Nähe - Giovanni Frazzetto - E-Book

Nähe E-Book

Giovanni Frazzetto

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Beschreibung

Eine junge Frau legt sich einen imaginären Freund zu – damit sie endlich Ruhe vor ihren besorgten Eltern hat. Ein Theaterschauspieler liebt seine Ehefrau – und geht dennoch fremd. Vater und Tochter verstehen sich nicht, doch ihre Beziehung blüht auf, als sein Tod naht. Acht Geschichten darüber, wie Menschen in unserer Gesellschaft versuchen, einander näherzukommen – und welche Rolle Hormone, Gene und soziale Normen dabei spielen. Was reizt uns an Monogamie, was an Untreue? Wie hält Freundschaft, wie entsteht Intimität? Leichtfüßig verknüpft Giovanni Frazzetto dramatische Erzählung und neueste Erkenntnisse aus Biologie und Hirnforschung und entdeckt so die Liebe auf umfassende Weise neu.

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Über das Buch

Eine Frau legt sich einen imaginären Freund zu, damit sie endlich Ruhe vor ihren besorgten Eltern hat. Ein Theaterschauspieler liebt seine Ehefrau – und geht dennoch über Jahre fremd. Die Beziehung eines Vaters zu seiner Tochter blüht ein letztes Mal auf, als sein Tod naht. Zwei Männer kreisen umeinander voller Liebe, doch einer von ihnen kann sich einfach nicht binden. Ein junger Mann sucht Geborgenheit und findet lange nur Sex.

Acht Geschichten darüber, wie Menschen versuchen, einander näherzukommen – und welche Rolle Hormone, Gene und soziale Normen dabei spielen. Was reizt uns an Monogamie, was an Untreue? Wie hält Freundschaft, entsteht Intimität und halten Familienbande? Leichtfüßig wie Oliver Sacks verknüpft der Hirnforscher Giovanni Frazzetto dramatische Erzählung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Sein Buch ist eine erstaunliche Synthese unseres Wissens über das Zusammenspiel von Körper und Geist, die die Liebe auf neue, umfassende Weise entschlüsselt.

Hanser E-Book

Giovanni Frazzetto

Nähe

Wie wir lieben und begehren

Aus dem Englischen von Nele Junghanns

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Prolog

Schidduch über Einsamkeit

Zeitsprünge über Liebe als Prozess

Der Transit der Venus über Untreue

Split or Steal über den Mut zur Nähe

Ein Wintergarten über die Trennung von Sex und Liebe

Abschied eines Zauberers über Vatergefühle

Gleichheit über Veränderung

Ja über Bedingungslosigkeit

Dank

Anmerkungen

Prolog

Dieses Buch handelt von Nähe und warum wir sie brauchen. In einem Mix aus Narration und Wissenschaft erzählt es Geschichten von Beziehungen.

Als menschliche Wesen haben wir einen Hang, uns zu (ver-)binden. Wir neigen dazu, uns zu anderen hingezogen zu fühlen, wie die Wellen, die immer wieder ans Ufer schlagen. Es mag Zeiten der Ebbe geben, den gelegentlichen Wunsch, ganz für sich dahinzutreiben, oder auch Stürme, die uns stranden lassen, aber früher oder später werden wir den Hafen suchen oder dorthin zurückkehren. Einsamkeit kann einen umbringen, während Zusammensein belebt. Wir leben in einer Welt, in der Isolation wesentlich leichter zu finden ist als Gesellschaft. Und doch sind bedeutsame Beziehungen die Zutat, die unser Glück am meisten nährt.

Nähe entzieht sich einer singulären Definition. Von unverbindlichem Sex bis hin zu lebenslangen Bindungen, von der Ehe bis zum Fremdgehen, von Freundschaften bis zu bedingungsloser Liebe, wenn wir Zeugen von Geburt oder Tod werden, ständig hüllen sich Nähe und Intimität in ein neues Gewand.

Sosehr wir uns nach Nähe sehnen, so sehr scheuen wir sie bisweilen auch. Sie ist eine demaskierende Form des Wissens über den anderen und der Zusammengehörigkeit, der viele von uns geflissentlich aus dem Weg gehen.

Durch das Prisma der Wissenschaft betrachtet, taucht Nähe in den banalsten Aspekten unseres Alltags auf. Es geht darum, wie wir mit all unseren Sinnen wahrnehmen, wie wir in Beziehungen zu anderen unsere Gedanken lenken und unseren Körper einbringen, wie wir Belohnung suchen und anderen geben, Risiken voraussehen und Entscheidungen fällen, wie wir fürchten oder ermutigen, Erinnerungen schaffen, vertrauen und uns verwundbar machen, wie wir lernen. Nähe und Intimität sind nicht nur lohnenswerte Untersuchungsobjekte der Wissenschaft, sondern auch wichtige Bestandteile unserer gelebten Erfahrung.

In diesem Buch werden wir Figuren begegnen, deren Ängste und Sehnsüchte sie in die Intimität treiben, durch sie hindurch und aus ihr heraus. Eine Single-Frau in den Vierzigern, die mit der Unsicherheit hadert, einen Partner zu finden. Ein Ehemann, der zu den Anfängen seiner Ehe zurückblickt. Ein Mann und eine Frau, die in eine heimliche Liebesaffäre verstrickt sind. Unvereinbare Partner zwischen Einigkeit und Abgrenzung. Großstädter, die bei ihren Dates versuchen, Liebe und Sex unter einen Hut zu bekommen. Ein Vater und eine Tochter, deren Beziehung aufblüht, als sein Tod naht. Zwei Männer, die dabei sind, herauszufinden, was sie einander beibringen können. Unzertrennliche Freunde, die gemeinsam den Verlauf ihres zukünftigen Liebeslebens entwerfen. Wo es möglich ist, werden ihre Gedanken, Gefühle und Handlungen anhand von Begriffen und Experimenten in der Biologie, Psychologie und Neurowissenschaft erklärt. Lebensweisheit mischt sich mit dem Wissen über Körper und Geist.

Durch diese Geschichten werden wir eingeladen, über unsere eigenen Erfahrungen mit Nähe in Liebe, Freundschaft und Familie nachzudenken. Wie wir sie erlangen und verlieren. Wie wir sie verschwinden oder wachsen sehen, während wir gleichzeitig unsere Art zu lieben verändern und erneuern.

Schidduchüber Einsamkeit

Der Beginn des neuen Tages wurde durch den Schnee gedämpft. Der Fluss war zugefroren, und der Blick aus Anitas Fenster bot das altbewährte Grau in Grau.

Als sich ihre Augen öffneten, fand sie sich zusammengerollt wie ein Baby wieder, fest um die Filmspule irgendeines Traums gewickelt, an den sie sich nicht erinnern, den sie aber auch nicht loslassen konnte, den Kopf an der Brust vergraben, die Arme um die Knie geschlungen. Sie machte zwei oder drei tiefe Atemzüge, um sich zu weiten, und stellte dankbar fest, dass sie nachts nicht hustend aufgewacht war – die neuen Kräuter von Inge taten ihre Wirkung.

Langsam entrollte sie sich und starrte an die Decke. Sie fragte sich, ob sie vor dem Zubettgehen das Badewasser ganz abgestellt hatte, und tastete mit der Hand den Boden nach einer Überflutung ab. Beruhigt gähnte sie, setzte sich auf und schüttelte den Kopf.

Sie schloss die Augen wieder.

»Alles Gute zum Geburtstag, Anita, und einen schönen, beschissenen Valentinstag«, sagte sie und nahm das grausame Spiel des Schicksals zur Kenntnis, das in ihr, seit sie erwachsen war, den Wunsch weckte, ihr Geburtstag würde für immer aus dem Kalender getilgt. Dann grinste sie ihren fetten, verschlafenen roten Kater an.

»Wo bleibt mein Frühstück im Bett, Joshua?«

Joshua war nicht der Kater. Der Kater hieß Whiskey. Joshua war ein imaginärer Freund, den sie erschaffen hatte.

»Erzähl doch mal. Ist er Deutscher?«, war Ruths erste Frage gewesen.

»Nein, Mutter. Er ist Amerikaner.«

»Und ist er einer von uns?«

»Ja, Mutter.«

»Oh, Motek, das ist ja wunderbar! Ist es was Ernstes? Wann lernen wir ihn denn mal kennen? Wie heißt er? Und sag bitte nicht, dass er auch Künstler ist!«

Anita war Fotografin. Sie fotografierte verlassene Orte. Geboren und aufgewachsen in Brooklyn, zog sie nach der Kunstschule im Mittleren Westen aus einem Impuls heraus nach Deutschland, als es für sie zu Hause überhaupt nicht zu laufen schien. Berlin, dessen Bürgermeister es einmal als »arm, aber sexy« bezeichnet hatte, war der perfekte Zufluchtsort für jeden arbeitslosen Künstler des Planeten. Jetzt hatte sie ein beneidenswertes Berufsleben, zumindest verglichen mit dem, was sie in den Staaten zurückgelassen hatte. Ihr Werk wurde auf zwei Kontinenten ausgestellt. Sie hatte demnächst eine große Einzelausstellung, eine Teilzeit-Lehrstelle an einer englischen Sprachschule, eine persönliche Assistentin und regelmäßige Verkäufe.

Sie lebte in einer schicken Wohnung, die so groß war, dass sie sie als Atelier nutzen konnte. Sie wurde regelmäßig zu Partys eingeladen, und ihr blieb noch Zeit, um zur Inspiration Galerien und Museen zu besuchen. Sie hatte genug Geld, um zu verreisen, am Wochenende essen zu gehen und sich ab und an eine neue Handtasche zu kaufen. Alles in allem brauchte sie sich eigentlich um nichts Sorgen zu machen.

Doch zählten all die guten Seiten ihres Berliner Lebens keinen Pfifferling, wenn abends alles, woran sie sich klammern konnte, die Wärme eines Kissens und Whiskeys Fell waren. Sie hatte in der neuen Stadt viele Menschen kennengelernt, vor allem jede Menge Auswanderer der Kunstszene, was sich positiv auf ihre Arbeit auswirkte. Aber sie konnte nicht behaupten, dass sie jemanden hatte, auf den sie wirklich zählen konnte, und dieses Bewusstsein löste in ihr ein Unbehagen aus wie die Nebenwirkung einer neuen Diät. Die Winter waren in der deutschen Hauptstadt besonders hart und einsam: die großen Alleen matschig und schweigsam, die Bäcker unfreundlich und die meisten Leute miesepetrig und gereizt. Wenn man Glück hatte, lächelten die Pendler in der U-Bahn vielleicht ab Mitte April wieder.

Anita erschuf Joshua an einem Tag, als zum dritten Mal hintereinander ein Fremder ihren Gruß nicht erwiderte, ein Typ nicht zu einer Verabredung erschien und Ruth sie fragte, wann sie endlich heiraten würde. Die Erfindung eines imaginären Partners half ihr, mit der hartnäckigen Sorge ihrer Eltern umzugehen, dass sie immer noch single war, aber auch, ihre Einsamkeit zu lindern und sich auszumalen, was sie sich von einem Mann wünschte. Hin und wieder wandte sie die Lüge auch bei Fremden an, etwa wenn sie der einzige Single bei einer Dinnerparty war. Joshua war, genau wie Whiskey, ein Rotschopf. Mit haselnussbraunen Augen. Er war groß und Bildhauer, was bedeutete, dass er riesige, kräftige Hände hatte. Er war ruhig und bestimmt, witzig und ein bisschen linkisch. Vor allem war Joshua ein Komplize und der Trost, der Anita in den Höhen und Tiefen ihres Alltags so fehlte. Sie brauchte jemanden, der mit ihr schimpfte, wenn sie zu viel Zeit vor dem Computer verbrachte, der sie dazu brachte, sich an den Tisch zu setzen, wenn sie im Stehen aß, der ihr zuhörte, wenn sie wieder mal auf einer Talfahrt der Schwarzmalerei war oder sich über einen Kunden aufregte, der von einem Kauf zurückgetreten war. Sie brauchte jemanden, der sie daran erinnerte, dass Herumzappeln sie unattraktiv machte und Hausbrände zwar nicht ausgeschlossen, aber selten sind. Einen Typ, der herzlich lachen und Fotos von ihr machen konnte, wenn sie nackt zu 80er-Jahre-Musik tanzte, und jeden Samstag in der Küche ein Chaos veranstaltete, wenn er Pfannkuchen machte oder ihr einen Geburtstagskuchen buk. Einen Mann, mit dem sie improvisieren und mal eben aus einer Laune heraus eine Reise nach Afrika oder Brasilien buchen konnte. Aber vor allen Dingen brauchte Anita einen Mann, um ihr, wie sie es ausdrückte, »verdammt noch mal zu sagen, dass alles gut wird«. Das war ein merkwürdiger Perspektivenwechsel. Jahrelang, seit sie vielleicht sechzehn war, hatte sie das von niemandem hören wollen – weder von den Eltern noch ihren Freunden oder ihrem Freund. Nur sie selbst wusste, was das Beste für sie war. Heute, mit Anfang vierzig, hatte sie es satt, ihr einziger Bezugspunkt zu sein. Selbst für die kleinsten Aufgaben brauchte sie ewig. Jede Entscheidung, die sie allein traf, kam ihr vor, als ginge es um Leben und Tod. Auch wenn er nicht real war, glaubte sie, dass Joshua die Last ihrer Sorgen halbierte.

Bevor sie sich auf einer Decke ausstreckte, griff Anita nach ihrem Notizbuch und einem Stift. »EINSAMKEIT KANN TÖDLICH SEIN«, schrieb sie in Blockbuchstaben und zerknüllte spontan ihr letztes Päckchen Zigaretten. Das wäre ein toller Aufdruck für ein T-Shirt, dachte sie. Sie könnte es zur nächsten Party oder auf der Straße tragen, um sich als einsam zu outen, in der Hoffnung, einen Klub zu gründen oder so und vielleicht Gleichgesinnte anzulocken.

Einsamkeit ist eine weltweite Epidemie. Laut einer vergleichenden Umfrage hat sich zumindest in den USA die Zahl der Menschen, die keinen Vertrauten haben, mit dem sie über wichtige Dinge reden können, in weniger als zwei Jahrzehnten, von 1985 bis 2004, fast verdreifacht.1 Auf der anderen Seite des Großen Teichs sieht es kaum besser aus, wobei Großbritannien zu den einsamsten Ländern Europas gehört.2

Anitas Slogan ist kein Witz. Einsamkeit kann genauso wie Rauchen, Fettleibigkeit, Bewegungsmangel oder Luftverschmutzung zu einem frühen Tod führen.3 Sie schädigt unseren Körper und verändert unsere Wahrnehmung der Welt und wie wir mit ihr interagieren. Sie verursacht Erschöpfung und Schlafstörungen4 und geht einher mit Stress, Angst und Depressionen.5 Sie wird mit erhöhtem Blutdruck und Schädigungen des Herz-Kreislauf-Systems in Verbindung gebracht.6 Sie begünstigt zelluläre Entzündungsreaktionen und schwächt die Immunabwehr.7 Sie kann sogar zu geistigem Verfall und schließlich Demenz führen.8

Anita spürte die Last der Einsamkeit, als schnüre es ihr unerbittlich die Brust zusammen. Sie litt nicht nur an chronischem Sodbrennen, sondern auch an Dyspnoe beziehungsweise der sogenannten Pseudo-Dyspnoe, was hieß, dass sie hyperventilierte, hustete und gelegentlich kurzatmig war.9

Wir bewohnen die Welt, teilen sie, nehmen sie wahr und interagieren mit ihr nicht nur mit dem Kopf, sondern mit unserem gesamten Körper.10 Die Wechselhaftigkeit des Lebens und wie wir darauf reagieren, gehen auf Kosten unseres Gleichgewichts von Körper und Geist und wirken sich auf die Funktion von Organen, Gewebe und Zellen aus.

Anitas Freundin Inge hatte sie kürzlich gemahnt: »Wir müssen uns um deinen Parasympathikus kümmern!« Während sich der Sympathikus »einschaltet«, wenn wir mit Gefahr oder einem Notfall umgehen müssen, hilft uns das parasympathische Nervensystem dabei, Abstand von der Welt zu gewinnen, und dominiert, wenn wir es uns leisten können zu entspannen. Es übt Funktionen aus, die nicht unserer Aufmerksamkeit bedürfen, wie Herzschlag, Atmung und Verdauung.

Wenn wir auch ohne Sorgen oder Stress ständig auf der Hut sind, verübelt uns das der Parasympathikus. Wir können uns nicht entspannen. Und nicht nur das, auch einige der simplen, automatisch ablaufenden Funktionen, die er ausführt, gehen schief. Eine davon ist das Ablassen der Säuren aus dem Magen.

Anitas Brustschmerzen und Kurzatmigkeit waren nicht nur eine Folge dessen, was sie aß oder wie viel Kaffee oder Gin sie hinunterkippte. Sie waren auch eine Reaktion auf ihre Einsamkeit sowie ihre ständige Beschäftigung damit. Ein entscheidender Bestandteil des parasympathischen Nervensystems ist der Vagusnerv, ein langer Nerv, der von der Schädelbasis durch die Brust bis hinunter zu unseren Genitalien führt und empfindlich für soziale Interaktionen ist.11 Neben vielen anderen Funktionen trägt der Vagusnerv zur Regulierung unseres Magen-Darm-Trakts bei. Wenn beim Vagusnerv etwas schiefläuft, werden Magensäuren nicht richtig entleert.12 Wenn sich Säuren ansammeln und zurück in die Speiseröhre steigen, verätzen sie das Gewebe. Ist an den lokalen Nervenenden Säure vorhanden, signalisieren diese fälschlicherweise einen Sauerstoffmangel. Folglich hyperventilieren wir. Dann ist uns schwindelig, und wir sind gereizt, die Unruhe verschlimmert unsere Sorgen. Es ist ein Teufelskreis, und Anita war darin gefangen. Inge führte bei Anita Massagen und Akkupunktur durch. Sie gab ihr Kräuter und die üblichen Ratschläge, sich mehr zu bewegen und Sport zu machen. Schließlich war es weniger Erschöpfung denn Trägheit, die für Anitas Kurzatmigkeit sorgte. Anita fing an zu joggen und erinnerte sich an ein Zitat von Erma Bombeck: »Der einzige Grund, warum ich mit dem Joggen anfangen würde, wäre, mich mal wieder keuchen zu hören.«

An jenem Valentinstagmorgen saß Anita immer noch in ihrem Bett, als sie plötzlich aus dem Augenwinkel etwas wahrnahm. Es war ein Mann, der gewandt auf dem Giebeldach des gegenüberliegenden Hauses entlanglief, einen Moment lang hielt sie ihn für eine Katze. Sie schaltete ihr Handy ein, und es piepte. Eine E-Mail von ihrer Mutter:

Überraschung!! Sind am Flughafen. Landen gegen eins in Berlin, auf dem Weg nach Prag. Alles Gute zum Geburtstag, meine Kleine. Können es kaum erwarten, dich zu sehen – UND Joshua! Mami und Baba

Mist! Anita hatte ein Problem. Sie musste eine perfekte Ausrede erfinden oder das große Geheimnis lüften.

Bevor sie Joshua erfand, war Anitas Liebesleben für Ruth ein steter Quell der Sorge gewesen. Davon hing ihr Erfolgsgefühl als Mutter ab. Dass ihre Tochter, ihr Nesthäkchen – ihr »Goldschatz«, wie sie immer sagte – allein in einem fremden Land war, weit weg von ihrer Familie, erfüllte sie mit Traurigkeit. Und sie fragte sich naiverweise, wie anders es für Anita gelaufen wäre, wenn sie nie von zu Hause fortgegangen wäre. »Wenn Anita noch zu Hause wäre, hätte sie bestimmt schon einen Partner.« Dann sagte sie eine Liste heiratsfähiger Männer auf, die sie zusammengetragen hatte, indem sie Kollegen, Verwandte, Nachbarn und Freunde in der Synagoge befragt hatte. Der Druck, der auf Anita lastete, einen Partner zu finden und sesshaft zu werden, war enorm.

Ruth war ihrem Ehemann Steve bei einem Rosch-ha-Schana-Dinner begegnet, obwohl er bereits in den Straßen von Brooklyn ein Auge auf sie geworfen hatte. Außerhalb des jüdischen Glaubens zu heiraten, war keine Option. Unerfahren wie sie war, frisch von der Highschool abgegangen, hatte Ruth ihre gesamte Familie hinter sich, als ihr Hochzeitstag nahte, und heiratete in eine andere große Familie ein. Ihre Ehe war keine arrangierte, ein Schidduch, aber sie erfüllte sehr wohl die Standards der elterlichen Zustimmung.13

Anita fürchtete den Vergleich zwischen den Generationen. Auf Familientreffen hörte sie von der Meute älterer Verwandter, einschließlich ihrer Eltern, unweigerlich den Spruch, der sie wie ein Giftpfeil traf: »Wie kann jemand wie du single sein?« Hübsch, klug, gebildet, belesen, mit einem Job und, sie scheuten sich nicht, es auszusprechen, aus guter Familie.

Wie ärgerlich. Wie unsensibel von ihnen allen, noch Salz in ihre Wunden zu streuen. Nicht nur, dass sie sich nun als Versagerin fühlte, ihre Verwandten verrieten auch ihr absolutes Unwissen darüber, was man heutzutage auf sich nehmen muss, um einen Partner zu finden, welche Etikette auf dem Singlemarkt herrschte. Ganz davon abgesehen, dass das Leben in Großstädten wie Berlin oder New York heute nicht mehr das ist, was es in ihrer Jugend in Brooklyn war.

»In deinem Alter war ich nicht nur verheiratet«, setzte Ruth an, und ohne sie ihren Satz beenden zu lassen, führte Anita ihn fort, »ich hatte auch schon ein Haus, einen Hund, dich und deinen Bruder!«

Anita hasste es, single zu sein, wusste aber, dass es in ihren Kreisen normal war. Obwohl sie die Ehe nicht ablehnte, war sie für Anita ein ferner, wohl nie erreichbarer Meilenstein. Für ihre Familie war Anita einfach nur spät dran. Die demografischen Zahlen sagen alles über die Kluft zwischen ihren Generationen: Die 1950er, als Ruth und Steve heirateten, waren definitiv ein goldenes Zeitalter für Eheschließungen.14 Das mittlere Alter bei der ersten Heirat war sogar niedriger als 1890! Im Durchschnitt heirateten Frauen in den USA im Alter von 20,5 und Männer mit 24,0. 2010 stieg jenes Durchschnittsalter auf ein Rekordhoch der letzten hundert Jahre. Es betrug fast 27 bei Frauen und fast 29 bei Männern. Der Anteil von Männern und Frauen, die im Alter von 35 noch nie verheiratet gewesen waren, war ebenfalls hoch, nämlich jeweils 14 und elf Prozent.15 Und unabhängig vom Trauschein leben immer mehr Menschen vollkommen allein: in Deutschland im Jahr 2014 17,1 Prozent.16

Wenn Anita Dinge wie Sexappeal erwähnte, oder die Ausdrücke »heiß« und »scharf« und inwiefern diese zu ihren Auswahlkriterien gehörten, wenn sie Männer betrachtete, sagte Ruth zu ihr:

»Glaubst du, ich hätte Baba nicht attraktiv gefunden? Ich habe mir den schönsten Mann unter denen ausgesucht, die mich wollten und verfügbar waren. Vielleicht war es eine große Illusion, aber sieh mal, wo wir jetzt sind. Wir haben keine andere Option gesehen, als zusammenzubleiben. Ich wusste nicht, ob ich schon bereit war – ich ließ mich einfach darauf ein. Ich schätze, es war Schicksal. Vielleicht hatte ich Glück.«

Glück. Es ist leicht, sich ein romantisches Ende als durch ein unberechenbares Schicksal herbeigeführt vorzustellen.

Gleichzeitig wünschten wir, wir könnten das Schicksal bestechen, es in ein erkennbares, vorteilhaftes Muster verwandeln, das zu unseren Zielen passt. Wir versuchen von Natur aus, den unaufhörlichen Schrei der Ungewissheit zum Schweigen zu bringen.17 Wir würden Anfänge und Ausgänge gern vorhersagen, die Zukunft festnageln, selbst in Liebesdingen unseren Durst nach endgültigen Antworten stillen – als würde es reichen, eine Strategie zu verfolgen, um ein erwünschtes Ergebnis zu erzielen.

Im Park, auf Partys oder in Cafés, sogar im Supermarkt ertappte Anita sich dabei, wie sie andere Pärchen anstarrte, die sich gegenseitig mit Grashalmen streichelten, mit geschlossenen Augen herumknutschten und ihren Einkaufszettel abarbeiteten.

Was hatten die, was sie nicht hatte? Was machte sie bereit, sich zu binden?

Die schlichte Tatsache, dass sie in einer Beziehung waren und Anita single, machte sie in ihren Augen zu etwas Besserem. Sie blickte zu ihnen auf, als wären sie die Hüter eines großen Geheimnisses – wobei sie oft die vielen Pärchen vergaß, die sie kannte, die in Streits und gegenseitigem Missverstehen untergingen. Auf der Suche nach Hinweisen auf ihr eigenes Versagen in der Liebe beobachtete sie sie und fragte sich, welche Merkmale und Eigenschaften wohl die erfolgreichen Zutaten für eine Beziehung waren. War es Zärtlichkeit oder eine Art unsichtbare Komplizenschaft? War es Liebenswürdigkeit? Direktheit, Respekt, Unabhängigkeit oder der Sex der vergangenen Nacht? Typischerweise schlussfolgerte sie nach solchen voyeuristischen Ausflügen: »Ich weiß einfach nicht, wie man liebt.«

Doch dann revidierte sie ihr erstes Urteil sogleich: »Das ist doch lächerlich. Natürlich weiß ich, wie man liebt.«

Sie überließ sich der Bewegung eines existenziellen Pendels: Ihr Selbstwertgefühl war das Gewicht, das von einer extremen Sicht zur anderen schwang, von Hoffnung zu Resignation.

Und noch über etwas anderes machte sie sich Gedanken: wie viel Zeit sie gewinnen würde, wenn sie einen Partner hätte. Sie glaubte, dass Menschen, die in einer Beziehung waren, eine Sorge weniger hatten. Sie konnten sich besser auf andere Aspekte des Lebens konzentrieren, wenn nicht das Problem, single zu sein, wie ein Damoklesschwert über ihnen schwebte. Darauf war sie neidisch und fürchtete, dass sich ihre Einsamkeit auf ihre Arbeit auswirkte. Konnten andere Menschen in ihrem Gesicht lesen, dass sie einsam war? Lag es daran, dass Kunden manchmal ihre Bilder nicht kauften oder sie einen Job nicht bekam? Hatte ihre Einsamkeit vielleicht die Leute abgeschreckt?

Einsamkeit trübt den Blick. Sie wird zu einem trügerischen Filter, durch den wir uns selbst, andere und die Welt sehen. Sie macht uns verwundbarer für Ablehnung und erhöht unseren allgemeinen Wachsamkeitspegel und unsere Unsicherheit in sozialen Situationen.

Zu große Isolation stört unsere Fähigkeit, Emotionen zu erkennen, zu verstehen und zu deuten. Wenn wir mit Bildern konfrontiert werden, die vier grundlegende Emotionen zeigen – Glück, Angst, Wut und Traurigkeit –, sind einsame Menschen weniger gut darin, sie zu interpretieren, als nicht einsame. Je einsamer sie sind, desto schlechter ihre Fähigkeit, sie zu unterscheiden.18 Wenn wir einsam sind, sind wir auch weniger gut in der Lage, uns positive Erfahrungen zunutze zu machen.19 Anstatt uns auf die freudvollen oder positiven Aspekte einer Sache zu konzentrieren, legen wir den Fokus auf das Negative. Wir geraten schneller in Stress, sind weniger optimistisch.

Eine Bildgebungsstudie des Gehirns zeigte aufschlussreiche Unterschiede in der Reaktion einsamer und nicht einsamer Menschen auf Bilder von Gegenständen oder anderen Menschen mit oder ohne sozialen Kontext. Wenn ihnen positiv konnotierte Bilder von anderen Menschen in einem sozialen Kontext gezeigt wurden, etwa einem Mann, der mit einem Hund läuft, reagierten die nicht einsamen Teilnehmer mit einer größeren Aktivierung im Belohnungszentrum des Gehirns. Bei einsamen Menschen passierte das nicht: Die Aktivität in ihrem Belohnungszentrum war höher bei Bildern von positiv konnotieren Gegenständen wie Geld oder einem Raketenstart und nicht bei solchen von Menschen, was auf eine gewisse Unfähigkeit hindeutet, auf soziale Stimulation zu reagieren und sie zu genießen.20 Die Ergebnisse kehrten sich um, wenn die in der Studie verwendeten Fotos Menschen in Gefahr abbildeten, zum Beispiel einen Soldaten oder eine Frau, die geschlagen wurde. Verglichen mit den Nicht-Einsamen maßen die Einsamen diesen Bildern mehr Aufmerksamkeit bei, was eine höhere Aktivierung des visuellen Kortex verrät, aber sie empfanden auch weniger Empathie oder Sorge, was sich in einer schwächeren Aktivierung in einem Bereich des Gehirns zeigte, der uns hilft, intuitiv den Seelenzustand anderer Menschen zu erahnen oder ihren Standpunkt einzunehmen. Die Autoren der Studie deuteten darauf hin, dass uns eine geringere Offenheit für Angenehmes und größere Wachsamkeit für Bedrohungen möglicherweise einsamer machen kann. Einsamkeit zieht Einsamkeit nach sich, wie in einem Teufelskreis. Eine der am weitesten verbreiteten und verdrehtesten Auswirkungen der Isolation ist, dass es umso schwerer wird, sie zu überwinden, je mehr Zeit wir darin verbringen.21

Tagebuchschreiben, jahrelange Psychoanalyse, Yoga, feministische Texte, Gedichte, Akkupunktur, Chat-Foren, Frauenzeitschriften, die Grinberg-Methode und Inges Kräuter – es gab nichts, was Anita nicht ausprobiert hatte, um sich für die Liebe zu öffnen. Sie las jeden Tag das Horoskop für Wassermänner und wandte sich sogar einmal an eine Hellseherin, die ihr sagte, dass die Liebe im Alter von vierundvierzig an ihre Tür klopfen würde, in Form einer Heirat mit Aussicht auf ein Kind. Keine Scheidung.

Ohne zu zögern, schickte Anita die Weissagung Ruth.

In einer faszinierenden Analyse nutzt die Soziologin Eva Illouz die Kräfte, die in Marktwirtschaften wirken, um sich einen Reim aus der beeindruckenden Verschiebung der Dynamik bei der Suche nach einem Partner zu machen.22 Kurz gesagt, erklärt sie, dass sich auf dem Feld von Dating und Partnervermittlung eine ganz neue »Ökologie« der Herzensentscheidungen und Partnerwahl ausgebreitet hat. Ein Bruch mit altmodischen Familien-, Gemeinschafts- und religiösen Netzwerken, eine Sehnsucht, bei Menschen eine harmonische Vereinigung von emotionaler und sexueller Attraktivität zu finden, und die Erweiterung der Auswahlmöglichkeiten, zum Beispiel durch die Einführung von Internet-Dating und der größeren Verfügbarkeit von unverbindlichem Sex, haben die Art verändert, wie wir nach potenziellen Partnern suchen und deren Eignung beurteilen. Je größer die Zahl der verfügbaren Optionen, desto geringer die Chance, sich für die eine oder andere zu entscheiden. Eine übermäßige Auswahl schmälert die Attraktivität, denn wenn es zu viele Wahlmöglichkeiten gibt, wird es schwieriger, ihren Wert zu schätzen. Wenn umgekehrt weniger Optionen zur Verfügung stehen, tritt ihr einzigartiger Reiz deutlicher hervor. Und mit ihm unser Verlangen danach.

In einer Studie, die in einem Lebensmittelgeschäft durchgeführt wurde, wurde solch ein überreiches Angebot präsentiert. Die Forscher stellten eine Auswahl qualitativ hochwertiger Marmeladen mit Kostproben aus. In einem Szenario konnten die Kunden aus sechs Sorten wählen. In einem anderen standen 24 Marmeladen zur Verfügung. Letztendlich lockte der Stand mit der breiteren Auswahl mehr Kunden an, doch in beiden Fällen probierten die Leute dieselbe Anzahl Marmeladen. Als sie durch einen geschenkten 1-Dollar-Gutschein ermutigt wurden, ein Glas ihrer Wahl zu kaufen, unterschieden sich die Reaktionen stark. Während 30 Prozent der Probanden, die sich der kleineren Marmeladenauswahl gegenübersahen, schließlich ein Glas kauften, taten das nur drei Prozent derer, die sich zwischen 24 verschiedenen Sorten entscheiden mussten.23

Wie im Fall der Marmeladengläser, verhindert ein Überangebot von Partnern ein Festlegen.

Der französische Mathematiker und Schriftsteller Blaise Pascal schrieb einmal: »Die Klarheit des Geistes verursacht auch die Klarheit der Leidenschaft: Darum liebt ein großer und klarer Geist mit Inbrunst, und er erkennt deutlich, was er liebt.«24 Es ist eine attraktive Gleichung. Wie praktisch wäre es doch, wenn wir unsere Zuneigung rational lenken, das Chaos in Ordnung verwandeln könnten, indem wir schlicht das Pro und Contra, die Stärken und Schwächen abwägen. Aber Rationalität oder übermäßige Berechnung können in bestimmten Lebensbereichen mehr Schaden anrichten, als dass sie nützen.

Wir können unsere Gefühle nicht anhand von Analysen vorausberechnen. Genauso wenig können wir einen romantischen Ausgang vorhersagen. Einige Faktoren einer Entscheidung werden bewussten Überlegungen für immer verborgen bleiben. Mit anderen Worten: Logisches Denken kann Emotionen ersticken, was dazu führt, dass unsere wahren Intentionen nicht ans Licht kommen und wir falsche Entscheidungen treffen.

»Ich wusste nicht, ob ich bereit war«, sagte Ruth. Sie ließ es einfach auf sich zukommen. Die gesellschaftlichen Umstände ihrer Begegnung mit Steve waren andere, doch ihre Ehe hielt. Psychologische Forschungen zeigen, dass die anfänglichen Zufriedenheitspegel einer Beziehung, seien sie nun vielversprechend oder wenig hoffnungsvoll, auch auf den Verlauf der Beziehung über die Zeit hinweg zutreffen, sofern sie nicht überanalysiert werden. Zwei Gruppen von Paaren wurden gebeten, ihre Beziehung zu bewerten. Eine Gruppe äußerte spontan ihre Gefühle. Die andere Gruppe stufte ihre Zufriedenheit ein, nachdem sie die Gründe aufgelistet hatten, warum sie der Meinung waren, dass ihre Beziehung gut oder schlecht verlief. Monate später fielen das Scheitern oder der Erfolg der Beziehung bei denen, die impulsiv ihre Gefühle geäußert hatten, viel eher mit der anfänglichen Einstufung zusammen als bei denen, die darüber gegrübelt hatten.25

Anita vermittelte den Eindruck, dass sie verfügbar, aber niemand an ihr als Partnerin interessiert sei. Doch sie tat sich selbst schwer mit der Wahl. Verehrer oder diejenigen, die Ruth ihr vorschlug, waren nie die richtigen. Sie war zugleich Opfer und Komplizin des Überangebots. Anitas bereits verheirateten Freundinnen rieten ihr, bei Männern nicht so wählerisch zu sein. Sie klangen, als sei ihre Situation so verzweifelt, dass sie mit dem erstbesten Kerl gehen sollte, dem sie auf der Straße begegnete. Interessanterweise hat eine Studie gezeigt, dass es zumindest, was körperliche Eigenschaften wie Gewicht, Größe und Statur betrifft, meist riesige Diskrepanzen zwischen unserer Idealvorstellung unseres Partners und demjenigen gibt, mit dem wir in der Realität zusammenkommen.26 Solche Diskrepanzen sind unter Frauen deutlicher, denen beigebracht wurde, körperliche Attraktivität als weniger wichtiges Auswahlkriterium anzusehen und dafür beispielsweise mehr Wert auf den sozioökonomischen Status zu legen.27

Viele klagen darüber, allein zu sein, aber entweder unternehmen sie nichts dagegen, oder sie gehen der Realität, einen Partner zu finden, immer wieder aus dem Weg, weil sie die damit verbundenen Kompromisse scheuen. Am Ende geht es jedoch denjenigen am schlechtesten, die dem Überangebot unterliegen – und sich für niemanden entscheiden.28 Im Gegensatz dazu sind diejenigen, die sich vielleicht mit weniger zufriedengeben, als sie ursprünglich erwartet hatten, glücklicher und zufriedener. Auch wenn uns das Festlegen auf jemanden Angst macht, weil es andere Möglichkeiten ausschließt, ist es das, was uns letztendlich gesund und zufrieden macht.

Anitas Ablehnung gegenüber den Predigten ihrer Eltern, wie wichtig es sei, einen Partner zu finden, entsprang teilweise aus ihrem Bewusstsein, dass sie recht hatten. Es fiel ihr nur schwer, es zuzugeben. Der Trost, den wir erfahren, wenn wir uns nicht allein fühlen, ist unersetzlich. Authentische, bedeutungsvolle Bindungen mit Menschen, denen wir vertrauen können, sind, im Gegensatz zu oberflächlichen oder virtuellen Bekanntschaften, überaus gesundheitsfördernd (mehr als Besitz und eine auskömmliche finanzielle Situation).

Das Bedürfnis nach Nähe und die Sensibilität für Verlassenheit sind überall im Tierreich präsent. Fruchtfliegen leben länger, wenn sie ein soziales Miteinander erfahren.29 Trennt man einen Wurf neugeborener Mäuse oder Ratten von ihrer Mutter, werden sie lautstark, mit unaufhörlichem Gefiepe und Geschrei und unter beträchtlichem Stress protestieren, bis sie wieder mit ihr vereint sind.30 Wenn die Trennung in die Länge gezogen wird, löst sie eine Reihe physiologischer Konsequenzen aus, die das Wachstum und die Verhaltensentwicklung der Jungen beeinträchtigen.31

In diesem Zusammenhang spielt Berührung eine entscheidende Rolle. Entzieht man uns den Körperkontakt, sind wir bald ausgehungert nach Berührung. Bei der Entwicklung von Tieren – Menschen eingeschlossen – zählt Berührung sogar noch mehr als Nahrung. In den 1950ern zeigte dies Harry Harlow, ein amerikanischer Wissenschaftler, der in Madison, Wisconsin, wirkte, in einer Reihe bahnbrechender Experimente.32 Er trennte Affenbabys bei der Geburt von ihrer Mutter und konfrontierte sie dann mit zwei ungewöhnlichen Arten von Ersatzmüttern. Die eine war nichts als ein Gebilde aus Maschendraht, aus dem eine Milchflasche ragte. Die andere, ebenfalls aus Draht bestehend, war mit einem weichen Stoff verkleidet. Obwohl sie nur von der ersten Mutter-Version Milch bekamen, klammerten sich die Affenbabys an die mit dem Stoff und schmusten mit ihr. In einer daran anschließenden Experimentenreihe testete Harlow, was passierte, wenn die Affenbabys Stress ausgesetzt wurden. In Gegenwart mechanischer, trommelnder Teddybären flüchteten sich die Affen zu den Stoffmüttern, umarmten sie und rieben sich an ihnen, um mit dem Stress fertigzuwerden, unabhängig davon, von welcher Mutter sie Milch bekamen.

Bei Menschen stellt Berührung eine Form des Trosts und einen lebenslangen Gesundheitsvorteil dar. Neugeborene, die über den Tag regelmäßig massiert werden, wachsen fast 50Prozent schneller und zeigen vorteilhafteres Verhalten im Vergleich zu Säuglingen, die nicht so regelmäßig berührt werden, auch wenn sie dieselbe Menge Nahrung zu sich nehmen.33 Umarmungen senken den Blutdruck und kurbeln unser Immunsystem an.34 Eine Studie zeigte, dass Händchenhalten mit ihren Ehemännern bei Frauen das Unbehagen über einen drohenden, leichten Stromstoß minderte.35 Ältere Erwachsene erfreuen sich besserer Gesundheit und brauchen weniger Arzttermine, wenn sie oft berührt werden, und das noch mehr, wenn sie selbst die Gelegenheit bekommen, Babys zu massieren.36

Wir leben in einer Gesellschaft des Berührungsentzugs, doch wir alle brauchen Körperkontakt. Zwischen Anita und ihren anderen Single-Freunden wurde es zu einem wiederkehrenden Witz, dass sie, wenn endlich jemand auftauchte, der sie zärtlich und liebevoll berührte, erst mal in Entkalker baden müssten, weil die Schicht ihrer Isolation so dick war. Von New York bis Tokio haben in letzter Zeit Geschäfte eröffnet, in denen man Umarmungen kaufen kann. Derartige Initiativen sind symptomatisch für ein dringendes Bedürfnis nach Körperkontakt in unserer Gesellschaft, dessen Ermangelung, wie wir gesehen haben, dauerhafte, schädliche Folgen haben kann. Körperkontakt muss man lernen.

Kürzlich hat eine Studie in den Gehirnen von Mäusen eine Neuronenpopulation mit einer Funktion identifiziert, die die bedeutende Rolle sozialer Interaktion bestätigt.37