Bekenntnisse eines Häretikers - Roger Scruton - E-Book

Bekenntnisse eines Häretikers E-Book

Roger Scruton

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Beschreibung

Während der Zeitgeist einmal mehr nach Utopia entwischt, betrachtet Roger Scruton die sitzengelassene Gegenwart: in zwölf Essays denkt er nach übers Regieren, Bauen und Tanzen, über das Sprechen vom Unsagbaren, über Trauern und Sterben, darüber, wie so getan wird, als ob, wie Leute sich hinterm Bildschirm verstecken, wie Tiere geliebt und Etiketten geklebt werden, über das Bewahren der Natur und die Verteidigung des Westens. Bei seinen Streifzügen ist der Blick zurück erlaubt, nicht als Flucht in die andere Richtung, sondern um an das alte Maß einer handlungsfähigen Gemeinschaft verantwortlicher Individuen zu erinnern. Statt im globalen Überall-und-Nirgends agiert diese Gemeinschaft in einem überschaubaren, kohärenten Territorium, dem sie sich existentiell verbunden fühlt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden einen organischen Zusammenhang, Vorfahren, Zeitgenossen und kommende Generationen stehen in Kontakt miteinander. Scruton untersucht, wie dieser lebenswichtige Zusammenhalt eines Gemeinwesens gefördert oder behindert, geschützt oder zerstört wird. Und lebenswichtig bleibt ihr Zusammenhalt auch in Hinsicht auf die Freiheitlichkeit einer Gesellschaft: "Denn er stellt ganz einfach die andere Seite der Freiheit dar, das, was da sein muss, damit Freiheit überhaupt möglich wird". Dass mittlerweile prompt mit Anklage wegen Ketzerei und eiliger Exkommunikation zu rechnen hat, wer die gern zitierte Freiheit des Andersdenkenden beansprucht, lässt den Titel des Buches weniger dramatisch als realistisch klingen. "Freude entsteht, wenn wir etwas tun, was nicht einfach Mittel zu einem Zweck ist, sondern einen Zweck in sich selbst hat, und wir uns um diesen Selbstzweck herum mit anderen zusammenfinden, die sich ihm in gleicher Weise verbunden fühlen wie wir selbst. In diesem miteinander geteilten Gefühl von Verbundenheit kommt die Achtung gegenüber unserer vernünftigen Natur zum Ausdruck und es bestärkt uns im Wissen um unsere Freiheit". (Roger Scruton)

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Roger Scruton

BEKENNTNISSE EINES HÄRETIKERS

Aus dem Englischen von Julia Bantzer

INHALT

Vorwort

1So tun, als ob

2Tiere lieben

3Vernünftig regieren

4Richtig tanzen

5Bauen, was bleibt

6Unsagbares sagen

7Hinterm Bildschirm verstecken

8Trauern um das, was wir verloren haben Überlegungen zu Richard Strauss’ Metamorphosen

9Etiketten kleben

10Rechtzeitig sterben

11Natur bewahren

12Den Westen verteidigen

Anmerkungen

Vorwort

Diese Essaysammlung ist das Ergebnis von zehn Jahren reger Anteilnahme am öffentlichen Kulturgeschehen in Großbritannien und Amerika. Einige der Texte liegen bereits gedruckt oder online vor, andere erscheinen hier zum ersten Mal. Ich nenne sie Bekenntnisse, insofern sie Aspekte meines Denkens enthüllen, die ich, zumindest nach Meinung der Kritiker, besser für mich behalten hätte. Material mit eher akademischer Ausrichtung habe ich nicht einbezogen, sondern mich bemüht, nur solche Essays aufzunehmen, deren Gegenstände in den wechselvollen Zeiten, in denen wir leben, für alle intelligenten Leute von Belang sind.

Scrutopia, Weihnachten 2015

1.

So tun, als ob

»Bleib dir selbst treu,« sagt Shakespeares Polonius, »und du kannst keinem Menschen gegenüber unaufrichtig sein«. Václav Havel verlangte nach einem »wahrhaftigen Leben«. Und Solschenizyn schrieb: »Wenn Lügen in die Welt gesetzt werden, dann jedenfalls nicht von mir.« Wie viel Gewicht sollten wir solchen Verlautbarungen beimessen, und wie ihnen entsprechen?

Es gibt zwei Arten von Unwahrheit: Lügen und so tun, als ob. Jemand, der lügt, behauptet etwas, was er selbst nicht für wahr hält. Jemand, der so tut, als ob, glaubt, was er sagt, wenn auch nur vorübergehend und nur, um einen jeweiligen Zweck zu verfolgen.

Lügen kann jeder; es genügt, etwas in betrügerischer Absicht zu äußern. Für ein gelungenes Täuschungsmanöver dagegen braucht es Könnerschaft, man muss andere ebenso überzeugen wie sich selbst. Wer lügt, kann vorgeben, schockiert zu sein, wenn seine Lügen auffliegen, aber diese Vorgeblichkeit ist bereits Teil der Lüge. Der entlarvte Täuscher hingegen ist tatsächlich erschüttert, denn er hat ein Netz des Vertrauens geknüpft, in das er selbst eingebunden ist.

Zu allen Zeiten haben die Leute gelogen, um sich den Konsequenzen ihrer Handlungen zu entziehen, und jede moralische Erziehung beginnt damit, die Kinder zu lehren, das Schwindeln sein zu lassen. Die Täuschung bzw. Fälschung aber ist ein kulturelles Phänomen, das nicht zu allen Zeiten gleichermaßen in Erscheinung tritt. In den Gesellschaften etwa, wie sie Homer oder Chaucer beschreiben, spielen Leute, die vortäuschen und fälschen nur eine geringe Rolle. Zu Zeiten Shakespeares wiederum beginnen Dichter und Dramatiker ein entschiedenes Interesse an diesem neuartigen Typus zu entwickeln.

In Shakespeares King Lear leben die bösen Schwestern Goneril und Regan in einer Welt falscher Gefühle, indem sie sich selbst und ihrem Vater weismachen, dass sie innigste Liebe empfinden, wo sie tatsächlich vollkommen herzlos sind. Diese Herzlosigkeit allerdings ist ihnen selbst kaum bewusst, wäre sie es, könnten sie nicht mit derselben Schamlosigkeit handeln. Die Tragödie von King Lear nimmt ihren Lauf, wenn die echten, ehrlichen Leute – Kent, Cordelia, Edgar, Gloucester – von den unaufrichtigen ausmanövriert werden.

Jemand, der so tut, als ob, hat sich selbst als Person neu erfunden in der Absicht, eine andere gesellschaftliche Position einzunehmen als diejenige, die ihm natürlicherweise zukäme. Wie zum Beispiel Molières religiöser Hochstapler Tartuffe, der sich in falscher Frömmigkeit aufbläht und damit eine gesamte häusliche Gemeinschaft unter seine Fuchtel bringt. Sein Name ist sprichwörtlich geworden für das Laster, das sein Schöpfer vielleicht als erster mit solch vollkommener Genauigkeit beschrieben hat. Ebenso wie Shakespeare erkennt Molière, dass das So-tun-als-ob für seinen Urheber eine Herzensangelegenheit darstellt. Tartuffe ist nicht einfach nur ein Heuchler, der Ideale vorschützt, an die er selbst in keiner Weise glaubt. Er ist eine durchkonstruierte Figur und pflegt als diese deren Idealismus, wobei Figur wie Ideale gleichermaßen illusorisch sind.

Tartuffes Täuschungsmanöver war inspiriert von einer frömmlerischen Religiosität. Mit dem Niedergang der Religion im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam eine neue Spielart der Täuschung auf. Die romantischen Dichter und Maler kehrten der Religion den Rücken und suchten das Heil in der Kunst. Sie glaubten an den Genius des Künstlers, an dessen Vermögen, auf schöpferischem Wege die menschliche Bedingtheit zu transzendieren, indem er mit allen Regeln brach, um ganz neue, anders geartete Erfahrungen machen zu können. Die Kunst wurde der Königsweg zur Transzendenz, das Tor zu einem höheren Wissen.

Dementsprechend wurde Originalität zum Prüfstein, an dem sich echte von falscher Kunst scheiden ließ. Es ist schwierig, ganz allgemein zu sagen, was Originalität eigentlich ausmacht, aber Beispiele für sie gibt es genug: Tizian, Beethoven, Goethe, Baudelaire. Diese Beispiele allerdings lehren uns, dass Originalität einem Menschen ganz schön zu schaffen machen kann: sie lässt sich nicht aus der Luft greifen, auch wenn es da diese von der Natur Begünstigten wie Rimbaud und Mozart gibt, die genau das zu tun scheinen. Originalität erfordert stetiges Lernen, harte Arbeit, Meisterschaft in einem Medium, vor allem aber eine verfeinerte Empfindungsfähigkeit und Offenheit, üblicherweise um den Preis von Leiden und Einsamkeit.

Es ist also keineswegs einfach, den Status eines originellen Künstlers zu erringen. Wobei der Lohn für alle Mühen in einer Gesellschaft, die der Kunst als ihrer höchsten kulturellen Errungenschaft huldigt, enorm ist – was einen Anreiz schafft, so zu tun, als ob. Künstler und Kritiker gehen eine Art Bündnis ein, um sich gegenseitig an der Nase herumzuführen: erstere posieren als diejenigen, denen erstaunliche Durchbrüche gelingen, letztere als scharfsinnige Richter, die entscheiden, was wahre Avantgarde sei.

Auf diese Weise wurde Duchamps berühmtes Urinal zu einer Art Paradigma für moderne Künstler. Genau so wird das gemacht, sagten die Kritiker. Man nehme eine Idee, stelle sie öffentlich aus, nenne das Kunst und gehe damit in aller Dreistigkeit hausieren. Der Trick wurde von Andy Warhol mit den Brillo boxes wiederholt, später von Damien Hirst mit dem konservierten Hai und dem Schaf. Jedes Mal haben sich die Kritiker wie gluckende Hennen um das geheimnisvolle, frisch gelegte Ei geschart, worauf das Produkt dem Publikum dargeboten und gleichzeitig der ganze Apparat in Bewegung gesetzt wurde, der nötig ist, damit etwas als ganz große Sache akzeptiert wird. So mächtig ist der Drang zur kollektiven Täuschung, dass es mittlerweile kaum noch jemand unter die Finalisten für den Turner Preis schafft, der kein Werk oder irgendeinen Auftritt vorzuweisen hat, die nur deshalb als Kunst durchgehen, weil niemand sie dafür gehalten hätte, ehe die Kritiker ihr Plazet gaben.

Originelle Gesten von der Art, wie Duchamp sie einführte, können nicht wirklich wiederholt werden – wie einen Witz kann man sie nur einmal machen. Weshalb der Kult um die Originalität sehr schnell zu Wiederholungen führt. Das dauernde Täuschen wird in solchem Maße zur eingefleischten Gewohnheit, bis am Ende nur noch ein verlässliches Urteil übrigbleibt: eben jenes, mit dem die Sache vor unserer Nase zur »einzig wahren« erklärt und ein Täuschungsmanöver ausgeschlossen wird – was wiederum ein verfälschtes Urteil bedeutet. Am Ende stehen wir da mit der Erkenntnis, dass irgendwie alles Kunst ist, weil eigentlich nichts Kunst ist.

Es lohnt die Frage, weshalb der falsche Originalitätskult einen derart mächtigen Einfluss auf unsere kulturellen Institutionen hat, dass es sich tatsächlich kein Museum, keine Galerie und keine mit öffentlichen Geldern subventionierte Konzerthalle leisten kann, ihn nicht ernst zu nehmen. Die frühen Modernen – Strawinsky und Schönberg in der Musik, Eliot und Pound in der Dichtung, Matisse in der Malerei und Loos in der Architektur – teilten die Überzeugung, dass das breite Publikum einen verdorbenen Geschmack habe, dass Sentimentalität, Banalität und Kitsch in die verschiedenen Bereiche der Kunst eingedrungen seien und ihre Botschaften verunklart hätten. Tonale Harmonien wurden in der populären Musik missbraucht, die figurative Malerei von der Fotografie übertrumpft, Reim und Metrik waren nur mehr für Weihnachtskarten zu gebrauchen und alle Geschichten klangen abgedroschen. Was immer zur Welt der törichten, gedankenlosen Leute da draußen gehörte, galt als Kitsch.

Der Modernismus stellte den Versuch dar, das Ernsthafte, Wahrhaftige, mühsam Erreichte von der Seuche falscher Gefühle zu befreien. Niemand kann in Zweifel ziehen, dass die frühen Modernen dabei erfolgreich waren. Sie haben uns mit Kunstwerken beschenkt, die den menschlichen Geist unter den veränderten Bedingungen der Moderne lebendig halten und gleichzeitig einen Zusammenhang mit den überdauernden, großartigen Traditionen unserer Kultur herstellen. Aber ebenso machte der Modernismus den Weg frei für Leute, die gewohnheitsmäßig so tun, als ob: sich der kräftezehrenden Aufgabe zu stellen, die Tradition weiter zu führen, erwies sich als weniger attraktiv, als ihr mit billiger Ablehnung zu begegnen. Anders als Picasso, der ein Leben lang daran arbeitete, das Gesicht der modernen Frau in zeitgemäßer Form darzustellen, kann man es auch einfach machen wie Duchamp und der Mona Lisa einen Schnurrbart verpassen.

Interessant ist allerdings, dass sich das gewohnheitsmäßige Vortäuschen gerade aus der Angst vor dem Verfälschten heraus entwickelt hat. Der Modernismus in der Kunst war eine Reaktion gegen die falschen Gefühle und tröstlichen Klischees der allgemein akzeptierten Kultur. Es ging darum, eine Pseudo-Kunst vom Platz zu fegen, die uns mit sentimentalen Lügen verhätschelt hatte und an deren Stelle Wirklichkeit, das wirkliche moderne Leben zu setzen, wozu nur eine wahrhaftige Kunst im Stande ist. Dementsprechend geht man seit geraumer Zeit davon aus, dass es in der Sphäre großer Kunst keine authentische Schöpfung geben kann, die nicht in irgendeiner Weise eine »Herausforderung« für die Selbstzufriedenheit unserer populären Kultur darstellt. Die Kunst muss angriffslustig sein, von der Zukunft ausgehend all ihre Waffen aufbieten gegen den bürgerlichen Hang zu Konformismus und Bequemlichkeit, die gleichbedeutend sind mit Kitsch und Klischee. In der Folge aber wird dieser Angriff selbst zum Klischee. Wenn das Publikum sich mittlerweile als derart schockresistent erweist, dass ihm nur noch mit einem toten Hai in Formaldehyd ein kurzes Aufzucken der Empörung verursacht werden kann, muss der Künstler eben einen toten Hai in Formaldehyd produzieren – das zumindest ist dann eine authentische Geste.

So konnte um die Modernisten herum eine Klasse von Kritikern und Agenten gedeihen, die sich anheischig machten, uns zu erklären, weshalb es keineswegs vertane Zeit sei, aufgestapelte Ziegelsteine anzustarren, artig zehn Minuten Beschallung mit unerträglichem Lärm auszusitzen oder sich in die Betrachtung eines mit Urin übergossenen Kruzifixes zu versenken. Die Experten begannen, das Unverständliche und Widerwärtige als etwas völlig Normales hinzustellen, damit das Publikum nur ja nicht auf die Idee kommen mochte, ihre Dienste für unentbehrlich zu halten. Um sich der eigenen Progressivität und Stellung an vorderster Front der Geschichte zu vergewissern, haben sich die neuen Agenten seither immer weiter mit Leuten ihres Schlages umgeben und sie in alle für ihren Status relevanten Gremien gehievt, wovon sie sich wiederum Vorteile für sich selbst erwarten konnten. So entstand das modernistische Establishment – der geschlossene Kreis von Kritikern, die das Rückgrat unserer offiziellen und halb-offiziellen kulturellen Institutionen bilden und gut im Geschäft sind mit »Originalität«, »Grenzüberschreitung« und »neu gebahnten Wegen«. Begriffe wie diese werden immer dann von den Arts Council-Bürokraten und dem Museums-Establishment bemüht, wenn sie vorhaben, öffentliche Gelder für etwas auszugeben, was sie sich im Traum nicht ins eigene Wohnzimmer holen würden. Aber solche Begriffe sind bereits selbst Klischees wie all das, was mit ihnen angepriesen wird. So führt die Flucht vor dem Klischee ihrerseits ins Klischee, und der Versuch aufrichtig zu sein, endet in Lug und Trug.

Bei den Attacken gegen Althergebrachtes machte insbesondere ein Begriff Karriere: der Kitsch. Einmal eingeführt, hielt er sich hartnäckig. Du kannst tun und lassen, was du willst, so lange du nur keinen Kitsch produzierst: das wurde zum ersten Grundsatz des modernistischen Künstlers, in gleich welchem Medium. In einem berühmten Essay aus dem Jahr 1939 tat der amerikanische Kritiker Clement Greenberg seinen Lesern kund, dass ein Künstler nur mehr zwischen zwei Möglichkeiten wählen könne: Entweder er gehört zur Avantgarde und fordert die überkommene figurative Malerei heraus, oder er produziert Kitsch. Diese Angst vor dem Kitsch gibt einen Grund dafür ab, dass mit so vielen heutzutage geschaffenen Kunstwerken pflichtschuldigst versucht wird, Anstoß zu erregen. Es ist schon in Ordnung, wenn dein Werk obszön, schockierend oder verstörend ist – Hauptsache es ist kein Kitsch.

Niemand weiß so genau, wo das Wort »Kitsch« eigentlich herkommt, auf jeden Fall war es zu Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich ein geläufiger Ausdruck. Ebenso wenig gibt es eine Definition dieses Begriffs, obgleich wir alle Kitsch als solchen erkennen, wenn er uns begegnet: die Barbie-Puppe, Walt Disneys Bambi, der Weihnachtsmann im Supermarkt, Bing Crosbys Interpretation von White Christmas, Bilder von Pudeln mit Schleifen im Fell. Zur Weihnachtszeit sind wir eingedeckt mit Kitsch und umgeben von lauter abgedroschenen Klischees, die alle ihre Unschuld verloren haben, ohne dass sie dabei mehr Weltklugheit erlangt hätten. Kinder, die an den Weihnachtsmann glauben, tun das noch mit echter Gefühlsbeteiligung. Wir aber, die wir diese Art Glauben nicht mehr aufbringen, können nur mehr mit falschen Gefühlen aufwarten. Wobei es durchaus angenehm sein kann, so zu tun, als ob, und wenn alle mitmachen, mag es für Augenblicke sogar scheinen, als wäre das Ganze echt.

Der tschechische Romancier Milan Kundera hat eine berühmte Bemerkung gemacht: »Kitsch«, so schrieb er, »lässt in rascher Folge zwei Tränen fließen. Die erste Träne besagt: ‚So entzückend, wie die Kinder durchs Gras tollen!‘ Die zweite Träne ergänzt: ‚So wunderbar, in Einklang mit der gesamten Menschheit diese Rührung zu empfinden, wenn die Kinder durchs Gras tollen!‘« Beim Kitsch geht es, anders gesagt, nicht um den jeweiligen Gegenstand der Betrachtung, sondern um den Betrachter. Im Umgang mit Kitsch stellt sich Rührung nicht angesichts des Püppchens ein, das wir so liebevoll einkleiden, sondern angesichts unserer selbst, die wir das Püppchen so liebevoll ausstaffieren. Auf diese Weise funktioniert jegliche Sentimentalität: sie lenkt die Gefühle vom Objekt zurück auf das Subjekt, wobei die Illusion eines echten Gefühls geschaffen wird, ohne dass irgendjemand sich die Mühe machen müsste, das Gefühl tatsächlich zu empfinden. Das Kitsch-Objekt ermutigt einen, sich in seinem Gefühlsschwang für einen besonders reizenden und liebenswerten Menschen zu halten. Eben das hat Oscar Wilde angesichts einer von Dickens‘ schwülstigsten Sterbeszenen zu der Bemerkung veranlasst: »Ein Mensch muss ein Herz aus Stein haben, um bei Little Nells Tod nicht in Gelächter auszubrechen.«

Das ist, kurz gesagt, der Grund, weshalb die Modernisten einen derartigen Horror vor Kitsch hatten. Sie glaubten, dass die Kunst im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Fähigkeit eingebüßt habe, ein klares, echtes Gefühl von seinem vagen, die Selbstzufriedenheit nährenden Surrogat zu unterscheiden. In der figurativen Malerei, der tonalen Musik, in Klischee-durchtränkten Gedichten von heroischer Liebe und mythischer Glorie entdecken wir das gleiche Übel – der Künstler bemüht sich nicht mehr um die Erforschung des menschlichen Herzens, er legt Windeier und trägt sie zu Markte.

Natürlich kann jeder die alten Stile und Techniken nutzen, aber nicht wirklich ernst gemeint. Wer es dennoch tut, bringt unweigerlich Kitsch hervor, das sattsam Bekannte zu Sonderangebots-Preisen, mühelos produziert, gedankenlos konsumiert. Das lässt die figurative Malerei zum Weihnachtskarten-Sujet verkommen, Musik allzu eingängig und sentimental klingen und die Literatur ins Klischee abkippen. Kitsch ist vorgetäuschte Kunst, die falsche Gefühle ausdrückt, was deren Konsumenten glauben machen soll, dass sie tief und wahrhaftig empfinden, während sich tatsächlich nicht das geringste Gefühl regt.

Kitsch zu vermeiden, ist allerdings gar nicht so leicht, wie es scheinen mag. Zwar könnte man versuchen, sich als ganz und gar wild gewordener Avantgardist zu gebärden, etwas tun, was nie zuvor ausgeheckt oder gar als Kunst bezeichnet wurde, indem man beispielsweise auf wertgehaltenen Idealen oder religiösen Gefühlen herumtrampelt. Aber auch damit landet man beim So-tun-als-ob, nämlich bei vorgetäuschter Originalität und Bedeutsamkeit und einem neuen Klischee, wie in der jungen britischen Kunst geschehen. Sich als Modernist zu gerieren wird nicht zwangsläufig zu Leistungen führen, die denen eines Eliot, Schönberg oder Matisse vergleichbar wären, denen es ihrerseits gelungen ist, in die verborgensten Regionen des modernen Fühlens und Denkens vorzudringen. Der Modernismus ist eine anspruchsvolle Angelegenheit, er erfordert gleichermaßen Kompetenz in einer künstlerischen Tradition, wie die Fähigkeit des Künstlers, sich von ihr zu lösen, um etwas Neues auszudrücken.

Hierin liegt einer der Gründe für das Aufkommen eines völlig neuen künstlerischen Vorgehens, das ich als Präventiv-Kitsch bezeichnen möchte. Die Strenge der Modernisten ist schwierig zu verdauen und also unpopulär, weshalb einige Künstler irgendwann aufgehört haben, einen großen Bogen um den Kitsch zu machen, um sich seiner vielmehr zu bedienen, wie zum Beispiel Andy Warhol, Allen Jones und Jeff Koons. Wenn das schlimmste Vergehen darin besteht, sich unwissentlich der Produktion von Kitsch schuldig zu machen, sieht es bei weitem besser aus, ihn mit voller Absicht zu schaffen, denn in diesem Fall wird das Produkt kein Kitsch mehr sein können, sondern womöglich eine geistreiche Parodie. Der Präventiv-Kitsch setzt den tatsächlichen Kitsch in Anführungszeichen und hofft, damit seine künstlerische Reputation zu wahren. Man nehme eine Porzellan-Figur von Michael Jackson, wie er seinen Schimpansen Bubbles liebkost, gebe dem Ganzen geschmacklose Farben und ein Hochglanzfinish, lasse die Figuren die Haltung einer Madonna mit Kind einnehmen, verleihe ihnen einen schmachtenden Ausdruck, auf dass der Betrachter mit Brechreiz zu kämpfen habe, und herauskommen wird ein solcher Ausbund an Kitsch, dass er damit fast schon transzendiert sein dürfte. Wir argwöhnen, dass Jeff Koons etwas anderes gemeint haben muss, irgendetwas Tiefes und Ernsthaftes, das wir nicht ganz mitbekommen haben. Vielleicht stellt dieses Werk tatsächlich einen kritischen Kommentar zum Kitsch dar, indem es sich in all seiner ausdrücklichen Kitschigkeit sozusagen zum Meta-Kitsch aufschwingt.

Ein anderes Beispiel ist Allen Jones, in dessen Werken-Frauenähnliche Figuren zu Möbelstücken verrenkt werden, Puppen, deren Reizwäsche ihre Geschlechtsmerkmale in aller Deutlichkeit ausstellt, vulgäre, kindisch fiese Visionen von Frauen, mit dem durch und durch gezierten Ausdruck irgendwelcher Models. Wieder scheint der übertriebene Kitsch kein wirklicher Kitsch zu sein. Der Künstler wird uns etwas über uns selbst sagen – über unsere Begierden und Gelüste – und uns damit konfrontieren, dass wir an diesem dick aufgetragenen Kitsch, den er mit Hohn übergießt, durchaus Gefallen finden. Statt gold-gerahmter Ideale serviert er veritablen Mist in Anführungszeichen.

Präventiv-Kitsch ist das erste Glied einer Kette. Der Künstler gibt sich ernsthaft überzeugt von sich und seinem Werk, die Kritiker gerieren sich als seine Richter und das modernistische Establishment als seine Gönner. Schließlich wird das Getue irgendjemanden, der den Unterschied zwischen wirklicher und vorgetäuschter Kunst nicht wahrnehmen kann, dazu bringen, ein solches Werk zu kaufen. Erst hier ist Schluss mit der ganzen Vorgeblichkeit und es wird der tatsächliche Wert dieser Art Kunst deutlich: ihr Geldwert. Aber nach wie vor ist es wichtig, so zu tun, als ob. Der Käufer muss weiterhin überzeugt sein, dass er ein Stück echte Kunst von hohem Wert gekauft und damit ein Geschäft gemacht hat, das jeden Preis rechtfertigt. Ansonsten würde der Kaufpreis den offensichtlichen Umstand enthüllen, dass jeder, auch der Käufer, den Wert eines solchen Produkts hätte vortäuschen können. Das Wesentliche bei allem Gefälschten und Vorgetäuschten ist, dass sie nicht die Sache selbst sind, sondern Surrogate. Wie Dinge, die in gegenüberliegenden Spiegeln ad infinitum widergespiegelt werden, wiederholen sie sich und mit jeder Wiederholung steigt ihr Preis, bis ein Ballon-Hund von Jeff Koons, wie ihn sich jedes Kind vorstellen kann und viele Leute ihn produzieren könnten, den höchsten Verkaufspreis erreicht, der jemals für das Werk eines lebenden Künstlers gezahlt wurde – einmal abgesehen davon, dass dieser Künstler keiner ist.

Allenthalben sind wir umgeben von vorgetäuschter Originalität, falschen Gefühlen und verfälschenden Kritiker-Expertisen und das derart flächendeckend, dass wir kaum mehr wissen, wo wir nach etwas Echtem Ausschau halten sollen. Oder gibt es so etwas vielleicht gar nicht? Ist diese ganze Welt der Kunst einfach nur leeres Getue, bei dem wir alle mitmachen, weil alles so billig zu haben ist, außer vielleicht für Leute wie Charles Saatchi, der genug Geld hat, um Fantasiepreise für irgendwelchen Unfug zu zahlen? Vielleicht ist etwas Kunst, sobald sich jemand findet, der es zur Kunst erklärt. Vielleicht gibt es keine qualifizierten Kritiker. »Alles ist nur eine Frage des Geschmacks«, wird behauptet und weiter nicht gedacht. Gibt es darauf tatsächlich nichts zu erwidern? Ist es tatsächlich unmöglich, echte von vorgetäuschter Kunst zu unterscheiden oder zu begründen, wie und warum Kunst wichtig ist? Dazu möchte ich ein paar positive Vorschläge machen.

Zunächst müssen wir alles ignorieren, was unser Urteil in die Irre führt. Gemälde und Skulpturen kann man besitzen, kaufen und verkaufen. Also stellen sie einen großen Markt dar, und es spielt keine Rolle, ob sie einen Wert haben oder nicht, einen Preis haben sie allemal. Oscar Wilde definierte den Zyniker als jemanden, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt. Und der Kunstmarkt wird unvermeidlich von Zynikern bestimmt. In unseren Museen häuft sich aller möglicher Ramsch, dessen einzige Qualität oft genug darin besteht, dass er eine Stange Geld gekostet hat. Eine Symphonie oder einen Roman kann man nicht in derselben Weise besitzen wie einen Damien Hirst. Entsprechend wird bei Symphonien und Romanen sehr viel seltener hochgestapelt als in den visuellen Künsten.

Die Dinge werden weiterhin entstellt durch gezielte Manipulation seitens offizieller Fördereinrichtungen. Das Arts Council ist mit der Aufgabe betraut, bildende Künstler, Schriftsteller und Musiker zu subventionieren, deren Werk von Bedeutung ist. Aber wie urteilen Bürokraten über die Bedeutsamkeit eines Werkes? Der Kulturbetrieb sagt ihnen, dass ein Werk etwas taugt, wenn es originell ist, und das wiederum erweist sich daran, dass es dem Publikum nicht gefällt. Warum müsste es im Übrigen auch subventioniert werden, wenn es dem Publikum gefiele? Also werden von offiziellen Schirmherren unvermeidlicherweise die eher obskuren, abstoßenden oder sinnlosen Werke denjenigen vorgezogen, von denen eine wirkliche und dauerhafte Anziehungskraft ausgeht.

Was aber macht eine solche Anziehungskraft aus und wie können wir beurteilen, ob ein Kunstwerk über sie verfügt? Meine Antwort kann ich in drei Worten zusammenfassen: »Schönheit«, »Form« und »Erfüllung«.

Für viele Künstler und Kritiker ist die Idee der Schönheit in Verruf geraten. Sie ist gleichbedeutend mit süßlich-beschaulichen Szenen im grünen Walde und schnulzigen Melodien, wie sie der Großmutter gefielen. Der modernistische Leitsatz, dass die Kunst das Leben so darzustellen habe, wie es ist, veranlasst viele Leute zu glauben, dass unweigerlich beim Kitsch landet, wer sich um Schönheit bemüht. Was allerdings ein Irrtum ist. Der Kitsch macht uns weiß, was für nette Menschen wir doch seien: es geht um simple Gefühle, die billig zu haben sind. Schönheit bedeutet einem dagegen, mit der Nabelschau aufzuhören und vielmehr wache Aufmerksamkeit für die Welt um uns herum zu entwickeln. Sie sagt: schau dir das an, hör zu, betrachte es, hier ist etwas, das wichtiger ist als du. Kitsch ist ein billiges Mittel zum Zweck, Schönheit genügt sich selbst. Wir kommen der Schönheit näher, sobald wir von unseren eigenen Interessen absehen und zulassen, dass in uns die Welt aufdämmert. Es gibt viele Möglichkeiten, das zu versuchen, wobei die Kunst für uns unleugbar die bedeutendste darstellt. Sie vermittelt uns ein Bild des menschlichen Lebens – unseres eigenen Lebens sowie ein Gefühl für alles, was für uns daran von Wert ist – und sie fordert uns auf, es ganz direkt zu betrachten, nicht daraufhin, was es uns schenken, sondern daraufhin, was wir ihm geben können. Vermittels des Schönen reinigt die Kunst die Welt von unserer zwanghaften Selbstbezogenheit.

Es ist unmöglich, unser menschliches Bedürfnis nach Schönheit abzustellen und unsere Menschlichkeit dennoch zur Entfaltung zu bringen. Das Bedürfnis nach Schönheit entspringt unserer Moralität. Wir können auf der Erde umherwandern, befangen in Entfremdung, in unguten Gefühlen, voller Argwohn und Misstrauen. Oder wir können sie zu unserem Zuhause machen, mit uns selbst ins Reine kommen und mit anderen zu einem harmonischen Zusammenleben finden. Die Erfahrung der Schönheit leitet uns auf diesen zweiten Weg. Sie bedeutet uns, dass wir in dieser Welt tatsächlich zu Hause sind, dass sie sich in unserer Wahrnehmung bereits als einen Ort zu erkennen gibt, der für Lebewesen unserer Art der geeignete ist. Eben das sehen wir in Corots Landschaften, in Cézannes Äpfeln oder Van Goghs aufgeschnürten Schuhen.

Ein wahres Kunstwerk ist nicht auf dieselbe Weise schön wie ein Tier, eine Blume oder eine Landschaft. Es ist ein bewusst gestaltetes Ding, mit dem das menschliche Bedürfnis nach Form über die Beliebigkeit der Sachen triumphiert. Unser Leben ist bruchstückhaft und wirr, in unseren Gefühlen kommt vieles auf, was nicht zur Erfüllung findet. Sehr wenig enthüllt sich uns mit solcher Klarheit, dass wir seine Bedeutsamkeit ganz erfassen können. In der Kunst schaffen wir ein Reich der Vorstellungskraft, in dem jeder Anfang zu einem Schluss führt und jede Einzelheit Teil eines bedeutsamen Ganzen ist. Das Thema einer Bach’schen Fuge scheint sich aus ihrem Akkord heraus zu entwickeln, es entfaltet und füllt einen musikalischen Raum und bewegt sich logisch auf einen Schluss zu. Das aber macht aus ihr keine mathematische Fingerübung. Jedes Thema bei Bach ist aufgeladen mit Gefühl und geht zusammen mit dem Rhythmus der inneren Welt ihres Hörers. Bach führt uns in einen imaginierten Raum und beschenkt uns in diesem Raum mit dem Bild unserer eigenen Erfüllung. In gleicher Weise zeigt Rembrandt vermittels der Hauttönungen eines alternden Gesichts, wie in jeder einzelnen etwas eingefangen ist vom Leben, das darin steckt, sodass in der formalen Harmonie der Farben die Person als ganze und vollständige erscheint. Wir erleben bei Rembrandt den organischen Zusammenhalt eines Charakters in einem verfallenden Körper. Und sind zutiefst bewegt davon.

Formale Vollendung ist nicht zu erreichen ohne fundiertes Wissen, Disziplin und Aufmerksamkeit bis ins Detail. Langsam aber sicher fangen die Leute an, das zu begreifen. Die Illusion, dass Kunst einfach aus uns herausströmt und der einzige Sinn und Zweck einer Kunsthochschule darin besteht, die Schleusentore zu öffnen, lässt sich nicht länger halten. Die Zeiten, in denen man Furore damit machen konnte, wie Christo ein Gebäude in Polystyrol zu hüllen, oder vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden still vor einem Flügel zu sitzen wie John Cage, sind vorbei. Um wirklich modern zu sein, müssen wir Kunstwerke schaffen, die das moderne Leben in all seiner Zerrissenheit aufnehmen und es zu etwas Vollständigem und Entschiedenem werden lassen, was etwa Philip Larkin in seiner großen Dichtung The Whitsun Weddings getan hat. Es ist schön und gut, dass ein Komponist seine Stücke mit dissonanten Klängen und Clustern spickt wie Harrison Birtwistle; aber ohne die geringste Ahnung von Harmonielehre und Kontrapunkt wird das Ergebnis keine Musik sein, sondern schlichter Lärm. Man mag mit Farben herumklecksen wie Jackson Pollock, aber ein wirkliches Wissen um Farbe wird durch das Studium der natürlichen Welt erworben, durch die Entdeckung, wie sich unsere Gefühle in geheimnisvollen Farbschattierungen widerspiegeln, was Cézanne Frieden und Trost im Anblick eines Apfelkorbes finden ließ.

Wenn wir auf die wahren Apostel des Schönen in der Gegenwart blicken – ich denke an Komponisten wie Henri Dutilleux und James MacMillan, an Maler wie David Inshaw und John Wonnacott, an Dichter wie Ruth Padel und Charles Tomlinson, an Prosaisten wie Italo Calvino und Georges Perec – macht es uns unmittelbar betroffen, in welchem Ausmaß sich die Ausübung ihres Handwerks von harter Arbeit, einsamem Forschen und Aufmerksamkeit bis in kleinste Einzelheiten bestimmt findet. In der Kunst muss Schönheit errungen werden – ein umso schwierigeres Unterfangen, je mehr sich eine allgemeine Beschränktheit breitmacht. Angesichts von Leid, Unzulänglichkeit und der Flüchtigkeit unserer Gefühle und Freuden, fragen wir nach einem »Warum«. Wir brauchen Zuspruch. Und wenden uns an die Kunst um des Beweises willen, dass das Leben in dieser Welt eine Bedeutung hat und Leiden nicht so sinnlos ist, wie es oft genug scheint, sondern notwendiger Teil eines größeren und Erlösung verheißenden Ganzen. Die Tragödie zeigt uns den Triumph der Würde über die Zerstörung, des Mitgefühls über die Hoffnungslosigkeit. Es wird immer rätselhaft bleiben, wie es ihr gelingt, die Moralität wieder ins Gleichgewicht zu bringen, indem sie dem Leiden eine geschlossene Form verleiht. Der tragische Held gelangt durch sein Schicksal zu Vollendung; sein Tod ist ein Opfer und durch dieses Opfer kann die Welt von Neuem erstehen.

Die Tragödie erinnert uns daran, dass die Gegenwart des Schönen in unserem Leben etwas Erlösendes, Rettendes darstellt: das Angesicht der Liebe inmitten von Trostlosigkeit. Es sollte uns nicht überraschen, dass viele der schönsten Werke der modernen Kunst als Reaktion gegen Hass und Grausamkeit entstanden sind. Die Gedichte der Achmatowa, die Romane von Pasternak, die Musik von Schostakowitsch – Werke wie diese haben Licht in eine totalitäre Finsternis geworfen und Liebe bezeugt inmitten der Zerstörung. Vergleichbares ließe sich zu Eliots Four Quartets sagen, zu Brittens War Requiem, zu Matisses Kapelle in Vence.

Der Modernismus entstand, weil Künstler, Schriftsteller und Musiker ihrer Vision von Schönheit treu blieben, als einer Erfüllung und Erlösung spendenden Gegenwart in unserem Leben. Und dadurch unterscheidet sich ein wirkliches Kunstwerk von einem vorgetäuschten. Wirkliche Kunst ist ein Werk der Liebe, vorgetäuschte Kunst ist Betrug.

2

Tiere lieben

Ich lebe auf einem Bauernhof, umgeben von Weideland, in einer Region in England, wo eine dünne Ackerkrume eine darunter liegende Lehmschicht bedeckt. Auf der Krume wächst Gras, aber man kann sie nicht umpflügen, ohne zugleich den Lehm, auf dem nichts gedeiht, mit nach oben zu holen. Die einzige Möglichkeit, derartiges Land zu verwerten, besteht für seine menschlichen Nutzer darin, das Gras und dessen Nebenprodukte denjenigen Wesen zugutekommen zu lassen, deren Lebensgrundlage es darstellt. In der Landwirtschaft sind das Kühe, Schafe, Schweine und Hühner, an Jagdwild Wildgeflügel, außerdem werden Reitpferde gehalten. Letzteres ist aus Sicht unserer lokalen Farmer am profitabelsten, denn die Pferde locken Großverdiener aufs Land, denen vor Ort die Idee kommt, ihr Geld in Weideland anzulegen. Um einiges schwieriger wird es dann schon, umgekehrt aus Gras wieder Geld zu machen. Dennoch sehe ich in unserem ländlichen Winkel alles in allem ein gelungenes Beispiel für landwirtschaftliche Nutztierhaltung. Unsere Tiere leben in einer ihnen gemäßen Umgebung, genießen ein gewisses Maß an Freiheit und unser Eingreifen bewahrt sie vor langem Leiden durch Alter und Krankheit oder einem qualvollen Tod infolge von Verletzungen. Gleiches gilt mehr oder weniger auch für die Wildtiere. Das Wildgeflügel wird entweder geschossen oder von Füchsen gefressen, Bussarde und Habichte erbeuten Nagetiere wie Ratten, Feld- und Wühlmäuse und umherziehende Reiher schnappen sich die Fische. Alter, Krankheit oder Verletzungen sind selten Todesursache bei unseren wilden Tieren, und wir helfen ihnen so gut wie möglich über den Winter, mit Resten aus der Küche für die Fleischfresser und Körnern und Nüssen für Vögel.