Nakba - die offene Wunde - Marlène Schnieper - E-Book

Nakba - die offene Wunde E-Book

Marlène Schnieper

4,8

Beschreibung

"Wir müssen alles tun, um sicherzugehen, dass sie [die Palästinenser] niemals zurückkommen. Die Alten werden sterben, die Jungen werden vergessen." So notierte Israels Staatsgründer David Ben Gurion am 18. Juli 1948 in seinem Tagebuch, so hoffen es viele israelischen Politiker immer noch. Doch die palästinensischen Flüchtlinge, die Marlène Schnieper in ihrem Buch über die Nakba porträtiert, haben nicht vergessen. "Nakba", das ist die Katastrophe, die über die arabischen Einwohner des historischen Palästinas kam, als in einem Teil dieses Territoriums der israelische Staat gegründet wurde. Eine Minderheit vertrieb die Bevölkerungsmehrheit von ihrem Grund und Boden, das palästinensische Volk verlor sein Land, seine Ressourcen und seine Zukunft. Schnieper rückt acht Menschen ins Blickfeld, die die Ereignisse des Jahres 1948 entweder selbst erlebten oder von der Nakba später durch ihre Eltern, Verwandten und Freunde erfuhren. Die subjektiven Schilderungen der palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachfahren bettet die Schweizer Journalistin ein in das umfassendere Bild, das Historiker beider Seiten vom Geschehen im kritischen Zeitraum inzwischen gewonnen haben - erzählte Geschichte und dokumentierte Geschichte fügen sich hier zu einem Ganzen zusammen. Die Porträts einzelner fügen sich so zum Porträt einer Landschaft, mit der Dörfer und Städte, ein ganzes soziales Bezugsnetz und eine in mancher Hinsicht blühende Kultur untergingen. Man versteht, was der israelisch-arabische Intellektuelle Azmi Bishara meint, wenn er die Nakba als "grössten bewaffneten Raub des 20. Jahrhunderts" bezeichnet.

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Seitenzahl: 466

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Marlène Schnieper

Nakba – die offene Wunde

Marlène Schnieper

Nakba –die offene Wunde

Die Vertreibung der Palästinenser 1948 und die Folgen

© 2012 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Umschlag: An der Küste von Gaza kommen 1948 Zehntausende von Flüchtlingen an, Vertriebene aus Jaffa, Ashqelon, Ramleh und den Dörfern des südlichen Küstengebiets (Archivbild UNRWA).

E-Book ISBN 978-3-85869-520-81. Auflage 2012

Inhalt

Volk ohne Land

Die Nakba ist auch Teil der europäischen Geschichte

Die Katastrophe kündigte sich an

Zuspitzung mit dem Uno-Teilungsplan 1947

Der neue Yishuv

Herzl und sein Basler Programm

Balfour, Wilson und das doppelte Versprechen

Der Staat vor dem Staat

Die Fellachen verlieren ihr Land

Flaggen und religiöse Symbole kommen ins Spiel

Der Arabische Aufstand 1936–1939

Lord Peel greift die Idee des Transfers auf

Hatta gegen Tarbusch

Qassam, ein Syrer wird zum ersten »Märtyrer«

Der Aufstand eskaliert zum Guerillakrieg

Jabotinsky und die rechten Nachfahren Herzls

Die Briten bleiben ihren Widersprüchen treu

USA und Uno, die neuen Akteure in Nahost

Über Nacht war die Nakba da, und sie dauert an

Mohammed Hejab

Fremdarbeiter im Land der Väter

1948 in alle Winde zerstreut

Noch ein Krieg und noch einer

Nablus, »Kapitale des Terrors«

Bedrohliche Auflagen

Hasan Hammami und Fadwa Hasna

Bootsflüchtlinge aus dem Villenviertel von Jaffa

Die Katze sollte mit

Begins Entscheidungsschlacht

Jaffa, die »Braut des Meeres« …

… und ihre Konkurrentin, Tel Aviv

Deir Yassin treibt alle in die Flucht

Erst Ghetto, jetzt Edelvorort

Des vollen Lebens beraubt

Mohammed Abd al-Qader Harb

Ein Pachtbauer und seine rebellischen Söhne

Von Camp David zur zweiten Intifada

Durch »schwarze Löcher« und Mauern

Im Teufelskreis der Gewalt

Bestraft noch über den Tod hinaus

Die Nakba im Dorf

Yosef Weitz durchkreuzt die Rückkehrpläne

Offene und verdeckte Trauer

Ahmed Yousef

Islamist im Gazastreifen

Blitzoffensive im Süden

Geld, Gold und Öl blieb zurück

Messerschmitt gegen Spitfire

Bernadotte – ein angekündigter Mord

Gaza wird zum gigantischen Lager

9/11 änderte alles

Inspiriert durch die Schweiz, die Türkei, Ägypten

Der arabische Frühling, eine Hoffnung auch für Palästina

Korrespondierende Mentalitäten

Ali Abu Shkheita und Nouri al-Ukbi

Die betrogenen Wüstensöhne

Keinem verbunden, von allen schikaniert

Der Negev rückt ins Blickfeld

Stunde der Plünderer in Beersheba

Dawayima sät Furcht und Schrecken

In der Falle von Faluja

Das »Nachputzen« an der Grenze

Der Siyag, das »umzäunte Land«

Israels Flagge auf dem Dach des Scheichs

Übereinkunft mit vorgehaltener Waffe

45 Dörfer planerisch ausradiert

Die Beduinen von al-Araqib wehren sich

Ein Prozess stellt die alten Fragen

Sari Nusseibeh

Aristokrat und Querdenker

Hüter der Grabeskirche

Jerusalem versinkt im Chaos

Der Kampf um die Heilige Stadt

Abdullahs Geheimdiplomatie

Für Glubb Pasha ein Scheinkrieg

Vom Regen in die Traufe

Ben Gurion schießt sich auf Lydda und Ramleh ein

Rabin gibt den Vertreibungsbefehl

Flüchtlinge wider Willen

Im Dienst des Herrschers über beide Jordanufer

Der Vater ein Gentleman, die Mutter Jekyll und Hyde

An Avicenna und Kant geschult

Kein Freund von Anzügen

Abbas sagt vor der Uno: »Genug ist genug«

Ein Staat, zwei Staaten – eine Lösung tut not

Der legalisierte Raub

Ein Volk verlor sein Land und seine Ressourcen

Jaffa kapituliert unter scheinbar günstigen Bedingungen

Die Militärs brechen alle Versprechen

Der Willkür öffnen sich Tür und Tor

Kolonialismus und Rassismus in einem

Die kafkaeske Praxis der Enteignung

Das Öl ist verloren, das Stadtarchiv auch

»Ein Krieg? Eher eine bewaffnete Übernahme«

Das Recht auf Rückkehr, ein Streitpunkt

Viele Israeli wissen heute um die Vertreibung

Die inneren Barrieren bleiben

Anhang

Chronologie

Dank

Begriffserklärungen

Literatur

Anmerkungen

Bildnachweis

Personenregister

Volk ohne Land

Die Nakba ist auch Teil der europäischen Geschichte

Im Jaffa der britischen Mandatszeit hatte Ahmad Hammami mit dem Export von Zitrusfrüchten ein Vermögen gemacht. Davon wird in diesem Buch noch die Rede sein. An einem Privatweg im Jabalyia-Quartier hatte der Geschäftsmann für seine Familie ein Landhaus gebaut. Über die mit Blumen, Sträuchern und Obstbäumen bestandenen Grundstücke arabischer Villenbesitzer führte der lauschige Pfad direkt zum Meer. Jetzt ist die Straße asphaltiert und heißt Pahad Yitzhak, benannt nach der Sammlung jüdischer Gesetze, Traditionen und Riten, die ein italienischer Rabbi im 18. Jahrhundert schrieb. In Ahmads Haus haben die Israeli ein Pflegeheim für Betagte eingerichtet. Am Tor treffe ich einen jungen Mann mit dunklem Haar und Backenbart à la Elvis Presley. Er stellt sich vor: Arthur, 27, Medizinstudent kurz vor dem Abschluss, 1991 eingewandert aus Chisinau, Moldawien. Er besuche hier seinen kranken Großvater, sagt er, »und Sie?«

»Ich schreibe ein Buch über die Nakba, die Katastrophe, die 1948 über die arabische Bevökerung Palästinas kam. In diesem Zusammenhang recherchiere ich über Leute, die bis 1948 in diesem Quartier gelebt haben und dann zu Flüchtlingen wurden«, antworte ich.

»1948, das Jahr der Staatsgründung«, konstatiert er, »was war denn da noch?«

»Die Flucht der ansässigen arabischen Bevölkerung«, sage ich, »in Jaffa selbst waren von 80 000 Menschen plötzlich nur noch 4000 da.«

»Ach das«, sagt er, »da müssen Sie aber aufpassen, was die Ihnen erzählen, da sind viele Scharlatane dabei. Die konnten damals kommen und gehen, wie sie wollten. Israel war schließlich von Anfang an ein freies Land.«

Ein solches Geschichtsverständnis irritiert mich. Doch der Jüngling mit dem Elvis-Look war sieben, als er seine Autonome Sozialistische Sowjetrepublik verließ, sage ich mir. Seine Sozialisierung in Israel hat er zehn Jahre später durch den Militärdienst erfahren. Als Besatzungssoldat dürfte er Palästinenser während der zweiten Intifada vor allem als »Subjekte« erlebt haben, die man sich mit Vorteil durch Zielfernrohr, Nachtsichtgerät und X-Ray-Maschine vornimmt.

Kein Wunder also, dass dieser Siebenundzwanzigjährige aus Chisinau seinen Großvater zwar manchmal im Rollstuhl durch den Garten schiebt, aber nichts weiß von Ahmads Frau Nafise, die hier einst Pflaumen, Granatäpfel, Zimtäpfel und Rosen zog. In dem Garten haben Ahmad und Nafise mit ihren neun Kindern oft gespielt. Doch nachdem zionistische Widerstandskämpfer die Stadt tagelang bombardiert hatten, bestieg auch diese Familie wie tausend andere ein Schiff Richtung Libanon. Es sollte eine Urlaubsreise werden, aber es wurde eine Reise ohne Wiederkehr. Ferouze, die Katze der Hammami-Kinder, blieb allein in dem Haus zurück, das jetzt ein israelisches Pflegeheim ist. Jaffa, die blühende palästinensische Hafenstadt, Drehscheibe des Handels mit Orangen, verlor ihre arabischen Einwohner und wurde zu einem Stadtteil von Tel Aviv. Warum sollte ein junger Einwanderer aus Südosteuropa, der in Israel vor zwanzig Jahren die Aliyah* gemacht hat, darüber informiert sein, was dort vor bald fünfundsechzig Jahren geschah?

Da holt er nochmals zu einer Stellungnahme aus: »Die Nakba«, ereifert er sich, »wenn ich nur das Wort schon höre! Das sind doch alles Märchen, rührselige Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, die Art von ›Geschichtsschreibung‹, mit der die Araber schon seit Zeiten des Osmanischen Reichs ihre Schwächen überdecken. Faktum ist, dass die Araber Israel von Anfang an und immer wieder bekämpften.«

Da klingt er nun doch wie einer vom Fach, der angehende Mediziner, der als alter Moldawier ja auch ein Stück osmanische Vergangenheit teilt. Jedenfalls ruft er mir Shlomo Avineri in Erinnerung, den Professor für Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Der forderte am 17. Juni 2011 in einer Kolumne der israelischen Zeitung Haaretz, die nationalistischen Narrative, also die sinnstiftenden Erzählweisen der verschiedenen Nationen, seien grundsätzlich von der historischen Wahrheit zu trennen.

Ist von der Nakba die Rede, stehen sich laut Avineri zwei Narrative gegenüber. Das israelisch-zionistische Narrativ legt den Akzent auf die Bindung des jüdischen Volkes an die historische Heimat und die Misere der Juden. Das palästinensische Narrativ betrachtet die Juden hingegen nur als religiöse Gruppe und den Zionismus als imperialistische Erscheinung.

Darüber hinaus aber gibt es, wie Avineri behauptet, »die faktische historische Wahrheit«, die nicht bloß ein »Narrativ« ist: 1947 nahm die zionistische Bewegung den Uno-Teilungsplan für Palästina an, die arabische Seite verwarf ihn und erklärte Israel den Krieg. Daraus habe dann eben die Nakba resultiert, meint der israelische Politikwissenschaftler, die bittere Lektion sei auch andern nicht erspart worden. Am 1. September 1939 habe Deutschland Polen angegriffen, nicht Polen Deutschland. Am 7. Dezember 1941 attackierte Japan die USA, nicht umgekehrt. »Der Entscheid, einen Krieg zu beginnen, hatte immer Konsequenzen«, sagt Avineri.

Am 23. Juni 2011 meldete der Historiker Dmitry Shumsky in der gleichen Zeitung Widerspruch an. Shumsky, ein jüngerer Kollege von Avineri an der Hebräischen Universität, hat sich bisher hauptsächlich mit Ethnizität, Nationalismus und Autonomiebestrebungen im Osteuopa des 19. und 20. Jahrhunderts befasst. Gewiss hätten sich historische Fakten in die nahöstliche Realität übersetzt, zum Uno-Teilungsplan geführt und den Hintergrund für Israels Unabhängigkeitskrieg und die palästinensische Nakba gebildet, argumentiert dieser Forscher. Doch diese Fakten seien »eine direkte Folge des Umstands, dass die westlichen Mächte drei Jahrzehnte früher das zionistische Narrativ akzeptierten«.

Shumsky rekapituliert: 1917 brach das Osmanische Reich zusammen und überließ den Nahen Osten den alliierten Mächten. Eine davon, Großbritannien, erklärte, das jüdische Volk habe ein Recht, in Eretz Israel eine nationale Heimstätte zu errichten. Diese Erklärung, die sogenannte Balfour-Deklaration, war nur möglich, weil die britische Regierung die Bindung dieses Volkes an seine historische Heimat und die miserable Lage der Juden anerkannte. »Die zionistische Bewegung hatte Glück«, meint der Historiker, »ihr Schicksal fiel in die Hand einer Macht, die eine theologische Sensibilität für die die Idee einer Beziehung zwischen dem biblischen Volk der Juden und seinem Land hatte.«

Was aber, wenn die Briten und ihre Verbündeten nach dem Ersten Weltkrieg vom panarabischen Narrativ ausgegangen wären oder vom Narrativ des erwachenden palästinensischen Volkes? Gestützt auf den Grundsatz der Selbstbestimung der Völker, für die sie in den Krieg gezogen waren, hätten die Alliierten in diesem Fall entschieden, dass Palästina mitsamt seiner kleinen jüdischen Gemeinde in einem allarabischen Nationalstaat aufgehen oder zu einem palästinensischen Nationalstaat umgeformt würde. Natürlich hätte man den palästinensischen Juden zugesichert, dass ihre bürgerlichen und religiösen Rechte gewahrt würden und für sie alles so bleibe, wie es unter osmanischer Herrschaft gewesen war.

Die zionstischen Juden hätten sicher einen bewaffneten Aufstand gegen den neuen Nationalstaat in ihrer historischen Heimat lanciert, nimmt Shumsky an. Ohne Unterstützung einer Weltmacht wäre der Aufstand wohl bald falliert, »Vertreibung, Massaker, ethnische Säuberung, die in der Spätzeit des Osmanischen Reichs, in den christlichen Nationalstaaten und im euroasiatischen Raum nicht selten vorkamen, wären die Folge gewesen«, vermutet der israelische Historiker.

Hätte nach einer solchen nationalen Katastrophe auch nur ein zionistischer Intellektueller darauf beharrt, dass es jenseits der beiden nationalen Narrative eine »faktische historische Wahrheit gibt«?, fragt der Forscher weiter. Eine historische Wahrheit, gemäß der die Araber den Juden die gleichen kollektiven Rechte offerierten, die sie bereits unter den osmanischen Türken genossen hatten? Hätte ein einziger zionistischer Intellektueller seinen Leuten bedeutet, dass sie den bewaffneten Kampf gewählt und jetzt halt die Konsequenzen für ihren Entscheid zu tragen hätten? »Ich zweifle«, sagt Shumsky. »Ein solcher Intellektueller wäre in den eigenen Reihen als Verräter gebrandmarkt worden, der nicht die historische Wahrheit sagt, sondern die Version des Feindes wiedergibt.«

Geschichtsschreibung ist für diesen Historiker offenkundig keine exakte Wissenschaft, sondern eine, die sich mit Unschärfen abmühen und abfinden muss. »Die nationalen Narrative sind untrennbarer Teil der faktischen Realität des nationalen Disputs zwischen Israeli und Palästinensern«, sagt er. »Diese Narrative prägen den Disput, sie nähren ihn und stellen ihn immer wieder neu her.«

Das vorliegende Buch handelt von einem der beiden Narrative. Es beschreibt die Nakba aus palästinensischer Sicht – mit journalistischen Mitteln. Im Zentrum stehen acht Menschen, die 1948 entweder selbst erlebten oder vom bestürzenden Gang der Dinge später von ihren Eltern, Verwandten und Freunden erfuhren. Die Ereignisse sind so nacherzählt, wie die Porträtierten sie im Gedächtnis haben. Die subjektiven Schilderungen der Flüchtlinge und ihrer Nachfahren sind freilich eingebettet in dokumentierte Quellen israelischer und palästinensischer Forscher.

Das jüdische Narrativ schimmert manchmal durch. Doch der Blick ist auf das Schicksal des palästinensischen Volkes gerichtet, das damals zu einem Volk ohne Land wurde.

Die Katastrophe dieses Volkes hat sehr viel mit der europäischen Geschichte zu tun. Dennoch scheint mir, die meisten Europäerinnen und Europäer seien diesbezüglich so ignorant wie Arthur, der moldawische Einwanderer in Jaffa, der nichts von den früheren Einwohnern der Stadt der Orangen weiß, weil er nichts davon wissen will. Wenn dieses Buch die Wahrnehmung für das eine Narrativ schärft, wird es die Auseinandersetzung mit dem anderen Narrativ – ganz im Sinne Shumskys – beleben. Dann hätte sich seine Einseitigkeit gelohnt.

* Siehe Begriffserklärungen, S. 351

Die Katastrophe kündigte sich an

Zuspitzung mit dem Uno-Teilungsplan 1947

Am 29. November 1947 beschloss die Uno-Vollversammlung in New York die Teilung Palästinas. In Tel Aviv und den jüdischen Vierteln Jerusalems strömten die Menschen auf die Straße, tanzten, sangen und fielen sich in die Arme. Viele waren dem Holocaust entronnen, manche waren schon früher angekommen, der Armut und den Pogromen in Osteuropa entfliehend. Mit Tränen in den Augen feierten sie den Entscheid der Vereinten Nationen, in einem Teil des Landes einen jüdischen Staat zu errichten. In Jerusalem dauerte das Fest bis zum Morgengrauen. Der israelische Schriftsteller Amos Oz war zu jener Zeit erst acht Jahre alt, auf den Schultern des Vaters wippte er mit. In seiner Geschichte von Liebe und Finsternis beschreibt er Jahrzehnte später den Taumel der Gefühle, in dem sie damals dahintrieben. »Schau dir das an, mein Junge, schau dir das sehr gut an, mein Sohn, mit sieben Augen schau dir bitte all dies an, denn diese Nacht, Kind, wirst du bis an dein Lebensende nicht vergessen, und von dieser Nacht wirst du noch deinen Kindern, Enkeln und Urenkeln erzählen, wenn wir schon lange nicht mehr da sind«, sagte der Vater.1

Später krochen beide in Kleidern unter die Bettdecke. Der Vater schilderte dem Kleinen, welche Demütigungen er sich als jüdischer Bub im polnischen Gymnasium in Wilna von gojischen Mitschülern hatte gefallen lassen müssen, die Mädchen hätten nur gelacht und die Lehrer zugesehen. Dass seinem Sohn Ähnliches widerfahre, bloß weil er ein Jude ist, das schloss der Vater aus, nachdem sein Volk ja nun bald einen eigenen Staat haben sollte.2

Für die Palästinenser war der 29. November 1947 ein schwarzer Tag, der erste Akt im Drama, das als »Nakba«, die alles umstürzende Katastrophe, in ihre Geschichte einging. Zwar sollten die arabischen Einwohner Palästinas nach der Uno-Resolution 181 ebenfalls einen Staat erhalten, doch wiesen ihre politischen Führer das Angebot, das auf dem Tisch lag, empört zurück. Nach Unterlagen der Vereinten Nationen hatten im Dezember 1946 fast zwei Millionen Menschen im historischen Palästina gelebt; die genaue Zahl lautete auf 1 972 000, davon waren 1 364 000 Araber und 608 000 Juden.3 Die zionistischen Siedler stellten also gegen Ende der britischen Mandatszeit nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung, und gemäß ihren eigenen Quellen hatten sie bis dahin weniger als sieben Prozent des Terrains in ihren Besitz gebracht.4 Die Uno schrieb dem jüdischen Staat jedoch fast 56 Prozent des verfügbaren Landes zu, dem arabischen Staat nur 42 Prozent; Jerusalem wollte sie als selbständige Einheit treuhänderisch verwalten. Der jüdischen Seite war zudem der ertragreichste Boden in der Küstenebene und in den Tälern Galiläas zugedacht, mit all seinen Anbauflächen für Zitruspflanzen und Weizen.

Die Araber Palästinas sahen sich krass übervorteilt und meldeten Widerstand an. Viele sagten sich damals und sagen es sich noch heute: »Was hatten wir mit dem Holocaust zu tun? Die Juden wurden von christlichen Nationen in Europa verfolgt. Warum sollten wir dafür büßen, weshalb ihnen den besseren Teil unseres Landes überlassen?«

Der neue Yishuv

Gegen Ende des 19. Jahrhundert hatten in dem Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer schätzungsweise 24 000 Juden gelebt. Das waren nicht einmal fünf Prozent der Gesamtbevölkerung, die lediglich 22 000 Dunam (rund 22 Quadratkilometer) oder 0,08 Prozent des Bodens besaßen.5 Dabei handelte es sich um Nachfahren jüdischer Familien, die entweder nie weggegangen oder im Lauf der Zeit aus Nordafrika, Europa und Asien eingewandert waren. Die meist frommen Leute hatten sich in den ihnen heiligen Städten Jerusalem, Safed, Hebron und Tiberias niedergelassen, wo sie sich vor allem dem Studium des Talmud widmeten. Safed (hebräisch Tzfat) hatte im 16. Jahrhundert zudem ein Goldenes Zeitalter der Kabbala erlebt. Sephardische Juden, die vor der Inquisition in Spanien hatten fliehen müssen, fühlten sich von dieser mystischen Variante ihrer Religion besonders angezogen. Sie hatten dem Städtchen im nördlichen Galiläa auch eine Blüte von Handel und Gewerbe beschert und dort die erste hebräische Druckerei der Region eingerichtet. Insgesamt aber hatte der alte Yishuv, die herkömmliche jüdische Gemeinschaft in Palästina, politisch und wirtschaftlich nicht viel Aufhebens gemacht. Das änderte sich mit dem neuen Yishuv, der zwischen 1880 und 1948 entstand.

Seit der Jahrhundertwende waren Juden in wachsender Zahl in das Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer eingewandert. Eretz Israel lockte sie, das in der Bibel verheißene Land, das die Vordenker des Zionismus zur Wiege der erwachenden jüdischen Nationalbewegung umgedeutet hatten. Erst waren die Einwanderer aus dem Jemen und dem zerfallenden Zarenreich angelangt, eine bunt gemischte Gemeinde, religiös und/oder national orientiert, die das biblische Territorium zurückgewinnen wollte. Dann war ein Schiff nach dem andern mit Flüchtlingen aus Nazideutschland in Jaffa und Haifa eingelaufen.

Die arabischen Einwohner, um Notabeln geschart, die den Nationalismus spät oder nie für sich entdeckten, hatten auf den Zustrom bekümmert und zunehmend auch gereizt reagiert. »Mit den schattenhaften, dünnen Gestalten, die nach Hitlers Machtergreifung von den Schiffen aus Europa stiegen, hatten die Leute hier Mitleid. Daneben aber gab es dieses ausgreifende Gebaren der Repräsentanten des neuen Yishuv. Das war der örtlichen arabischen Bevölkerung suspekt. Politisch, wirtschaftlich und sozial fühlte sie sich immer mehr in die Ecke gedrängt«, sagt Sami Abu Shehadeh, ein junger Historiker aus Jaffa, der heute zur arabischen Minderheit in Israel zählt.

Es hatte schon Unruhen und Mord und Totschlag gegeben, 1920, 1921, 1929 und 1936 bis 1939. Stets hatte man sich wieder arrangiert. Jetzt aber war’s genug. In den Augen der Einheimischen schlug der Uno-Entscheid dem Fass den Boden aus. Sie weigerten sich, das Land mit einer Siedlergemeinde zu teilen in einem Deal, den sie nicht als Kompromiss, sondern als Diktat empfanden.

Jede einheimische Bevölkerung in jedem Land der Welt hätte unter den gleichen Umständen wohl ähnlich reagiert, vermutet Walid Khalidi. Der Grandseigneur unter den palästinensischen Historikern hat in Oxford und Harvard und lange Jahre auch an der Amerikanischen Universität in Beirut gelehrt. Für ihn ist jedoch der Uno-Teilungsplan nicht Quelle und Ursprung des Palästinaproblems, vielmehr sieht er darin den »Gipfel all dessen, was sich seit der Geburt des politischen Zionismus angebahnt hatte«, eine für seine Landsleute »verheerende Zuspitzung der Dinge«.6 Weil die Palästinenser die Resolution 181 ablehnten, rutschten sie in der öffentlichen Wahrnehmung in die Rolle des starrköpfigen Verweigerers, der sein Verhängnis selber verschuldet hat, während den Zionisten quasi staatsmännische Flexibilität attestiert wird. Das aber ist für Khalidi die Sicht des Siegers und darum höchstens die halbe Wahrheit.

Jaffa im Sommer 1920 vom Meer her gesehen.

Bild Amercian Colony/GPO

1. Mai 1934. Am Hafen von Jaffa herrscht ein geschäftiges Treiben, Zitrusfrüchte werden kistenweise in die Schiffe verladen.

Bild Zoltan Kluger/GPO

1. November 1933. Immigranten aus Deutschland steigen im Hafen von Jaffa von einem großen Schiff auf ein kleines um, mit dem sie an Land gebracht werden.

Bild Zoltan Kluger/GPO

Herzl und sein Basler Programm

Aus der Sicht der 1947 Unterlegenen ist es wichtig, auch das Vorspiel zum palästinensischen Drama zu kennen, das in der Schweiz seinen Anfang nahm.

Vom 29. bis 31. August 1897 fand in Basel der erste Zionistenkongress statt. Rund 200 Delegierte von jüdischen Gemeinden gründeten dort die Zionistische Weltorganisation (ZWO), wählten Theodor Herzl zum ersten Präsidenten und verabschiedeten ein Papier, das als Basler Programm in die Geschichte einging. Es strebte die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina an. Als Mittel zum Zweck sollte die Besiedlung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden gefördert und das jüdische Volksgefühl und Volksbewusstsein gestärkt werden. Über diplomatische Aktivitäten hoffte man, die maßgeblichen Regierungen für die zionistischen Ziele zu gewinnen. Über der Zusammenkunft in Basel wehte schon die blau-weiße Flagge mit dem Davidstern, die heute Israels Nationalflagge ist.

Am 3. September 1897 notierte Herzl in sein Tagebuch: »Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es Jeder einsehen.«7

Herzl entstammte einer Budapester Kaufmannsfamilie, die nach Wien übersiedelt war. In der Hauptstadt der Donaumonarchie arbeitete er als Schriftsteller und Journalist. Die Justizaffäre um den französischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus, einen angeblichen Landesverräter, hatte ein grelles Licht auf die antisemitischen Ressentiments geworfen, die in der Seele europäischer Zeitgenossen schlummerten. Unter dem Eindruck der Ereignisse, die er als Korrespondent einer Wiener Zeitung in Paris hautnah miterlebt hatte, verfasste Herzl schon 1896 die Schrift Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Palästina hatte er bis dahin noch nicht besucht, erst im Herbst 1898 nahm er einen ersten Augenschein. In Misqve Israel, einer zionistischen Landwirtschaftsschule südöstlich von Jaffa traf er den deutschen Kaiser Wilhelm II., der auf Pilgerreise und einer geopolitischen Tour d’horizon war. Der Kaiser sollte sich beim Sultan des Osmanischen Reichs, Abd al-Hamid II., für die ungehinderte jüdische Besiedlung Palästinas verwenden, so lautete das zionistische Ansinnen. Wilhelm II. dämpfte die Erwartungen. Sein Wohlwollen sicherte er allen Unternehmungen zu, die der Förderung der Landwirtschaft in Palästina dienten, Projekten also, wie sie damals auch die deutschen Templer im Heiligen Land betrieben. Aber selbst bei diesen Aktivitäten müssten die Hoheitsrechte Konstantinopels gewahrt bleiben, bedeutete der deutsche Herrscher den Zionisten.

Herzl ließ nicht locker. Er hatte sich zuvor schon einmal direkt an den türkischen Regenten gewandt und tat es nach dieser Abfuhr wieder. In der Wahl seiner Mittel war er nicht zimperlich. Die Dreyfus-Affäre hatte den assimilierten ungarischen Juden gelehrt, dass einer aus seinem Volk, selbst wenn er die ganze Leiter jüdischer Emanzipation erklommen hatte, heftige antisemitische Reflexe auslösen konnte, sogar im vergleichsweise liberalen Frankreich. Er hatte auch die neue Qualität der Ressentiments bemerkt, die im Aufruhr in Paris aufgebrochen waren. Dass sich die alten religiös gefärbten Vorurteile mit Versatzstücken einer pseudowissenschaftlichen Rassentheorie allmählich zu einer brandgefährlichen Mixtur verbanden, hatte ihn schockiert. Daraus ergab sich für ihn zwingend, dass sich die Juden selber helfen müssten mit einem eigenen Staat. Natürlich durchkreuzte ein solcher Plan die Absichten anderer Völker. Das aber schien diesen Zionisten nur anzustacheln.

Seinerseits war Herzl gefangen in einem westlichen Überlegenheitsdenken, das man im Rest der Welt mitunter ebenfalls als Rassismus empfindet. Seine Leute könnten im Nahen Osten einen »Vorposten der Zivilisation gegen das Barbarentum« errichten, daran müsste doch auch der Sultan interessiert sein, stellte sich der Verfasser des Judenstaats vor. Etwas Bakschisch würde der Erkenntnis gewiss nachhelfen, nahm er an und war erstaunt, ja fast beleidigt, als es am Bosporus auch mit Bestechung nicht klappte. Nach der Rückkehr von seiner ersten Reise schilderte er Palästina als verwahrlostes und dem Zerfall preisgegebenes Land, in dem die wenigen jüdischen Siedlungen wie »Oasen in der Wüste« wirkten.

Dass solche Klischees zu fatalen Missverständnissen führen könnten, blieb hellen arabischen Köpfen nicht verborgen. Yusuf Ziya al-Khalidi zum Beispiel begriff sofort, was es geschlagen hatte. Er war ein Vorfahre des Historikers Walid Khalidi und wie dieser Abkömmling einer arabisch-muslimischen Familie, die in Jerusalem über Jahrhunderte die höchsten Ämter bekleidet hatte, ähnlich wie die Husseini und Nashashibi. Der Mann hatte seinen Bezirk im osmanischen Parlament in Konstantinopel vertreten, er kannte Europa und galt als aufgeschlossener Geist. Herzls Projekt eines Nationalstaats für Juden in einem Land, das er als das seinige ansah, ging ihm jedoch zu weit. Kaum war er zum Bürgermeister von Jerusalem aufgestiegen, wandte er sich an Zadok Kahn, den Oberrabbiner von Paris, dem er freundschaftlich verbunden war. Das Vorhaben, das jüdische Volk wieder als unabhängige Nation zu konstituieren, sei löblich, schrieb Ziya al-Khalidi in seinem Brief vom 1. März 1899. Palästina sei dafür indes der falsche Ort. Es sei inzwischen fester Bestandteil des Osmanischen Reichs und bereits von anderen Menschen bewohnt. Leicht könnte sich eine Volksbewegung gegen die schon seit so vielen Jahren unglücklichen Glaubensgenossen des Rabbis bilden, die schwer zu besänftigen wäre. »Bei Gott, die Erde ist so groß, es gibt noch unbewohnte Länder [...]. Aber, um Gottes willen, man soll Palästina in Ruhe lassen.«8

Kahn leitete den Brief an Herzl weiter, dieser antwortete am 19. März. Er beteuerte, die Zionisten kämen in friedlicher Absicht, die heiligen Stätten auch der anderen Religionen hielten sie für unantastbar, eine Besiedlung Palästinas könnte allen Seiten zum Vorteil gereichen, die nichtjüdische Bevölkerung dort habe nichts zu befürchten: »Wer denkt schon daran sie zu entfernen! Gerade ihr Wohlergehen und ihren persönlichen Reichtum werden wir vermehren, indem wir den unseren bringen.«9

Auch in solchen Passagen erwies sich Herzl als Europäer seiner Zeit, der sich mit kolonialistischer Geste anderen Kulturen näherte und sich dabei erst noch als Wohltäter vorkam. »Bei der Landnahme bringen wir dem Aufnahmestaate gleich Wohlfahrt zu«, hatte er in seinem Tagebuch schon am 12. Juni 1895 vermerkt. Deutlicher als in späteren, mehr der Nachwelt zugedachten Äußerungen drückte der Prophet und organisatorische Gründer des Zionismus in diesem Eintrag aus, worauf sein Projekt hinauslief: »Den Privatbesitz der angewiesenen Ländereien müssen wir sachte expropriieren. Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk muss ebenso wie die Fortschaffung der Armen mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen. Die Immobilienbesitzer sollen glauben, uns zu prellen, uns über dem Wert zu verkaufen. Aber zurückverkauft wird ihnen nichts.«10

Zwar ließ Herzl zunächst offen, ob der jüdische Nationalstaat, der ihm vorschwebte, in Palästina, Argentinien oder irgendwo in Afrika entstehen sollte. Früh aber schien er sich darüber im Klaren zu sein, dass die Einpflanzung eines neuen Gemeinwesens hier wie dort nur möglich sein würde, wenn die »Eingeborenen« den Platz räumten, geschehe dies nun nach eigenem Dafürhalten, unter Zwang oder aus einer Mischung von beidem. Je länger die Staatsplaner darüber nachdachten, umso mehr konzentrierten sie sich auf das nahöstliche Land. Den Gedanken eines Bevölkerungstransfers mit Zuckerbrot und Peitsche spannen die zionistischen Führer weiter, wie der israelisch-arabische Historiker Nur Masalha nachgezeichnet hat.11

Es war ja keineswegs so, dass Palästina als »Land ohne Volk für ein Volk ohne Land« zur freien Verfügung stand. Das fiel selbst Israel Zangwill auf, dem anglo-jüdischen Schriftsteller, der das Wort 1901, gestützt auf den christlichen Zionisten Lord Shaftesbury, in Umlauf gebracht hatte. 1905 bemerkte er in einer Rede vor Zionisten in Manchester, der Verwaltungsbezirk von Jerusalem sei bereits doppelt so dicht besiedelt wie die Vereinigten Staaten. Die Juden müssten sich darauf vorbereiten, die arabischen Stämme mit dem Schwert zu vertreiben, wie es ihre Ahnen getan hätten. Andernfalls müssten sie sich mit dem Problem einer großen fremden Bevölkerung herumschlagen, »die meisten Muslime, seit Jahrhunderten gewöhnt, uns zu verachten«.12

1920 präzisierte Zangwill, wenn Lord Shaftesbury Palästina als ein Land ohne Volk beschrieben habe, sei er zwar dem Buchstaben nach ungenau gewesen, in der Substanz aber korrekt, denn man finde dort kein arabisches Volk, das in inniger Verschmelzung mit dem Land lebe, dessen Ressourcen nutze und ihm sein charakteristisches Gepräge verleihe. »Bestenfalls gibt es ein arabisches Feldlager.«13

In der Stimme von Jerusalem beklagte Zangwill 1922, dass die Palästinenser kulturell zurückgeblieben seien. Das rechtfertigte seiner Ansicht nach, sie zum Wegzug zu bewegen. In dem Artikel stützte er sich auf Argumente, die in Israel noch immer populär sind: »Wir können den Arabern nicht erlauben, ein so wertvolles Stück eines historischen Wiederaufbaus zu blockieren. [...] Darum müssen wir sie generell überzeugen, sich zu ›verziehen‹. Schließlich haben sie ganz Arabien mit seinen Millionen von Quadratmeilen. [...] Es gibt keinen besonderen Grund für die Araber, sich an diese paar Kilometer zu klammern. Ihre Zelte abzubrechen und sich still wegzustehlen ist ihre sprichwörtliche Gewohnheit: Sollen sie es jetzt vormachen.«14

Arthur Ruppin, ein aus Deutschland stammender Jurist, Ökonom und Soziologe, leitete von 1908 an das Palästinaamt in Jaffa, das vor der Gründung der Jewish Agency die Zionistische Weltorganisation vor Ort vertrat. 1911 schlug Ruppin eine begrenzte Umsiedlung vor. Arabischen Bauern, die in Palästina durch jüdischen Bodenkauf ihr Auskommen verloren hatten, sollte im nördlichen Syrien Ersatz angeboten werden. Ein Jahr später erklärte Leo Motzkin, Mitbegründer der ZWO und einer ihrer liberaleren Vertreter, um Palästina herum gebe es ausgedehnte Landflächen. »Es wird für die Araber ein Leichtes sein, sich dort niederzulassen mit dem Geld, das sie von den Juden erhalten.«15

Doch die zionistische Führung wollte weder das Misstrauen der betroffenen arabischen Bevölkerung wecken noch potenzielle jüdische Verbündete vor den Kopf stoßen. So behielten die Befürworter eines Bevölkerungstransfers ihre Ideen vorläufig für sich oder diskutierten sie nur in kleinstem Kreis, wie der israelische Historiker Benny Morris ausführt. Der revidierten Ausgabe seines Buches über die »Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems« hat er ein eigenes Kapitel zum Thema Transfer angefügt.16

Herzl starb 1904 im Alter von erst 44 Jahren, herzkrank und erschöpft von seinem rastlosen Engagement für den Judenstaat. Wie die Mehrzahl seiner Mitstreiter war er der Meinung gewesen, dass ein solcher Staat am ehesten in Palästina verwirklicht werden könne, wofür die Zustimmung Konstantinopels unabdingbar sei. Sultan Abd al-Hamid II. aber hatte die Neuauflage eines »Königreichs Judäa« strikt abgelehnt. 1909 wurde er entmachtet und durch seinen Bruder ersetzt. Fünf Jahre später begann der Erste Weltkrieg. Die Hohe Pforte, die Regierung in Konstantinopel, schlug sich auf die Seite Deutschlands und leitete damit ihren eigenen Untergang ein. Dem zionistischen Projekt hingegen eröffneten sich zehn Jahre nach Herzls Tod neue Perspektiven.

Balfour, Wilson und das doppelte Versprechen

Im November 1914 traten die Türken als Verbündete der Mittelmächte in den Krieg gegen Frankreich, Großbritannien und Russland ein. Palästina, damals ein Teil Großsyriens, wurde zum Kriegsschauplatz. Seit 400 Jahren hatte das Land zum Osmanischen Reich gehört, jetzt waren die Tage dieses Vielvölkerstaats gezählt. Über Nacht endete die vergleichsweise liberale Vorkriegsepoche, die der Region zu einem wirtschaftlichen und kulturellen Zwischenhoch verholfen hatte. Den Rückfall in die Tyrannei schildert der palästinensische Philosophieprofessor Sari Nusseibeh, Spross einer weiteren alteingesessenen Jerusalemer Familie, in seiner Autobiografie Es war einmal ein Land, einem arabischen Gegenstück zu Oz’ eingangs erwähntem Zeitgemälde.17

Von Damaskus aus herrschte fortan Jamal Pasha, der vom Sultan eingesetzte Militärgouverneur, von seinen Untertanen »assaffah«, »der Schlächter«, genannt. Weilte er in Jerusalem, bezog er auf dem Ölberg Quartier. Wer aufmuckte oder gar laut zu sagen wagte, dass der Kriegseintritt an der Seite der Deutschen ein Fehler gewesen war, riskierte den Tod am Strang. Die Kriegswirren und eine Heuschreckenplage verknappten weitherum die Lebensmittel. Eine Hungersnot und Seuchen wie Cholera und Typhus rafften Zehntausende dahin. So ist es nicht verwunderlich, dass die meisten Araber insgeheim schon bald auf einen Sieg der Alliierten hofften, wie Nusseibeh berichtet. Panarabisch gesinnte Intellektuelle malten sich aus, dass England und Frankreich ihnen helfen würden, die Unabhängigkeit zu erlangen.18

In einem vertraulichen Briefwechsel mit Sir Henry McMahon, dem britischen Hochkommissar in Ägypten, ließ sich Hussein Ibn Ali, der Scherif von Mekka und spätere König des Hejaz, die entsprechenden Zusagen geben. Hussein stammte aus der Dynastie der Haschemiten, die sich als direkte Nachfahren Mohammeds sehen. Das verlieh ihm in der muslimischen Welt ein besonderes Prestige. Beflügelt von den britischen Versprechen, stiftete er seine Leute im Juni 1916 zu einer Revolte an, die das Osmanische Reich von innen schwächen sollte. Arabische Freischaren schlugen sich auf die Seite der Alliierten, befehligt von Scherif Husseins Sohn Prinz Faisal und strategisch beraten von Thomas Edward Lawrence, einem britischen Offizier, der als »Lawrence of Arabia« zur Legende wurde.

Im folgenden Sommer trat General Edmund Allenby auf den Plan. Der Brite war angeblich ein Nachfahre von Oliver Cromwell und ein baumlanger Kerl wie dieser. Als Berufssoldat las er emsig die Bibel. Er soll sich aber auch für Geschichte und Geografie interessiert und Menschen, Tiere und Pflanzen im zu erobernden Gebiet so genau beobachtet haben, als wäre er ein »Anthropologe auf Exkursion«.19 Als gewiefter Stratege reorganisierte er die alliierten Verbände, ehe er die deutsch-türkische Verteidigungslinie im Negev attackierte. Mit seiner Kavallerie stürmte er am 31. Oktober 1917 Beersheba, die alte Garnison am Rand der Wüste. Eine Woche später nahm er die Festung Gaza und bald darauf die Hafenstadt Jaffa ein, am 9. Dezember eroberte er Jerusalem. Am Jaffator hielt der General seine Siegesrede, von arabischen und jüdischen Nationalisten gleichermaßen bejubelt.

Bereits am 2. November 1917 hatte Großbritanniens Außenminister Lord Arthur James Balfour freilich seinen berühmten Brief an Lionel Walter Rothschild, den Präsidenten der britischen Zionistischen Föderation, abgeschickt. Das Schreiben gab dem Judenstaat mächtig Auftrieb. Es erklärte, dass die Regierung Seiner Majestät die Errichtung einer nationalen Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina »mit Wohlwollen« betrachte und nach Kräften fördern werde. Zwar hatte Balfour im Brief selbst noch eingeschränkt, dass durch die Etablierung einer solchen Heimstätte nichts geschehen dürfe, »was den bürgerlichen und religiösen Rechten der bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina [...] Abbruch tun könnte«.

Hinter verschlossenen Türen war der britische Außenminister jedoch weniger diplomatisch. Die Einwohner im fraglichen Gebiet sollten »nicht einmal der Form halber konsultiert werden«, empfahl er seinen Kabinettskollegen in London in einem Memorandum vom 11. August 1919: »Der Zionismus, sei er nun richtig oder falsch, gut oder schlecht, beruht auf einer langen Tradition, aktuellen Erfordernissen und zukunftsgerichteten Hoffnungen, die viel schwerer wiegen als die Wünsche und Vorstellungen der 700 000 Araber, die das geschichtsträchtige Land derzeit bewohnen.«20

Die »nichtjüdischen Gemeinschaften«, wie Balfour es ausgedrückt hatte, das waren hauptsächlich muslimische und christliche Araber. Zu jener Zeit machten sie mehr als 90 Prozent der örtlichen Bevölkerung aus. Im Krieg hatten britische Piloten Flugblätter abgeworfen, die diesen Leuten zuriefen: »Helft uns bei der Befreiung aller Araber vom türkischen Joch, damit das arabische Königreich wieder das werden kann, was es zur Zeit Eurer Väter war.«21 Dem befreiten Land brachten die Briten dann einen effizienteren Verwaltungsapparat, den Fünf-Uhr-Tee und das Tennisspiel. Sie bezogen Palästina in ihren Währungsraum ein und schlossen es damit an den Weltmarkt an, das palästinensische Pfund banden sie an das britische im Verhältnis eins zu eins. Unter ihrem Einfluss konnten sich der Handel und die freien Berufe entfalten, die Mittelschicht lebte auf. Wer aber darauf spekuliert hatte, dass der ansässigen arabischen Bevölkerung als Lohn für die Schützenhilfe im Krieg automatisch die Souveränität über dieses Gebiet winken würde, sah sich bitter enttäuscht.

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg besiegelte das Schicksal des Osmanischen Reichs und veränderte die nahöstliche Geografie nachhaltig. Auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 gründeten die alliierten Siegermächte den Völkerbund, der im folgenden Jahr in Genf seine Arbeit aufnahm. In geheimen Absprachen hatten Franzosen und Briten mitten im Schlachtengetümmel bereits Einflusssphären vereinbart. Nach der Kapitulation der Mittelmächte teilten Frankreich und Großbritannien die arabischen Provinzen, die zuvor zur Türkei gehört hatten, unter sich auf. Paris erhielt das Mandat über den Libanon und Syrien, London dasjenige über den Irak und Palästina, Transjordanien inbegriffen.

In seiner Botschaft vom 4. Juli 1918 hatte sich US-Präsident Woodrow Wilson zum Selbstbestimmungsrecht der Völker bekannt. Nach seiner Philosophie sollten die Mandatsmächte die ihnen anvertrauten Gebiete zur demokratischen Mündigkeit führen und sie auf die Unabhängigkeit vorbereiten. Jedes Volk sollte, wenn es dafür reif war, das Recht haben, frei und ohne Beeinflussung von außen über seinen politischen Status, seine Regierungsform, seine wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Die Satzung des Völkerbunds wurde am 28. Juni 1919 zusammen mit dem Friedensvertrag von Versailles signiert. Artikel 22 hielt unter anderem fest: »Gewisse Völker, die ehemals zum Türkischen Reich gehörten, haben einen solchen Grad der Entwicklung erreicht, dass man sie vorläufig als unabhängige Nationen anerkennen kann, vorausgesetzt, dass ihrer Verwaltung Rat und Hilfe eines Mandatars zuteil wird, bis sie imstande sind, sich selbst zu regieren. Bei der Wahl des Mandatars müssen in erster Linie die Wünsche dieser Völker berücksichtigt werden.«22

Wenn jemand bei der Vergabe des Mandats dann tatsächlich etwas zu wünschen hatte, so war es Chaim Weizmann. Der Sohn eines Holzhändlers aus einem Schtetl bei Pinsk im heutigen Weißrussland hatte in Darmstadt und Berlin Chemie studiert und im schweizerischen Freiburg summa cum laude promoviert. Danach lehrte Weizmann, der später erster Staatspräsident Israels werden sollte, eine Weile in Genf. 1910, im Alter von 36 Jahren, nahm er die britische Staatsbürgerschaft an. Während des Ersten Weltkriegs leitete er das Munitionslabor der Königlich Britischen Admiralität. In dieser Funktion erfand er eine neue Methode zur Synthese von Aceton, einem Zusatz, der für die Herstellung von Kordit erforderlich ist. Von dem Sprengstoff, der weniger Rauch, dafür mehr Druck entwickelte, konnte sofort genügend produziert werden, um den Bedarf bei den alliierten Truppen an der Front zu decken. Winston Churchill, damals Erster Lord der Admiralität, war des Lobes voll für den meisterlichen Biochemiker in seinen Diensten.

Zur Meisterschaft brachte es Weizmann auch im Knüpfen von Kontakten, die der zionistischen Bewegung nützten. Erst hatte er den Brief von Lord Balfour angeregt, dann warb er erfolgreich für den Verbleib der Briten im Heiligen Land und erwirkte auch, dass sich der Mandatsvertrag in der Präambel ausdrücklich zur Balfour-Deklaration bekannte. Großbritannien wurde in dem Text verpflichtet, den Juden bei der Errichtung einer nationalen Heimstätte im Mandatsgebiet beizustehen und die jüdische Einwanderung zu erleichtern. Zwar garantierte das Mandat weiterhin die bürgerlichen und religiösen Rechte der arabischen Mehrheit in diesem Landstrich, gleichzeitig anerkannte es aber die »historischen Anrechte des jüdischen Volkes an Palästina«.

Dabei hatte die King-Crane-Kommission, die von der US-Regierung ausgeschickt worden war, eindringlich zur Abkehr vom »zionistischen Maximalprogramm« geraten. Die Kommission war nach ihren Leitern Henry King und Charles Crane benannt. Am 28. August 1919 hatte sie das Resultat ihrer Nachforschung vorgelegt. Noch einmal hoben die US-Gesandten ein Kriterium hervor, das Balfour im Kreis der britischen Minister als vernachlässigbare Größe abgetan hatte. Unter anderem betonten sie: Falls das von Präsident Wilson propagierte Selbstbestimmungsrecht der Völker Vorrang habe und das palästinensische Volk also dazu berufen sei, über das Schicksal seines Landes zu entscheiden, so dürfe man nicht außer Acht lassen, dass die nichtjüdische Bevölkerung das gesamte zionistische Programm absolut ablehne. Einer derart eingestellten Bevölkerung eine »unbegrenzte jüdische Einwanderung« zuzumuten, so mahnte die amerikanische Kommission, laufe auf eine Vergewaltigung des Prinzips des Selbstbestimmungsrechts hinaus, selbst wenn sich diese Vorgänge »hinter der Fassade der Legalität« abspielten.23

Auch in der britischen Regierung hatte es kritische Stimmen gegeben. George Nathaniel Curzon etwa war ein Tory wie Balfour und dessen Nachfolger als Außenminister. Anfang 1920 griff er in die Debatte ein. In schon fast sarkastischem Ton wies er auf die Ungereimtheiten in der britischen Mandatspolitik und dem vorgesehenen Mandatstext hin: »Die Zionisten wollen einen jüdischen Staat mit Arabern als Holzfäller und Wasserträger. Das wollen auch viele Briten, die mit den Zionisten sympathisieren. [...] Das ist nicht meine Sicht der Dinge. Ich will, dass die Araber eine Chance haben, und ich will keinen Staat der Hebräer. Da gibt es ein Land mit 580 000 Arabern und 30 000 oder möglicherweise 60 000 Juden (keineswegs alle Zionisten). Für uns gilt das edle Prinzip der Selbstbestimmung, und wir beenden unsere Arbeit mit einem wunderbaren Appell an den Völkerbund, und dann verfassen wir ein Dokument, das in jedem Paragrafen nach Jude stinkt und ganz klar wie die Verfassung eines jüdischen Staates aussieht.«24

Lord Curzon warnte auch davor, eine entfernte Vergangenheit zum Ausgangspunkt künftiger Forderungen zu machen. Er könne nicht erkennen, wie sich aus der Verbindung der Juden mit Palästina, die »vor 1200 Jahren zu Ende gegangen« sei, ein Rechtsanspruch welcher Art auch immer ableiten ließe, wandte er ein.25 Doch Curzon stand auf verlorenem Posten. Balfour und sein Einflüsterer Weizmann setzten sich durch. Das Palästinamandat, das der Völkerbund am 24. Juli 1922 in San Remo genehmigte, markierte einen weiteren Etappensieg auf dem Weg, den Herzl mit dem Basler Programm eingeschlagen hatte.

Ein und dasselbe Territorium war damit allerdings gleich zweimal versprochen. Was unvereinbar oder zumindest widersprüchlich schien, stand nun in einem völkerrechtlich verbindlichen Dokument. Dieses Dokument wiederum missachtete einen anderen Völkerrechtsvertrag, die Satzung des Völkerbunds mit Artikel 22. Der palästinensische Jurist Henry Cattan hat früh den Finger auf diesen wunden Punkt gelegt. Nach seiner Darstellung sprach der Mandatsvertrag für Palästina einem Volk das Recht zu, »sich auf dem Gebiet eines anderen Volkes niederzulassen, ohne letzteres vorher um seine Zustimmung gebeten zu haben«. Dass dies den Juden allein unter Berufung auf eine weit zurück liegende historische Bindung möglich sein sollte, das wollte dem Rechtsexperten nicht in den Kopf.

Cattan hatte in Paris und London studiert. Er dachte schon in den Kategorien des modernen Völkerrechts. Für ihn stand außer Zweifel: Die Palästinenser hatten als eigenständiges arabisches Volk mit unveräußerlichen Rechten bereits unter der osmanischen Herrschaft existiert. Also stand ihnen nach dem Zusammenbruch dieses Reichs wie jedem anderen Volk das Recht auf Selbstbestimmung zu. Man konnte nicht einfach über sie verfügen. Mit dieser Argumentation drang Cattan indes nicht durch, als er die palästinensische Causa 1947 und 1948 als Delegierter des Arabischen Hochkomitees vor der Uno-Vollversammlung vertrat.

Der palästinensische Rechtsgelehrte war 1906 im Westteil von Jerusalem zur Welt gekommen, der 1992, als er starb, längst zu Israel gehörte. Das Verhängnis für sein Volk hatte seiner Meinung nach schon damit begonnen, dass der Völkerbund mit der Billigung des Palästinamandats 1922 gegen die eigenen moralischen und demokratischen Grundsätze verstieß.26

Die Verwirrung hätte damals jedenfalls größer nicht sein können. Zwei Völker reklamierten Palästina für sich, schon bisher hatten sie sich dabei auf Gott, die Bibel und die Geschichte berufen. Jetzt schlugen ihre Anführer immer häufiger auch nationalistische Töne an. Die Zeichen standen auf Konfrontation. Wie konnte das Schlimmste vermieden, wie Wilsons Ideal nachgelebt werden im Widerstreit der Interessen? Um dieses Problem zu lösen, hat Großbritannien in den fast dreißig Jahren seines Mandats mehr als ein Dutzend Kommissionen bestellt. In wechselnder Zusammensetzung und immer noch kolonialer Manier brüteten erlauchte Gremien Vorschläge aus, die, kaum hatte sie die eine oder andere Seite abgelehnt, wieder in der Schublade verschwanden.

Ein bis heute symptomatischer Vorgang.

Der Staat vor dem Staat

Zwei Nationalbewegungen schaukelten sich gegenseitig auf, die Briten standen dazwischen, lavierten und spielten ein oft riskantes Doppelspiel. Arthur Wauchope war einer der sieben Hochkommissare, die kamen und gingen. Er verglich sich eines Tages sogar mit einem Zirkusartisten, der versucht, auf zwei Pferden gleichzeitig zu reiten, »von denen das eine nicht schnell und das andere nicht langsam laufen kann«.27 Der Schotte übte sein Amt in Palästina von 1931 bis 1938 aus. Ihm muss damals schon klar gewesen sein, welches der beiden »Pferde« nicht mehr zu bremsen war.

Eine neue Dynamik hatten die Zionisten bereits 1901 ins Spiel gebracht, als sie an ihrem fünften Kongress in Basel den Jüdischen Nationalfonds (JNF) gründeten. Der Fonds diente der Bewegung als Drehscheibe des Landerwerbs und der Kolonisierung Palästinas und bildete im Mandatsgebiet bald die »Speerspitze der Zionisierung«, wie der israelische Historiker Ilan Pappe es formuliert.28

Äußere Ereignisse leisteten dieser Entwicklung wiederum Vorschub. In Kischinew, einem Zentrum jüdischer Kultur im Russischen Reich, war es an Ostern 1903 zu einer antisemtischen Hatz gekommen, gegen fünfzig Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt. Unter der judenfeindlichen Politik von Zar Nikolaus II. häuften sich in den nächsten drei Jahren zwischen Weichsel und Dnjepr die Pogrome. In den Bürgerkriegswirren nach der Oktoberrevolution von 1917 sahen sich jüdische Menschen von Wilna bis Odessa erneut an Leib und Leben bedroht, insbesondere durch die konterrevolutionäre Weiße Armee. Hunderttausende von Juden setzten sich in der Folge nach Übersee ab, Zehntausende suchten Zuflucht in Palästina.

Viele Zuzügler aus Osteuropa brachten sozialistisches Gedankengut mit. Sie verknüpften die zionistische Vision mit der Utopie einer gerechten Gesellschaft. Mit diesem Anspruch errichteten zehn Männer und zwei Frauen im Oktober 1910 am Südende des Sees Genezareth den Kibbuz Degania, die erste ländliche Kommune. Das geeignete Grundstück hatte der JNF zur Verfügung gestellt, das Terrain bei Um Juni hatte der Fonds von arabischen Landbesitzern gekauft. Das Beispiel machte Schule. Rund um den See und im Jezreel-Tal, der fruchtbaren Ebene, die auf Arabisch Marj Ibn Amer heißt, entstanden weitere Kollektivsiedlungen.

Privatbesitz war in diesen Siedlungen verpönt, jedes Mitglied erhielt seinen Anteil an Ernte und Ertrag, Haushalt, Kindererziehung und die Vermarktung der landwirtschaftlichen Güter wurden gemeinsam bestritten. Es sollte weder Ausbeuter noch Ausgebeutete geben. Die Beschäftigung billiger arabischer Taglöhner schloss man aus. Das klang idealistisch und hatte für das Kollektiv den Vorteil, dass es bei der Zuteilung von Arbeit jeglicher arabischen Konkurrenz enthoben war. Über Jahrhunderte hatten Juden in Europa unter Berufsverboten gelitten, jetzt wollten sie Arbeit im ganzen Spektrum der Möglichkeiten »erobern«. Unter egalitären Vorzeichen bildeten die Kibbuzniks ihrerseits eine geschlossene Gesellschaft, die bald geschützt werden musste. Kibbuzim wurden zu Wehrdörfern und dienten den zionistischen Milizen mitunter als Waffenlager.

Die Ashkenazim, die osteuropäischen Juden, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einwanderten, stellten die Pioniere des politischen Zionismus in Palästina und die herrschende Schicht in Israel bis heute. Idealtypisch verkörpert diese Generation David Ben Gurion, der zur großen Gründerfigur jener Jahre wurde. Als David Grün war er in Plonsk aufgewachsen, einem Städtchen im Hinterland von Warschau, das damals zum Zarenreich gehörte, von Pogromen verschont geblieben war und sich rühmte, die schönste Synagoge Polens zu haben. Die Mutter starb im Kindsbett, als David, ihr viertes Kind, elfjährig war. Diesen frühen Verlust habe er nie ganz verwunden, bekannte der Sohn später, als ihn die Israeli schon als Vater der Nation verehrten. Als Jugendlicher las er seine ersten zwei Bücher auf Hebräisch: Die Liebe zu Zion von Abraham Mapu und Onkel Toms Hütte von Harriet Beecher-Stowe. Die Titel könnten symbolisch über seinem Leben stehen, meinte Michel Bar-Zohar, einer seiner Biografen.29

Im September 1906 kam David Grün in Jaffa an, noch nicht zwanzigjährig und schon ein glühender Zionist wie sein Vater, ein Rechtsanwalt. Als Sozialist war dem Neuankömmling Gemeinsinn wichtig, allerdings verstand er ihn so, dass ihm recht und billig schien, was dem Yishuv nützte. Obwohl er ein säkularer Jude war, zitierte er gern die Bibel. In Palästina schlug er sich vorerst als Landarbeiter durch, dann wechselte er in den Journalismus und schließlich in die Politik und nannte sich fortan Ben Gurion. Während des Ersten Weltkriegs wiesen ihn die osmanischen Machthaber wegen seiner politischen Aktivitäten aus, er ging in die USA. In New York lobbyierte er in zionistischen Belangen, wie es Weizmann in London tat. Die Balfour-Deklaration setzte dessen diplomatischen Bemühungen die Krone auf. Ben Gurion applaudierte höflich, wies aber sogleich darauf hin, dass der Mist noch keineswegs geführt sei. In einem Wochenblatt der amerikanischen Zionisten schrieb er am 14. November 1917: »England hat etwas Großartiges getan: Es hat unsere Existenz als politische Nation anerkannt und unser Recht auf das Land bestätigt. Aber das hebräische Volk allein kann dieses Recht in eine greifbare Tatsache umwandeln und muss nun mit Leib und Seele, mit seiner Kraft und seinem Kapital die nationale Heimstätte errichten und seine nationale Erlösung vollbringen.«30

Dort der Intellektuelle, der im entscheidenden Moment seine Beziehungen zum britischen Establishment spielen ließ, hier der Praktiker, der sah, wie sehr es darauf ankam, den Mann und die Frau von der Straße für die zionistischen Ziele zu gewinnen – Weizmann und Ben Gurion waren zwei gegensätzliche Charaktere. Das barg die Möglichkeit der Rivalität wie der Ergänzung, beides hörte man bei jener Gelegenheit schon heraus.

Ende August 1918 landete Ben Gurion in Port Said. Er wollte sich der Jüdischen Legion anschließen, den Einheiten von jüdischen Freiwilligen, die zwei russische Landsleute, Zeev Jabotinsky und Joseph Trumpeldor, in Ägypten gebildet hatten, um den Alliierten im Kampf um Palästina beizustehen. Aber eigentlich war die Schlacht schon geschlagen. Im Land, das die Türken eben geräumt hatten, baute Ben Gurion unverzüglich die jüdische Selbstverwaltung auf, den Staat vor dem Staat sozusagen.

1920 gründete Ben Gurion mit Gleichgesinnten den Gewerkschaftsbund Histadrut, der das Prinzip der »jüdischen Arbeit« vom Feld auf die Fabrik übertrug. Zehn Jahre später waren drei Viertel der jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter in Mandatspalästina im Histadrut organisiert, arabische Werktätige konnten bis 1959 nicht Mitglied werden. Zum unternehmerischen Zweig zählten die Bank Hapoalim, die Baufirma Solel Boneh, der Industriekonzern Kur, die landwirtschaftliche Absatzgenossenschaft Tnuva und ähnlichen Betriebe.

Diese Unternehmen hat die Histadrut unterdessen abgestoßen, ihre wirtschaftliche Bedeutung ist geschrumpft; als normale Arbeitnehmerorganisation nimmt sie im heutigen Israel vor allem politisch Einfluss. Bis in die 1980er-Jahre glich sie jedoch mehr einem Konzern als einer Gewerkschaft. Kaum gegründet, war sie zum ökonomischen Riesen geworden, der größten Arbeitgeberin im Land. Als Organisation mit Hang zum Korporatismus stand ihr der Sinn nicht nach Klassenkampf. Dafür bot sie ihren Mitgliedern zwischen Wiege und Bahre allerlei Annehmlichkeiten, versicherte sie gegen Krankheit, öffnete ihnen Schulen und Sportanlagen, Kinos und Theater, Arztpraxen und Altersheime. Und nicht zuletzt vermittelte sie ihnen das Gefühl, Teil einer großen Familie zu sein.31

Zu dieser Familie zählte auch die Untergrundmiliz Haganah, aus der später die israelische Armee hervorging. Sie entstand 1920 als Verbund von paramilitärischen Einheiten. Ihren Kern bildeten die Hashomer, die »Wächter« über die jüdischen Siedlungen, die 1909 gegründet worden waren. Zur Familie stießen zudem verschiedene zionistische Parteien, vor allem die Mapai, die Vorläuferin der heutigen Arbeitspartei, die mit Ben Gurion als erstem israelischem Premier zur staatstragenden Partei werden sollte.

Der 16. Zionistenkongress, abgehalten in Zürich unter dem Vorsitz des damaligen ZWO-Präsidenten Chaim Weizmann, etablierte 1929 dann auch noch die Jewish Agency. Laut dem Mandatsvertrag hatte die Jüdische Agentur die britische Mandatsverwaltung in allen Belangen zu beraten, die mit der Errichtung eines jüdischen »Nationalheims« zusammenhingen. Ihre Exekutive avancierte zur De-facto-Regierung der jüdischen Gemeinschaft in Palästina und diente als Bindeglied zwischen dem Yishuv und der jüdischen Diaspora. Von 1935 bis zum Mai 1948 leitete Ben Gurion auch dieses Organ.

Der klein gewachsene Mann mit dem Wuschelhaar sprach sieben Sprachen, er liebte Plato und fühlte sich zu den Lehren Buddhas hingezogen. Dennoch war ihm »mosaischer Zorn und Prophetengroll und Blutdurst nicht fremd«, wie Karl Hartl, Österreichs erster Gesandter in Israel, nach Wien rapportierte.32 Der junge Ben Gurion habe sich von anderen politischen Aktivisten nicht groß unterschieden, urteilt der israelische Historiker Zeev Sternhell. Zur dominanten Figur sei der aufstrebende Politiker erst als Generalsekretär der Histadrut geworden. Die Machtstruktur, die er in dieser Funktion aufbaute und festigte, habe ihn gleichzeitig gestützt. Geschickt habe er zwischen Parteien, wirtschaftlichen Akteuren und Interessengruppen aller Art manövriert. Aus der Situation heraus habe er wechselnde Koalitionen zustande gebracht. »Sein Erfolg war das direkte Resultat dieser außerordentlichen Fähigkeit«, schreibt Sternhell in seiner Analyse der Gründungsmythen des jüdischen Staates.33

»Die israelische Arbeiterbewegung war eine Ad-hoc-Erfindung zur Erreichung der Unabhängigkeit, nicht mehr«, schob der Spezialist für Ideengeschichte kürzlich in der Zeitung Haaretz nach. Die Einschätzung verband Sternhell mit dem Rat an Israels heutige Linke, endlich den Aufbruch zu wagen und sich dabei eher an westlichen Modellen zu inspirieren als an der eigenen Vergangenheit.34

Die Fellachen verlieren ihr Land

Die jüdische »Eroberung der Arbeit«, die Ben Gurion seinerzeit propagierte, ging einher mit dem Landerwerb, der »Erlösung des Bodens«, wie es im religiösen Jargon der Siedler hieß.35 Die zionistischen »Erlöser« nutzten dabei die Geschäftstüchtigkeit lokaler Akteure. 1858 hatte Konstantinopel nämlich ein revidiertes Bodenrecht in Kraft gesetzt. Unter dem Druck europäischer Großmächte hatte die Hohe Pforte die Sicherheit in ihrem Herrschaftsgebiet erhöht und Eigentumstitel vermehrt an Private veräußert. Mit einiger Verzögerung wirkten sich die Reformen auch auf Palästina aus. Rashid Khalidi, ein weiterer Geschichtsforscher aus dem bekannten Jerusalemer Geschlecht, hat den Vorgang dokumentiert. Lokale Scheichs, Steuereintreiber und betuchte Angehörige der städtischen Oberschicht in Jaffa, Haifa, Beirut und Damaskus ließen größere Flächen, manchmal auch ganze Dörfer oder Landstriche als ihr persönliches Eigentum registrieren. Für den Handwechsel wurden oft »lächerliche Summen« bezahlt, stellt Khalidi fest. Die Herrschaften waren arabischer, persischer, griechischer oder sonst einer Herkunft, die im osmanischen Völkergemisch denkbar war. Meist hatten sie nichts dagegen, die günstig erworbenen Grundstücke gegen Gewinn wieder loszuschlagen.36

Die spekulative Spirale drehte sich vornehmlich entlang der Mittelmeerküste zwischen Haifa und Jaffa, im Marj Ibn Amer, dem Tal, das sich von Haifa aus ostwärts bis nach Beisan zieht, sowie in der Gegend bei Tiberias am See Genezareth. Jüdische Investoren boten mit. Baron Edmond de Rothschild steckte von 1882 an ein Vermögen in Ländereien in der Küstenebene und legte so den Grundstein für das Dorf Zichron Yakoov und die Stadt Rishon Letzion. Die Mittelsmänner des französischen Mäzens sollen sich nicht gescheut haben, osmanische Beamte zu schmieren, wenn ihnen ein für den Weinanbau besonders geeignetes Terrain ins Auge gestochen war.

Das Land, das plötzlich zum Objekt der Begierde wurde, war bisher Staatsland gewesen. Fellachen, arabische Pachtbauern, hatten dort über Jahrhunderte die Felder bestellt, Beduinen ihre Herden auf die Weiden geführt. Die Fellachen hatten das Gebiet häufig auf gemeinschaftlicher Basis genutzt, ähnlich wie Bauern in der Schweiz einst die Allmenden bewirtschafteten. Die Nutzungsrechte waren ungeschrieben gewesen, aber sie hatten gegolten, solange die Nutzer die geschuldeten Abgaben leisteten. Jetzt löste ein auf schriftlichen Abmachungen beruhendes Marktsystem die alten Gepflogenheiten ab.

Vorerst geschah das sanft. Meistens änderte sich für die Fellachen nur der Adressat der Pachtzahlungen, die Pacht konnten sie behalten. Hin und wieder setzten die neuen Eigentümer jedoch auch neue arabische Pächter ein. Dann gab es rote Köpfe und Radau, bis ein Kompromiss gefunden war. Sogar die jüdischen Siedler des ersten Einwanderungsschubs, der Aliyah von 1882 bis 1903, hielten sich mehr oder minder an diese Regeln. Diese Siedler seien noch »pragmatisch und verhältnismäßig unideologisch« gewesen, schreibt Rashid Khalidi. Als Grundbesitzer hätten sie die Fellachen zwar enteignet, sie dann aber weiterbeschäftigt in plantagenartigen Niederlassungen, in denen wenige jüdische Aufseher viele arabische Handlanger anleiteten.37 Ein Baron de Rothschild, Patron der alten Schule, gehörte wohl in diese Kategorie.

Die Siedler der zweiten Aliyah kamen zwischen 1904 und 1914 an, jene der dritten Aliyah zwischen 1919 und 1923. Sie gingen zielstrebiger vor. Nach dem Prinzip der »jüdischen Arbeit«, dem die zionistischen Pioniere jener Phase anhingen, wurden arabische Arbeiter nicht mehr ausgebeutet, sondern schlicht ersetzt. Bei der »Erlösung des Bodens« hielten sich der Jüdische Nationalfonds und andere zionistische Organisationen fortan an den Grundsatz, dass einmal erworbenes Land niemals an Nichtjuden – lies Araber – zurückfallen dürfe.

Mit Spenden des jüdischen Volkes kaufte der JNF in Palästina Land, das dort ausschließlich Juden zugutekommen sollte. Den Erwerb von Boden und die damit verbundene treuhänderische Tätigkeit betrachtete der Fonds als nationale Aufgabe. Zu dem Zweck schickte er Makler aus, die mit den Effendis, den oft in großer Entfernung lebenden Grundbesitzern, handelseinig zu werden suchten. War ein bestimmtes Grundstück in den Besitz des JNF übergegangen, mussten die einheimischen Pächter sofort das Feld räumen, selbst wenn ein Teil des überschriebenen Terrains danach ungenutzt blieb.38

Das war nun nicht mehr ein sanfter Wandel, sondern ein Bruch mit der Tradition. Die ansässige Bevölkerung wehrte sich. Rashid Khalidi, Inhaber des Edward-Said-Lehrstuhls für moderne arabische Studien an der Columbia University, illustriert es mit einem Beispiel, das Schlagzeilen machte:39

Die Sursuq, eine griechisch-orthodoxe Familie mit Wurzeln in Byzanz, waren Mitte des 18. Jahrhunderts in den Libanon eingewandert. Mit dem Handel von Weizen und Baumwolle, den sie von Beirut aus betrieben, hatten sie es zu Reichtum gebracht. 1872 hatten sie von der osmanischen Regierung viel palästinensisches Land für wenig Geld erstanden. Für 230 000 Dunam (rund 230 Quadratkilometer) hatten sie den Spottpreis von 20 000 türkischen Pfund bezahlt. Der Boden lag hauptsächlich in der Ebene des Marj Ibn Amer, aber auch am See Genezareth. Der jährliche Erlös, den die Beiruter Familie in den nächsten Jahren aus diesen Besitzungen zog, soll so hoch gewesen sein wie der ursprüngliche Kaufpreis. Dann begann Yehoshua Hankin, ein aus Russland eingewanderter Zionist, für den Jüdischen Nationalfonds ein Stück Land nach dem andern zu »erlösen«. In Elias Sursuq, einem Erben der Beiruter Handelsdynastie, fand er einen willigen Partner.

Im Lauf des Jahres 1910 verkaufte Sursuq dem JNF unter anderem knapp 10 000 Dunam (10 Quadratkilometer), die zu al-Fula gehörten. Das arabische Dorf lag südlich von Nazareth, mitten im Marj Ibn Amer. Sein Ackerland galt als das beste, das man in Palästina haben konnte. Der JNF wollte es gleich in Beschlag nehmen, die betroffenen Fellachen widersetzten sich. Zwar waren die meisten von ihnen Analphabeten. Doch Shukri al-Asali, Spross einer prominenten Familie aus Damaskus, verlieh ihnen Sprache. Asali war der Gouverneur von Nazareth, Statthalter der Hohen Pforte in diesem Bezirk. Überdies war er ein versierter Redner und Journalist. Zuerst weigerte er sich, die Änderung in den Eigentumsverhältnissen zu beurkunden. Die Transaktion war in Beirut vereinbart worden. Arthur Ruppin, der Leiter des Palästinaamtes in Jaffa und Verbindungsmann des JNF, musste dort persönlich vorstellig werden, um den osmanischen Grundbuchbeamten Beine zu machen. Daraufhin griff Asali zur Feder. In einer wichtigen Oppositionszeitung in Damaskus platzierte er im Dezember 1910 einen offenen Brief. Es war eine kritische Auseinandersetzung mit den lokalen Machtspielen, nicht zufällig war der Text mit »Salah ad-Din al-Ayyoubi« unterzeichnet. Saladin heißt der siegreiche