Nawalny - Jan Matti Dollbaum - E-Book

Nawalny E-Book

Jan Matti Dollbaum

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Beschreibung

 Alexej Nawalny war ein Phänomen. In der langen Amtszeit Wladimir Putins war er der erste, der ihn ebenso erfolgreich wie kompromisslos herausforderte. Doch wer war Nawalny wirklich und wie sähe ein Russland unter ihm aus?   Einer breiten deutschen Öffentlichkeit wurde Alexej Nawalny erst dadurch bekannt, dass er nur knapp einen Giftanschlag überlebte, für den er den russischen Geheimdienst verantwortlich machte. Nach seiner Behandlung in Deutschland wurde er bei seiner Rückkehr umgehend festgenommen, veröffentlichte aber zeitgleich ein Video, das Putins geheimen Palast am Schwarzen Meer zeigen sowie die ausufernde Korruption im Staat belegen sollte. Es wurde millionenfach geklickt, Hunderttausende gingen in ganz Russland auf die Straßen.    Nawalny präsentierte sich als Retter Russlands, der Putin unerbittlich vom Thron jagen will. Dabei ist seine Geschichte sehr komplex, sie reicht von rassistischen Aussagen bis zu einem bemerkenswerten Wahlkampf um den Bürgermeisterposten von Moskau. Seine Aktionen wurden mithilfe eines großen Unterstützernetzwerks perfekt geplant. Wer Alexej Nawalny war und wofür er stand, beleuchten nun erstmals drei internationale Russlandexperten mit Zugang zu Nawalnys engsten Vertrauten. 

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Seitenzahl: 356

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Jan Matti Dollbaum | Morvan Lallouet | Ben Noble

Nawalny

Seine Ziele, seine Gegner, seine Zukunft

Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr, Stephan Kleiner, Stephan Pauli und Alexander Weber

Hoffmann und Campe

1Wer ist Alexej Nawalny?

»Haben Sie keine Angst?«

Alexej Nawalny wird mit dieser Frage konfrontiert, als er am Flughafen Berlin Brandenburg den Flug DP936 der Pobeda Airlines antritt. Es ist Sonntag, der 17. Januar 2021.[1]

Die Maschine ist voll mit Journalisten, die den vierundvierzigjährigen Antikorruptionsaktivisten und Oppositionspolitiker Nawalny auf seiner Reise nach Hause begleiten. Als er die Kabine mit seiner Frau, seiner Rechtsanwältin und seiner Pressesprecherin betritt, blickt er in ein Dutzend Smartphones, die hochgehalten werden, um diesen Augenblick zu dokumentieren. Die Welt schaut zu.

Nawalny ist fröhlich und optimistisch. Dabei hat er sehr wohl Grund, Angst zu haben. Die russischen Strafverfolgungsbehörden hatten ihn zuvor gewarnt, dass er bei seiner Rückkehr nach Russland verhaftet werden würde. Man beschuldigte ihn, gegen Bewährungsauflagen aus einem Verfahren wegen Unterschlagung verstoßen zu haben. Er muss mit mehreren Jahren Gefängnis rechnen.

Dass Nawalny überhaupt in der Lage gewesen war, die Maschine zu besteigen, glich einem Wunder. Das letzte Mal, als er auf eigenen Beinen an Bord eines Flugzeug ging, befand er sich im sibirischen Tomsk. Es war der 20. August 2020, und es sollte eigentlich ein Routineflug zurück nach Moskau werden. Er hatte in Tomsk an Recherchen zu den Geschäftspraktiken von Beamten und Gemeindepolitkern gearbeitet.[2] Zudem hatte er sich vor den regionalen und lokalen Wahlen am 13. September für Oppositionskräfte eingesetzt und hoffte, ihnen zu Siegen gegen Kandidaten zu verhelfen, die von den Behörden unterstützt wurden.

Doch während des Flugs ging plötzlich alles schief. Nawalny wurde krank. Er bekam unerträgliche Schmerzen. Einem Mitpassagier zufolge sagte Nawalny kein Wort – »er hat nur geschrien«.[3] Eine Flugbegleiterin fragte, ob medizinisches Fachpersonal an Bord sei. Daraufhin meldete sich eine Krankenschwester. Zusammen mit der Flugbesatzung leistete sie Erste Hilfe und versuchte, Nawalny bei Bewusstsein zu halten.

 

Der Pilot beschloss, in Omsk, etwa 750 Kilometer westlich von Tomsk, aber immer noch in Sibirien, notzulanden – obwohl am Flughafen eine mysteriöse Bombendrohung eingegangen war.[4] Nawalny wurde auf einer Trage aus dem Flugzeug gebracht und von einem Rettungswagen in ein Notfallkrankenhaus gefahren.

Seine Pressesprecherin Kira Jarmysch sagte, das Einzige, was Nawalny an diesem Tag gegessen oder getrunken habe, sei ein schwarzer Tee aus einem Plastikbecher gewesen, den er kurz vor dem Abflug auf dem Flughafen zu sich genommen habe – und dass dieser womöglich mit Gift präpariert gewesen sei.[5] Nawalny war bis dahin, so schien es, körperlich in bester Verfassung, ein Mann ohne bekannte Gesundheitsprobleme, der nicht rauchte und wenig trank.

Die Befürchtung, die die Pressesprecherin äußerte, war nicht aus der Luft gegriffen. Wer die Politik in Russland aufmerksam verfolgte, kannte derartige Fälle. In den vergangenen Jahren waren Persönlichkeiten, die sich kritisch dem Kreml gegenüber geäußert hatten, immer wieder auf mysteriöse Weise erkrankt. Der Verdacht, dass sie vergiftet worden waren, lag stets nahe.[6] Andererseits hatte Nawalny sich mit seinen Ermittlungen zu Korruptionsfällen innerhalb der russischen Elite viele, ganz unterschiedliche Feinde gemacht – Geschäftsleute, lokale Politiker, hohe Staatsbeamte.[7] Die Liste möglicher Verdächtiger war lang.

Bei seiner Ankunft im Krankenhaus wurde berichtet, Nawalny sei vorerst auf eine »akute psychodysleptische Vergiftung« diagnostiziert worden.[8] Er wurde an ein Beatmungsgerät angeschlossen, in ein künstliches Koma versetzt und erhielt Atropin.[9] Sein Zustand wurde als »ernst, aber stabil« beschrieben.[10] Es wurden normale medizinische Maßnahmen eingeleitet.

Doch dann nahmen die Dinge eine seltsame Wendung.

Das Krankenhaus füllte sich mit Polizeibeamten, von denen einige Zivil trugen.[11] Und sie begannen laut Jarmysch, Nawalnys persönliches Eigentum zu konfiszieren.[12]

Als das Flugzeug, in dem sich Nawalny befunden hatte, schließlich Moskau erreichte, wurde es von Polizeikräften erwartet, die an Bord der Maschine gingen. Sie forderten die Passagiere, die Nawalny am nächsten gesessen hatten, auf, an Bord zu bleiben. Einem Passagier kam dies reichlich seltsam vor: »Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht die Rede von einem möglichen Verbrechen, aber die Sicherheitsbeamten schienen ganz eindeutig davon auszugehen, dass doch etwas Kriminelles vorgefallen war.«[13]

In Omsk hatte Nawalnys Frau Julia Schwierigkeiten, zu ihrem Mann vorgelassen zu werden. Die Krankenhausleitung ließ verlauten, er habe ihrem Besuch nicht explizit zugestimmt.[14] Und die Ärzte wurden Nawalnys Team gegenüber, das ihn zur Behandlung nach Deutschland ausfliegen wollte, immer reservierter und schwiegen über seinen Gesundheitszustand. Am 21. August landete ein Flugzeug in Omsk, das bereit war, Nawalny in die Berliner Charité zu überführen.

Auch Nawalnys enger Vertrauter Iwan Schdanow und Julia Nawalnaja berichteten von einem seltsamen Vorfall. Sie behaupteten, während ihres Gesprächs mit dem Chefarzt des Krankenhauses habe eine Polizistin gesagt, eine Substanz, die sowohl für Nawalny als auch Menschen in seiner Umgebung gefährlich sei, sei an ihm gefunden worden.[15] Doch habe sie sich geweigert, den Namen der Substanz zu nennen, dies sei ein »Ermittlungsgeheimnis«.[16]

Am selben Tag veröffentlichte eine russische Zeitung eine sensationelle Geschichte. Sie zitierte anonyme Quellen und behauptete, Ordnungskräfte seien Nawalny nach Tomsk gefolgt. War er vergiftet worden? Die Quellen berichteten, dass »keine unnötigen oder verdächtigen Kontakte, die mit der Vergiftung in Verbindung gebracht werden könnten«, gesehen worden seien.[17] Viele sahen in der Geschichte ein gezielt gestreutes Gerücht des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, der sich von dem Vorfall distanzieren wollte.[18]

Derweil revidierten die Ärzte in Omsk ihre ursprüngliche Diagnose.[19] Sie erklärten nun, Nawalny leide unter den Folgen einer ernsten metabolischen Störung, nicht an den Folgen einer Vergiftung. Der Chefarzt des Krankenhauses sagte, dies »könnte verursacht worden sein durch einen extremen Abfall des Blutzuckerspiegels im Flugzeug, auf den der Verlust des Bewusstseins folgte«.[20] Die Ärzte behaupteten nun außerdem, die Substanz, von der Proben in Nawalnys Händen und Haaren gefunden worden waren, sei ein weitverbreitetes Industrieprodukt und könne zum Beispiel von einem Plastikbecher stammen.[21] Und doch waren sie nun der Meinung, Nawalnys Zustand sei »instabil« und es sei nicht ratsam, ihn nach Deutschland zu fliegen.

Für Nawalnys persönliche Ärztin war das Motiv klar: »Sie warten drei Tage, bis keine Spuren von Gift mehr in seinem Körper sind.«[22] Julia Nawalnaja bat Wladimir Putin persönlich um Erlaubnis, ihren Ehemann nach Berlin ausfliegen zu lassen.[23]

Nach anfänglichen Widerständen wurde deutschen Ärzten der Zugang zu Nawalny erlaubt. Sie sagten, er sei in einem transportfähigen Zustand und könne nach Berlin geflogen werden. Auch russische Ärzte erklärten nun ihr Einverständnis und behaupteten, Nawalnys Zustand habe sich stabilisiert. Das Flugzeug mit Nawalny an Bord hob am 22. August vom Flughafen Omsk ab.

Zwei Tage, nachdem er in Berlin angekommen war, erklärten deutsche Ärzte, Nawalny sei mit einem Cholinesterase-Hemmer – einem Wirkstoff, der das Nervensystem angreift – vergiftet worden.[24] Dieser könnte von einem gewöhnlichen Schädlingsbekämpfungsmittel stammen – oder von einem waffentauglichen Nervenkampfstoff. Eine Nachricht, die den Verdacht erhöhte, dass der russische Staat in die Sache verwickelt sein könnte.[25]

Russische Funktionäre wehrten die zunehmend gegen sie gerichteten Vorwürfe ab. »Warum sollten wir so etwas tun? Und noch dazu auf so stümperhafte, unentschlossene Weise?«, tweetete am 24. August einer von Russlands Top-Diplomaten bei den Vereinten Nationen.[26] Anfang September behauptete der Sprecher der Staatsduma – des Unterhauses des russischen Parlaments –, die Reaktion des Westens auf die »angebliche« Vergiftung sei eine »geplante Aktion gegen Russland, um neue Sanktionen zu verhängen und die Entwicklung unseres Landes zu bremsen«.[27]

Zugleich schienen es die Polizeibehörden in Russland nicht eilig zu haben, den Vorfall zu untersuchen. Die regionale Verkehrspolizei – weit entfernt, den Eliteeinheiten der Vollzugsbehörden anzugehören – führte eine »Voruntersuchung« durch.[28] Das Hotel in Tomsk, in dem Nawalny sich aufgehalten hatte, wurde von der Polizei und FSB-Offizieren untersucht, doch die lokale Presse meldete, dieser Vorgang habe lediglich »ein paar Tage« gedauert. In den Augen von Nawalnys Mitstreitern, die von der Polizei befragt wurden, lief alles auf Untätigkeit, oder schlimmer, auf Vertuschung hinaus.[29]

Am 2. September versicherte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Nawalny sei »zweifelsfrei« mit einem Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden – ein Befund, der später von der Organisation für das Verbot chemischer Waffen bestätigt wurde.[30] Dieselbe Art von Nervenkampfstoff war im März 2018 im englischen Salisbury gegen Sergej und Julia Skripal eingesetzt worden – ein Anschlag, von dem die britische Regierung sagte, er sei »mit allergrößter Wahrscheinlichkeit« von Präsident Putin veranlasst worden.[31]

Wie bei diesem früheren Vergiftungsvorfall fiel die internationale Reaktion zum Fall Nawalny zunehmend heftig und dem russischen Staat gegenüber kritisch aus. Merkel behauptete, die Vergiftung werfe »sehr schwerwiegende Fragen auf, die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss«.[32] Die russischen Behörden gaben zur Antwort, dass die angeblichen Beweise für eine Vergiftung in Deutschland gefunden worden seien – und dass es deshalb an den deutschen Behörden sei, mit Russland zusammenzuarbeiten und weiteres Beweismaterial zu liefern.[33]

Daneben tauchten in staatstreuen russischen Medien mehrere Darstellungen auf, in denen die internationalen Anschuldigungen bestritten wurden. Einige bezweifelten, dass überhaupt eine Vergiftung stattgefunden habe. Zwei russische Journalisten schrieben sogar ein ganzes Buch, um diese These zu belegen.[34] Andere behaupteten, Nawalny sei zwar vielleicht vergiftet worden, doch sei hierfür nicht Nowitschok eingesetzt worden. Dies behauptete der Chemiker Leonid Rink, der selbst am Nowitschok-Programm mitgearbeitet und in den neunziger Jahren nach eigenen Angaben Dosen der Substanz an kriminelle Vereinigungen verkauft hatte.[35] Nawalny könne gar nicht mit dem Nervenkampfstoff vergiftet worden sein, denn in diesem Fall, argumentierte Rink, wäre er tot.[36] Dagegen urteilte ein anderer Chemiker, der ebenfalls an der Entwicklung von Nowitschok beteiligt gewesen war, die Symptome Nawalnys würden mit den vom Nervenkampfstoff ausgelösten Vergiftungserscheinungen übereinstimmen.[37]

Eine weitere Theorie besagte, dass Nowitschok zwar benutzt worden sein könne, es aber keinesfalls in Russland verabreicht worden sei, sondern in Deutschland. Diese Version wurde von Andrej Lugowoj verbreitet – einem Mitglied des russischen Parlaments und Hauptverdächtiger im Fall des Mordes an dem ehemaligen FSB-Agenten Alexander Litwinenko, der im Jahr 2006 in London mit radioaktivem Polonium vergiftet worden war.[38]

Am 7. September erwachte Nawalny aus dem Koma und erholte sich erstaunlich schnell. Er wurde am 23. September aus dem Krankenhaus entlassen und hielt sich danach zur Erholung im Schwarzwald auf.[39]

Monate vergingen. Während Nawalny allmählich wieder zu Kräften kam, waren anderswo Menschen damit beschäftigt, Nachforschungen zu seiner Vergiftung anzustellen. Wie wurde sie durchgeführt und von wem?

Am 14. Dezember veröffentlichte das Recherchenetzwerk Bellingcat die Ergebnisse seiner Ermittlungen, die es mit einem russischen Partner, der Online-Zeitung The Insider, sowie der Unterstützung von CNN und dem Spiegel durchgeführt hatte.[40] Nawalny sei von einem FSB-Mordkommando vergiftet worden – einer »geheimen Einheit, die auf giftige Substanzen spezialisiert ist«, und Nawalny seit Jahren beschattet und womöglich bereits zuvor zu vergiften versucht habe.

Gestützt auf Telefonaufnahmen und Passagierlisten konnte die Recherche die Bewegungen dieser FSB-Agenten nachverfolgen. Sie waren den Aufenthaltsorten von Nawalny oft verdächtig nahe gekommen.

Bis hierher waren die Ereignisse schon ungewöhnlich genug, doch nun wurden sie surreal. Am 21. Dezember veröffentlichte Nawalny das Video eines Telefonats, das er bereits kurz vor Veröffentlichung der Bellingcat-Recherche geführt hatte.[41] Darin sprach Nawalny mit jemandem, der den Rechercheergebnissen zufolge am Mordversuch beteiligt gewesen war – Konstantin Kudrjawzew. Nawalny gab sich am Telefon als ein Mitarbeiter des früheren FSB-Chefs aus, und Kudrjawzew fiel darauf herein und ließ sich Details der Operation entlocken. »Die Unterhosen … an der Innenseite … im Schritt« – dort sei das Nowitschok aufgetragen worden, sagte Kudrjawzew.[42]

Jetzt richteten sich noch mehr Stimmen empört gegen den Kreml. Als Antwort darauf scherzte Putin am 17. Dezember: Hätte der FSB Nawalny tatsächlich töten wollen, »hätten sie ihren Job auch erledigt«.[43] Während dies für manche nicht nach einer vollständigen Zurückweisung der Vorwürfe klang, bestritten russische Behörden ihre Beteiligung vehement. Doch schienen sie auch nicht allzu interessiert daran herauszufinden, wer stattdessen für die Tat verantwortlich war. Es wurde kein Strafverfahren eröffnet.

Einem seiner langjährigen Mitarbeiter zufolge war Nawalny »zunehmend davon überzeugt, dass Putin an der Vergiftungsaktion beteiligt sei« und folglich »zunehmend daran interessiert, ihn bloßzustellen«.[44] Dies wollte er tun, indem er den Vorwürfen nachging, die im Raum standen, wonach Putin korrupt sei und über heimliche Reichtümer verfüge. Dies war ein klarer Kurswechsel vonseiten Nawalnys: Einem engen Partner zufolge habe er zuvor wiederholt behauptet, »wenn wir über Putin schreiben, wird dies unsere letzte Recherchearbeit sein« – damit würde er eine rote Linie überschreiten und den Zorn des Präsidenten auf sich ziehen.[45]

Nawalny verkündete seinen Plan, nach Russland zu fliegen, am 13. Januar 2021.[46] Er sagte, er habe nie daran gezweifelt, dass er zurückkehren würde. Er habe nicht selbst entschieden, Russland zu verlassen, sondern sei nach einem Mordanschlag in Deutschland gelandet. Er kehre nicht aus dem Exil zurück, sondern beende lediglich seine unterbrochene Reise zurück nach Moskau, die er damals am 20. August 2020 in Tomsk angetreten habe.

 

Nachdem er sich am 17. Januar seinen Weg durch die Journalistenmenge im Flugzeug der Pobeda (was im Übrigen »Sieg« bedeutet) Airlines gebahnt hat, nimmt Nawalny neben seiner Frau Platz. Während die Maschine in Richtung Moskau fliegt, sehen sie sich gemeinsam die amerikanische Zeichentrickserie Rick and Morty an. Der Kontrast zum allgemeinen Ernst der Lage hätte nicht größer sein können.

Wer ist Alexej Nawalny?

Bei Nawalnys Rückkehr nach Russland im Januar 2021 waren sich fast alle Kommentatoren einig: Es ging hier um einen Kampf Gut gegen Böse – Nawalny gegen Putin. Das Schwarz-Weiß-Denken aus dem Kalten Krieg bestimmt noch immer das westliche Russland-Bild – noch immer wird ein Land gezeichnet, in dem gewissenlose Diktatoren über unfreie Massen herrschen.

Doch diese teils ideologische, teils naive Sichtweise stieß im Fall Nawalny schnell an ihre Grenzen. Im Januar erklärte Amnesty International Nawalny zu einem sogenannten »Gewissensgefangenen« (prisoner of conscience).[47] Doch wenige Wochen später beschloss die Menschenrechtsorganisation, ihre Entscheidung zurückzunehmen. Das verwirrte jene, die Nawalny für einen vorbildlichen Freiheitskämpfer hielten, der es gewagt hatte, es mit Putin aufzunehmen. Amnesty begründete die Entscheidung mit früheren Aussagen Nawalnys und dessen »Befürwortung von Hass, auf der die Anstiftung zu Diskriminierung, Gewalt und Feindseligkeit gründet«.[48]

In den westlichen Medien wurde Nawalny unterdessen mit anderen bekannten Freiheitskämpfern verglichen. Ist Nawalny der Nelson Mandela oder der Alexander Solschenizyn des modernen Russlands?, wurde gefragt. Doch solche Vergleiche verunklaren eher das Bild, als dass sie etwas erhellen würden. Sie zeigten vor allem, wie wenig die westliche Öffentlichkeit tatsächlich über Alexej Nawalny wusste.

Um ihn besser zu verstehen, müssen wir – wenigstens kurz – ganz zum Anfang zurückkehren.

Nawalny vor Nawalny

Alexej Nawalny wurde am 4. Juni 1976 in Butyn – einem Dorf im Westen Moskaus – geboren. Sein Vater war Offizier der sowjetischen Armee, seine Mutter arbeitete als Buchhalterin. In seiner Jugend folgte Nawalnys Familie dem Vater aufgrund seiner vielen Versetzungen von einer Stadt in die nächste.

In Nawalnys Familie genoss die UdSSR nicht gerade hohes Ansehen. Sein Vater hörte Voice of America. Seine Großmutter hasste Lenin von ganzem Herzen.[49] Die Familie bekam die größten Mängel des Systems hautnah zu spüren: Alexejs Vater stammte aus der Ukraine, und der junge Nawalny verbrachte die Sommerferien oft bei seiner Großmutter in einem Dorf bei Tschernobyl – bis die Region 1986 unbewohnbar wurde.[50]

Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, war Nawalny fünfzehn. Er verband nicht allzu viele gute Erinnerungen mit dem alten System: Wenn er über die UdSSR sprach, kam ihm vor allem das Schlangestehen für die elementarsten Konsumgüter in den Sinn. Er erinnerte sich an die Scheinheiligkeit der Kommunisten mit Parteibuch. Sie priesen die Sowjetunion am lautesten, waren gleichzeitig aber auch jene, die mit dem größten Neid in Richtung Westen blickten. Jenseits der Ideale herrschte in der Sowjetunion, die Nawalny kennengelernt hatte, nichts als Heuchelei – »alles Lug und Betrug«.[51]

Nawalny machte sich über den Kommunismus keine Illusionen. Er liebte Rockmusik und schaute bekannte Fernsehsendungen, die das Sowjetsystem kritisierten. »Als ich siebzehn war, glaubte ich, meine politischen Ansichten seien vollständig ausgebildet. Und ich teilte sie stolz der ganzen Welt mit.«[52] Nawalny war ein »Liberaler«.

Das Wort »liberal« hat in unterschiedlichen Kontexten sehr unterschiedliche Bedeutungen. Im Russland der neunziger Jahre bezeichnete es jene, die danach strebten, das Land nach westlichen Maßstäben in eine freie Marktwirtschaft und einen Rechtsstaat umzugestalten. Dieses gemeinsame Ziel einte liberale Kräfte ungeachtet anderer möglicher Meinungsverschiedenheiten. Darüber hinaus unterschied man sich dagegen sehr. Einige kritische Gruppen waren an der Macht, andere gehörten zur Opposition. Einige nannten sich »Liberale«, andere »Demokraten«. Einige waren Technokraten, andere Intellektuelle oder Graswurzelaktivisten. Einige traten für einen schrittweisen Übergang zum Kapitalismus ein, andere befürworteten eine radikale »Schocktherapie«. Einige waren überzeugte Demokraten, andere glaubten, Russland benötige eine starke Hand, um den Übergang zu einer liberalen Demokratie und zum Kapitalismus überhaupt zu bewerkstelligen.

In seiner Jugend befürwortete Nawalny die radikale Version des Liberalismus. Er unterstützte den ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin und dessen Reformen. Wie Nawalny selbst zugibt, stimmte er trotz des Leids, das sie den Schwächsten der Gesellschaft zufügten, laut für Jelzins wirtschaftliche Reformen. Dazu muss man erwähnen, dass er kaum Probleme mit den autoritären Tendenzen der Jelzin-Regierung hatte. Später sollte er diese Unterstützung bereuen – und zugeben, dass es Reformer wie er waren, die den Samen für Putins autoritäre Herrschaft säten.[53]

Nach Beendigung der Schule im Jahr 1993 schrieb sich Nawalny an der Russischen Universität der Völkerfreundschaft (RUDN) in Moskau ein, nachdem er die Zulassung an der renommiertesten russischen Hochschule, der Staatlichen Universität Moskau, knapp verfehlt hatte. Er studierte Jura und machte einen weiteren Abschluss in Finanz- und Börsenwesen. An der RUDN, so Nawalny, habe er begonnen, am Liberalismus zu zweifeln – und sei in Richtung Nationalismus umgeschwenkt.

Liberale Parteien in Russland waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Niedergang begriffen. Und Nawalny schien es, als würde das »liberale Projekt« die Menschen nicht mehr ansprechen. Warum? Weil Liberale russischen Stils nach seinem Dafürhalten sogar noch sozialliberaler agierten als ihre europäischen Pendants – insbesondere in Fragen der Zuwanderung.[54]

Obwohl Nawalny eigene politische Ideen vertrat und die Nachrichten verfolgte, war er zu diesem Zeitpunkt kein Aktivist. An der Universität dachte er, das Wichtigste sei es, »eine Ausbildung zu bekommen, eine Arbeit zu finden und schnell reich zu werden«.[55] Er begann früh, noch während des Studiums, zu arbeiten. Seine erste Stelle hatte er bei der Aeroflot-Bank, dann wechselte er in eine Immobilienfirma.[56] »Die Arbeit dort hat mir gezeigt, wie die Sachen im Inneren erledigt werden, wie Vermittlungsunternehmen aufgebaut sind, wie Geld hin- und herbewegt wird«, erzählte er der Journalistin Julia Ioffe im Jahr 2011.[57]

Um die Jahrtausendwende gründete Nawalny mehrere Unternehmen. In »guten Monaten« verdiente er zwischen 4000 und 5000US-Dollar.[58] Von solchen Einkünften konnten die meisten seiner Altersgenossen nur träumen. Ob Anwalt, Börsenmakler oder Geschäftsmann – Nawalny hat damals vieles gemacht.[59] Auch seine Eltern stiegen in die Klasse der neuen Mittelschicht der neunziger Jahre auf. Sie wurden Eigentümer einer Korbfabrik im Moskauer Umland.

Alexej Nawalny ist gebildet und belesen. Doch stammt er, wie der Schriftsteller Keith Gessen betont, »nicht aus der Intelligenzija«, also der Schicht der russischen Intellektuellen. Zum einen, weil in Russland Berufsoffiziere – wie Nawalnys Vater – nicht dazugehören. Zum anderen setzt sich Nawalny in seiner ganzen Art von anderen ab:

»Nawalny ist äußerst intelligent und sprachgewandt, er ist sogar ein sehr guter Autor. Doch er besitzt nicht diese besondere Form der Höflichkeit, Weitschweifigkeit und übermäßigen Besonnenheit [die man mit der Intelligenzija in Verbindung bringt] … Es gibt keine verborgenen Tiefen, keinen inneren Monolog, den Nawalny zu destillieren versucht, während er spricht. Er sagt, was er denkt, und er denkt nicht mehr als das, was er sagt.«[60]

Gleichzeitig scheint Nawalny von einem tiefen Gefühl moralischer Gewissheit durchdrungen. Viele seiner Slogans bezeugen dies. Der Untertitel seines Blogs lautete vorübergehend: »Die letzte Schlacht zwischen Gut und Neutralität«, und er beschließt seine YouTube-Videos üblicherweise mit »Abonnieren Sie unseren Kanal. Hier hören Sie die Wahrheit.« Nach seiner Vergiftung im Jahr 2020 wurde Nawalny gefragt: »Wo liegt die Macht?« – ein berühmter Spruch aus dem russischen Kultfilm Brat 2 von Alexej Balabanow. Und er antwortete, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, genauso wie der Held des Films: »Die Macht liegt natürlich in der Wahrheit. Entschuldigen Sie, dass das so trivial ist, doch die Macht liegt in der Wahrheit und im Selbstvertrauen.«[61]

Nawalny ist Politiker, und er hat mit den Jahren ein Image kultiviert, das an demokratische Politiker des Westens aus dem Mitte-Rechts-Lager erinnert.

Nawalny ist ein Familienmensch. Er ist orthodoxer Christ, geht allerdings nicht in die Kirche. Seit 2001 ist er mit Julia Nawalnaja (geborene Arosimowa) verheiratet. Sie hatten sich einige Jahre zuvor während eines Urlaubs in der Türkei kennengelernt. Julia Nawalnaja hat Internationale Wirtschaft studiert, allerdings nur kurze Zeit gearbeitet.Sie kümmert sich um den Haushalt und die beiden Kinder Daria (geboren 2000) und Zakhar (2008).[62] Sie spricht von sich als »Frau eines Politikers«. Eigene politische Ambitionen hat sie nie erkennen lassen.[63]

Trotz dieses traditionellen Familienbildes – und seines selbsterklärten Konservativismus – pflegt Nawalny einige fortschrittliche Ansichten, die vom Standpunkt der Mehrheit stark abweichen. So unterstützt er zum Beispiel die gleichgeschlechtliche Ehe, die in Russland von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird.[64]

Alexej Nawalny gibt sich sachlich und geschäftsmäßig. Kremlfreundliche Boulevardblätter betonen gerne, dass er teure Markenkleidung trägt und Urlaub im Ausland macht. Doch viel mehr haben sie nie herausgefunden. Sein Lebensstil ist luxuriöser als der eines durchschnittlichen Russen – was ihm durchaus bewusst ist.[65] Doch liegt er weit unter dem Niveau vieler jener Regierungsbeamten, über die er seine Recherchen anstellt.

Nawalny ist schlagfertig, einnehmend und witzig. Er ist aber auch aufbrausend. Ziemlich oft grenzt seine Direktheit an Unverschämtheit. Er hatte zahlreiche öffentliche Auseinandersetzungen mit Journalisten, ehemaligen Verbündeten und Politikern. In der liberalen Moskauer Politik- und Medienwelt, aber auch weit darüber hinaus provoziert er geteilte Meinungen.

Eine komplexe Figur

Die Wahrnehmung Nawalnys ist in Russland gespalten. Für einige ist er ein demokratischer Held – eine Figur, die fest entschlossen ist, Putins autoritärem Regierungsstil entgegenzutreten. Einige nennen ihn sogar den Anführer der Opposition. Für andere ist er ein Verräter – ein Strohmann des Westens, der von der CIA bezahlt wird und sein Heimatland verrät. Für wieder andere ist er ein fremdenfeindlicher Nationalist.

Die Menschen sind nicht zu Unrecht verwirrt. Nawalny ist ein Liberaler, der nationalistische – sogar rassistische – Erklärungen abgegeben hat. Er ist ein Antikorruptionsaktivist, der selbst wegen Unterschlagung verurteilt worden ist. Er ist ein russischer Patriot, der aber zu internationalen Sanktionen gegen russische Behörden aufruft. Er ist ein bekennender Demokrat, der seine Bewegung mit starker, autoritärer Hand führt. Nawalny will, dass Russland »glücklich« ist, greift seine Gegner jedoch mit zynischen Kommentaren an und ist nur selten zu Kompromissen bereit.

Da Nawalny eine ebenso inspirierende wie komplexe Persönlichkeit ist, bietet er Menschen aller Couleur eine Projektionsfläche für ihre Hoffnungen, Enttäuschungen und Verdächtigungen. In jedem Fall herrscht, was seine Person angeht, eine große Erwartungshaltung, und die muss er zwangsläufig bei vielen Menschen, die in ihm die Zukunft Russlands sehen, früher oder später enttäuschen. Schwer zu beurteilen ist Nawalny auch deswegen, weil es eine charismatische, medienerfahrene öffentliche Figur wie ihn bisher nicht gab in Russland – ein Land mit einem Regime, das, um das wenigste zu sagen, nicht gut umzugehen weiß mit Kritik.

Drei Seiten einer Person

Wie soll man seinem Wesen also gerecht werden? Wir erzählen Alexej Nawalnys Werdegang, indem wir drei unterschiedlichen Wegen folgen: dem des Antikorruptionskämpfers, dem des Politikers und dem des Aktivisten auf Straßendemos. Dies sind die wichtigsten Aspekte in Nawalnys Karriere, will man ihn innerhalb der modernen russischen Politik verstehen. Doch wir werden darüber hinausgehen und seine konfliktreichen Beziehungen zum Kreml beleuchten. Wir erklären, inwiefern nicht nur die politische Führung Russlands Nawalny geprägt hat, sondern wie Nawalny auch auf den Kreml Einfluss nimmt.

Diese Auseinandersetzung hat viele Menschen in Russland gezwungen, Farbe zu bekennen und Stellung zu beziehen. Einige argumentieren zum Beispiel, dass man sich erst später mit Nawalnys kontroversen Äußerungen befassen solle. Das eigentliche Ziel für den Augenblick laute, Putin zu besiegen. Oder wie Jewgenija Albaz – eine führende russische Journalistin und enge Freundin Nawalnys – es ausgedrückt hat: »Wir sind wieder bei einer Schwarz-Weiß-Politik angelangt – hier ein böses Imperium und dort die Leute, die für ihre Grundrechte kämpfen. Nawalny ist der Anführer Letzterer. Auf der anderen Seite stehen Putins Förderer im Westen und seine Kollaborateure innerhalb Russlands.«[66]

Angesichts des gegenwärtigen Zustands der russischen Politik kann schon die bloße Anerkennung von Komplexität politisch interpretiert werden – als ein Versuch, die Unterstützung für Nawalny zu schwächen. Und dies wiederum ist ein Vorwurf, der von Nawalnys Anhängern gegen russische Staatsmedien vorgebracht wird, wenn diese auf dunklere Passagen seiner Karriere verweisen.

Egal für welche Aspekte von Nawalnys politischer Idee und Karriere wir Sympathie oder Antipathie hegen – wir befinden uns nicht auf dem Schlachtfeld russischer Politik. Gestützt auf unsere Forschung zur russischen Politik – unsere Arbeit als nichtrussische Akademiker – werden wir die Grautöne analysieren, jedoch ohne damit zu unterstellen, dass auch auf russischem Boden diese Debatte über Komplexität die wichtigste Aufgabe wäre.

Warum der Fokus auf Nawalny?

Einige russische Analytiker Russlands haben argumentiert, dass man Nawalny überhaupt nicht verstehen müsse. Was zähle, seien die strukturellen Bedingungen, und Nawalny sei nichts weiter als ihr Produkt.

Tatsächlich haben eine ganze Reihe von Aspekten eine wichtige Rolle dabei gespielt, wie aus Nawalny Nawalny werden konnte. Der erste Aspekt ist die Korruption. Macht und Geld ziehen sich überall auf der Welt an. Doch in Russland ist die Korruption der Eliten ein zentraler Punkt für die Machterhaltung Putins. Die »Oligarchen« der neunziger Jahre – Superreiche mit guten Beziehungen, die den russischen Staat beherrschten – sind nicht verschwunden. Sie fungieren heute nur nicht mehr als Bedrohungen der Macht, sondern als ihre Stabilisatoren.[67] Um es allgemeiner zu formulieren: Die Allgegenwart der Korruption bringt Leute wie Nawalny – die sowohl das Gesetz als auch die Finanzwelt kennen und imstande sind, komplexe Eigentumsstrukturen zu entwirren – in eine privilegierte Position, von der aus sie die Verantwortlichen herausfordern können.

Russland ist reich an Rohstoffen und besitzt eine gut ausgebildete Bevölkerung, doch die Gesellschaft ist auch von großer wirtschaftlicher Ungleichheit geprägt. Begünstigt durch steigende Ölpreise, verbesserten sich die Lebensbedingungen während Putins ersten beiden Amtszeiten als Präsident signifikant, stagnierten jedoch seit Mitte der zehner Jahre. Und doch zählt Russland mehr als 250000 Dollarmillionäre, während zig Millionen in Armut leben.[68] Die Aufdeckung eklatanter Fälle von Korruption – und des luxuriösen Lebensstils, dem viele Funktionäre frönen – erregt selbstverständlich große Aufmerksamkeit, wenn viele Bürger am Rande des Existenzminimums leben. Doch gibt es Grenzen, bis wie weit man in seiner Kritik gehen darf.

Denn zum einen regiert in Russland ein autoritäres politisches System. Oppositionelle Kräfte werden nicht völlig verboten. Die Parteien der sogenannten »systemischen Opposition« können neben Putins Partei »Einiges Russland« an Wahlen teilnehmen. Diese »Oppositionsparteien« kritisieren die Regierung – manchmal sogar Putin selbst. Sie ziehen unzufriedene Wähler an, aber stellen die Macht des Präsidenten nicht auf die Probe. Und wenn doch, müssen sie mit denselben Hürden und Schikanen rechnen, die die Behörden auch bei allen anderen potenziellen Herausforderern im Repertoire haben.

Für jemanden wie Nawalny kommt erschwerend hinzu, dass viele Russen gegenüber der Politik im Allgemeinen ein tiefes Misstrauen hegen – mehr noch als Menschen in westlichen Ländern. Dies ist zum Teil eine Folge der russischen Verhältnisse in den neunziger Jahren. Der politische Wettbewerb war damals oft aggressiv und destruktiv. Parteien und Politiker schienen eher mächtige Privatinteressen – darunter auch kriminelle – zu verfolgen, als sich um die Belange des Volkes zu kümmern. »Politik« ist deshalb für viele zu einem Schimpfwort verkommen. Und so ist es für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand alle Hürden überwinden sollte, die der Kreml ihm in den Weg stellt, immer noch schwierig, das Vertrauen der Wähler zu gewinnen, selbst wenn viele der Ansicht sind, dass ein Wandel dringend nötig sei.

Sollte es statt um Nawalny in diesem Buch daher nicht besser um die Themen Korruption und Ungleichheit in einem autoritären politischen System gehen? In gewisser Weise geht es das auch. Indem wir Nawalnys Laufbahn als Politiker und Aktivist in den Mittelpunkt stellen, können wir besser verstehen, was das heutige Russland zu dem macht, was es ist. Doch Nawalny ist gleichzeitig nicht nur ein Produkt der Geschichte seines Landes. Um in diesem Umfeld ein ernsthafter Herausforderer der Macht zu werden, benötigt es Mut, Kreativität und Witz. Nawalny besitzt alle diese Qualitäten – und genau deshalb sticht er hervor.

Auch der Kreml weiß das – und hat sich deshalb auf Nawalny eingestellt.

Begriffe wie »der Kreml« sind natürlich ziemlich allgemein und können leicht über die Komplexität politischer Institutionen hinwegtäuschen. Als Forscher sind wir uns der Probleme bewusst, die mit der Verwendung von Sammelbegriffen einhergehen, die wichtige Nuancen in den Hintergrund rücken. Und doch können diese Begriffe manchmal eine nützliche Kurzform sein, insbesondere in Fällen, in denen die Details, die sie glätten, für das jeweilige Thema nicht so wichtig sind.

Wer unterstützt Nawalny?

Kremlfreundliche Medien haben lange Zeit argumentiert, dass Nawalnys Bedeutung im Westen überbewertet werde, dass er in Russland selbst gar nicht so wichtig sei. Doch wie passt das mit den Zahlen zusammen?[69]

Nach Nawalnys Rückkehr nach Russland Anfang 2021 hatte er eine Zustimmungsrate von etwa 20 Prozent, 50 Prozent lehnten seine Aktivitäten dagegen ab. Doch dies sind Durchschnittswerte, die die russische Gesellschaft als Ganzes betreffen. Menschen zwischen achtzehn und vierundzwanzig zeichnen ein positiveres Bild von ihm – mehr als ein Drittel befürwortet seine Aktivitäten. Im Gegensatz zum Alter spielt die Bildung einer Person so gut wie keine Rolle. Die Unterstützung für Nawalny unter Menschen mit Universitätsabschluss ist nicht viel größer als unter Menschen ohne. Und es gibt praktisch keinen Unterschied zwischen Großstadt- und Landbewohnern. Die Umfragen zeigen also, dass Nawalny nicht nur ein Phänomen der städtischen Ballungsgebiete in Russland ist.

Doch ändern sich diese Zahlen erneut, wenn man berücksichtigt, woher die Befragten vorrangig ihre Informationen beziehen. Unter Nutzern der Nachrichten- und Social-Media-App Telegram werden seine Aktivitäten von der Mehrheit unterstützt, während ihn unter jenen, die vor allem das vom Staat kontrollierte Fernsehen sehen, ganze zwei Drittel ablehnen.

Viele Kritiker Putins sagen, dies sei lediglich eine Folge der Staatspropaganda. Die Leute hätten sich über das Staatsfernsehen einer Gehirnwäsche unterzogen. Zugegebenermaßen ist sehr viel, was in den russischen Medien zu hören und lesen ist, Propaganda. Doch genauso gibt es eine weitverbreitete, aufrichtige Bereitschaft, Putin zu unterstützen – und ein tiefes Misstrauen gegenüber jenen, die ihn und den Status quo herausfordern. Dieses Verhältnis zwischen Putin und seinen Anhängern ist zu einem nicht geringen Teil ein emotionales. Es gründet auf den bis heute greifbaren Verbesserungen der Lebensbedingungen, die mit dem ersten Jahrzehnt seiner Herrschaft zusammenfielen. Gerade weil das Verhältnis nicht nur das Ergebnis von Propaganda ist, haben es Putins Herausforderer so schwer mit seinen treuen Anhängern.

Und genau dies ist der Grund, warum es Nawalny darauf angelegt hat, Putin als korrupt zu entlarven, denn nur so kann er hoffen, die Unterstützung für Putin zu untergraben und eine gesamtgesellschaftliche Koalition gegen ihn schmieden zu können. Dies ist eine einfache Botschaft – spiegelt aber lediglich eine Seite einer komplexen politischen Figur.

 

Flug DP936 beginnt mit der Landung auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo. Nawalnys Anhänger haben sich zu Tausenden versammelt – doch auch die Bereitschaftspolizei ist vor Ort.[70] Der Pilot macht eine Durchsage: Die Maschine könne aufgrund »technischer Probleme« nicht wie geplant in Wnukowo landen. Stattdessen werde man den Flughafen Scheremetjewo ansteuern, »wo das Wetter herrlich ist!«, wie er amüsiert hinzufügt.[71]

Dort sind die Kameras auf Nawalny gerichtet, während er das Flugzeug verlässt und sich Richtung Terminal bewegt. Da die Behörden ihn beschuldigt hatten, dass er seine Bewährungspflichten verletzt habe, kommt für niemanden überraschend, was als Nächstes geschieht: Bei der Passkontrolle wird Nawalny festgenommen.

Er wird in ein Gefängnis im Norden Moskaus gebracht. Am nächsten Tag findet auf einer Polizeistation eine eilige gerichtliche Anhörung statt. Nawalnys Rechtsanwältin erfährt davon erst zwei Stunden davor. Nawalny nennt den ganzen Prozess eine »erstaunliche Absurdität«.[72]

Das Gericht stellt ihn dreißig Tage unter Arrest und setzt für den 2. Februar eine Verhandlung an. An diesem Tag würde ein Richter entscheiden, ob die Bewährungsstrafe für seine Verurteilung wegen – der als Fall »Yves Rocher« bekannten – Unterschlagung von 2014 in eine Gefängnisstrafe umgewandelt werden soll.

»Ich habe keine Angst«

Nawalny war ab sofort der Willkür des russischen Staates ausgeliefert. Bevor er den Schalter der Passkontrolle erreichte, wo man ihn verhaften würde, blieb er stehen, um einige Wort an die Pressevertreter zu richten. Der Hintergrund war ideal: ein riesiges Poster, das den Kreml und die russische Flagge zeigte.

Nawalny war immer noch optimistisch – und er war zurück in Russland. »Das ist meine Heimat«, sagte er. Es sei seine Entscheidung gewesen zurückzukehren: »Das ist für mich der beste Tag der letzten fünf Monate. Ich habe keine Angst, und ich bitte euch, auch keine Angst zu haben.«[73]

2Der Antikorruptionskämpfer

Region Krasnodar, unweit des Ferienorts Gelendschik, fünf Stunden nordwestlich von Sotschi, wo 2014 die Olympischen Winterspiele stattfanden.

Eine Drohne mit Kamera fliegt über dem Schwarzen Meer und nähert sich dem Ufer. Vor ihr eine baumgesäumte Küste – und ein gewaltiges Gebäude. Mit 17691 Quadratmetern ist es das »größte private Wohngebäude in Russland«. Es steht auf einem Grundstück, auf dem »39 Fürstentümer von Monaco« Platz finden könnten.[74]

Ein unterirdisches Eishockeyspielfeld. Ein Arboretum. Hubschrauberlandeplätze. Eine »Aqua-Disco«. Weinberge. Ein privates Casino. Ein Freilufttheater. Ein geheimer Tunnel zum Strand. Ist dies das Domizil eines Bond-Bösewichts?

Nein. Es ist Putins Palast – laut einer Recherche von Nawalnys »Fonds für Korruptionsbekämpfung« (FBK).[75] Es ist »die geheimste und bestgeschützte Einrichtung in Russland, ohne Übertreibung. Dies ist kein Landhaus, keine Datscha, keine Villa – dies ist eine ganze Stadt oder eher ein Königreich.«

Am 19. Januar 2021 auf Youtube veröffentlicht, entwickelt sich der investigative Film in Spielfilmlänge sofort zum Hit. Bis zum 28. Januar wurde er bereits 100 Millionen Mal aufgerufen.[76] Bis Anfang Februar hatte mehr als ein Viertel aller Erwachsenen in Russland den Film gesehen.[77]

Das Video zeigt den irrwitzigen Luxus des Palasts und seiner Außenanlagen. Es deckt zudem ein komplexes Netz finanzieller Beziehungen auf, die nur dazu dienen, so der FBK, den eigentlichen Nutznießer von alldem – den Präsidenten Russlands – geheim zu halten. Das ist, so argumentieren Nawalny und sein Team, »die größte Bestechung der Welt«.[78]

Ein Detail in Nawalnys Recherchen – eine einzelne italienische Toilettenbürste, die 700 Euro kostet – wird zum Symbol nachfolgender Proteste. Dabei war die Bürste Nawalnys Team zufolge nicht einmal für den Palast selbst gedacht: Man hatte sie für ein nahe gelegenes Weingut gekauft, das zwar zum Anwesen gehört, aber dennoch recht weit entfernt vom eigentlichen Palast liegt.

Wladimir Putin wies die Vorwürfe zurück. »Nichts von dem, was als mein Besitz gezeigt wurde, hat je mir oder meinen nächsten Verwandten gehört. Nie.«[79] Der russische Milliardär Arkadi Rotenberg sagte der Presse, er, Rotenberg, sei der Eigentümer des Anwesens – es sei »ein echter Fund in einer wunderschönen Gegend«. Und er habe geplant, es zu einem Hotel umzubauen. Es »hat ziemlich viele Räume«.[80]

Der Film Ein Palast für Putin ist die mit Abstand bekannteste Recherche des FBK. Doch Nawalnys Antikorruptionsarbeit hat schon viele Jahre davor begonnen. Tatsächlich erhielt Nawalny die nationale und internationale Aufmerksamkeit zunächst für seinen Antikorruptionsaktivismus.

Im Folgenden erzählen wir diese Geschichte – die Geschichte, wie Nawalny von einem unbedeutenden Blogger und Aktivisten für Minderheitsaktionäre zu einem der berühmtesten Kreuzritter gegen die Korruption wurde. Wir stellen einige der Schlüsselfiguren vor, die sich ihm auf diesem Weg angeschlossen haben, und schildern die vielen Hindernisse, mit denen sie zu kämpfen hatten, seien es Schikanen der Polizei oder körperliche Angriffe durch unbekannte Schläger. Und wir betrachten die Beschuldigungen, die gegen Nawalny vorgebracht wurden – etwa, dass er ein bezahlter Stellvertreter unternehmerischer Interessen sei oder jemand, der aus rein egoistischen Motiven heraus ein Thema gesucht habe, um seiner politischen Karriere auf die Sprünge zu helfen.

»Wem gehört Surgutneftegas?«

Surgut – eine Stadt im westlichen Sibirien, drei Flugstunden nordöstlich von Moskau. Es ist der 30. April 2008. An diesem Tag findet die jährliche Aktionärsversammlung von Surgutneftegas statt. Die Wirtschaftszeitung Wedomosti bezeichnet das Unternehmen als einen der undurchsichtigsten Erdölkonzerne des Landes.[81] Etwa 350 Personen sind anwesend.[82]

Nachdem Hauptgeschäftsführer Wladimir Bogdanow seinen Bericht zu den Unternehmenszahlen des vergangenen Jahres beendet hat, fragt er, ob es aus dem Zuschauerraum noch Fragen gebe. Eine Gestalt betritt die Bühne. Es ist Alexej Nawalny.

»Wem gehört Surgutneftegas?«, fragt er.

Die Unternehmensleitung ist wie betäubt. Sie ist es nicht gewohnt, eine provozierende Frage wie diese in der Öffentlichkeit gestellt zu bekommen, geschweige denn, sie zu beantworten. Denn natürlich spielt die Frage unverblümt auf die fehlende Transparenz in der Eigentümerstruktur des Unternehmens an.

Nawalny stellt zwei weitere Fragen: Warum fallen die Dividendenrenditen des Unternehmens so niedrig aus? Und warum ist es so schwer, an Informationen heranzukommen, darunter an den Jahresbericht des Unternehmens, den man erst kurz vor der Versammlung, und auch dann nur im abgelegenen Surgut lesen kann?

Es folgt eine unbehagliche Stille. Und schließlich, wie aus dem Nichts – Applaus. Eine kleine Gruppe von Aktionären im hinteren Bereich der Halle zeigt ihre Unterstützung für Nawalnys kritische Fragen.

Dies ist Nawalny, der Aktivist der Minderheitsaktionäre. Seit 2007 ist er dabei. Indem er Aktien von russischen, oft auch staatlichen, Unternehmen kauft, erreicht er mindestens zwei Dinge: Er bekommt Zugang zu Informationen über die Aktivitäten dieser Firmen, und er hat die Möglichkeit, wie in Surgut, Rechenschaft einzufordern. Er kann die Informationen auch benutzen, um Unternehmen vor Gericht zu bringen, entweder in der Absicht, weitere Informationen zu erhalten, oder um sie wirklich zur Rechenschaft zu ziehen.[83] Seine Ausbildung als Anwalt und Finanzexperte hilft ihm dabei, sich in dieser Welt zurechtzufinden.

Doch der nächste Schritt ist nicht weniger wichtig: Nawalny veröffentlicht die gewonnenen Informationen auf einem Blog des Website-Anbieters »Livejournal« – eine für ihn unverzichtbare Plattform. »Mein Blog existiert nur, weil die Medien zensiert werden«, sagte er einem Magazin im Jahr 2011.[84] Er beginnt mit dem Bloggen im März 2006, einfach um die Niederschriften seiner wöchentlichen Radiosendung auf Echo Moskwy zu publizieren. Bald aber nimmt die Sache ungeahnte Dimensionen an.

Blogs funktionieren

Der Blog erlaubt es Nawalny, ein Bewusstsein für Themen zu schaffen, die in den russischen Medien kaum oder gar nicht behandelt werden, darunter auch sein Aktionärsaktivismus. Als Frühform von Social Media erlaubt es ihm der Blog auch, eine Community aufzubauen – aus Leuten, die daran interessiert sind, zwielichtige Geschäfte von Konzernen aufzudecken, aber auch bereit sind zu helfen:

»Einfach gesagt, Blogs funktionieren. Ein Blog ist dein eigenes Medium, nur interaktiv. Wenn ich schreibe: ›Leute, ich brauche einen Spezialisten für Baugestaltung, um einer korrupten Sache im Baugeschäft auf den Grund zu gehen‹, dann finde ich solche Leute über den Blog. Wo nötig, kann ich über den Blog alle dazu auffordern, Beschwerden an die föderale Antimonopolstelle zu richten, und Tausende werden schreiben. Ein Blog ist ein universelles Werkzeug … Online und Offline werden durch einen Blog vereint.«[85]

In einer seiner Kampagnen gegen den Energiegiganten Gazprom seien, so Nawalny, mehr als 500 Leute an den Recherchen beteiligt gewesen.[86] Daneben gründet Nawalny das »Zentrum für Aktionärsschutz««, ein weiteres Beispiel der für Nawalny typischen Gemeinschaftsbildung, um Know-How zu bündeln und Aktionen aufeinander abzustimmen.[87]

Seine Blogeinträge machen Furore. Und man kann ihren zunehmenden Einfluss messen. Ein Beitrag vom August 2008 wird 235-mal kommentiert.[88] Ein Post vom Dezember 2008 erhält 832 Kommentare.[89] Ein Post vom November 2009 erhält 1394 Kommentare.[90] Doch ein Post vom November 2010 stellt sie mit 8965 Kommentaren alle in den Schatten.[91] Diese Zahlen sind vielleicht nur bedingt aussagekräftig. Doch sie zeigen deutlich, dass Nawalnys Sichtbarkeit und Einfluss mit der Zeit immer mehr zunahmen: Ende 2011 wurde sein Blog schließlich von 55000 Menschen gelesen.[92]

Nawalny suchte sich Fälle heraus, von denen er wusste, dass sie seine Leser empören würden. Sein erklärtes Ziel: »Das Thema sollte eine Reaktion auslösen. Als ich [im Jahr 2008] auf meinem Blog über den Prozess gegen [den staatlichen Pipeline-Monopolisten] Transneft schrieb – der nicht offenlegte, welchen wohltätigen Zwecken es in zwei Jahren eine halbe Milliarde Dollar zukommen ließ –, erhielt ich Hunderte von Antworten. Leute regen sich darüber auf.«[93]

In einer weiteren Recherche zu Transneft aus dem Jahr 2010 behauptete Nawalny, während des Baus der Ostsibirien-Pazifik-Pipeline – ein essenzieller Bestandteil der Infrastruktur für den Export russischen Erdöls in die Märkte der Asien-Pazifik-Region – seien nicht weniger als vier Milliarden US-Dollar gestohlen worden. Die Quellen für Nawalnys Informationen? Dokumente einer Rechnungsprüfung, die ihm zugespielt worden waren. Die Prüfung war von der Rechnungskammer durchgeführt worden, einer staatlichen Behörde mit der Aufgabe, die Verwendung von Haushaltsmitteln und öffentlichen Geldern zu kontrollieren. Transneft selbst wies die Recherchen als Teil einer Kampagne gegen das Investitionsvorhaben zurück.[94]

Nawalnys Behauptungen erregten die Gemüter so sehr, dass Wladimir Putin – damals Ministerpräsident – sich öffentlich dazu äußerte und verlangte, die Prokuratura (Staatsanwaltschaft) solle die Ermittlungen aufnehmen.[95] Doch ist dies nie passiert. Bis September 2011 hatte sich Putins Tonlage deutlich verändert. Er behauptete, die Leitung von Transneft stehle keine Mittel, sondern setze sie vielmehr zu anderen als den ursprünglich beabsichtigten Zwecken ein.[96]

Dennoch wies ein Moskauer Gericht im Februar 2011 Transneft an, weitere Informationen zu diesem Fall zur Verfügung zu stellen – gegen den Protest der Unternehmensleitung.[97] Nawalny reagierte auf diese Entscheidung in einem Blog-Post mit: »Yabadabadoo!« Und: »Ein großer Sieg.«[98]

Insgesamt waren Nawalnys Versuche, Unternehmen und Individuen zur Rechenschaft zu ziehen, jedoch nur selten erfolgreich. Aber das nahm er schulterzuckend hin: »Wir sind Realisten und verstehen nur allzu gut, dass es im heutigen Russland eher unwahrscheinlich ist, vor Gericht gegen die höchsten Instanzen zu bestehen.«[99]

Ein Thema, das alle angeht

Die Russen machen sich wegen der Korruption im Land Sorgen. Umfragen aus den letzten zwanzig Jahren zeigen, dass die Korruption eines der Themen ist, die ihnen mit am meisten Angst machen – gleich nach steigenden Preisen, Arbeitslosigkeit und Armut.[100] Korruption geht alle an, unabhängig von Bildung, Einkommen oder Herkunft. Dagegen einzutreten scheint dementsprechend für jemanden, der seine Sichtbarkeit und Anziehungskraft vergrößern will, eine Erfolg versprechende Strategie zu sein.

Eine Antikorruptionsagenda spricht aber nicht nur so gut wie alle gesellschaftlichen Gruppen an, sie bietet einen noch wichtigeren Vorteil: Man kann sie sowohl aus einer politisch rechten wie linken Warte aus vertreten, im Gegensatz zu anderen Forderungen, die Nawalny zu verschiedenen Zeitpunkten gestellt hat.

Gewiss werden Reformen zur Korruptionsbekämpfung als Beitrag zu einem liberalen Wirtschaftsprogramm oft von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds unterstützt. Günstlingswirtschaft und Bestechung, so lautet hier das Argument, unterhöhlen den gesunden Wettbewerb der Marktkräfte. Doch kann eine Antikorruptionsagenda genauso gut von einer linken Plattform für soziale Gerechtigkeit verteidigt werden. Veruntreuung, Manipulationen bei der Vergabe von Aufträgen und die Verlagerung von steuerbarem Vermögen ins Ausland schaden dem Staatshaushalt und entziehen das Geld, das für das Gemeinwohl verwendet werden könnte.

Trotz eines Wirtschaftsbooms in den frühen zweitausender Jahren – unter anderem dank eines hohen Weltmarktpreises für Erdöl – ist die Einkommensungleichheit in Russland bis heute sehr hoch.[101] Zusehen zu müssen, wie sich politische Eliten an Steuergeldern bereichern, macht die Bevölkerung immer wütend. Dies gilt jedoch umso mehr für Länder, in denen die Ungleichheit hoch, der Zustand der öffentlichen Versorgungsunternehmen schlecht und die Lebensqualität niedrig ist. All diese Faktoren machen Korruption zu einer Frage der sozialen Gerechtigkeit.

Es ist persönlich

Spricht man mit denen, die sich Nawalnys Bewegung angeschlossen haben, fällt eines auf: Die Menschen haben alle ihre persönlichen Erfahrungen mit Korruption gemacht, und sie haben recht konkrete Vorstellungen davon, warum und wie sie bekämpft werden muss – ganz gleich, wo sie politisch stehen.