Narren, Schwindler, Unruhestifter - Roger Scruton - E-Book
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Narren, Schwindler, Unruhestifter E-Book

Roger Scruton

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Beschreibung

Der unlängst verstorbene Roger Scruton war einer der wohl wichtigsten konservativen Denker unserer Zeit. Er liefert in diesem Buch eine vernichtende Kritik der Idole des linken Denkens des 20. und 21. Jahrhunderts. Hier enthüllt er, wie es dazu kommen konnte, dass heute Linke die Geisteswissenschaften dominieren. In diesem provokanten, fesselnden und höchst unterhaltsamen Buch erklärt er, warum leere Rhetorik und himmelschreiender Nonsens es geschafft haben, sorgfältige Analyse und seriöse Logik zu übertrumpfen – eine erschütternde Abrechnung mit einigen der angesagtesten Philosophen von heute. Neben Einschätzungen zu den philosophischen und politischen Beiträgen dieser Denker beschreibt Scruton auch den historischen und nationalen Kontext ihres Wirkens und fasst ihre wichtigsten Schriften zusammen. Darunter finden sich so bekannte Namen wie Galbraith, Dworkin, Habermas, Sartre, Foucault, Althusser, Lacan, Deleuze, Badiou und Žižek.

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Seitenzahl: 608

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ROGER SCRUTONNARRENSCHWINDLERUNRUHESTIFTER

ROGER SCRUTONNARRENSCHWINDLERUNRUHESTIFTER

LINKE DENKER DES 20. JAHRHUNDERTS

Aus dem Englischen von Krisztina Koenen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

EDITION TICHYS EINBLICK

Deutsche Originalausgabe

2. Auflage 2021

© 2021 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

© Fools, Frauds and Firebrands 2015, 2019

This Translation of Fools, Frauds and Firebrands is published by arrangement with Bloomsbury Publishing Plc.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Krisztina Koenen

Redaktion: Anne Büntig

Korrektorat: Anja Hilgarth

Umschlaggestaltung: Julia Iffländer

Satz: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-399-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-739-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-740-2

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

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Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Was ist »links«?

2. Missgunst in Großbritannien: Eric Hobsbawm und Edward Thompson

3. Verachtung in Amerika: Galbraith und Dworkin

4. Befreiung in Frankreich: Sartre und Foucault

5. Ödnis in Deutschland: Bergab zu Habermas

6. Nonsens in Paris: Althusser, Lacan, Deleuze

7. Der weltweite Kulturkampf: Die Neue Linke von Gramsci bis Said

8. Der Krake erwacht: Badiou und Žižek

9. Was ist rechts? Was ist richtig?

Danksagung der Übersetzerin

Vorwort

Als Fools, Frauds and Firebrands 2015 im Vereinigten Königreich erschienen war, fragten viele Kritiker, was der Sinn eines solchen Werkes heute noch sei. Schließlich sei die Sowjetunion und mit ihr die Vorstellung von der kommunistischen Gesellschaft schon vor 25 Jahren zusammengebrochen, und den Linken sei es danach nicht mehr gelungen, eine ähnlich umfassende totale und totalitäre Utopie wie den Kommunismus zu entwickeln. Die Welt sei heute eine andere, die primitiven Versuche egalitärer Gesellschaften hätten wir – mit wenigen Ausnahmen wie Nordkorea, Kuba oder Venezuela – hinter uns gelassen. Der britische Guardian (für den viele der im Buch kritisierten Autoren geschrieben hatten) sah in Scrutons Werk gar den Versuch, den kalten Krieg fortzuführen, und kritisierte den obsolet gewordenen Antikommunismus eines ewig gestrigen Reaktionärs.

Zweifler und Kritiker lagen falsch. Denn das utopische Denken, das die Gesellschaft der Gegenwart in finstersten Farben malt und auf den Trümmern des historisch Gewachsenen und Verbindenden eine neue Gesellschaft der totalen Emanzipation und der allgemeinen unvermittelten Gleichheit erträumt, hat nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums nur kurz innegehalten. Alsbald entstanden neue, der westlichen Wohlstandsgesellschaft angepasste Versionen des totalitären, ökologischen und kollektivistischen Utopismus. Die nannten sich zwar (meistens) nicht mehr Sozialismus oder Kommunismus, aber es musste weiter gekämpft werden: gegen neue Formen der »strukturellen« Unterdrückung, von denen behauptet wird, sie seien in allen Lebensbereichen präsent, für noch mehr Gleichberechtigung und schließlich für die neue, nebulös gehaltene Utopie einer grenzenlosen, ökologischen und von jeder Tradition und Hierarchie befreiten Weltgesellschaft.

Ideen haben ein Eigenleben, sie sind wie Gewässer, die mit kleinen, oft unterirdischen Rinnsalen beginnen, irgendwann aber zu einem mächtigen Strom anschwellen und zur vorherrschenden Auffassung von Wirklichkeit werden. Die heute das akademische und das öffentliche Leben dominierenden linken Theorien sind bereits nach dem Ersten Weltkrieg in dessen Folge entstanden, sie überlebten die beiden totalitären Katastrophen zunächst als Stimmen einzelner Intellektueller und gelangten erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt dank der 68er-Bewegung, zu voller Blüte. Noch 1976 konnte der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer zu Recht behaupten, die im akademischen Milieu kursierenden und mancherorts dominierenden linken Theorien, insbesondere die kritische Theorie der Frankfurter Schule, hätten keine relevante Auswirkung auf das politische Leben Westdeutschlands, da dessen Institutionen von ihnen im Wesentlichen unberührt seien. Doch die »Demokratisierung« der akademischen Bildung und der Machtgewinn der Medien und ihre Eroberung durch Linke änderten diese Lage alsbald. Die jungen Akademiker strebten in den Staatsapparat, denn ihre sozialen Visionen sollte ja der Staat verwirklichen, und so geschah genau das, was für Sontheimer seinerzeit noch schwer vorstellbar war: Extreme akademische Theorien wurden mit Macht in die Öffentlichkeit getragen, und bald konnte und wollte sich keine Partei und keine Institution mehr diesem mächtigen Strom der linken Ideen verschließen. Diesen Ideen, ihren heutigen Folgen und deren wichtigen Vertretern ist dieses Buch gewidmet.

Woher stammen die Überzeugungen, die heute im Westen den »Mainstream« des öffentlichen Denkens und meistens auch des politischen Handelns bilden? Woher kommt die Auffassung, dass Geschichte eine Richtung habe, und die führe unweigerlich zu noch mehr Gleichheit, noch mehr Fortschritt und noch vollständigerer Emanzipation? Warum glauben wir, dass die Menschheit leichtfertig und nur um des Profits willen ihre Ressourcen verschwende und der Mensch ein Schädling des Planeten sei? Warum sind die meisten davon überzeugt, dass die westliche Gesellschaft systemisch ungerecht und unser Wohlstand immer nur auf Kosten anderer aufrechtzuerhalten sei? Woher stammt die Idee, dass unschuldig geborene Menschen in vorgefertigte repressive Strukturen der Gesellschaft gezwungen werden, die zu dekonstruieren ein Akt der Befreiung sei? Woher kommt die Auffassung, dass der Staat allein für die gerechte Verteilung der Güter der Gesellschaft und für das Glück der Allgemeinheit verantwortlich sei? Wieso verachten wir unsere eigene, einmalige europäische Kultur, beschuldigen sie, ein Instrument der Unterdrückung und Ausbeutung zu sein, und huldigen stattdessen primitiven, vorzivilisatorischen Kulturen? Warum sind wir besessen von der Idee der Gleichheit und glauben, dass ihre immer weitere Ausdehnung, die Abschaffung von Autorität, Hierarchien und Bindungen, der einzig richtige Weg und das Unterpfand des Glücks sei? Die im Buch behandelten Denker waren entweder Pioniere dieser Ideen oder gehörten zu denjenigen, denen es gelungen war, sie durch Wortgewalt und »existenzielles Posieren« ins öffentliche Bewusstsein zu heben und damit schließlich für die dominierende westliche Politik von heute das ideologische Fundament zu erschaffen.

Scruton stellt englische, amerikanische, deutsche und französische Philosophen, Historiker, Rechts- und Sozialwissenschaftler vor, die zu den hochgeschätzten Denkern, den »öffentlichen Intellektuellen« ihrer jeweiligen Länder gehören und mit ihren Arbeiten unser heutiges Bild von der Welt entscheidend geformt haben. Er nennt sie links, weil sie sich selbst so bezeichnet haben und weil ihr Denken in der linken Denktradition wurzelt. Sie alle rühmten sich, kritisch der »Gesellschaft« gegenüberzustehen, auch wenn sie von deren Institutionen mit akademischen Titeln und üppigen Salären belohnt und vom Establishment gefeiert wurden. Sie erheben im Wesentlichen zwei Anklagen gegen die im Westen vorherrschenden Gesellschaftssysteme: Sie sollen auf Unterdrückung und Herrschaft beruhen und durch Entfremdung und Verdinglichung Menschen ihrer Würde berauben und sie zu Dingen reduzieren.

Zugleich sehen sie sich in der Pflicht, dies zu enthüllen, denn seinen bedauerlichen Zustand zu erkennen, ist dem einfachen Menschen nicht gegeben. Das, was er als Wirklichkeit versteht, ist nur eine schillernde, irreführende Oberfläche, unter der die wahren Kräfte und Zusammenhänge verborgen liegen, die irgendwann – dank der unermüdlichen Dekonstruktionsarbeit der Intellektuellen – zum Vorschein kommen. Schon Marx war der Überzeugung, dass hinter der bunten Welt der Waren, Märkte und zwischenmenschlichen Beziehungen die wahre Natur der kapitalistischen Produktionsweise verborgen liege: die Abpressung des Mehrwerts durch die besitzende Klasse. Geschichte werde durch die unterirdischen Ströme der Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte und die aus ihren Widersprüchen resultierenden Klassenkämpfe vorangetrieben, bis endlich die im Schoße des Kapitalismus entstandene revolutionäre Klasse, das bis dahin seiner selbst unbewusste Proletariat, zur Klasse für sich werde und der Verschleierung der wahren Verhältnisse ein Ende bereite, indem es endlich die Realität der direkten Wahrheit erschaffe, die zugleich die Gesellschaft der allgemeinen Gleichheit sei.

Dieser Vorstellung einer unter Scheinverhältnissen verborgenen Realität begegnen wir bei den neueren Denkern der Linken wieder, und diesem Aspekt, dem Verlust der Wirklichkeit durch Dekonstruktion und der Erschaffung einer dafür geeigneten Sprache, dem Orwell’schen »Neusprech«, gilt die besondere Aufmerksamkeit Scrutons. Auch wenn das Proletariat nunmehr als revolutionäre Klasse ausgedient hat, bleibt die Unterdrückung und die bewusste Verschleierung der Wirklichkeit durch die »Bourgeoisie« bestehen, sie hat unter Linken nur neue Namen bekommen: die »Industriegesellschaft« (Galbraith), »Herrschaftsstrukturen« (Foucault), und immer wieder das »Andere« (Sartre, Lacan), »Verdinglichung«, »Entfremdung« und »Warenfetischismus« (Lukács), »instrumentelle Vernunft« (die Frankfurter Schule). Während die »Bourgeoisie« bewusst durch ihre Ideologie das falsche Bewusstsein der Unterdrückten von der Realität verfestigt, kommt in dieser Weltsicht dem Intellektuellen nach eigener Definition die Aufgabe zu, die wahre Natur der Gesellschaft zu zeigen. Während es bei Marx und seinen frühen Adepten zunächst noch um den Widerspruch zwischen scheinbarer Realität und der verborgenen Wahrheit des Klassenkampfes ging, ist die Wirklichkeit bei den jüngeren Denkern der Linken – angestoßen von Sartre und später zur Perfektion entwickelt von den auf ihn folgenden französischen Denkern – zunächst zu einer feindseligen und zuletzt zu einer gar nicht mehr existierenden Größe geworden, zum »Nichts«. Während Sartre und Foucault noch an der Existenz einer Realität, einer zwar abstoßenden, strukturell versklavenden, festhielten, verschwindet sie bei Lacan, Deleuze und Badiou schließlich vollständig; was übrigbleibt, sind aus abstrakten Begriffen aufgetürmte Gedankengebäude, in sich geschlossene Systeme, die undurchdringlich und nicht mehr hinterfragbar sind.

Aber nicht nur die Sprache dient der Loslösung von der Realität: Die europäische Denktradition, das Streben nach Verständnis der Wirklichkeit, ihre Methoden der Analyse und Deduktion werden verworfen, zugunsten eines assoziativen »rhizomatischen« Denkens (Deleuze). »Anstelle des Denkmodells des vertikal wachsenden Baumes – nach oben/nach unten, Ursache/Wirkung, Wurzel/Zweig –, das bisher in der westlichen Zivilisation dominiert hat, schlagen Deleuze und Guattari ein rhizomatisches Modell vor: Das Denken sollte sich seitwärts bewegen, sich verbinden, einschließen und wachsen, während es an den Rändern immer wieder anderen Rhizomen begegnet«, schreibt Scruton. Den besonderen Zorn der Bewunderer der zu Popstars avancierten französischen Denker rief Scruton mit seinem Urteil hervor, diese hätten die unendliche Macht des Sinnlosen entdeckt, ihre Theorien seien purer, nicht interpretierbarer Nonsens, dem das Publikum umso begeisterter huldige, je unbegreiflicher sie sind.

Die »Nonsens-Maschine«, wie sie Scruton nennt, hat schwerwiegende Folgen für die Standards der akademischen Welt gehabt. Jeder, der heute auch nur versucht hat, eine geisteswissenschaftliche Arbeit zu lesen, wird sofort wissen, was mit der »Nonsens-Maschine« gemeint ist. Sie half, eine Sprache zu etablieren, deren wichtigste Aufgabe ist, »die Beschreibung der Realität durch den rivalisierenden Zweck der Machtausübung über die Wirklichkeit« zu ersetzen. So entstehen Sätze, deren Syntax zwar die der normalen Sprache ist, deren Begriffe jedoch keiner Wirklichkeit, keinem konkreten Gegenstand oder keiner Beziehung entsprechen und so die Existenz einer anderen, von der realen unabhängigen Wirklichkeit beschwören. »Ideologie«, »Strukturen«, das »kleine« und das »große Andere«, »Deterritorialisierung« und »Reterritorialisierung«, das »EREIGNIS« und der »Wahrheitsprozess«, noch ergänzt durch undurchdringliche und mathematisch nicht interpretierbare »Matheme« sind die Elemente, die eine entfremdete, nach Veränderung schreiende gesellschaftliche Wirklichkeit beschreiben sollen – ohne mit ihr jemals in Berührung zu kommen. Als hätte Scruton die Zukunft erahnt: Seit dem Erscheinen von Fools, Frauds and Firebrands 2015 haben Neusprech und Nonsens ihren Siegeszug durch Kultur, Parteiprogramme und Politik der westlichen Länder fortgesetzt. Die politische Sprache hat sich von der Wirklichkeit inzwischen fast vollständig gelöst, jede noch so absurde Behauptung kann öffentlich und mit allem Ernst aufgestellt werden, ohne dass ein Aufschrei der Entrüstung folgte: Der Nonsens ist zu unserer Realität geworden.

Scrutons Kritik ist nicht nur die eines Konservativen an linken Gedankengebäuden, ebenso wichtig ist ihm, auf die schwindende Qualität des philosophischen, soziologischen und historischen Denkens hinzuweisen, eine Folge des Verlustes der Sprache unserer Realität. Während Hobsbawm und Thompson noch echte Historiker waren, Adorno, Sartre und Foucault ernstzunehmende Werke schufen, schwindet bei ihren Nachfolgern in zunehmendem Maße die wissenschaftliche Sorgfalt. Das Bürokratische, Improvisierte, Emotionale und rein Assoziative nehmen überhand.

Während die Alternative zur westlichen Gesellschaft der Gegenwart, die große Utopie, das EREIGNIS (Badiou) oder die »gleichberechtigte Gesprächssituation (Habermas), in den Werken aller Autoren nebulös bleibt, haben sich diese im realen Leben für eine ganz eindeutige Alternative entschieden: Sie fanden sie im Schoße oder im Dunstkreis kommunistischer Parteien. Entweder waren sie selbst Mitglieder oder sie unterstützten sie in Wort und Tat. Hobsbawm und Sartre hat nicht einmal die Niederschlagung der ungarischen Revolution 1956 und das Bekanntwerden der stalinistischen Gräueltaten in der Sowjetunion in ihrer Treue erschüttern können. Die 68er-Revolte begeisterte sie alle, viele unter ihnen waren aktiv daran beteiligt und ließen sich wie Foucault von der chinesischen Kulturrevolution mitreißen. Den Unterschied zwischen der kommunistischen und der kapitalistischen Welt haben sie – wie Galbraith oder Habermas – heruntergespielt. Die heute noch lebenden unter ihnen, Badiou und Žižek, beschwören weiterhin das große Ziel, die Revolution (was immer auch diese sein mag), die die »verdorbene Welt« des Westens hinwegfegen soll.

Scruton ist trotz seiner scharfzüngigen, mitunter gnadenlosen Kritik geblieben, der er immer war: ein großzügiger und verständnisvoller Mensch. Er hebt überall, wo es möglich ist, die positiven Leistungen der behandelten Denker hervor: Er lobt die Forschungsarbeit der Historiker Hobsbawm und Thompson, auch wenn er ihr Geschichtsbild ablehnt, spricht mit Verständnis über die Qualen Sartres, mit viel Anerkennung und Wärme über den späten Foucault und würdigt sogar die gekonnt weltmännische Hochstapelei eines Kenneth Galbraith. Zornig machen ihn dagegen menschliche Verfehlungen, der Opportunismus und die politischen Verbrechen des Georg Lukács, der aggressive Dogmatismus Althussers oder die zynische Hemmungslosigkeit des Slavoj Žižek.

Auf die Frage, warum die westlichen Gesellschaften trotz vieler erschreckender Erfahrungen – nicht zuletzt des zwanzigsten Jahrhunderts – weiterhin von der Idee der Gleichheit und eines zerstörerischen Neuanfangs besessen sind, gibt es keine alles erklärende Antwort. Dazu gehört gewiss, dass die Argumente der Konservativen nicht die unwiderstehliche Anziehungskraft linker Ideen besitzen, denn Konservative empfehlen keine erlösenden Utopien und malen keine romantischen Bilder des Sturms auf das Bestehende. Sie raten stattdessen zu Vorsicht und empfehlen Misstrauen all den »totalen« Theorien gegenüber, die unsere Gesellschaft mit den abstrakten Begriffen von Macht, Klassen, Kräften, Strömungen und Kämpfen beschreiben und die vielfältige Realität der großen und kleinen Institutionen, die das Leben der Bürger lebenswert machen, zu Instrumenten »bourgeoiser« Unterdrückung erklären.

Krisztina Koenen

Einleitung

1985 habe ich unter dem Titel Thinkers of the New Left ein Buch mit einer Reihe von Artikeln veröffentlicht, die ich seinerzeit für die The Salisbury Review geschrieben hatte. Im vorliegenden Buch nun habe ich die ursprünglichen Artikel noch einmal überarbeitet und Autoren wie R. D. Laing und Rudolf Bahro weggelassen, da sie uns heute nichts mehr sagen. Aufgenommen habe ich dagegen umfangreiches neues Material, Autoren und Ideen, die heute immer mehr an Einfluss gewinnen: zum Beispiel die atemraubende »Nonsens-Maschine«, eine Erfindung von Lacan, Deleuze und Guattari, der Verbrannte-Erde-Angriff auf unser »koloniales« Erbe von Edward Said und die Auferstehung der »kommunistischen Hypothese« bei Badiou und Žižek.

Der Vorgänger dieses Buches war auf dem Höhepunkt des »Terrorregimes« von Margaret Thatcher erschienen, in einer Zeit, als ich noch an der Universität lehrte. Ich war unter den britischen linken Intellektuellen vorher schon bekannt als prominenter Gegner ihrer Sache, die natürlich die Sache aller anständigen Menschen auf dieser Welt war. Das Buch wurde mit Hohn und Empörung aufgenommen, Kritiker wetteiferten, wer es noch verächtlicher machen konnte. Die Veröffentlichung war der Anfang vom Ende meiner universitären Karriere. Die Rezensenten äußerten ernsthafte Zweifel sowohl an meinen intellektuellen Fähigkeiten als auch an meinem moralischen Charakter. Der plötzliche Statusverlust führte dazu, dass alle meine Schriften angegriffen wurden, unabhängig davon, ob sie etwas mit der Politik zu tun hatten oder nicht.

Ein Philosoph an der Universität schrieb an den Longman Verlag, der das Buch verlegt hatte, folgende Sätze: »Mit Bestürzung möchte ich Ihnen mitteilen, dass viele meiner Kollegen hier (in Oxford) das Gefühl haben, dass der – sehr geschätzte – Longman Imprint durch die Verbindung mit Scrutons Werk beschädigt wurde.« Er fuhr in martialischer Haltung fort, indem er die Hoffnung äußerte, dass »die negativen Reaktionen, die auf dieses besondere verlegerische Abenteuer folgten, Longman veranlassen werden, in Zukunft sorgfältiger über seine verlegerische Politik nachzudenken«. Einer der erfolgreichsten pädagogischen Autoren von Longman drohte damit, mit seinen Werken einen anderen Verlag zu suchen, wenn das Buch weiterhin verlegt werde, und um sicherzugehen, forderte er, die verbleibenden Exemplare aus den Buchhandlungen zu entfernen und in meinen Gartenschuppen zu verfrachten.

Natürlich verspürte ich einen Widerwillen, zu diesem Desaster zurückzukehren. Doch infolge der Ereignisse von 1989 wurde unter den linken Visionären eine gewisse Zögerlichkeit vernehmbar. Heute wird im Allgemeinen anerkannt, dass nicht alles, was im Namen des Sozialismus gesagt, gedacht oder getan wurde, intellektuell respektabel und moralisch richtig war. Ich war zu der Zeit, als ich das Buch schrieb, aufgrund meiner Mitwirkung an den Untergrundnetzwerken im kommunistischen Europa vielleicht etwas wachsamer als die anderen. Dort war ich ganz direkt mit der Zerstörung konfrontiert, und für alle, die bereit waren, sich dieser Zerstörung auszusetzen, war es klar, dass es das linke Denken war, das dafür die Verantwortung trug. Thinkers of the New Left wurde als Samisdat auf Tschechisch und Polnisch verbreitet und bald ins Chinesische, Koreanische und Portugiesische übersetzt. Nach 1989 wurde es für mich Schritt für Schritt leichter, meine Ansichten zum Ausdruck zu bringen, und so konnte mich mein Herausgeber Robin Baird-Smith überzeugen, dass ein neues Buch das Leben von Studenten erleichtern könnte, die gezwungen sind, an der klebrigen Prosa von Deleuze herumzukauen, die wahnsinnigen Zaubergesänge Žižeks ernst zu nehmen oder zu glauben, dass in Habermas’ Theorie der kommunikativen Aktion mehr steckt als seine eigene Unfähigkeit zu kommunizieren.

Von dem bisher Gesagten wird es dem Leser schon klargeworden sein, dass ich in diesem Buch kein Blatt vor den Mund nehme. Ich würde das Buch vielmehr als eine Provokation beschreiben. Trotzdem mache ich mir die Mühe, die guten wie die schlechten Seiten der Autoren, die ich behandle, zu beleuchten. Ich hoffe deshalb, dass die Texte von Menschen aller politischen Überzeugungen mit Gewinn gelesen werden können.

Bei meinen Vorbereitungen zu diesem Buch waren mir Mark Dooley, Sebastian Gardner, Robert Grant und Wilfrid Hodges mit ihren Kommentaren und Kritiken eine große Hilfe. An den Verbrechen, die ich in diesem Buch begangen habe, tragen sie keine Schuld.

Roger Scruton,

Scrutopia, 2015

Kapitel 1 Was ist »links«?

Der moderne Begriff »links« stammt aus dem Jahre 1789, als in der Französischen Generalversammlung der Adel zur rechten Seite des Königs saß und der »dritte Stand« zu seiner linken. Es hätte auch andersherum sein können. In der Tat war es für jeden Beobachter andersherum – außer natürlich für den König selbst. Dennoch, die Bezeichnungen »links« und »rechts« sind uns erhalten geblieben und werden heute in jeder politischen Ordnung zur Charakterisierung von Parteien und Meinungen verwendet. Das daraus resultierende Bild von entlang einer Linie aufgereihten politischen Meinungen kann nur an einem konkreten Ort richtig verstanden werden, und nur dann, wenn dort Regierungen umkämpft und angefeindet sein können. Doch selbst wenn die Umrisse des politischen Prozesses mit diesem Bild beschrieben werden können, wird es den Theorien, die den Prozess beeinflussen und zur Entstehung des politischen Meinungsklimas führen, nicht gerecht. Warum also wird das Wort »links« zur Charakterisierung der Denker benutzt, die in diesem Buch behandelt werden? Warum soll ein einziger Begriff ausreichen, um Anarchisten wie Foucault, marxistische Dogmatiker wie Althusser, unbändige Nihilisten wie Žižek und amerikanische Liberale wie Dworkin und Rorty zu erfassen?

Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen haben sich die hier versammelten Denker selbst als Linke bezeichnet. Zum anderen haben sie eine beständige Sichtweise auf die Welt, die mindestens seit der Aufklärung ein dauerhaftes Merkmal der westlichen Zivilisation ist. Sie wird von den aufwendigen gesellschaftlichen und politischen Theorien gespeist, die ich im Weiteren zu erörtern gedenke. Viele der behandelten Personen fühlten sich der sogenannten »Neuen Linken« zugehörig, die in den 1960er und 1970er Jahren zu großer Bedeutung gelangten. Andere gehören zum weiten Feld des politischen Denkens der Nachkriegszeit, als man davon ausging, dass der Staat für die Gesellschaft verantwortlich und bevollmächtigt sei, deren Güter zu verteilen.

Der Vorgänger dieses Buches, Thinkers of the New Left, wurde veröffentlicht, bevor die Sowjetunion zusammengebrochen, die Europäische Union als neue imperiale Macht entstanden war und bevor sich China in einen aggressiven Vertreter des Gangster-Kapitalismus verwandelt hatte. Selbstverständlich mussten sich die linken Denker diesen Entwicklungen anpassen. Der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und die Schwächen der sozialistischen Volkswirtschaften verliehen der Wirtschaftspolitik der »Neuen Rechten« für kurze Zeit eine gewisse Glaubwürdigkeit. Selbst die britische Labour Partei sprang auf diesen Zug auf und verabschiedete sich von Paragraph IV in ihrem Programm, der das Staatseigentum als Ziel definierte, und akzeptierte fortan, dass die Industrie nicht unter die direkte Verantwortung des Staates gehört.

Eine Zeit lang sah es sogar so aus, als könnte man mit einer Entschuldigung von jenen rechnen, die ihre intellektuellen und politischen Anstrengungen der Schönfärberei der Sowjetunion oder dem Lob der »Volksrepubliken« China und Vietnam gewidmet hatten. Doch die Zeit der Zweifel währte nur kurz. Innerhalb eines Jahrzehnts eroberte das linke Establishment erneut die Führung, Noam Chomsky und Howard Zinn erneuerten ihre maßlosen Anklagen gegen Amerika, die europäischen Linken fanden im Kampf gegen den »Neoliberalismus« wieder zusammen, als wäre der immer schon das Problem gewesen, Dworkin und Habermas erhielten prestigeträchtige Preise für ihre kaum lesbaren, aber makellos orthodoxen Bücher, und der kommunistische Veteran Eric Hobsbawm wurde für seine lebenslange Loyalität zur Sowjetunion mit der Auszeichnung »Companion of Honour«1 durch die britische Königin belohnt.

Es trifft schon zu, dass der Feind nicht mehr derselbe war: Die marxistische Schablone konnte nicht einfach den neuen Bedingungen angepasst werden, und es wäre auch ein bisschen verrückt gewesen, die Sache der Arbeiterklasse zu verfechten, während deren letzte Angehörige entweder in die Gruppe der Nicht-Beschäftigbaren abrutschten oder zu kleinen Selbstständigen wurden. Doch dann kam die Finanzkrise, die überall in der Welt viele in relative Armut stieß, während die offensichtlichen Verbrecher – die Banker, Investoren und Spekulanten – davon unberührt mit ihren Gewinnen davonkamen. Im Ergebnis erlangten Bücher, die der Marktwirtschaft kritisch gegenüberstanden, neue Popularität, entweder, indem sie uns daran erinnerten, dass wahre Werte nicht gehandelt werden können (zum Beispiel Michael Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann). Oder sie behaupteten, dass die Marktwirtschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen von den Ärmsten nimmt und die Reichsten noch reicher macht (zum Beispiel Joseph Stiglitz: Der Preis der Ungleichheit und Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert). Auf dem immer noch fruchtbaren Boden des marxistischen Humanismus gediehen die neuen Argumente, mit denen die moralische und geistige Erniedrigung der Menschheit unter den Bedingungen des freien Austausches beschrieben wurde (zum Beispiel Gilles Lipovetsky, Jean Serroy: L’esthétisation du Monde. Vivre à l’âge du capitalisme artiste, Naomi Klein: No Logo und Philip Roscoe: Rechnet sich das? Wie ökonomisches Denken unsere Gesellschaft ärmer macht).

So gewannen linke Denker und Autoren alsbald ihr altes Gleichgewicht zurück. Sie versicherten der Welt, dass sie niemals wirklich von der kommunistischen Propaganda beeinflusst worden seien, und erneuerten ihre Angriffe auf die westliche Zivilisation und deren »neo-liberale« Wirtschaft, die sie als die größte Bedrohung der Menschheit in der globalisierten Welt beschrieben. »Rechts« wurde wieder zu einem ebenso missbrauchten Begriff wie vor dem Fall der Berliner Mauer. Die Gesinnungen, die in diesem Buch beschrieben werden sollen, passten sich den neuen Bedingungen an, ohne viel von ihrer oppositionellen Inbrunst einzubüßen. Diese merkwürdige Tatsache ist eine der vielen Rätsel, die ich im Weiteren zu lösen versuchen werde.

Die klar definierte linke Position existierte schon, bevor die Unterscheidung zwischen »Links« und »Rechts« erfunden wurde. Linke glauben – wie die Jakobiner der Französischen Revolution –, dass die Güter dieser Welt ungerecht verteilt seien und dass der Fehler nicht in der menschlichen Natur begründet sei, sondern in der Enteignung durch eine herrschende Klasse. Linke definieren sich als die Gegner der bestehenden Macht, als die Vorkämpfer einer neuen Ordnung, die endlich die Grundlage für die uralten Klagen der Unterdrückten beseitigt.

Zwei Eigenschaften der neuen Ordnung rechtfertigen, warum sie erstrebenswert sein soll: Befreiung und »soziale Gerechtigkeit«. Diese beiden Zielsetzungen entsprechen annähernd den Losungen »Freiheit« und »Gleichheit« der Französischen Revolution – aber nur annähernd. Die Befreiung, die heute von linken Bewegungen gefordert wird, bedeutet nicht einfach die Freiheit von politischer Unterdrückung oder das Recht, ungestört den eigenen Angelegenheiten nachzugehen. Sie bedeutet die Emanzipation von den »Strukturen«, von Institutionen, Sitten und Gebräuchen, die die »bourgeoise« Ordnung geprägt und das System von gemeinsamen Normen und Werten, das heißt, das Wesen der westlichen Gesellschaften, gebildet haben. Selbst jene Linke, die die libertären Ideen der 1960er Jahre ablehnten, verstehen unter Freiheit die Befreiung von gesellschaftlichen Schranken. Viele ihrer Werke widmen sich der Dekonstruktion solcher Institutionen wie der Familie, der Schule, des Rechts und des Nationalstaats, die dafür sorgten, dass das Erbe der westlichen Zivilisation weitergegeben werden konnte. Diese Schriften – am ausdrücklichsten geschieht das in den Werken von Michael Foucault – stellen das, was andere als Instrumente der bürgerlichen Ordnung bezeichnen würden, als »Strukturen der Unterdrückung« dar.

Die Befreiung des Opfers ist eine ewige Aufgabe, denn kaum sind einige verschwunden, tauchen schon wieder neue am Horizont auf. Die Befreiung der Frauen von der Unterdrückung durch die Männer, der Tiere von der Misshandlung durch Menschen, der Homosexuellen und Transsexuellen von der »Homophobie«, selbst der Muslime von der »Islamophobie« – all dies wurde von den neueren linken Programmen absorbiert und ist unter der Kontrolle der zensurbewaffneten Bürokratie im Recht und in der Aufgabenstellung von Komitees verankert worden. Schritt für Schritt sind die alten Normen der gesellschaftlichen Ordnung verdrängt oder sogar als Verletzungen der »Menschenrechte« unter Strafe gestellt worden. Das Ziel der »Befreiung« hat mehr Gesetze hervorgebracht, als die Unterdrückung je hat erfinden können – denken wir allein an die heutigen Bestimmungen gegen »Diskriminierung«.

Dementsprechend ist das Ziel »sozialer Gerechtigkeit« nicht mehr die Gleichheit vor dem Recht oder der Anspruch auf das gleiche Recht aller Staatsbürger, wie die Aufklärung sie gefordert hatte. Das Ziel ist die umfassende Umgestaltung der Gesellschaft: Privilegien, Hierarchien und selbst die ungleiche Verteilung der Güter sollen überwunden oder zumindest infrage gestellt werden. Der noch radikalere Egalitarismus der Marxisten und Anarchisten des 19. Jahrhunderts, die das Privateigentum aufheben wollten, mag vielleicht an Anziehungskraft eingebüßt haben. Aber hinter der Parole der »sozialen Gerechtigkeit« haben sich Menschen mit einer noch verbisseneren Mentalität versammelt, die glauben, dass in jedem Bereich – seien es Eigentum, Freizeit, gesetzliche Privilegien, gesellschaftlicher Rang, Bildungschancen oder was auch immer wir für uns und unsere Kinder wünschen mögen – so lange Ungleichheit herrscht, bis das Gegenteil bewiesen wird. In jedem Bereich, in dem die gesellschaftliche Stellung von Individuen verglichen werden kann, ist Gleichheit die Standardposition.

Eingebettet in die sanftmütige Prosa von John Rawls könnte man diese Annahme noch übersehen. Aber in Anbetracht der Forderung Ronald Dworkins nach »respektiert werden als Gleicher« im Gegensatz zu »gleichem Respekt« wird man sich schon fragen, wohin dieses Argument führt. Das Entscheidende ist, dass das Argument nichts duldet, was sich ihm in den Weg stellen könnte: keinen vorhandenen Brauch, keine Institution, kein Recht und keine Hierarchie, keine Tradition, Unterscheidung und Regel und keinen Glauben, nichts, was keine unabhängige Beglaubigung vorweisen kann. Alles, was sich mit dem egalitären Ziel nicht vereinbaren lässt, muss abgerissen und neu erbaut werden, und die einfache Tatsache, dass mancher Brauch oder manche Institution überliefert wurde und akzeptiert ist, wird als Argument für die Erhaltung nicht ausreichen. Auf diesem Wege wird »soziale Gerechtigkeit« zu einer kaum verhüllten Forderung nach dem »klaren Schnitt« in der Geschichte, den Revolutionäre immer schon angestrebt hatten.

Dass die zwei Ziele, Befreiung und soziale Gerechtigkeit, miteinander kompatibel seien, ist nicht offenkundig, ebenso wenig wie die von der Französischen Revolution geforderte Freiheit und Gleichheit es waren. Wenn Befreiung auch die Befreiung des individuellen Potenzials bedeutet, wie halten wir dann die Ehrgeizigen, Energischen, Intelligenten, Gutaussehenden und Starken davon ab, vorwärtszustreben? Was dürfen wir uns erlauben, um sie aufzuhalten? Diese unmöglichen Fragen sollten erst gar nicht gestellt werden. Es ist einfacher, die alten Vorurteile zu erwecken, als zu fragen, was passiert, wenn man sie offen formuliert. Indem die Linke den traditionellen Hierarchien und Institutionen im Namen der beiden Ideale den Krieg erklärt, ist sie zugleich in der Lage, den Konflikt zwischen den beiden Zielsetzungen zu vernebeln. Darüber hinaus ist das Ziel der »sozialen Gerechtigkeit« dermaßen über jeden Zweifel erhaben, so fraglos wichtiger als alle vorhandenen, ihr im Wege stehenden Interessen, dass jede in ihrem Namen unternommene Aktion veredelt wird.

Es ist wichtig, auf dieses Veredelungspotenzial hinzuweisen. Viele Linke stehen utopischen Ideen skeptisch gegenüber. Doch haben sie sich erst hinter der Flagge der Moral versammelt, lassen sie sich von den radikalsten Mitgliedern ihrer Sekte begeistern, inspirieren und am Ende auch führen. Für die Linke hat Politik immer ein Ziel: Die Rolle, die man in der Allianz einnehmen wird, hängt davon ab, wie weit man bereit ist, für die »soziale Gerechtigkeit« zu gehen, wie auch immer sie definiert sein soll. Dagegen ist der Konservativismus – zumindest in seiner britischen Tradition – eine Politik der Sitten, der Kompromisse und der entschiedenen Unentschiedenheit. Für Konservative sind politische Zusammenschlüsse wie Freundschaften: Sie haben kein übergeordnetes Ziel und ändern sich Tag für Tag, der unvorhersehbaren Logik einer Konversation folgend. Extremisten in einer konservativen Allianz sind deshalb Sonderlinge, isoliert und sogar gefährlich. Statt engagierte Partner in einer gemeinsamen Sache zu sein, sind sie gerade durch ihre Zielstrebigkeit von jenen, die sie zu führen gedenken, weit entfernt.2

Marx hatte die verschiedenen Vorstellungen vom Sozialismus zu seiner Zeit als »utopisch« abgelehnt. Er verwarf den »utopischen Sozialismus« im Namen seines eigenen »wissenschaftlichen Sozialismus«, dessen vorhersagbares Ergebnis der »vollendete Kommunismus« sein sollte. Die »historische Unvermeidlichkeit« dieses Zustandes entband Marx von der Notwendigkeit, ihn zu beschreiben. Die »Wissenschaft« besteht aus den »Gesetzen der historischen Entwicklung«, wie sie in Das Kapital und anderen Schriften dargelegt wurden. Demnach führt die ökonomische Entwicklung zu fortlaufenden Veränderungen in der ökonomischen Infrastruktur der Gesellschaft, was wiederum die Vorhersage ermöglicht, dass das Privateigentum eines Tages verschwinden werde. Nach einer Periode der sozialistischen Aufsicht – der »Diktatur des Proletariats« – »stirbt der Staat ab«, Gesetze würden unnötig, und es würde sie auch nicht mehr geben, und alles würde zu Gemeinschaftseigentum. Die Arbeitsteilung verschwände, und jeder könnte entsprechend seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen leben. Es werde möglich, »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren«, erklärt Marx in Die deutsche Ideologie.

Es ist – rückblickend gesehen – ein Witz, dass diese Darstellung »wissenschaftlich« und nicht utopisch sein soll. Die Anmerkung über das Jagen, das Fischen, das Betreiben von Landwirtschaft und Literaturkritik ist Marx’ einziger Versuch geblieben, das Leben ohne Privateigentum zu beschreiben. Wenn man fragt, woher man das Gewehr und die Angelrute nehmen soll, wer die Meute der Jagdhunde organisiert, wer den Wald und die Wasserstraßen pflegt, wer sich um die Milch und die Kälber kümmert und wer die Literaturkritik veröffentlicht, dann werden diese Fragen als »nicht zur Sache gehörend« zurückgewiesen, man werde sie in Zukunft schon lösen, wie, das würde uns heute nichts angehen. Die Frage, ob der immense Aufwand an Organisation, die für diese Freizeitaktivitäten der internationalen Oberklasse notwendig sein werden, ohne Recht und Eigentum und deshalb auch ohne Befehlsketten überhaupt möglich sei, ist zu trivial, um gestellt zu werden. Oder eher umgekehrt: Sie sind viel zu ernsthaft, um darüber nachzudenken, und deshalb werden sie gar nicht erst wahrgenommen. Denn die Marx’sche Vorstellung vom »entwickelten Kommunismus« ist ein Widerspruch: Es ist ein Zustand, in dem all die Leistungen der Rechtsordnung vorhanden sind, obwohl es keine Gesetze gibt; in dem all die Produkte der gesellschaftlichen Arbeitsteilung existieren, obwohl es kein Eigentumsrecht gibt, das bisher jedoch der einzige Grund dafür war, dass Produkte überhaupt hergestellt wurden.

Der innere Widerspruch der sozialistischen Utopien ist eine Erklärung dafür, warum bei jedem Versuch, sie in die Tat umzusetzen, Gewalt angewendet werden musste: Menschen dazu zu zwingen, Dinge zu tun, die unmöglich sind, erfordert unendlichen Druck. Die Erinnerung an die Utopien lastete schwer sowohl auf den Denkern der Neuen Linken der 1960er Jahre als auch auf den amerikanischen Linksliberalen, die ihre Ansichten übernahmen. Man kann nicht mehr zu den vagen Spekulationen flüchten, die Marx noch zufriedengestellt hatten. Man braucht echtes Denken, um uns glauben zu machen, dass sich die Geschichte zum Sozialismus hin entwickelt, oder zumindest entwickeln sollte. Folglich tauchen die Historiker auf, die die Gräueltaten, die im Namen des Sozialismus begangen wurden, systematisch kleinreden und die »reaktionären« Kräfte beschuldigen, jene Katastrophen verursacht zu haben, die den Fortschritt des Sozialismus behindert haben sollen. Statt zu versuchen, die Ziele der Befreiung und der Gleichheit zu definieren, haben die Denker der Neuen Linken eine künstliche Mythologie der modernen Welt erschaffen, in der die Kriege und Völkermorde jenen zugeschrieben wurden, die sich dem »gerechten« Kampf für soziale Gerechtigkeit entgegengestellt hatten. Die Geschichte wurde als Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen den Kräften des Lichts und der Dunkelheit umgeschrieben. Dieses manichäische Weltbild – nuanciert und ausgeschmückt durch viele brillante Vertreter – begegnet uns täglich sowohl in den schulischen Lehrplänen als auch in den Medien.

Die moralische Asymmetrie, nach der die Linke das Monopol der moralischen Tugend besitzt und die »Rechte« immer eine Schmähung ist, wird von einer logischen Asymmetrie begleitet, nämlich durch die Annahme, dass die Beweislast immer bei der anderen Seite liege. Nichts kann von dieser Beweislast entbinden. Als in den 1970er und 1980er Jahren die Marx’schen Theorien als die wahre Darstellung der Leiden der Menschheit unter dem »Kapitalismus« wieder aufgewärmt wurden, wurde in den linken Magazinen die Kritik, die die Marx’sche Theorie im vorigen Jahrhundert erfahren hatte, nur in den allerseltensten Fällen erwähnt. Die Marx’sche Theorie der Geschichte wurde infrage gestellt durch Frederic William Maitland, Max Weber und Werner Sombart,3 seine Theorie der Arbeit durch Eugen von Böhm-Bawerk, Ludwig von Mises und viele andere.4 Seine Theorien über das falsche Bewusstsein, Entfremdung und Klassenkampf wurden von einer ganzen Reihe von Denkern widerlegt, angefangen bei William H. Mallock, Werner Sombart und Karl Popper bis hin zu Friedrich von Hayek und Raymond Aron.5 Nicht all diese Kritiker können als rechts bezeichnet werden, und nicht alle standen der Idee der »sozialen Gerechtigkeit« feindlich gegenüber. Doch sie alle wurden von den Neuen Linken nur mit Verachtung gestraft, zumindest soweit es mir während des Schreibens dieses Buches bekannt geworden ist.

Nachdem wir das alles festgehalten haben, müssen wir feststellen, dass heute auf den linken Nasen keine marxistischen Brillen mehr sitzen. Warum sie von dort entfernt wurden und durch wen, ist schwer zu sagen. Aber aus welchem Grund auch immer, die linke Politik hat das von den Neuen Linken vertretene revolutionäre Paradigma zugunsten von bürokratischen Abläufen und der institutionalisierten Wohlfahrtskultur beseitigt. Die beiden Ziele, Befreiung und soziale Gerechtigkeit, gelten immer noch, aber sie werden durch die Gesetzgebung, durch Komitees und Regierungskommissionen gefördert, um alle Quellen von Diskriminierung zu beseitigen. Befreiung und soziale Gerechtigkeit sind bürokratisiert worden. Wenn ich auf die linken Intellektuellen des letzten Jahrzehnts vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurückblicke, sehe ich eine Kultur, die heute überwiegend in den akademischen Schützengräben überlebt. Sie nährt sich von den Jargon-geplagten Texten, die sich in den Universitätsbibliotheken angesammelt hatten, in den Tagen, als die Universitäten Teil des antikapitalistischen »Kampfes« waren.

Aber achten wir auf dieses Wort »Kampf«. Es ist eingebettet in das Vokabular, das mit dem Marxismus Einzug in die Sprache gehalten hat und das in den Jahren, während die Sozialisten die intellektuelle Vorherrschaft eroberten, schrittweise vereinfacht und reglementiert wurde. Die kommunistische Bewegung führte von Anfang an den Kampf um die Sprache und schätzte die marxistische Theorie unter anderem deshalb, weil sie sowohl für Freunde als auch Feinde leicht anwendbare Etiketten bereitstellte, um den Konflikt zwischen beiden zu dramatisieren. Diese Angewohnheit erwies sich als ansteckend, und so wurden alle folgenden linken Bewegungen von ihr infiziert. Tatsächlich ist die Transformation der politischen Sprache das wichtigste Erbe der Linken, und es ist eine der Zielsetzungen dieses Buches, die Sprache vor dem sozialistischen »Neusprech« zu bewahren.

Den Ausdruck »Neusprech« verdanken wir George Orwells erschreckendem Portrait eines imaginären totalitären Staates. Doch die Eroberung der Sprache durch die Linke geht viel weiter zurück, sie begann schon mit der Französischen Revolution und ihren Parolen. Das Ereignis, das Orwell so fasziniert hatte, war die Gründung der Sozialistischen Internationale und der Eifer, mit dem sich die russische Intelligenzija ihr unterordnete. Jene, die als Sieger in die 1889 gegründete Zweite Sozialistische Internationale eingegangen sind, wurden mit der Vision einer transformierten Welt belohnt. Diese gnostische Offenbarung war so klar, dass es keiner Argumente bedurfte – und es waren auch keine möglich –, um einen begründeten Beweis für ihre Richtigkeit zu erbringen. Es zählte nur, wer dafür war und wer dagegen. Und am gefährlichsten waren jene, die nur ein winzig kleines bisschen widersprachen, sodass die Gefahr bestand, dass sie ihre Energien mit denen der Gegner vereinten und auf diese Weise die Reinheit der Bewegung gefährdeten.

Deshalb brauchte man von Anfang an Etiketten, um die inneren Feinde zu stigmatisieren und ihren Ausschluss zu legitimieren: Sie wurden als Revisionisten, Abweichler, infantile Linke, utopische Sozialisten, Sozialfaschisten und noch vieles mehr bezeichnet. Die Spaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands auf ihrem zweiten Kongress 1903 in Menschewiki und Bolschewiki kann als Inbegriff dieses Prozesses gelten: Die beiden fabrizierten Bezeichnungen, die selbst Lügen waren, da die Menschewiki, also die sogenannte Minderheit, tatsächlich die Mehrheit bildeten, sind so in die Sprache der Politik und der kommunistischen Elite eingraviert worden.

Der Erfolg dieser Etiketten bei der Marginalisierung und Verurteilung von Gegnern festigte die kommunistische Überzeugung, dass man die Realität verändern konnte, wenn man nur die Wörter veränderte. Man konnte eine proletarische Kultur erschaffen, indem man das Wort »Proletkult« erfand. Man konnte den Untergang der freien Wirtschaft herbeiführen, wenn man nur jedes Mal, wenn das Thema aufkam, »Krise des Kapitalismus!« schrie. Man konnte die absolute Macht der Kommunistischen Partei und die freie Zustimmung der Menschen unter einen Hut bringen, indem man die kommunistische Herrschaft in »demokratischen Zentralismus« umtaufte und die Länder, die ihr unterworfen waren, als »Volksdemokratien« bezeichnete. Neusprech baut die politische Landschaft neu zusammen, nachdem sie sie in fremdartiger Weise zerteilt hat, und erschafft so die Illusion, dass sie – wie die anatomische Beschreibung des menschlichen Körpers – die verborgene Struktur zutage treten lässt, in die vordergründig die einzelnen Einheiten eingebettet sind. Danach ist es ganz einfach, die Realität, in der wir leben, als Illusion zurückzuweisen.

Wir begegnen Neusprech immer dann, wenn die wichtigste Aufgabe der Sprache, die Beschreibung der Realität, durch den rivalisierenden Zweck der Machtausübung über die Wirklichkeit ersetzt wird. Der grundlegende Sprechakt gleicht dann nur auf der Oberfläche grammatikalisch einer Aussage. Neusprech-Sätze klingen zwar wie Aussagen, aber in Wahrheit sind sie Zaubersprüche. Sie beschwören den Sieg der Wörter über die Dinge, die Vergeblichkeit von rationalen Argumenten und die Gefahren des Widerstands. Im Ergebnis hat Neusprech eine eigene Syntax entwickelt, die zwar eng verwandt ist mit der Syntax, die in der normalen Rede benutzt wird, jedoch jede Begegnung mit der Realität oder mit der Logik eines rationalen Arguments vermeidet. Françoise Thom hat darüber in ihrer großartigen Studie La langue de bois geschrieben.6 Der Zweck des kommunistischen Neusprech sei, schreibt Thom ironisch, »die Ideologie vor dem heimtückischen Angriff der Dinge zu bewahren«.

Menschliche Wesen sind die wichtigsten Bestandteile der Realität, sie sind jenes Hindernis, das alle revolutionären Systeme überwinden und alle Ideologien besiegen müssen. Die Vorliebe der Menschen für das Besondere und das Zufällige, ihre peinliche Tendenz, das zu ihrer Verbesserung Verordnete zurückzuweisen, ihre Wahlfreiheit und die Rechte und Pflichten, durch die sie diese verwirklichen – all dies sind Hindernisse, die dem gewissenhaften Revolutionär bei der Verwirklichung seines Fünfjahresplans im Wege stehen. Deshalb müssen politische Bestrebungen so beschrieben werden, dass darin Individuen keinen Platz haben. Im Neusprech redet man von Kräften, Klassen und vom Gang der Geschichte. Nur deshalb kann das Handeln großer Männer überhaupt Gegenstand von Diskussionen sein, weil große Männer wie Napoleon, Lenin oder Hitler in Wirklichkeit der Ausdruck von abstrakten Kräften sind, wie des Imperialismus, des revolutionären Sozialismus oder des Faschismus.7 Die verschiedenen »-ismen«, die das politische Geschehen bestimmen, wirken durch Menschen und sind nicht von ihnen gewollt.

Mit der unablässigen Benutzung von Abstraktionen ist ein Charakteristikum verbunden, das Thom als »Pan-Dynamismus« bezeichnet. Die Welt des Neusprech besteht aus abstrakten Kräften, in ihr sind die Individuen nur lokale Verkörperungen der »-ismen«, die sich durch sie offenbaren. Es ist deshalb eine Welt ohne Handlungen. Aber sie ist nicht bewegungslos. Im Gegenteil, alles ist in permanenter Bewegung, vorangetrieben durch die Kräfte des Fortschritts oder verhindert durch die Kräfte der Reaktion. Ein Gleichgewicht existiert nicht, genauso wenig wie Stillstand oder Ruhepausen. Jede Ruhe ist trügerisch, ebenso wie die Ruhe eines Vulkans, der jede Zeit ausbrechen könnte. Im Neusprech herrscht niemals Frieden, eine Zeit der Ruhe und der Normalität gibt es nicht. Es gibt immer etwas, wofür man »kämpfen« muss: Der »Kampf für den Frieden« gehörte zu den offiziellen Parolen der Kommunistischen Parteien.

Die Vorliebe für »unumkehrbare« Veränderungen entstammt der gleichen Quelle. Weil alles in Bewegung ist und der »Kampf« zwischen den Kräften des Fortschritts und der Reaktion zu jeder Zeit und überall stattfindet, ist es wichtig, den Sieg der Ideologie über die Realität immer wieder festzuhalten und zu bestätigen. Deshalb führen die fortschrittlichen Kräfte ununterbrochen »unumkehrbare Veränderungen« herbei, während die reaktionären Kräfte bei ihren widersprüchlichen und nur »nostalgischen« Versuchen, die zum Tode verurteilte Gesellschaftsordnung zu verteidigen, scheitern müssen.

Viele Wörter respektabler Herkunft sind Teil des Neusprech geworden, indem sie – ungeachtet der beobachtbaren Realität – zur Mahnung und Verurteilung genutzt werden. Auf kein Wort trifft das mehr zu als auf den Ausdruck »Kapitalismus«, der dazu verwendet wird, die freien Wirtschaften als Formen der Sklaverei und der Ausbeutung zu verurteilen. Wir können ohne Weiteres dem zentralen Argument, das Marx in Das Kapital hervorbringt, widersprechen und trotzdem anerkennen, dass es so etwas wie ökonomisches Kapital gibt. Und wir können eine Wirtschaftsweise, in der sich erhebliche Teile des Kapitals in den Händen privater Individuen befinden, als kapitalistisch bezeichnen, indem wir diesen Ausdruck als neutrale Beschreibung benutzen, die unter Umständen einen Teil einer erklärenden Theorie bilden kann, oder auch nicht. Doch der Ausdruck wird nicht in der Weise in Formulierungen wie »die Krise des Kapitalismus« oder »die kapitalistische Ausbeutung« oder »die kapitalistische Ideologie« verwendet. Hier funktioniert das Wort als Beschwörung und entspricht in der ökonomischen Theorie in etwa dem berühmten Ausruf des sowjetischen Parteichefs Chruschtschow vor westlichen Gesandten 1956: »Wir werden euch beerdigen!« Wer die freien Ökonomien mit dem Neusprech-Terminus »Kapitalismus« beschreibt, verwendet ein Zauberwort, das diese auslöscht. Die Realität der freien Ökonomien verschwindet hinter dieser Bezeichnung und wird durch ein merkwürdiges barockes Gebäude ersetzt, das in einer traumhaften Sequenz der Vernichtung immer wieder zusammenstürzt.

Die Auffassungen, die im Verlauf von normalen Dialogen entstehen, folgen dem Bedürfnis nach einem Kompromiss; man will eine Übereinkunft erzielen, um eine friedliche Übereinstimmung mit Menschen zu erreichen, die weder an unseren Projekten beteiligt sind noch unsere Zuneigungen teilen, die jedoch ebenso wie wir Freiheitsräume benötigen. Diese Vorstellung hat nichts mit den Systemen und Plänen der revolutionären Linken gemein, denn sie ermöglicht jenen, die so vorgehen, ihre Richtung zu ändern, ein Ziel fallen zu lassen und ein anderes zu wählen, ihr Vorgehen zu berichtigen und jene Flexibilität zu zeigen, von der der dauerhafte Frieden am Ende immer abhängt.

Deshalb kann ich als Intellektueller in meinem Elfenbeinturm mit Genugtuung und einem reinen Gewissen über die »Liquidierung der Bourgeoisie« nachdenken, doch wenn ich mich in einen Laden hinunterbegebe, muss ich eine andere Sprache sprechen. Nur in einem sehr entfernten Sinne ist die Frau hinter der Ladentheke ein Mitglied der Bourgeoisie. Wenn ich sie trotzdem als solche sehen will, dann benutze ich das Wort »Bourgeoisie« als Beschwörung – ich versuche, Macht über diese Person zu erlangen, indem ich ihr ein Etikett anhänge. Wenn ich der Ladenbesitzerin aber als menschlichem Wesen begegnen will, muss ich dieses anmaßende Machtstreben aufgeben und ihr eine eigene Stimme zugestehen. Meine Sprache muss ihrer Stimme einen Raum lassen, und das bedeutet, sie muss die Auflösung eines Konflikts und eine Übereinstimmung zulassen, auch die Übereinstimmung darüber, dass wir unterschiedliche Ansichten haben. Ich mache Bemerkungen über das Wetter, nörgle über die Politik, wir halten ein Schwätzchen, und meine Sprache wird die Wirklichkeit in weicherem Licht erscheinen lassen, sie anschmiegsamer und behandelbarer machen. Neusprech negiert die Wirklichkeit, das heißt, es verhärtet sie, indem es die Realität in etwas Feindliches und Widerständiges verwandelt, in etwas, womit man »kämpfen« und was man besiegen muss.

Ich mag aus meinem Turm mit dem Plan heruntergekommen sein, den ersten Schritt auf dem Weg der Liquidation der Bourgeoisie zu tun, worüber ich gerade in meinem marxistischen Leitfaden gelesen habe. Doch dieser Plan wird den ersten Austausch mit meinem erwählten Opfer nicht überleben, und der Versuch seiner Ankündigung wird in etwa den gleichen Effekt haben wie der Wind in der Fabel von Aesop, der mit der Sonne wetteiferte, wem es gelingt, den Mantel des Wanderers auszuziehen. Normale Sprache erwärmt und macht sanfter, Neusprech macht frostig und hart. Eine normale Unterhaltung generiert mit ihren eigenen Mitteln Ideen, die Neusprech verbietet: fair/unfair; gerecht/ungerecht; Recht/Pflicht; ehrlich/unehrlich; legal/illegal; dein/mein. Solche Unterscheidungen, die zum freien Austausch von Gefühlen, Ansichten und Gütern gehören, erschaffen eine Gesellschaft, in der eine spontane Ordnung herrscht und kein Plan, und in der die ungleiche Verteilung von Gütern durch die »unsichtbare Hand« geschieht.

Nicht nur, dass Neusprech einen Plan impliziert: Es eliminiert auch die Auseinandersetzung, die es überhaupt ermöglichen würde, dass Menschen ohne einen Plan leben können. Wenn im Neusprech von Gerechtigkeit die Rede ist, dann ist nicht die von individuellen Handlungen gemeint, sondern die »soziale Gerechtigkeit«, eine Gerechtigkeit, die durch einen Plan entsteht, was unweigerlich bedeutet, dass Individuen Güter entzogen werden, die sie durch faires Handeln auf dem Markt erworben haben. Es ist die Meinung so gut wie aller Denker, die ich in diesem Buch behandeln werde, dass es das Recht der Regierung sei, jene Güter, auf die jeder Bürger ein Anrecht haben soll, sich anzueignen und umzuverteilen. Das aber entspricht keiner vorher schon vorhandenen, durch unseren freien Willen gestalteten gesellschaftlichen Ordnung und auch nicht unserer natürlichen Gesinnung, gegenseitig Verantwortung zu tragen. Es ist vielmehr eine im Sinne der »sozialen Gerechtigkeit« erschaffene und gelenkte Gesellschaftsordnung, die den Menschen durch Verordnungen von oben aufgezwungen wird.

Intellektuelle fühlen sich von Natur aus von der Idee der Planwirtschaft und der eigenen führenden Rolle dabei angezogen. Deshalb tendieren sie dazu, die Tatsache aus den Augen zu verlieren, dass ein echter gesellschaftlicher Diskurs Teil der tagtäglichen Lösung von Problemen und der Suche nach einer Übereinkunft sein sollte. Ein echter gesellschaftlicher Diskurs ist unvereinbar mit »unumkehrbaren Veränderungen«, er betrachtet vielmehr alle Maßnahmen als korrigierbar und verleiht jenen eine Stimme, deren Einverständnis für Veränderungen benötigt wird. Auf dieser Grundlage sind das englische common law und die parlamentarischen Institutionen entstanden, die die Souveränität des britischen Volkes verkörpern.

Wir werden in den folgenden Kapiteln immer wieder dem Neusprech der linken Denker begegnen. Wo Konservative und altmodische Liberale von Autorität, Regierung und Institutionen sprechen, verweisen Linke auf Macht und Vorherrschaft. In der linken Sicht des politischen Lebens spielen Gesetze und Ämter nur eine marginale Rolle. Dagegen wird behauptet, dass Klassen, Macht und verschiedene Formen der Kontrolle das Wesen der bürgerlichen Ordnung ausmachen, zusammen mit der »Ideologie«, die diese Erscheinungen verdeckt und sie unseres Urteils entzieht. Im Neusprech wird der politische Prozess als ein ununterbrochener »Kampf« dargestellt, der durch die Fiktion von Legitimität und Loyalität verdeckt wird. Wenn man die Ideologie abkratzt, kommt die »Wahrheit« der Politik zum Vorschein. Die Wahrheit ist Macht und die Hoffnung, sie zu beseitigen.

Deshalb findet man fast nichts von dem, was wir als politisches Leben kennen, im Denken jener Autoren wieder, die ich auf den folgenden Seiten beschreiben werde. Institutionen wie Parlament und Gerichte des common law, die Spiritualität der Kirchen, Kapellen, Synagogen und Moscheen, Schulen und Berufsverbände, Organisationen der Wohltätigkeit, Pfadfinder, Fremdenführer, lokale Turniere, Fußballmannschaften, Blaskapellen und Orchester, Chöre, Theatergruppen und Clubs der Briefmarkensammler – kurz, alle Formen, in denen Menschen in gegenseitiger Übereinstimmung zusammenkommen und Autorität und Gehorsam entstehen lassen, durch die sie ihr Leben gestalten, all die »kleinen Einheiten«, über die Edmund Burke8 geschrieben hat, fehlen in der linken Weltsicht, oder wenn sie vorkommen (wie zum Beispiel bei Antonio Gramsci und Edward P. Thompson), werden sie sentimentalisiert und politisiert, um sie für den »Kampf« der Arbeiterklasse tauglich zu machen.

Deshalb sollte es uns nicht wundern, dass die Kommunisten, als sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Osteuropa an die Macht kamen, als Erstes die »kleinen Einheiten« zerschlugen. János Kádár, kommunistischer Innenminister der 1948 gegründeten ungarischen Regierung, schaffte es, innerhalb von einem Jahr fünftausend dieser Vereine zu verbieten. Durch Neusprech, das die Welt nur in den Kategorien von Macht und Kampf sieht, wird die Ansicht bestärkt, dass alle Zusammenschlüsse, die nicht durch die richtige Führerschaft kontrolliert werden, eine Gefahr für den Staat bedeuten. Und indem man dieser Devise entsprechend handelt, wird die Befürchtung zur Wirklichkeit: Denn wenn die Versammlung, die Truppe oder der Chor nur mit der Erlaubnis der Partei zusammenkommen darf, dann wird die Partei automatisch zum Feind.

Es ist deshalb kein Zufall, glaube ich, dass der Sieg des linken Denkens so häufig zu totalitären Regierungen geführt hat. Das Streben nach einer abstrakten sozialen Gerechtigkeit geht mit der Ansicht einher, dass Machtkämpfe und Unterdrückungsverhältnisse der wahre Ausdruck unserer gesellschaftlichen Zustände sind, während die auf Übereinkunft beruhenden Sitten, die althergebrachten Institutionen und die Rechtssysteme, die den realen Gemeinschaften Frieden brachten, nur Verkleidungen der Macht sind. Das Ziel ist, diese Macht zu erobern und sie zu nutzen, um die Unterdrückten zu befreien und alle Güter der Gesellschaft den gerechten Erfordernissen des Plans entsprechend unter ihnen zu verteilen.

Intellektuelle, die so denken, haben bereits die Möglichkeit von Kompromissen ausgeschlossen. Ihre totalitäre Sprache ebnet nicht den Weg zu Verhandlungen, sondern teilt die Menschen in Gruppen von Unschuldigen und Schuldigen auf. Hinter der leidenschaftlichen Rhetorik des Manifests der Kommunistischen Partei, hinter der Scheinwissenschaft der Marx’schen Werttheorie und der Klassenanalyse der Menschheitsgeschichte steckt eine einzige emotionale Quelle: die Feindseligkeit jenen gegenüber, die die Kontrolle haben. Diese Feindseligkeit wird sowohl rationalisiert als auch verstärkt durch den Nachweis, dass Besitzer von Eigentum eine »Klasse« bilden. Die Theorie besagt, dass die zur Klasse der »Bourgeois« gehörenden eine gemeinsame moralische Identität, einen einheitlichen und systematischen Zugang zu den Hebeln der Macht und gemeinsame Privilegien genießen. Die Bedingung für den Erwerb und die Sicherstellung all dieser guten Dinge ist die »Ausbeutung des Proletariats«, das nichts besitzt außer seiner Arbeitskraft und deshalb immer um die gerechten Früchte seiner Arbeit betrogen wird.

Diese Theorie war nicht nur deshalb so wirksam, weil sie die Missgunst verstärkte und legitimierte, sondern auch, weil sie die Fähigkeit besaß, alle rivalisierenden Theorien als »pure Ideologie« darzustellen. Das ist – glaube ich – das durchtriebenste Charakteristikum des Marxismus: dass er sich als Wissenschaft verkaufen konnte. Nachdem er auf die Unterscheidung zwischen Ideologie und Wissenschaft gestoßen ist, wollte Marx beweisen, dass seine eigene Ideologie an und für sich Wissenschaft sei. Darüber hinaus unterminierte seine angebliche Wissenschaft die Überzeugungen seiner Gegner. Die Marx’sche Klassenanalyse wies nach, dass die Herrschaft des Rechts, die Gewaltenteilung, die Eigentumsrechte und so weiter, wie sie von »bourgeoisen« Denkern wie Montesquieu und Hegel dargelegt wurden, nicht der Wahrheit, sondern dem Machtwillen dienten. Sie seien nichts anderes als ein Mittel zur Sicherung von Privilegien, die die bourgeoise Ordnung garantiere. Indem die Klassentheorie dieses Denken als egoistische Ideologie entlarvte, rechtfertigte sie ihren eigenen wissenschaftlichen Anspruch.

Dieser Aspekt des Marx’schen Denkens enthält eine theologische Durchtriebenheit, die wir auch in Foucaults Konzept des episteme wiederfinden, einer aufgefrischten Version der Marx’schen Theorie der Ideologie. Da die Klassentheorie echte Wissenschaft ist, muss das bourgeoise Denken Ideologie sein. Und da die Klassentheorie das bourgeoise Denken als Ideologie entlarvt, muss sie Wissenschaft sein. Damit sind wir in den magischen Kreis einer Schöpfungsmythologie eingetreten. Indem Marx seine Theorie in die Sprache der Wissenschaft verpackte, verlieh er ihr darüber hinaus den Charakter eines Initiationsabzeichens. Nicht jeder kann diese Sprache sprechen. Eine wissenschaftliche Theorie definiert die Elite, die sie versteht und anwenden kann. Sie erbringt den Beweis für das aufgeklärte Wissen der Elite und für ihre Berechtigung, zu führen. Es ist diese Eigenschaft der Marx’schen Theorie, die Eric Voegelin und Alain Besançon veranlasst hat, den Marxismus als eine Art Gnosis zu bezeichnen, eine Ermächtigung »zum Regieren durch Wissen«.9

Mit dem überheblichen Blick des Übermenschen Nietzsches gesehen mag das Ressentiment der bittere Bodensatz der »Sklavenmoral« sein, der armselige Verlust des Geistes, der immer dann geschieht, wenn die Menschen mehr Freude daran haben, andere herunterzuziehen, als sich selbst zu erhöhen. Doch diese Sichtweise ist falsch. Es ist nicht gut, Ressentiment zu empfinden, weder für sein Objekt noch für sein Subjekt. Aber es ist die Aufgabe der Gesellschaft, das soziale Leben so zu gestalten, dass Ressentiment nicht entsteht: indem man sich gegenseitig Hilfe leistet und Kameradschaft entstehen lässt. Das bedeutet nicht, dass alle gleich und harmlos mittelmäßig sein müssen, sondern dass sie die Mitwirkung anderer bei den eigenen kleinen Erfolgen suchen sollten. Wer auf diese Weise lebt, erschafft die Kanäle, durch die das Ressentiment von selbst versickern kann. Gemeint sind Kanäle wie Sitten, Geschenke, Gastfreundschaft, gemeinsame Gottesdienste, Reue, Vergebung und das common law. Doch all dies verschwindet, sobald Totalitäre an die Macht gelangen. Das Ressentiment ist für die Politik das, was der Schmerz für den Körper ist. Es ist übel, ihn zu empfinden, aber es ist gut, fähig zu sein, ihn zu empfinden, denn sonst könnten wir nicht überleben. Deshalb sollten wir über die Tatsache, dass wir Ressentiment empfinden können, nicht grollen. Wir sollten es als einen Teil der menschlichen Existenz akzeptieren, als etwas, was man – wie auch unsere Freuden und Leiden – beherrschen muss.

Doch das Ressentiment kann zu einer alles beherrschenden Emotion, zu einer gesellschaftlichen Zielsetzung werden und sich so von den Beschränkungen lösen, die es sonst im Zaum halten. Das geschieht, wenn das Ressentiment sein einzelnes Ziel verliert und sich gegen die ganze Gesellschaft richtet. Das geschieht meiner Meinung nach jedes Mal, wenn linke Bewegungen die Macht übernehmen. In diesen Fällen hört das Ressentiment auf, eine Antwort auf den unverdienten Erfolg einer anderen Person zu sein, und wird stattdessen zu einer existenziellen Haltung: die Haltung von jemandem, den die Welt betrogen hat. Diese Person wird nicht Verhandlungen innerhalb der vorhandenen Strukturen suchen, sondern sie will die totale Macht, um die Strukturen selbst zu zerstören. Sie wird sich gegen alle Formen der Vermittlung, der Kompromisse und der Debatte stemmen, sie wird gegen die rechtlichen und moralischen Normen sein, die normalen Menschen die Möglichkeit zum Widerspruch und zur Souveränität sichern. Sie wird darauf aus sein, den Feind zu zerstören, den sie durch kollektive Begriffe definiert, als Klasse, Gruppe oder Rasse, der bis dahin die Welt kontrolliert haben soll und der jetzt im Gegenzug selbst kontrolliert werden müsse. Alle Institutionen, die dieser Klasse Schutz gewähren, und jede Stimme im politischen Prozess in ihrem Interesse wird zum Gegenstand destruktiver Wut.

Diese Haltung, meine ich, ist das Wesen einer ernsthaften gesellschaftlichen Funktionsstörung. Unsere Zivilisation hat schon etliche solche Funktionsstörungen durchgemacht, nicht ein- und nicht zweimal, sondern mindestens ein halbes Dutzend Mal seit der Zeit der Reformation. Wenn wir die Denker, die ich in diesem Buch behandeln werde, genau betrachten, werden wir diese Funktionsstörung in einem neuen Licht sehen: nicht nur als eine fehlgeleitete Religion oder eine Form des Gnostizismus, wie sie andere Kommentatoren sehen, sondern als die Zurückweisung von dem, was wir, Erben der westlichen Zivilisation, als unser historisches Erbe erhalten haben. Erinnern wir uns an Goethes Mephistopheles, der, als er sich erklären sollte, sagte: »Ich bin der Geist, der stets verneint«10, der Geist, der Etwas zu Nichts macht und der dabei die Arbeit der Kreation zunichte macht.

Man kann diese essenzielle Negativität bei vielen Autoren vorfinden, die ich betrachten werde. Sie haben eine oppositionelle Stimme, die ein Schrei gegen das Bestehende, für das Unbekannte ist. Die Generation der 1960er Jahre war nicht bereit, die fundamentale Frage nach der Vereinbarkeit von sozialer Gerechtigkeit und Befreiung zu stellen. Ich hätte mir Theorien gewünscht, egal wie nebulös und unverständlich sie auch sein mögen, die ihre Opposition zur vorhandenen Ordnung begründet hätten.11 Diese Theorien suchten die Belohnung für ein intellektuelles Leben in der imaginären Einheit zwischen den Intellektuellen und der Arbeiterklasse und wollten eine Sprache entwickeln, die die »bourgeoise« Ordnung aufrechterhaltenden »Mächte« bloßstellen und ihrer Legitimität berauben würde. Neusprech war von zentraler Bedeutung für das Programm, weil es das, was andere für Autorität, Legalität und Legitimität hielten, zu Macht, Kampf und Unterdrückung reduzierte. Und als in den Werken von Lacan, Deleuze und Althusser die Nonsens-Maschine begann, massenweise undurchdringbare Sätze zu produzieren, aus denen nur hervorging, dass ihre Zielscheibe der »Kapitalismus« war, dann schien es so, als habe das Nichts endlich seine Sprache gefunden. Nun endlich würde die bourgeoise Ordnung verdampft werden, und die Menschheit würde siegreich den Marsch ins Nichts antreten.

Kapitel 2 Missgunst in Großbritannien: Eric Hobsbawm und Edward Thompson

Es ist eine bemerkenswerte Eigenschaft des englischen Lesepublikums, dass es immer bereit ist, Historiker als die Führungsfiguren im Reich der Ideen zu betrachten. Als sich die neu gegründete Labour Partei Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer politischen Kraft zu entwickeln begann, gelang es H. G. Wells, den Webbs1 und anderen Anhängern der Fabian Society, durch ihre Geschichtsdarstellungen den Sozialismus als Synonym für »Fortschritt« durchzusetzen. Das Umschreiben der Geschichte mit dieser tief eingebetteten sozialistischen Botschaft wurde zu einer Art Orthodoxie innerhalb der Linken. Richard H. Tawneys Religion and the Rise of Capitalism aus dem Jahre 1922 wurde zu einem wegweisenden Text für eine ganze Generation britischer Intellektueller. Laut Tawney standen die Arbeiterbewegung und die protestantischen Kirchen Seite an Seite im Kampf gegen die »gewinnsüchtige Gesellschaft«, die er in seinem gleichnamigen Buch The Aquisitive Society bereits verurteilt hatte. Toynbee Hall, in der sich die Zentrale der Workers Educational Association (WEA)2 befindet, wurde nach dem Historiker Arnold Toynbee benannt, dort residierten seinerzeit Tawney und sein Freund William Beveridge, der einer der Architekten des britischen Sozialstaates war. Die Geschichte der Labour Partei und der WEA bildeten fortan ein untrennbares Geflecht, und es war fast so etwas wie ein Dogma unter linken Intellektuellen, dass man sich praktisch der Arbeiterklasse angeschlossen hatte, wenn man ihr Geschichtsunterricht erteilte.

Unter den Historikern, deren Arbeiten die Fundamente für das Denken der Neuen Linken in Großbritannien bilden, ragen zwei ganz besonders hervor, sowohl wegen der Brillanz ihres Schreibens als auch wegen des Einflusses, den ihr Engagement ausgeübt hatte. Eric Hobsbawm und Edward Thompson sind Zöglinge der kommunistischen Bewegung, von der sich so viele während des Zweiten Weltkrieges umgarnen ließen. Beide waren aktive Unterstützer der Friedensbewegung in jenen Jahren, als diese der wichtigste Verbündete der sowjetischen Außenpolitik war. Doch während Hobsbawm eine anerkannte Figur des Establishments und ein angesehenes Mitglied des akademischen Milieus war, fühlte sich Thompson in akademischer Umgebung nie wohl und verließ die Universität von Warwick unter Protest, als diese 1971 anfing, mit Unternehmen zusammenzuarbeiten. Er rühmte sich, freiberuflicher Intellektueller in den Fußstapfen von Karl Marx zu sein. Er schrieb Kritiken und Pamphlete und sein großes Werk, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, lag zum Zeitpunkt seines Erscheinens 1963 weit außerhalb dessen, was man zu der Zeit in der akademischen Welt unter Sozialgeschichte verstanden hatte.

Hobsbawm ist viel kritisiert worden, weniger wegen seiner kommunistischen Sympathien als für seine verstockte Loyalität zur Kommunistischen Partei von Großbritannien, selbst nachdem deren Verbrechen aufgedeckt wurden. Seine Mitgliedschaft gab er erst auf, als er keine andere Wahl hatte, weil sich die Partei 1990 unter peinlichen Umständen aufgelöst hatte. Thompson dagegen hatte die Partei schon 1956 verlassen, als Reaktion auf die sowjetische Invasion Ungarns, die sich die britische KP geweigert hatte zu verurteilen. Hobsbawm dagegen unterstützte die Ereignisse in Ungarn »schweren Herzens« (am 9. November im Daily Worker). Hobsbawm hat bis zu seinem Tode 2012 selbst all jenen Gräueltaten »schweren Herzens« zugestimmt, die andere ehemalige Kommunisten mit immer größerer Empörung zurückgewiesen hatten, was dann doch einen gewissen Schatten auf seinen Ruf geworfen hat. Doch sein Fall zeigt auch, wie weit man bei der Kollaboration mit Verbrechen gehen kann, wenn sie von Linken begangen wurden. Verbrechen von Rechten steht diese Absolution nicht zu; und das sagt etwas Wichtiges über linke Bewegungen aus, die scheinbar eine Fähigkeit besitzen, die nur Religionen zusteht: Sie können sowohl Verbrechen legitimieren als auch das Gewissen von jenen weißwaschen, die sie zuließen.

Wir müssen die Faszination, die der Kommunismus auf junge Intellektuelle zwischen den beiden Weltkriegen ausgeübt hat, tatsächlich in Kategorien der Religion verstehen. Der Verrat der Cambridge-Spione – Kim Philby, Guy Burgess, Donald Maclean und Anthony Blunt – kostete viele Menschen das Leben. Indem sie die Identität jener osteuropäischen Patrioten, die den Widerstand gegen die Nazis in der Hoffnung auf eine demokratische statt einer kommunistischen Zukunft organisiert hatten, verrieten, ermöglichten sie, dass Stalin die wichtigsten Gegner seines geplanten Vordringens in Osteuropa rechtzeitig »liquidieren« konnte.