warum schaust du der Schnecke zu, wie sie alles kaputt macht?“, rief Marcel hinter mir. Er schnippte die Schnecke mit Daumen und Mittelfinger vom Blatt herunter, sodass sie auf dem Rücken zu liegen kam. Sie zitterte. Die Schnecke versuchte ihr Gleichgewicht wiederzufinden und sich auf den Bauch zu drehen. Ich hörte, wie Marcel, ohne seine Schlapfen vom Boden zu heben, durch die Garage nach oben schlurfte. Türen knallten, bald würde er oben angekommen sein. Ich konnte mir schon denken, was er holte.
Marcel ließ das Garagentor mit einem kräftigen Schwung zuknallen. Triumphierend winkte er mir mit dem freien Arm zu und schwenkte die kleine Gerätschaft, die er in der Hand hielt. „Das ist ein professioneller Schneckenhäcksler“, rief er mir zu. Aus der Nähe sah es nicht wie etwas aus, das es im Geschäft zu kaufen gab, sondern wie etwas aus seinem Dachbodenzimmer. Dort bewahrte Marcel seine Comics auf und Dinge, an denen er gerade bastelte. Alle bewunderten ihn dafür. Anja und Mama sagten immer wieder, wie gut er bauen, reparieren und Gegenstände erfinden konnte. Das könne sonst niemand so wie er, da sollte ich mir mal eine Scheibe abschneiden.
So sehr ich auch versuchte, Marcel etwas gleichzutun, es gelang mir nicht. Außerdem fand ich Fahrradreifenflicken langweilig, lieber spielte ich mit alten Tüchern und erfand damit eine Geschichte. Stolz setzte Marcel sein Gerät, das aussah wie ein gebrauchtes Gurkenglas, auf die zappelnde Schnecke, die noch immer versuchte, sich umzudrehen. Das Glas umhüllte sie nun ganz. Ob sie noch Luft bekommen würde, fragte ich mich. Da betätigte Marcel mit einer Hand die drangebastelte Kurbel. Die im Glassturz angebrachten Schneidemesser bewegten sich schneller und schneller.
Wieder fühlte ich mein Müsli von heute Morgen sich sanft nach oben schieben – da wurden die Fühler vom Rest der Schnecke getrennt und auf die Vorderseite des Glases geschwemmt. Schneller und schneller drehte Marcel an seiner Kurbel und lachte dabei. Ich fragte mich, ob sich Schnecken wie Regenwürmer wieder zusammensetzen konnten. Aber so wild wie Marcel häckselte, konnte keine Schnecke der Welt wieder ganz werden. Schneckenkopf, Schneckenmittelteil, Schneckenschwanz. Ich sah alle Teile nur so durchs Glas flitzen, das sich mittlerweile goldbraun gefärbt hatte.
Nicht mehr ganz wurde auch das Herz des Grabsteinküssers. So nannte Mama einen Mann, der regelmäßig in den Friedhof kam, um auf dem Grabstein das Foto seiner Frau zu küssen, die bei einer Wanderung abgestürzt war. Es war das einzige Grab mit Foto, das ich auf dem Friedhofsgelände ausmachen konnte. Einmal ging ich ganz nah hin und versuchte, die Frau zu erkennen, aber vom vielen Küssen war das Foto stark abgenutzt. Der Grabsteinküsser musste seine Frau selbst nach ihrem Tod noch so sehr lieben, dass er jeden Tag zu ihr kam und ihr Abbild liebkoste. Wie die Schnecke im Glas war sein Herz in tausend Einzelteile zerfetzt und konnte sich nicht einfach wieder zusammenflicken.
Marcel hob das Glas auf und verstreute die Einzelteile der Schnecke im Garten, als ob er damit ein Warnsignal für ihre Artgenossen setzen wollte. „So einfach wird man Ungeziefer los“, sagte er und ging zum Gartenschlauch, um seine Gerätschaft auszuwaschen. Ich schaute noch immer auf den Garten. In meinem Bauch gluckste es. Ich hielt meinen Mund geschlossen und schluckte kräftig. Eine Dame macht so etwas nicht, würde Mama sagen. Wenn ich wie Marcel meine Spucke am Gehsteig verteilen wollte, wurde ich sofort ausgeschimpft.
„Willst du denn einmal keine Dame werden?“, fragte mich Mama dann mit sorgenvollem Gesicht. Natürlich wollte ich das. Ich stellte mich mir vor wie die elegante, reiche Dame in Erich Kästners Schwarzweißfilm Das doppelte Lottchen. Ich wohnte in einem Wiener Penthouse, einige Autostunden entfernt von hier, stand im eleganten Kostüm auf der Terrasse, zündete mir eine Zigarette an und fragte den Dirigenten, meinen Liebhaber: „Findest du das sehr geschmackvoll?“ Eine Dame spuckte nicht auf den Boden. Bissen für Bissen, Schluck für Schluck ließ ich das Frühstück wieder nach unten gleiten. Es müsste schon längst nur mehr ein farbloser Brei sein.
Marcel hatte sein Gerät auf der Mülltonne stehen lassen. Ich schaute auf meinen Faltenrock hinunter, die Strumpfhose und die Füße, die noch immer in den Schlapfen steckten. Viele Mädchen trugen draußen Hosen. Das mochte Mama nicht, da könnte man ja gar nicht mehr erkennen, ob es sich um einen Buben oder ein Mädchen handelte. Ich wollte immer Röcke oder Kleider tragen. Da konnte ich mich drehen und den Rock schwingen lassen wie die Frauen aus Mamas Filmen, die um 20.15 Uhr liefen. Sie waren für mich auch nicht unpraktisch, schließlich unternahm ich ohnehin nicht viel mit anderen Kindern.
Mama war nicht wie andere Mütter, die nach der Schule zusammenstanden und plauderten. Sie mochte keine Tratschereien, auch nicht mit den Nachbarn. Höchstens ein paar Höflichkeitsfloskeln austauschen, aber nur, wenn man sich gerade über den Weg lief. Mehr war bei ihr nicht drin. Mit den Nachbarn sollte man sich erst gar keine Freundschaften anfangen. „Wenn man sich einmal nicht mehr gut versteht, muss man immer noch dort wohnen, und dann ist der Umgang ein ganz anderer“, sagte sie. Die Nachbarskinder spielten zwar oft draußen im Hof, ich aber schaute meistens von oben zu oder blieb auf der Couch neben Mama und malte. Große Prinzessinnen mit Puffärmeln, aber ohne Arme und mit einer Kartoffel als Hand samt Würstelfingern. Das sagte Marcel über meine Zeichnungen. Anja und Mama lobten mich dafür und fanden sie schön. Wenn Mama erzählte, wie lange ich stillsitzen und malen konnte, wurden andere Eltern neidisch. Ich sei so brav, was für ein Glück sie habe. „Sie kann auch ganz anders“, sagte Mama dann. Ich wusste nicht, was sie meinte. Der Einzige, der nicht brav war, war Marcel.
Marcel stand beim Stachelbeerstrauch, den er außerhalb des Gartens auf einem wilden Rasenstück gepflanzt hatte, um unser Grundstück heimlich zu erweitern, und musterte mich. „Was schaust denn so deppert?“, rief er herüber. Lange in derselben Position zu verharren, war für ihn unausstehlich. Genau das tat ich aber gerade, um zu verhindern, dass ich mich übergeben musste. „Komm, schau dir das an!“ Ich schaute zu Marcel hinüber, dann wieder zum Schneckenhäcksler, der auf der Mülltonne stand. Wenn er noch eine Schnecke zerkleinern würde, könnte ich es nicht mehr zurückhalten. Dann würde Mama den Kopf schütteln und sagen: „So wirst du keinen Mann finden!“
Marcel zeigte auf die feuchte Erde neben dem Stachelbeerstrauch. Ein Regenwurm wühlte sich durch sie. Ich hockte mich hin, um ihn besser sehen zu können. Marcels Hand packte mich von hinten und drückte mich Richtung Erde. Ich schrie, der Wurm war direkt vor meiner Nase. Ich presste die Lippen zusammen und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. Aber Marcel drückte mich noch weiter hinunter, bis meine Nasenspitze den Regenwurm beinahe berührte. Dann ließ er aus, aber so plötzlich, dass ich auf meinem Hintern landete. Hinter mir hörte ich Marcels tiefes Lachen.
In diesem Moment kam ein älteres Ehepaar aus dem Friedhof. Marcel zuckte mit den Achseln und sagte: „Wir spielen nur, das ist meine Schwester.“ Die Passanten schüttelten den Kopf und stiegen in ihr Auto. „Heb den Regenwurm auf und trag ihn in unseren Garten“, befahl Marcel.
Ich schaute Marcel an und dann den hellrosa Regenwurm. Wie er sich wie eine Ziehharmonika vorwärts schlängelte. Warum sollte ich ihn aufheben und tragen, konnte er nicht selbst kriechen, wohin er wollte? Ich schüttelte meinen Kopf. Reden wollte ich nicht, noch immer hatte ich Angst, mich übergeben zu müssen. „Geh, hab dich nicht so“, sagte Marcel und packte den Wurm mit Daumen und Zeigefinger. Die Ränder seiner Fingernägel waren schwarz gefärbt.
Marcel schlurfte mit dem Regenwurm in Richtung Garten und ließ ihn fallen. Hoffentlich war der Wurm nicht mit der Schnecke befreundet gewesen. Dann würde ihm nämlich auffallen, was Marcel ihr angetan hatte, und Gottes Zorn auf uns ziehen. Wenn erst mal der Zorn heraufbeschworen war, konnte nichts mehr gut enden wie in Mamas Filmen. Das hatte ich schon in der Kirche gehört. Dann würde der liebe Gott Plagen schicken. Welche Plage wohl Marcel treffen würde? Einmal hatte ich auf der Suche nach einer Benjamin-Blümchen-Kassette das gesamte Regal ausgeräumt und ganz hinten eine Zeitschrift gefunden. Ich blätterte sie durch, und da fiel mir die Geschichte von König David ein, die ich in der Kirche gehört hatte. Er sah vom Dach aus eine Frau sich waschen, und die Frau war von schöner Gestalt. Die Frauen in der Zeitschrift waren genau so, wie ich mir die Frau aus der Bibel vorstellte, frisch gereinigt, geölt und bereit, um entdeckt zu werden. Mit einer Hand hielt ich die Zeitschrift, mit der anderen tastete ich meinen Oberkörper ab. Noch hatte ich keinen Busen und fürchtete, dass ich nie einen bekommen würde. Täglich musterte ich mich in Anjas Ganzkörperspiegel, um zu überprüfen, ob sich etwas getan hatte. Aber Mama meinte, das passiere erst mit vierzehn, und wenn ich Pech hatte, noch später. Meine Tante sei komplett flach geblieben, bis sie sechzehn war. Ich aber wollte nicht busenlos durch die Welt gehen. Schon jetzt sollte sich etwas wölben, damit der Busen genug Zeit hatte, zu wachsen, wie bei den Frauen im Heft, die aussahen, als hätten sie Orangen oder Grapefruits an ihren Körper geschnallt. Ich sah auch, dass die Frauen an der Scheide Haare hatten. Bei mir war alles glatt.
Mama riss mir die Zeitschrift aus der Hand. Sie schürzte die Lippen, wie sie es immer tat, wenn sie von etwas überrascht war und doch auch wieder nicht, denn das Leben hatte ihr schon viele Enttäuschungen bereitet. Kurzzeitig sah es so aus, als würde sie Marcel zur Rede stellen wollen. Ihre Stirn runzelte sich, die rehbraunen Augen konnten Gefühle kaum verbergen. Die Überraschung verwandelte sich in Schock – sie hatte ihren Sohn jünger im Kopf, als er tatsächlich war – und letztendlich in Ekel darüber, dass so eine Zeitschrift in ihrer Wohnung herumlag. Sie schürzte die Lippen immer noch, biss sich dann darauf und ging in Marcels Zimmer. Sie knallte die Zeitschrift auf den Tisch und huschte wie ein Dieb wieder hinaus. „Solche Schundhefte brauchst du dir gar nicht anschauen, hörst“, sagte sie zu mir.
Marcel zog mich am Ärmel meiner Jacke. „Ich geh wieder hinauf“, sagte er. Ich zuckte mit den Schultern und folgte ihm in den Vorraum, in dem meine Straßenmalkreiden lagen. Ich hatte zwar kein Braun, aber die Schnecke konnte auf meinem Bild auch eine andere Farbe haben. Von Mama hatte ich gelernt, dass die kleinen Zettel mit Fotos der Toten Parten hießen. Ich malte eine Parte für die Schnecke mit vielen Tulpenblättern, die sie jetzt im Himmel fressen konnte, ohne bestraft zu werden.
2
Anja lag in Unterwäsche auf der Couch. Ihre Cremetiegel standen übereinandergestapelt auf dem Tisch. In der rechten Hand hielt sie einen Tiegel, in den sie immer wieder mit den Fingern der linken Hand hineintunkte, um dann von der Hüfte abwärts über die Wade hinweg dick Creme aufzutragen. Die Haut auf ihrem Bein glänzte. Sie wirkte weich und beinahe durchsichtig wie die fein linierten Flügel einer Biene. Nach dem Eincremen hielt sie ihr Knie mit einer Hand fest und kreiste das Bein. Es sah aus, als würde der Knochen ihres Oberschenkels durch die Haut durchkommen. Ihre Haut war nicht mehr glatt und eben. Sie glich einem Fleckerlteppich, der aus unterschiedlich großen Stofffetzen zusammengesetzt war. Ich wollte Anjas Haut betasten, aber sie ließ mich nicht. „Das muss erst gut heilen“, sagte sie.
Ihre Haut war so weich, ich wollte mit dem Fingernagel hineinbohren wie in meine Window-Color-Bilder. Ein Mädchen, das auf einem Halbmond sitzt, hatte ich schon gemalt. Danach meinen Namen. C-H-A-R-L-O-T-T-E. Das H war etwas missraten, beim zweiten senkrechten Strich spritzte es plötzlich aus der Tube. Aus dem eleganten H wurde eins mit einer fetten Pfütze. Oder einer Träne, als würde das H über das nachfolgende A weinen. Beim Mond war es mir gelungen, die goldene Farbe sanfter und durchlässiger aufzutragen. Die Haut meiner Schwester sah aus wie eine Mondscheibe mit kleinen Rillen und Kerben. Anja nannte sie Narben.
Oft zeigte sie mir Fotos, auf denen ich zu sehen war, wie ich ihr im Krankenhaus einen Teddybären überreichte. Ihr einbandagiertes Bein lag in einer Schleife, die von oben herabhing. Ihr Kopf war ebenfalls in einen Verband gewickelt, genauso ihr rechter Arm. Ich konnte mich daran nicht mehr erinnern.
Mama sagte, sie wisse alles noch ganz genau. Wie die Polizei sie anrief und sie schnell zum Unfallort radelte. Wie Anja ins Krankenhaus eingeliefert wurde und sie stundenlang warten musste. Oma, die damals noch lebte, hatte auf mich aufgepasst. Ich erinnerte mich auch daran nicht mehr. Aber vermutlich hatte ich eines der üblichen Gespräche mit ihr. Ich: „Mir ist kalt.“ Sie: „Dann geh in den Wald.“ Erst wusste ich nicht, was sie damit meinte. Es machte keinen Sinn, abends, wenn einem kalt war, wandern zu gehen. Aber da sie das immer sagte, beschloss ich, einfach zu lachen. Wenn sie mit mir sprach, schob Oma ihr Gebiss nach rechts und links und knirschte dabei. Manchmal schob sie es auch ganz nach vorne. Das fand ich besonders lustig, da es aussah, als wäre sie ein Hund, der gleich nach einem schnappen würde. Immer wenn ich darüber nachdachte, fand ich es komisch, dass ich diesen Abend mit Oma verbrachte, während meine Schwester mit der Rettung ins Krankenhaus gefahren wurde.
Sie sei in den Strom gekommen, schrieb die Lokalzeitung. Dabei hieß es doch: Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht. Anja war aber gar nicht mehr so klein, viel größer als ich und schon erwachsen. Vielleicht täuschte sich Mama, und Messer, Gabel, Schere, Licht sind für Erwachsene nicht. Manchmal brachte sie die Wörter durcheinander.
Ich probierte, ob ich auch in den Strom kommen könnte, indem ich mit meinem Finger heimlich, wenn niemand zusah, ganz nah an die Steckdose fuhr. Es passierte nichts, nicht einmal, wenn ich die Steckdose kurz angriff. Ich kam nicht in den Strom. Dabei stellte ich mir vor, plötzlich wie Alice im Wunderland zu schrumpfen und in eines der Nasenlöcher gesogen zu werden. Ich würde durch einen Tunnel taumeln und dann irgendwo im Strom herauskommen. Vielleicht sah es dort aus wie in einer magischen Welt mit Kaninchen, die immer spät dran waren.
Anja hatte früher einen Hasen, der gerne Stromkabel annagte und gestorben war, bevor ich auf die Welt kam. Vielleicht hatte dieser Hase sie zu sich holen wollen, weil er einsam war im Hasenhimmel. Aber Anja war nicht in den Himmel gekommen, sondern in den Strom, und hatte sich an Beinen, Armen und am Kopf verbrannt. Vielleicht weil sie schon so groß war und nicht wie Alice und ich ganz einfach geschrumpft werden konnte.
Als Anja nach Hause entlassen wurde, hatte sie viele Cremen dabei, mit denen sie sich mehrmals täglich einschmieren musste. Dafür musste sie nicht in die Arbeit. Sie war jetzt immer zu Hause und konnte mit mir Bussi-Bär-Kassetten hören, malen und fangen spielen. Auf einmal wollte sie nicht mehr. Dann ging sie in ihr Zimmer und hörte laut Musik, bis Mama klopfte.
Ich fragte Anja, ob ich auch eine Narbe eincremen dürfte. Sie seufzte, deutete auf eine Creme und sagte: „Für den rechten Oberarm.“ Ich tunkte meinen Zeigefinger ganz tief in den Cremetiegel und bohrte darin herum, bis Anja mir den Tiegel wütend aus der Hand nahm: „Reicht schon.“ Vorsichtig berührte ich mit meinem Zeigefinger die Narben auf ihrem Oberarm. Sie erinnerten mich an Zitronenfalter, die ich auf dem Spielplatz mit meiner Kindergartenfreundin fangen wollte. Einmal war ich tatsächlich ganz nahe an einen herangekommen. Ich drückte meine Finger leicht zusammen und erwischte die Füßchen des Falters. Die hellgelben Flügel schlugen zusammen. Im nächsten Moment flog der Schmetterling weiter.
Das Telefon läutete, meine Schwester stand auf, verteilte die von mir aufgetragene Creme schnell auf dem restlichen Oberarm und ging zum Telefon. Auf das grobe „Hallo“ folgte bald ein sanftes Säuseln. Ich hatte Mama gefragt, warum Anja ihre Stimme verstellte. Sie erklärte mir: „Das ist eben so, wenn man mit einem Mann spricht, in den man verliebt ist.“ Manchmal dauerten die Telefonate von Anja zwei Stunden. Nach zehn Minuten sagte sie meistens „Moment“, legte den Hörer auf die Seite und hüpfte in zwei großen Schritten zur Tür, um sie zu schließen. Der Gang, in dem das Telefon stand, verband Toilette, Badezimmer, Anjas und Marcels Zimmer mit dem Rest der Wohnung. Sobald die Tür zu war, war es in den nächsten Stunden fast unmöglich, aufs Klo zu gehen. Nach mehrmaligem Anklopfen brummte Anja üblicherweise: „Dann geh halt, aber mach schnell.“ Als ich einmal vergessen hatte anzuklopfen, hatte Anja stundenlang kein Wort mit mir geredet und nur grimmig geschaut.
Anja war noch in der Unterhose, weil sie mit dem Eincremen nicht fertig geworden war. Ihre kurzen stoppeligen Haare standen in alle Richtungen ab. Am Vorderkopf war ein Streifen zu sehen, auf dem gar keine Haare wuchsen. Anjas Kopf sah merkwürdig aus. Wie Plastilin, das mit den Plastik-Werkzeugen aus der Verpackung bearbeitet und in die richtige Form gedrückt worden war.
Einmal, als ich in der Badewanne saß und Anja auf mich aufpassen sollte, dann aber kurz rausging, um ein Getränk zu holen, erzählte sie mir von ihrem Schutzengel. Der müsste immer viel arbeiten und sie vor allem beschützen, zuletzt sogar vor den 200.000 Volt. „Der reicht locker für uns beide“, sagte Anja. „Ich leihe dir meinen halben Schutzengel, dann wird dir dein ganzes Leben lang nichts passieren.“
Ich atmete tief ein und tauchte ab in die Badewanne. Meine Haare trieben, so stellte ich es mir vor, wie Seerosen auf der Wasseroberfläche. Ich tastete mit meinen Fingerspitzen danach. So geschmeidig und zart fühlten sie sich nur im Wasser an. Ich dachte mir aus, dass ich eigentlich eine Prinzessin war. Dass eines Tages an meinem Geburtsmal erkannt werden würde, dass ich ganz woanders hingehörte. Eins, zwei, drei, vier, fünf, ich zählte mit, wie lange ich die Luft anhalten konnte. Sechs, sieben, acht, neun, zehn, ich begann, langsam und konzentriert auszuatmen, in der Hoffnung, das Einatmen so hinauszuzögern. Elf, zwölf, dreizehn, mein Luftvorrat war aufgebraucht. Ob jetzt der Schutzengel kommen würde, um mich zu retten? Vierzehn, fünfzehn. Kein Schutzengel.
Ich holte tief Luft. Wasser drang durch meine Nase nach hinten und in meinen Mund. Ich hustete. Das Wasser gluckerte. Durch mein ruckartiges Auftauchen schwappte es hin und her, die Wanne lief beinahe über. Schaumkronen sammelten sich in meinen Augenbrauen und liefen als Badewasser über mein Gesicht. Vielleicht war so ein halber Schutzengel doch nicht ausreichend.
Anja hüpfte diesmal nicht zur Tür. Sie sah ernst drein. Das Säuseln in ihrer Stimme war weg. Sie sagte Ciao und legte auf.
3
Aus einer Folge Pippi Langstrumpf waren drei geworden. Ich sah Pippi zu, wie sie im Süßigkeitenladen Meduzin kaufte, im Heißluftballon über die Stadt flog und wie sie auf zwei Bürsten rutschend ihr Haus putzte. Ich hatte nach einer Folge nicht gleich ausgeschaltet, so wie Mama es angeschafft hatte. Es sei einfach weitergegangen, ich hätte nicht gewusst, dass die Folge zu Ende war. So gut kenne ich Pippi dann auch wieder nicht. Während Pippi mit Annika, Herrn Nilsson, Tommy und dem Kleinen Onkel Schabernack trieb, erfand ich Ausreden, falls Mama mich zur Rede stellte, wenn sie aus dem Bad kam. Ich hatte täglich zwanzig Minuten Fernsehzeit, und auch nur dann, wenn ich Mama einen Grund nennen konnte, warum ich mir eine bestimmte Sendung ansehen wollte. Also studierte ich jeden Tag die TV-Zeitschrift mit der Busen-Frau vorn drauf und suchte nach Abbildungen von Kindersendungen, die ich bereits kannte. Dazu dachte ich mir aus, was ich davon lernen konnte. Tiersendungen zum Beispiel waren gut zu argumentieren, aber auch langweiliger als Zeichentrickfilme. Ich beneidete einige meiner Schulfreundinnen darum, dass bei ihnen zu Hause der Fernseher den ganzen Tag lief und es niemanden störte, wenn sie am Wochenende mehrere Sailormoon-Folgen hintereinander schauten.
Es gab nur zwei Sendungen, bei denen mir Mama mehr als eine Folge täglich erlaubte und für die es keinen Grund brauchte: Heidi und Sissi. Als Kind hatte Mama Heidi gelesen. Seitdem träumte sie davon, einmal in die Schweiz zu fahren und die Berge zu bewandern. Ich mochte Heidi, aber Pippi war lustiger. Sie musste es niemandem rechtmachen und kam immer ohne Strafe davon. Dabei sah ich gar nicht so aus wie Pippi mit ihrem viel zu kurzen Kleid und den komischen Strümpfen und Haaren. So schlagfertig wie Pippi war ich auch nicht. Bei der Rutsche im Parkbad ließ ich lieber alle Kinder vor, bevor ich selbst hinunterrutschte. Wenn ein Erwachsener etwas zu mir sagte, war ich eingeschüchtert und nicht so frech wie Pippi mit Fräulein Prysselius.