Narconomics - Tom Wainwright - E-Book

Narconomics E-Book

Tom Wainwright

0,0
15,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was haben Coca-Cola, McDonald’s und der internationale Drogenhandel gemeinsam?

Der Drogenhandel ist ein globalisiertes, vernetztes und hoch professionalisiertes Geschäftsfeld mit einem Jahresumsatz von 300 Milliarden Dollar, Tendenz steigend. Wie man sich als aufstrebendes Kartell ein Stück vom Kuchen sichert? Indem man von den Besten des Big Business lernt. Denn die Strategien, die für Konzerne wie H&M, Coca-Cola und McDonald’s funktionieren, haben sich längst auch international erfolgreiche Drogenbarone angeeignet – von der richtigen PR über Offshoring, Assessment-Center und E-Commerce.

In Narconomics vollzieht Wirtschaftsjournalist Wainwright die Wertschöpfungskette von Drogen wie Kokain nach, von der Koka-Ernte in den Anden bis zum Verkauf an unseren Straßenecken. Jahrelange Recherchen, gefahrenreiche Reisen zu den Brennpunkten des Drogenhandels und Interviews mit Beteiligten, ob minderjähriger Profikiller in den Straßen von Mexico City oder Polizist, Ganglord oder Staatspräsident, haben Wainwright tiefe Einblicke in eine einzigartig einträgliche und tödliche Branche beschert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 415

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Der Drogenhandel ist ein globalisiertes und hoch professionalisiertes Geschäftsfeld – Jahresumsatz 300 Milliarden Dollar, Tendenz steigend. Wie man sich als aufstrebendes Kartell ein Stück vom Kuchen sichert? Indem man von den besten des Big Business lernt. Die Strategien, die für Konzerne wie H&M, Coca-Cola und McDonald’s funktionieren, haben sich längst auch die Drogenbarone angeeignet. In Narconomics vollzieht der Wirtschaftsjournalist Tom Wainwright die Wertschöpfungskette von Drogen wie Kokain nach, von der Kokaernte in den Anden bis zum Verkauf an unseren Straßenecken. Sein Fazit: Nicht allein die Verbrechen – Korruption, Schmuggel, Mord – sollten bekämpft werden. Wer die Kartelle in die Schranken weisen will, muss sie auch als Wirtschaftsunternehmen be- und angreifen.

Zum Autor

Tom Wainwright, geboren 1982, studierte Philosophie, Politik- und Wirtschaftswissenschaft in Oxford. 2010 zog er nach Mexico City, um als Korrespondent für den Economist aus Mittelamerika, der Karibik, Mexiko und dem Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA zu berichten. Zuvor schrieb er bereits über Themen wie Kriminalität und Soziales, seine Artikel erschienen u. a. in der Times und dem Guardian. Seine Kolumne »Narconomics« erzeugte großes Echo. Wainwright lebt heute in London.

TOM WAINWRIGHT

NARCONOMICS

EIN DROGENKARTELL

ERFOLGREICH FÜHREN

Aus dem Englischen

von Henning Dedekind

BLESSING

Titel der Originalausgabe: Narconomics –

How to Run a Drug Cartel

Originalverlag: PublicAffairs, Perseus Book Group, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2016 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2016 der Originalausgabe by Tom Wainwright

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie

Umschlagabbildungen: plainpicture/Hanka Steidle; mauritius images/Keith Dannemiller/Alamy; shutterstock/Alex Malikov

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-16174-3V001

www.blessing-verlag.de

»Gauner kennen diese Tricks längst.

Ehrliche Menschen müssen sie zur Selbstverteidigung lernen.«

Darrell Huff, Wie lügt man mit Statistik

INHALT

EINLEITUNG

Die Kartell-GmbH

1  DIE KOKAINLIEFERKETTE

Der Kakerlaken-Effekt und die 30 000-Prozent-Handelsspanne

2  KONKURRENZ VERSUS ABSPRACHE

Warum Merger oft besser sind als Morde

3  PERSONALPROBLEME EINES DROGENKARTELLS

Wenn James Bond auf Mr. Bean trifft

4  ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND DIE MAD MEN VON SINALOA1

Warum Kartelle auf soziale Verantwortung setzen

5  OFFSHORING

Die Miskitoküste lockt Geschäftskunden mit Vergünstigungen

6  FRANCHISING – DIE VOR- UND NACHTEILE

Was die Drogenmafia von McDonald’s gelernt hat

7  INNOVATIV UND DEM GESETZGEBER VORAUS

Forschung und Entwicklung in der Abteilung Legale Rauschmittel

8  BESTELLEN SIE IHRE LINE DOCH ONLINE

Wie Einkaufen im Internet den Kundenservice der Drogenhändler verbessert

9  NEUE GESCHÄFTSFELDER AUF NEUEN MÄRKTEN

Vom Drogen- zum Menschenschmuggel

10  DER KREIS SCHLIESST SICH

Wie Legalisierung die Drogenkartelle gefährdet

FAZIT

Warum Ökonomen die besten Polizisten abgeben

Danksagung

Anmerkungen

EINLEITUNG

Die Kartell-GmbH

Meine Damen und Herren, willkommen in Ciudad Juárez, die Ortszeit ist 8 Uhr morgens.« An einem kühlen Novembermorgen auf einer Rollbahn in der mexikanischen Wüste fummelt an Bord des Interjet-Flugs 2283 ein Passagier nervös an einem kleinen Päckchen herum, das er in seiner Socke versteckt hat, und fragt sich, ob er nicht einen schrecklichen Fehler begangen hat. Juárez, eine pulsierende Grenzstadt mit sengend heißen Tagen und eiskalten Nächten, ist der Hauptumschlagplatz für Kokain, das in die Vereinigten Staaten gelangt. Die Stadt, die sich exakt auf halbem Weg zwischen dem Pazifik und der Golfküste an die Drahtzäune der texanischen Grenze drängt, war lange ein beliebter Schmugglertreff: ein Ort, wo illegale Vermögen gemacht und für schnelle Autos und protzige Villen verschwendet werden. In aller Regel fließen binnen Kürze weitere Unsummen in spektakuläre Mausoleen. Der nervöse Passagier, der jetzt auf seinem Weg zum Terminal in die Morgensonne blinzelt und die Soldaten in Tarnuniform und Sturmhaube mustert, die am Ausgang Wache stehen, ist jedoch kein Drogenkurier. Der Passagier bin ich.

Im Terminal suche ich die nächste Toilette auf, schließe mich in einer Kabine ein und ziehe das Päckchen hervor: ein kleines schwarzes elektronisches Gerät etwa von der Größe eines Feuerzeugs, mit einem einzigen Knopf und einer LED-Leuchte. Einige Tage zuvor habe ich es in Mexiko-Stadt von einem Sicherheitsberater erhalten, der fürchtete, dass der naive junge británico, den er da vor sich hatte, auf seinem Trip nach Juárez baden gehen könnte. Bei meinem allerersten Besuch dort hat sich die Stadt gerade den Titel der »mörderischsten Stadt der Welt« verdient. In der kolonialen Innenstadt und in den Betonslums spielen die Auftragskiller rivalisierender Kartelle ein tödliches Versteckspiel. Hinrichtungen auf offener Straße, Massengräber und erfinderische neue Formen der Zerstückelung füllen die örtlichen Zeitungsberichte und Fernsehnachrichten. Insbesondere neugierige Journalisten verschwinden, wie Mumien eingewickelt in Klebeband, häufig in Kofferräumen. In Juárez darf man nichts riskieren. Deshalb, erklärte der Berater, als er mir das Gerät übergab, solle ich bei meiner Ankunft auf den Knopf drücken, warten, bis die LED aufleuchtet, und das Gerät in meiner Socke verstecken. Solange die LED blinke, könne er, falls es mir nicht gelingen sollte einzuchecken, jederzeit meine Position orten – oder zumindest die meines rechten Beins.

In der Kabine nehme ich das Tracking-Gerät leise heraus, drehe es in der Hand um und drücke den Knopf. Dann warte ich. Das Licht bleibt aus. Irritiert drücke ich noch einmal. Nichts. Ich schüttle das Gerät, klopfe darauf, halte den Knopf gedrückt, doch was auch immer ich in den nächsten paar Minuten versuche, um den kleinen Apparat zum Leben zu erwecken, bleibt ohne Erfolg: Die Lampe will einfach nicht blinken. Schließlich stecke ich das nutzlose Ding zurück in meine Socke, nehme meine Sachen und mache mich vorsichtig auf den Weg nach draußen, in die Straßen von Ciudad Juárez. Das Gerät ist tot, und ich bin ganz auf mich gestellt.

Diese Geschichte handelt davon, was geschah, als ein nicht besonders mutiger Wirtschaftsjournalist damit beauftragt wurde, über die exotischste und brutalste Branche der Welt zu schreiben. Ich kam im Jahr 2010 in Mexiko an, als der Staat gerade den Drogencowboys den Kampf angesagt hatte, die mit ihren vergoldeten Kalaschnikows manche Landesteile in fast anarchische Zustände gestürzt hatten. Die Anzahl der 2010 in Mexiko ermordeten Menschen überstieg die 20 000 und lag damit etwa fünfmal so hoch wie in gesamt Westeuropa.1 Das Jahr darauf war noch gewaltsamer. In den Nachrichten wurde kaum noch über etwas anderes berichtet: jede Woche neue Geschichten von korrupten Polizisten, Attentaten auf Beamte und zahllosen Massakern an narcotraficantes, die sich gegenseitig abknallten oder von der Armee aufgebracht wurden. Dies war der »War on Drugs«, der sogenannte Krieg gegen die Drogen, und es war klar, dass die Drogen gewinnen würden.

Ich hatte gelegentlich aus Sicht der Konsumenten in Europa und in den Vereinigten Staaten über Drogen geschrieben, doch hier in Lateinamerika wurde ich nun mit dem grausigen Lieferverkehr der Drogenindustrie konfrontiert. Je mehr ich über el narcotráfico schrieb, desto mehr stellte ich fest, woran mich das Ganze am meisten erinnerte: an ein globales, straff organisiertes Geschäft. Dessen Produkte werden entworfen, hergestellt, transportiert und an eine Viertelmilliarde Konsumenten auf der ganzen Welt vermarktet und verkauft. Der Jahresumsatz beläuft sich auf rund 300 Milliarden Dollar, Tendenz steigend.2 Die Leute, die in diesem Wirtschaftszweig tätig sind, erscheinen mit ihren monströsen Spitznamen wie finstere Glamour-Gestalten (ein Mann in Mexiko wurde El Comeniños, »der Kinderfresser«, genannt), doch wenn ich sie persönlich kennenlernte, erinnerten mich ihre Prahlerei und ihre Klagen in erster Linie an die Manager großer Unternehmen. Der Kopf einer blutdürstigen Bande in El Salvador, der in seiner stickigen Gefängniszelle mit der Größe des Gebiets angab, das seine compañeros draußen beherrschten, leierte Plattitüden über ein neues Bandenabkommen herunter, die direkt aus dem Mund eines Geschäftsführers hätten stammen können, der eine Fusion ankündigt. Ein korpulenter bolivianischer Bauer, der Koka anpflanzte – den Grundstoff für Kokain –, sprach von seinen gesunden jungen Sträuchern mit der ganzen Begeisterung, dem Stolz und der Fachkenntnis eines professionellen Gärtners. Immer wieder berichteten die rücksichtslosesten Kriminellen mir gegenüber von denselben profanen Problemen, die auch anderen Unternehmen das Leben schwer machen: Personalführung, die Umschiffung staatlicher Auflagen, die Suche nach zuverlässigen Lieferanten und der Umgang mit Konkurrenten.

Auch ihre Kunden haben dieselben Bedürfnisse wie gewöhnliche Konsumenten. Wie die Kundschaft anderer Geschäftsfelder suchen sie nach Bewertungen neuer Produkte, bevorzugen zunehmend den Online-Einkauf und erwarten von ihren Dealern sogar ein gewisses Maß an »gesellschaftlicher Unternehmensverantwortung«. Als ich im Internet das »Dark Web« erforschte, wo man Drogen und Waffen mit Bitcoins anonym kaufen kann, hatte ich es einmal mit einem Händler für Crystal-Meth-Pfeifen zu tun, der so aufmerksam wie ein Amazon-Mitarbeiter war. (Halt, das nehme ich zurück. Er war wesentlich hilfreicher.) Je genauer ich die weltweite Drogenindustrie betrachtete, desto mehr fragte ich mich, was wohl geschehen würde, wenn ich darüber berichtete, als wäre sie eine Branche wie jede andere. Das Ergebnis ist dieses Buch.

Eines der ersten Dinge, die mir auffielen, während ich den Drogenhandel mit den Augen eines Ökonomen betrachtete, war, dass viele beeindruckend klingende Zahlen, die von den Anti-Drogen-Behörden genannt werden, schlicht keinen Sinn ergeben. Kurz nach meiner Ankunft in Mexiko wurde in Tijuana ein riesiges Rauschgift-Freudenfeuer entzündet. Soldaten entfachten einen Kienspan und traten dann einen gutes Stück zurück, als 134 Tonnen Marihuana in dicken, beißenden Rauch aufgingen. Das geheime Depot, das man in einem Lagerhaus am Stadtrand in sechs Überseecontainern verborgen entdeckt hatte, stellte den größten Drogenfund in der Geschichte des Landes dar. Die Ware war lieferfertig, gepresst und abgepackt in 15 000 Pakete von der Größe eines Sandsacks, die mit Tieren, Smileys und Bildern von Homer Simpson versehen waren. Solche Logos verwenden Dealer als Kennzeichnung dafür, wohin ihre Produkte geschickt werden sollen. Die Pakete wurden geprüft, gewogen und fotografiert. Danach wurden sie gestapelt, mit Diesel bespritzt und in Brand gesteckt. Eine Menschenmenge sah zu, während Soldaten mit Maschinengewehren dafür sorgten, dass niemand in Windrichtung der bewusstseinserweiternden Feuersbrunst geriet. General Alfonso Duarte Mugica, der regionale Befehlshaber der mexikanischen Armee, verkündete stolz, der qualmende Haufen habe einen Wert von 4,2 Milliarden Pesos gehabt, was damals etwa 340 Millionen US-Dollar entsprach. Manche Zeitungen in den Vereinigten Staaten gingen sogar noch weiter und berichteten, der Fang sei eher eine halbe Milliarde Dollar wert, danach gerechnet, was die Drogen in Amerika hätten einbringen können.

Nach jeder halbwegs vernünftigen Analyse lagen beide jedoch meilenweit daneben. General Duartes Berechnung scheint auf der Annahme zu beruhen, dass der Preis für ein Gramm Marihuana in Mexiko etwa 3 Dollar beträgt. Multipliziert mit 100 Tonnen, erhält man einen Gesamtwert von rund 300 Millionen. In Amerika kostet ein Gramm vielleicht eher 5 Dollar, weshalb man so auf eine Schätzung von einer halben Milliarde kommen kann. Die Logik klingt recht überzeugend, selbst wenn die Zahlen nur Näherungswerte sind. Das Ganze ist jedoch irreführend. Nehmen wir ein anderes begehrtes lateinamerikanisches Exportgut: argentinisches Rindfleisch. In einem Restaurant in Manhattan kostet ein Acht-Unzen-Steak (etwa 230 Gramm) vielleicht 50 Dollar, also 22 Dollar das Gramm. Nach der Logik von General Duarte würde das bedeuten, dass eine Kuh mit dem Gewicht einer halben Tonne über 100 000 Dollar wert wäre.

Eine Kuh muss man schlachten, zerlegen, verpacken, verschiffen, abhängen, grillen und servieren, bevor sie 50 Dollar pro Scheibe wert ist. Aus diesem Grund würde kein für die Fleischindustrie tätiger Analyst den Preis einer lebendigen Kuh, die auf der argentinischen Pampa grast, anhand von Daten aus der New Yorker Gastronomie berechnen. Doch genau so wird der Wert von beschlagnahmtem Heroin in Afghanistan oder abgefangenem Kokain in Kolumbien bisweilen berechnet. In der Realität müssen Drogen und Rindfleisch eine lange Wertschöpfungskette durchlaufen, bis sie ihren endgültigen »Straßenpreis« erreichen. Mag sein, dass man in einem mexikanischen Nachtclub 3 Dollar für ein Gramm Marihuana bekommt oder 5 Dollar in einem amerikanischen College-Schlafsaal. Doch versteckt in einem Lagerhaus in Tijuana, ist es weitaus weniger wert – es muss noch über die Grenze geschmuggelt, in handelsübliche Portionen abgepackt und an die Konsumenten verkauft werden. Die besten verfügbaren Schätzungen legen nahe, dass der Großhandelspreis für Marihuana in Mexiko bei etwa 80 Dollar pro Kilo liegt, also lediglich 8 Cent pro Gramm.3 Zu diesem Preis wäre das geheime Depot in Tijuana also eher 10 Millionen Dollar wert gewesen – wahrscheinlich sogar weniger, da jemand, der 100 Tonnen eines illegalen Produkts versteckt, dieses vermutlich nicht kiloweise verkaufen kann. Der Drogenfund in Tijuana war ein Riesending, und zweifellos mussten in dem Kartell, das die Ware verlor, buchstäblich ein paar Köpfe rollen. Der 340-Millionen-Dollar-Schlag gegen das organisierte Verbrechen, über den die meisten Zeitungen berichteten, war jedoch reine Fantasie: Der tatsächliche Schaden für die Kriminellen, denen das Marihuana-Depot gehörte, betrug vermutlich weniger als 3 Prozent dieser Summe.

Wenn Schätzungen hinsichtlich des Werts eines einzigen großen Drogenfunds in einem Lagerhaus in Tijuana derart unrealistisch waren, was könnte man dann noch alles herausfinden, wenn man den Drogenhandel aus einer vollkommen anderen Perspektive betrachtete und grundlegendes Wirtschaftswissen anwendete, fragte ich mich. Wenn wir noch einmal einen Blick auf die Kartelle werfen, werden weitere Ähnlichkeiten mit legalen Unternehmen deutlich. Kolumbianische Kokainproduzenten sichern ihre Profite dadurch, dass sie ihre Versorgungsketten gestrafft haben, ganz ähnlich wie Walmart. Mexikanische Kartelle haben auf Franchise-Basis expandiert, mit demselben Erfolg wie McDonald’s. In El Salvador haben die einst tödlich verfeindeten tätowierten Straßenbanden entdeckt, dass Zusammenarbeit manchmal profitabler ist als Wettbewerb. Karibische Kriminelle nutzen die stinkenden Gefängnisse der Insel als Arbeitsvermittlungen, um ihren Personalbedarf zu decken. Wie andere große Firmen experimentieren inzwischen auch Drogenkartelle mit Produktionsverlagerung ins Ausland, was ihre Probleme in neue, anfälligere Länder trägt. Sie versuchen, ihr Geschäftsfeld zu erweitern, was auch die meisten anderen Unternehmen tun, wenn sie eine gewisse Größe erreicht haben. Nicht zuletzt stellt das Online-Geschäft eine neue Herausforderung dar: Dort sind auch die Kartelle längst präsent – wie der ganz gewöhnliche Einzelhandel.

Volks- und betriebswirtschaftliche Analysemethoden auf Drogenkartelle anzuwenden mag zunächst unerhört erscheinen. Das Versagen, die Ökonomie der Drogenkartelle zu begreifen (und weiterhin Fantasiezahlen zu verbreiten wie das 500-Millionen-Dollar-Feuer in Tijuana), hat jedoch dazu geführt, dass die Regierungen Geld und Menschenleben in Maßnahmen investieren, die nicht funktionieren. Die Steuerzahler dieser Welt geben jährlich über 100 Milliarden Dollar für die Bekämpfung des Rauschgifthandels aus. Amerika stellt allein auf Bundesebene an die 20 Milliarden im Jahr zur Verfügung, verzeichnet 1,7 Millionen Festnahmen wegen Drogendelikten und schickt eine Viertelmillion Menschen ins Gefängnis.4 In Ländern, die Drogen produzieren und verkaufen, haben Militäroffensiven gegen die Branche zu schwindelerregenden Opferzahlen geführt. Die Mordrate in Mexiko, wenngleich beängstigend, ist nicht so hoch wie die manch anderer Länder entlang der Kokainroute, wo jedes Jahr Tausende mehr im Drogenkrieg ermordet werden. Die öffentlichen Investitionen sind hoch und die Beweise, um diese zu rechtfertigen, fadenscheinig.

Als ich der Drogenhandelsroute folgte, stellte ich fest, dass Regierungen von La Paz bis London immer wieder dieselben vier großen ökonomischen Fehler begehen. Erstens liegt das Hauptaugenmerk auf einer Unterdrückung der Produktion, obwohl es zum Wirtschaftsgrundwissen gehört, dass eine Steuerung der Nachfrage wesentlich sinnvoller wäre. Die Behinderung des Nachschubs hat weniger zu einem Konsumtief als vielmehr zu Preissteigerungen und einem letztendlich noch profitableren kriminellen Markt geführt. Zweitens herrscht ein beharrliches und vernichtendes Kurzzeitdenken vor: Die Regierungen sparen bei frühen Investitionen und nehmen dafür höhere Ausgaben zu einem späteren Zeitpunkt in Kauf. Die Rehabilitierung von Gefangenen, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Suchtbehandlung zählen zu den ersten Bereichen, in denen gekürzt wird, wenn das Budget knapp wird. Die Grenzsicherung, die bei höheren Kosten zum selben Ergebnis führt, muss hingegen nicht um Mittel fürchten. Drittens finden die meisten Versuche, das Problem in den Griff zu bekommen, immer noch auf hoffnungslos nationaler Ebene statt, wiewohl die Drogenkartelle weltweit über Grenzen hinweg agieren. Das Resultat ist, dass das Geschäft überlebt, indem es von einem Rechtsraum zum anderen schlüpft und die unkoordinierten Versuche einzelner Staaten damit lässig umgeht. Der schwerwiegendste Fehler ist schließlich, dass Regierungen Prohibition irrigerweise mit Kontrolle verwechseln. Drogen zu verbieten, was zunächst vernünftig erscheint, hat die Exklusivrechte einer Multimilliarden-Dollar-Industrie den rücksichtslosesten Verbrechernetzwerken der Welt übertragen. Je mehr ich darüber erfuhr, wie die Kartelle ihr Geschäft betreiben, desto mehr fragte ich mich, ob eine Legalisierung nicht das Aus für sie bedeuten würde.

Die folgenden Kapitel werden diese Argumente mit Leben füllen. Unterm Strich jedoch gilt: Die nächsten Schritte der Kartelle vorherzusehen und dafür zu sorgen, dass im Kampf gegen sie nicht Geld und Menschenleben verschwendet werden, ist leichter, wenn man akzeptiert, dass sie wie ganz gewöhnliche multinationale Unternehmen betrieben werden. Dieses Buch ist ein Wirtschaftsleitfaden für Drogenbarone. Es ist aber auch eine Blaupause dafür, wie man sie besiegen kann.

1  DIE KOKAINLIEFERKETTE

Der Kakerlaken-Effekt und die 30 000-Prozent-Handelsspanne

»Mein Name ist Bin Laden.«

Ein nieseliger Frühlingstag in La Paz, der Hauptstadt von Bolivien, deren Höhenlage dem Besucher Kopfschmerzen verursacht. Ich habe mich in einem Eingang untergestellt und warte auf eine Mitfahrgelegenheit in die Berge. Der Wagen ist gerade vorgefahren – ein dunkelgrauer Toyota Land Cruiser, dessen Heckverglasung mit Folie abgedunkelt ist, die sich an den Ecken löst. Der Fahrer steigt aus und stellt sich vor. »Deshalb nennen sie mich Bin Laden«, erklärt er und zupft am Ende eines buschigen, pechschwarzen Barts, der erst gute 15 Zentimeter unter seinem Kinn endet. »Sie sind der Mann, der sehen will, wo wir das coca anpflanzen, richtig?«

Der bin ich. Hier in den Anden hat der Kokainhandel, ein weltweites Geschäft mit einem Umsatz von grob 90 Milliarden Dollar jährlich, seine Wurzeln. Kokain wird in jedem Land der Erde konsumiert, doch praktisch jedes einzelne Krümelchen stammt aus einem von drei Ländern in Südamerika: Bolivien, Kolumbien und Peru. Die Droge, die man als Pulver schnupfen oder in Form von kristallinem »Crack« rauchen kann, wird aus der Kokapflanze hergestellt, einem widerstandsfähigen Strauch, der vor allem am Fuße der Anden beheimatet ist. Hier in Bolivien möchte ich mir ansehen, wie Koka angebaut wird, und mehr über die Geschäfte am Anfang der langen, gewalttätigen und unglaublich gewinnträchtigen Lieferkette des Kokainhandels erfahren.

Ich steige hinten in den Land Cruiser ein und frage mich, ob ich das Fenster öffnen soll. Wenn ich es öffne, regnet es rein, lasse ich es geschlossen, wird der Gestank eines lecken Benzinkanisters im Kofferraum hinter mir immer schlimmer. Ich entscheide mich dafür, es etwas herunterzukurbeln, und rutsche in die Mitte der Sitzbank, um trocken zu bleiben. Wir fahren los, von 3 000 auf 3 500 Meter. Als wir das bolivianische altiplano erreichen, das Hochplateau der Anden, befinden wir uns auf über 4 000 Meter Höhe, fast dreimal so hoch wie Kathmandu. Das Auto grummelt, während Bin Laden, der gelegentlich vor sich hin singt, aber nur sehr wenig spricht, es um eine Kurve nach der anderen jagt. Wir fahren durch die Wolken, die, wenn sie aufreißen, einen kurzen Blick auf die Schneeflächen auf der anderen Seite des Tals freigeben.

In Bolivien gibt es zwei Hauptanbaugebiete für Koka: die Provinz Chapare, eine tropische Region im Landesinneren, wo der Anbau in den vergangenen Jahrzehnten des Kokainbooms intensiviert wurde, und die Yungas, ein warmes Waldgebiet im Nordosten der Hauptstadt, wo die Menschen das Blatt seit Jahrhunderten anbauen. Wir sind unterwegs zu den Yungas. Während wir langsam ins Tal hinunterfahren, wird die Luft wärmer und der kahle Fels der Berghänge ist erst mit Moos, dann mit einer dichten Decke aus Farnen bewachsen. Ich konzentriere mich auf den Blick über das Tal und versuche dabei, nicht an die Yungas-Straße zu denken, die ziemlich grauenerregend ist. Die von den Einheimischen camino de la muerte – Straße des Todes – genannte Strecke ist eine schmale Schotterpiste, zu deren Rechten eine bröckelige Felswand aufragt. Links gähnt eine mehrere Hundert Meter tiefe Schlucht. Fröhlich steuert Bin Laden den Land Cruiser um unübersichtliche Kurven (und geradewegs durch einen kleinen Wasserfall), während ich den Türgriff umklammert halte, damit ich abspringen kann, falls der Wagen in den Abgrund rutscht.

»Bin Laden«, der Fahrer, blickt über den Rand der »camino de la muerte« (Straße des Todes) auf dem Weg zu einer Kokaplantage in den bolivianischen Anden. © Tom Wainwright

Zum Glück geschieht aber nichts dergleichen. Nach stundenlanger Fahrt, in deren Verlauf auch ein kleiner Erdrutsch von Hand beseitigt werden muss, erreichen wir schließlich unser Ziel. Vielleicht liegt es daran, dass meine Nerven von der aufreibenden Reise etwas strapaziert sind, doch Trinidad Pampa, ein 5 000-Einwohner-Dorf aus Beton- und Wellblechhütten, wirkt auf mich wie das Paradies. Keine Abgründe am Straßenrand, nur Bananenstauden. Im Norden und im Süden sind die steilen Hänge des Tals sorgfältig terrassiert worden. Jede Ebene ist nur ein paar Meter tief. Dahinter reichen höhere Berge bis in Wolken, die unter einem dunkelblauen Himmel hängen. Ich steige aus dem Wagen in einen warmen Nachmittag, froh, meine Beine ausstrecken zu können, und gehe zu einer Pflanzung am Ortsrand. Es gibt keinen Zweifel daran, was für Sträucher hier gedeihen. Zarte, mandelförmige Blätter an dünnen Ästchen wachsen aus dickeren Strünken hervor, die behutsam in die rötliche Erde gesetzt worden sind. Das ist Koka, das Milliarden-Dollar-Blatt, dessentwegen jedes Jahr Tausende von Menschen ermordet werden. Terrasse um Terrasse schiebt sich die Pflanzung wie eine lange grüne Leiter den Berghang hinauf.

An der Kreuzung in der Ortsmitte treffe ich mich mit Édgar Marmani, dem Vorsitzenden der lokalen Kokabauernvereinigung. Er kommt direkt vom Feld, mit erdigen Händen und Gummistiefeln. Eine Gewerkschaft für Drogenpflanzer? In fast allen anderen Ländern der Welt wäre so etwas illegal. Wenn es um Koka geht, ist man in Bolivien jedoch nicht ganz so streng wie in anderen südamerikanischen Staaten. In den Anden wurde das Blatt bereits lange vor dem Eintreffen der ersten Europäer konsumiert. Manche Leute brauen daraus gern einen Tee, andere wiederum kauen die Blätter lieber händeweise (bolivianische Bauern sieht man bei der Arbeit oft mit einer gewölbten Wange – darin befindet sich ein kleines Bündel Blätter, das sie aussaugen). In dieser Form hat das Blatt lediglich eine mild stimulierende Wirkung, die nicht mit der von Kokain zu vergleichen ist. Vermutlich hilft Koka, mit Kälte, Hunger und Höhenkrankheit besser fertigzuwerden, allesamt lästige Begleiterscheinungen des Lebens auf der altiplano. Viele Hotels in La Paz servieren ihren Gästen bei der Ankunft einen Kokatee. Dasselbe tat bis vor gar nicht allzu langer Zeit sogar die US-amerikanische Botschaft. Ich hatte zum Frühstück einen Becher davon getrunken; für mich schmeckte er wie grüner Tee und war auch nicht viel stärker. Um diese »traditionelle« Verwendung des Blatts zu ermöglichen, gibt die bolivianische Regierung jedes Jahr begrenzte landwirtschaftliche Flächen für den Kokaanbau frei.

Marmanis Lieblingsgetränk ist jedoch nicht Koka, sondern Pepsi. Wir nehmen in einem kleinen Gemischtwarenladen auf Plastikstühlen Platz, zwischen uns zwei Plastikbecher und eine Zweiliterflasche. Ich beginne mit der Frage, wie man eine gute Kokaernte erzielt. »Erst müssen wir die wachus machen«, sagt er und deutet hinauf zu den Berghängen. Dabei gebraucht er den örtlichen Begriff für die Terrassen. »Wir graben sie einen halben Meter tief und entfernen sämtliche Steine aus dem Boden.« Jeder Einwohner der Gemeinde bestellt ein Dutzend davon, die größten Landbesitzer bewirtschaften bis zu einem halben Hektar Gesamtfläche. Das milde Wetter und der fruchtbare Boden der Yungas bewirken, dass die Kokasträucher den Bauern bis zu drei Ernten pro Jahr bescheren – ein wesentlich einträglicheres Geschäft als Kaffee, der nur eine Ernte im Jahr bringt und zudem schwierig anzubauen ist, da er Schatten benötigt. Die einzig schwierige Zeit sei der Winter, sagt Marmani – Juli, August und September. Wenn es nicht regnet, »estamos jodidos« – dann sind wir im Arsch. Einmal gepflückt, werden die Blätter in der Sonne getrocknet und dann in sogenannte takis abgepackt, Säcke zu 50 Pfund. Diese werden auf einen klapprigen Lastwagen verladen, der sie zum Villa-Fátima-Markt in La Paz bringt, einem der zwei Orte im Land, wo Kokain legal gehandelt werden darf. Jeder Laster benötigt eine Lizenz, die genau ausweist, wie viel Koka geladen ist und woher es stammt.

Kokabauern werden in Bolivien toleriert oder sogar geschätzt. Präsident Evo Morales ist selbst ein ehemaliger cocalero, wie man die Bauern nennt. Unter Verstoß gegen alle möglichen Gesetze reiste er einmal mit Beuteln voller Koka zu einer Versammlung der Vereinten Nationen nach Manhattan, wo er die Blätter demonstrativ kaute und eine Aufhebung der internationalen Konventionen zur Ächtung des Blatts forderte. Das Husarenstück war Teil einer größer angelegten Kampagne dagegen, was er als westliche Einmischung in die Belange der Andenregion betrachtet. Im Jahr 2008 wies er wegen Einmischung in innere Angelegenheiten den amerikanischen Botschafter aus und schickte im selben Zuge auch gleich die Beamten der US-Drogenvollzugsbehörde (Drug Enforcement Administration, DEA) nach Hause. Trotz internationaler Ächtung der Droge unterstützt der bolivianische Staat zahlreiche lokale Industrien, die von Süßigkeiten, Keksen und Getränken bis hin zu kokahaltiger Zahnpasta alle möglichen Kokaprodukte herstellen. Die Industrie wird durch ein eigenes Kokavizeministerium reguliert, das Grenzmengen dafür vorgibt, wie viel Koka angebaut werden darf. Der Gedanke dahinter ist, eingeschränkten Anbau zu gestatten, damit der Markt für Tee, Zahnpasta und derlei Dinge bedient werden kann, ohne dadurch mittelbar den Kokainhandel zu fördern. Das System ist freilich alles andere als wasserdicht: Die Vereinten Nationen schätzen, dass im Jahr 2013 in Bolivien etwa 23 000 Hektar Land für den Kokaanbau genutzt wurden, genug, um rund 36 000 Tonnen trockener Blätter zu produzieren. Im selben Jahr wurden auf den beiden legalen Märkten des Landes nur 19 149 Tonnen umgeschlagen – wenig mehr als die Hälfte der geschätzten Gesamtproduktion.5 Man kann also mit Gewissheit sagen, dass der Rest auf dem illegalen Markt gelandet und zu Kokain verarbeitet worden ist.

Da die Drogenkartelle zur Kokainherstellung Kokablätter benötigen, haben die Regierungen Kokapflanzungen ins Visier genommen, um den Handel an der Quelle trockenzulegen. Seit Ende der 1980er-Jahre haben die Koka produzierenden Länder Südamerikas – mit finanzieller Unterstützung und Expertise aus den Vereinigten Staaten – ihre Bemühungen darauf konzentriert, illegale Kokapflanzungen aufzuspüren und zu vernichten. Dahinter steckt ein simpler wirtschaftlicher Gedanke: Wenn man den Rohstoff für ein Produkt begrenzt, verknappt man es dadurch und treibt den Preis in die Höhe. Knappheit macht Gold wertvoller als Silber und Öl teurer als Wasser. Wenn viele Menschen etwas wollen, wovon es nicht genug gibt, müssen sie mehr bezahlen, um es zu bekommen. Regierungen hoffen, dass sie durch die Verknappung von Koka den Preis künstlich erhöhen und damit auch die Kosten der Kokainherstellung steigern. Wenn der Preis für Kokain steigt, so hoffen sie, werden es weniger Menschen in der reichen Welt kaufen. So, wie eine Kakaomissernte kürzlich weltweite Preissteigerungen für Schokolade zur Folge hatte und Schokoladensüchtige dazu brachte, ihren Konsum einzuschränken, müsste auch eine Vernichtung der Kokaplantagen den Kokainpreis erhöhen und damit letztlich den Endkonsum senken.

Kolumbien und Peru, die derzeit freundschaftlichere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten pflegen als Bolivien, greifen besonders hart durch. In beiden Ländern wurde die Armee zu landschaftsgärtnerischen Notdiensten herangezogen und mit der vollständigen Vernichtung aller Kokasträucher beauftragt. Die Geografie macht das allerdings zu einer ausgesprochen verzwickten Aufgabe. Aufklärer fliegen in Leichtflugzeugen durch die Berge und halten Ausschau nach verräterischen Terrassen, die auf einen Kokaanbau schließen lassen. Die Bauern haben inzwischen zwar gelernt, ihre Pflanzungen zu verbergen, doch sind die Behörden ihrerseits besser darin geworden, sie aufzuspüren. Heutzutage werden die Aufklärerflugzeuge durch Satelliten unterstützt, die detaillierte Bilder der Landschaft machen. Über diesen brüten dann Experten und versuchen, zwischen legalen Bananen- oder Kaffeeplantagen und illegalen Kokapflanzungen zu unterscheiden. Bewaffnet mit entsprechendem Kartenmaterial, werden daraufhin Soldaten entsandt, um die Ernte von Hand zu vernichten. In Kolumbien brachte man gebietsweise Unkrautvernichtungsmittel per Flugzeug über dem Ackerland aus. Dadurch werde jedoch nicht nur die Kokaernte, sondern auch ein großer Teil der übrigen, vollkommen legalen Ernte vernichtet, beklagten die Bauern. Im Jahr 2015 setzte Kolumbien das Besprühen der Anbauflächen aus der Luft für unbestimmte Zeit aus, nachdem eine Behörde der Weltgesundheitsorganisation die Warnung ausgesprochen hatte, der Unkrautvernichter sei möglicherweise krebserregend.

Die Vernichtungskampagne war ein durchschlagender Erfolg, jedenfalls bei oberflächlicher Betrachtung. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte haben Bolivien, Kolumbien und Peru Tausende Quadratkilometer illegaler Kokapflanzungen und damit jedes Jahr mehr Ernten vernichtet. Vernichteten die drei Länder 1994 noch lediglich etwa 6 000 Hektar Koka,6 waren es 2013 bereits mehr als 100 000. Die großteils von Hand verrichtete Arbeit ist eine wahre Mammutaufgabe: Um eine Vorstellung von deren Ausmaß zu gewinnen, stelle man sich vor, jedes Jahr einen Garten der elffachen Größe Manhattans vom Unkraut zu befreien (und dabei gelegentlich unter Beschuss zu geraten). Nach den groben Berechnungen der Vereinten Nationen ist inzwischen fast die Hälfte aller Kokasträucher in den Anden vernichtet.

Für die meisten Industriezweige wäre ein jährlicher Verlust von beinahe 50 Prozent der Produktion ein Todesstoß. Der Kokainmarkt hingegen ist seltsamerweise nicht kleinzukriegen. Mit jedem vergifteten und niedergebrannten Hektar Koka sind die Bauern ausgezogen und haben noch mehr Sträucher gepflanzt. Im Jahr 2000, nach dem ersten Jahrzehnt intensiver Kahlschläge, wurden in Südamerika insgesamt etwa 220 000 Hektar Land erfolgreich für den Anbau von Koka genutzt – fast genauso viel wie 1990. Von Zeit zu Zeit gelingt es einzelnen Ländern, das Kokageschäft zeitweise zum Erliegen zu bringen. Peru beispielsweise führte in den 1990ern einen besonders harten Kampf gegen den Kokaanbau. Doch die Kartelle finden meist rasch neue Nachschubquellen. So entfachte die Drogenpolitik Perus einen Kokaboom in Kolumbien. Als Kolumbien seine Anstrengungen verdoppelte und die Bauern vertrieb, tauchten in Peru erneut Kokaterrassen auf. Westliche Beobachter sprechen hier von einem »Ballon-Effekt«: Wenn man an einer Stelle drückt, gibt es anderswo eine Wölbung. Lateinamerikaner haben für das Phänomen einen etwas volkstümlicheren Namen: »Kakerlaken-Effekt«. Man kann Drogendealer wie Kakerlaken aus dem Zimmer scheuchen, aber dann nisten sie sich bald woanders im Haus ein.

Das stört die Befürworter des Kahlschlags wenig, die damit argumentieren, dass es in erster Linie nicht unbedingt darum gehe, den Kokaanbau vollkommen zu unterbinden, sondern ihn kostspieliger zu machen. Um trotz der ganzen Giftberieselung weiterhin hohe Erträge zu erzielen, müssen die Bauern wesentlich mehr Zeit in die Felder investieren. Die Notwendigkeit, neue Pflanzungen anzulegen, stellt eine signifikante Betriebskostensteigerung dar. Früher konnte praktisch das gesamte angebaute Koka zu Kokain verarbeitet werden. Heute landet fast die Hälfte auf dem Abfall, da die Behörden die Pflanzen mit der Wurzel ausreißen oder mit Herbiziden besprühen lassen.

Doch selbst jetzt, da die Kartelle doppelt so viel Koka wie zuvor anpflanzen müssen, um dieselbe Menge Kokain zu produzieren, sind die Preise nicht gestiegen. In den Vereinigten Staaten kostet ein Gramm reines Kokain heute etwa 180 US-Dollar. (Ein Gramm auf der Straße kostet typischerweise die Hälfte, weil es nur zu etwa 50 Prozent rein ist.7) Das entspricht grob dem Preis der vergangenen zwei Jahrzehnte – ungeachtet Tausender Razzien und Hektoliter versprühter Unkrautvernichtungsmittel. Eine Erklärung für den stabilen Preis trotz Angebotsverknappung wäre ein Rückgang der Nachfrage. (Mit anderen Worten: Die Warenmenge nimmt ab, aber gleichzeitig gibt es weniger potenzielle Käufer, sodass der Preis derselbe bleibt.) Das scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Seit den 1990er-Jahren liegt die Zahl der Kokainkonsumenten in den Vereinigten Staaten relativ unverändert zwischen anderthalb und 2 Millionen Menschen. Kürzlich ist die Nachfrage zwar etwas zurückgegangen, doch wurde dies zum großen Teil durch eine wesentlich höhere Nachfrage in Europa ausgeglichen. Die Vereinten Nationen sprechen von einer weltweit stabilen Nachfrage. Das gibt ein Rätsel auf: Konstante Nachfrage und Produktverknappung führen normalerweise zu Preissteigerungen, doch das Kokain bleibt so billig wie eh und je. Wie haben es die Kartelle geschafft, die Grundgesetze des Marktes außer Kraft zu setzen?

Um zu begreifen, wie ihnen dieser Trick gelungen ist, denke man an das Unternehmen Walmart, das bisweilen in der Lage scheint, den Gesetzen von Angebot und Nachfrage ebenso zu trotzen wie die Drogenkartelle. Walmart, die größte Einzelhandelskette der Welt, macht weltweit einen Umsatz von fast einer halben Billion Dollar im Jahr. Der Unternehmenserfolg gründet auf Preisen, die kaum gestiegen zu sein scheinen, seitdem Bud und Sam Walton 1962 ihr erstes Geschäft eröffneten. Eine Drei-Kilo-Dose geteilter Pfirsiche nennt man für knapp 6 Dollar sein Eigen, wenn man sie denn tragen möchte. Für dasselbe Geld kann man sich ein Paar Schuhe oder einen Pullover kaufen. Zum letzten Thanksgiving-Fest bekamen die Kunden das Pfund Truthahn zu 3,52 Dollar und das dazu passende Set aus neun (zugegebenermaßen hässlichen) Thanksgiving-Tellern für ganze 1,59 Dollar.

Diese außerordentlich niedrigen Preise machen Walmart bei den Kunden so beliebt. Für die Bauern und Fabrikanten, die die Pfirsiche und Teller liefern, sind diese niedrigen Preise oft eine Katastrophe. Sie beklagen, dass Walmart und andere große Ketten den Lebensmittelmarkt derart bestimmten, dass sie ihren Zulieferern die Preise mehr oder minder diktieren könnten. Jeder kennt den Begriff eines Monopols, bei dem ein einzelnes Unternehmen der dominierende Verkäufer eines bestimmten Produkts ist und deshalb dafür verlangen kann, was es will. Kritiker von Einzelhandelsketten wie Walmart beschuldigen diese, sogenannte Monopsone zu sein, also beherrschende Käufer eines bestimmten Produkts. (Während sich »Monopol« vom griechischen Wort für »einzelner Verkäufer« ableitet, bedeutet Monopson »einzelner Käufer«.) Kann der Monopolist seinen Kunden, die bei niemand anderem kaufen können, die Preise diktieren, so kann der Monopsonist in derselben Weise seinen Lieferanten die Preise vorschreiben, die wiederum an niemand anderen verkaufen können. Wenn man ein richtig großes Publikum erreichen will, so die Theorie, muss man mit seinem Produkt bei Walmart vertreten sein. Das Unternehmen weiß das und kann seine Lieferanten daher förmlich auspressen. Eine Forbes-Studie stellte jedoch fest, dass Lieferanten, die einen Großteil ihrer Waren an Walmart verkauften, im Durchschnitt eine geringere Gewinnspanne erzielten als diejenigen, die weniger Geschäfte mit dem Unternehmen machten. Am deutlichsten wurde dieser Unterschied im Bekleidungssektor: Hersteller, die weniger als 10 Prozent ihrer Produktion über Walmart verkauften, konnten einen durchschnittlichen Gewinn von 49 Prozent erzielen, wohingegen diejenigen, die über 20 Prozent über die Kette absetzten, im Schnitt lediglich 29 Prozent erreichten.8

Die Preise zu drücken und Zulieferer zu höherer Effizienz zu zwingen ist für die Kunden natürlich eine tolle Sache, und auch die Wirtschaft als Ganzes kann davon profitieren – eine McKinsey-Studie kam zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre Walmart allein für 12 Prozent der US-amerikanischen Produktivitätszuwächse verantwortlich war.9 Für die Zulieferer hingegen wird das Leben dadurch immer schwerer. Wenn eine Pfirsichernte ausfällt oder die Produktionskosten steigen, kann man darauf wetten, dass nicht der Supermarkt oder dessen Kunden, sondern die Bauern diesen Engpass zu spüren bekommen.

Walmart hat noch keine Filialen in Kolumbien eröffnet. Wenn es aber darum geht, Druck auf die Lieferkette auszuüben, dann haben sich die Drogenhändler der Region die Walmart-Techniken längst zu eigen gemacht. Zunächst einmal spielen die Kartelle die Rolle des Käufers, nicht des Anbauers, und agieren damit mehr wie große Einzelhandelsunternehmen, als man erwarten würde. Die Vorstellung ist verlockend, dass das gesamte Kokaingeschäft von Anfang bis Ende in der Hand der Kartelle liegt, deren bis an die Zähne bewaffnete Schergen die Kokasträucher liebevoll mit Spezialdünger versorgen, wenn sie nicht gerade Rivalen massakrieren. Normalerweise läuft das aber nicht so. Auf der landwirtschaftlichen Seite der Kokainindustrie stehen hauptsächlich Bauern wie jene in Trinidad Pampa, die ebenso gerne Tomaten oder Bananen anbauen würden, wenn sie so einträglich wären wie Koka. Die Rolle der Kartelle erinnert an große Supermärkte: Sie kaufen Produkte von Bauern, verarbeiten und verpacken sie und verkaufen sie dann an den Endkunden.

Sind südamerikanische Drogenbarone im Umgang mit ihren Zulieferern genauso rücksichtslos wie Walmart? Zwei Wirtschaftsexperten, Jorge Gallego von der New York University und Daniel Rico von der University of Maryland, beschlossen, dies herauszufinden. Sie konzentrierten sich dabei auf Kolumbien und holten bei der Regierung Informationen darüber ein, in welchen Landesteilen Koka ausgerottet worden war, sowohl von Hand als auch durch die Giftberieselung aus der Luft (genaue Daten über letztere Methode sind auf den jeweiligen Flugschreibern gespeichert). Sie verglichen diese Angaben mit Informationen der Vereinten Nationen über den Kokapreis in verschiedenen Regionen des Landes. Durch die Kombination beider Datensätze konnten sie die Auswirkungen des Kokakahlschlags auf den Preis erkennen, den die Kartelle den Bauern für ihr Koka bezahlten.10

Wenn die Verknappungstheorie griffe, dann müsste in Gebieten, wo mehr Kokapflanzungen vernichtet wurden als in anderen, die Preissteigerung höher sein als dort, wo man von der Unkrautvernichtung verschont blieb. Bei ansonsten gleichbleibenden Faktoren müsste weniger Koka dazu führen, dass die örtlichen Kartelle den Bauern mehr dafür bezahlen. Doch Gallego und Rico konnten kein solches Muster erkennen. Stattdessen stellten sie fest, dass der Kahlschlag praktisch keinerlei Auswirkung auf den Preis für Koka oder die zahlreichen illegalen Kokaprodukte gehabt hatte, die die Bauern ebenfalls an die Kartelle verkaufen. Überrascht wiederholten die beiden Experten ihre Studie. Diesmal ließen sie zwischen Kahlschlag und Verkauf einen Zeitraum von einem Jahr, für den Fall, dass die Knappheit sich erst allmählich im Preis niederschlug. Abermals jedoch stellten sie fest, dass die Vernichtung der Ernten praktisch keine Auswirkung auf den Großhandelspreis hatte, den die Bauern von den Kartellen verlangen konnten.

Der Grund dafür ist, so die Hypothese, dass die bewaffneten Gruppierungen, die den Kokahandel in Kolumbien kontrollieren, mehr oder weniger wie Monopsonisten auftreten. Unter normalen Marktbedingungen wären die Kokabauern in der Lage, sich am Markt umzusehen und ihre Waren an den Höchstbietenden zu verkaufen. Das würde bedeuten, dass die Käufer ihre Gebote in Zeiten der Knappheit erhöhten und der Preis der Rohware deutlich stiege. Im bewaffneten Konflikt Kolumbiens verhält es sich jedoch so, dass es in einer beliebigen Region für gewöhnlich nur eine einzige beherrschende Gruppe von Drogenhändlern gibt. Diese Gruppe ist der einzige Aufkäufer der Gegend und diktiert damit den Preis, ganz so, wie es Walmart bisweilen bei den Preisen seiner Zulieferer tun kann. Das bedeutet, dass steigende Kosten in der Kokaproduktion – sei es durch Kahlschlag, Missernten oder sonst etwas – voll und ganz zu Lasten der Bauern gehen, nicht des Kartells. Ebenso, wie große Handelsketten sich und ihre Kunden vor Preissteigerungen schützen, indem sie ihre Lieferanten zwingen, diese allein zu schultern, halten auch die Kartelle ihre eigenen Kosten zu Lasten der Kokabauern niedrig. »Der Schock wird ausschließlich von den Bauern abgefangen, da die großen Aufkäufer in der Lage sind … fixe Preise aufrechtzuerhalten«, schreiben Gallego und Rico.

Mit anderen Worten: Es ist nicht so, dass die Strategie des Kahlschlags ohne jede Wirkung wäre. Das Problem ist vielmehr, dass die falschen Leute diese Wirkung zu spüren bekommen. Die Walmart-artige Knebelung der Zulieferer durch die Kartelle hat zur Folge, dass jede Verschlechterung der Anbaubedingungen schlicht die armen Bauern noch ärmer macht, ohne dabei die Gewinne des Kartells nennenswert zu schmälern oder den Preis für die Endkonsumenten zu erhöhen. »Wir sind gegen das alles«, sagt ein Bauer in Trinidad Pampa, der nicht namentlich genannt werden möchte, unter Bezugnahme auf die offiziellen Kahlschlagprogramme, in deren Zuge sämtliche nicht genehmigte Pflanzen ausgerissen werden. »Wir geraten deswegen ständig mit der Regierung aneinander. Es ist zum Haareraufen für uns.« Selbst, wenn sie nichts mit den Gangstern zu tun haben wollten, die das Kokaingeschäft beherrschten, sei es den Bauern verhasst, in ihrem Anbauvolumen beschränkt zu sein, sagt er. An der Mauer zu einem verwilderten Feld ganz in der Nähe steht mit weißer Farbe geschrieben: »Dieses Stück Land wurde für den Kahlschlag BESCHLAGNAHMT.« Jede nicht genehmigte Pflanzung wird kurzerhand vernichtet. Dadurch sind zwar die Bauern schlechter dran, doch an den Profiten ihrer Kunden, der Drogenkartelle, ändert sich kaum etwas. Das Produktionsvolumen bleibt hoch, der Einkaufspreis niedrig, und das Kokaingeschäft blüht weiterhin. Bud und Sam Walton hätten den Geschäftspraktiken der südamerikanischen Drogenkartelle möglicherweise einiges abgewinnen können – wenn das Ganze denn legal wäre.

ENDE DER LESEPROBE