"Nebel über dem Königssee" - Hans - Peter Ackermann - E-Book

"Nebel über dem Königssee" E-Book

Hans-Peter Ackermann

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Beschreibung

In einer lauen Sommernacht wird die bayrische Idylle im Berchtesgadener Land jäh gestört, als am Morgen Kriminaloberkommissar Markus Ludwig und seine schweizer Assistentin Susi Thoma zu der Leiche eines siebzehnjährigen Mädchens gerufen werden. Als dann innerhalb kurzer Zeit noch zwei weitere Mädchen tot aufgefunden werden, müssen die Kriminalisten von einer Serie von Gewaltverbrechen ausgehen. Schnell wird klar, dass es sich um einen oder mehrere jugendliche Täter handeln muss, denn immer wieder taucht dabei auch die Droge „Crystal Meth“auf. Als dann gar Susi Thoma bei einem Alleingang zeitweise in die Hände der Täter fällt, bekommt dieser Fall eine von der Öffentlichkeit stark beachtete Brisanz. Doch die schweizer Kommissarin kann sich selbst befreien, und so kommt es in einer Nacht- und Nebelaktion hoch über dem Königssee zum alles entscheidenden Showdown und zur Lösung des Falles.

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D er Sonnenball schob sich gerade langsam über die Bergspitzen und begann mit seinen warmen Strahlen die Nebelschwaden über dem See aufzulecken.

Dort wo die Dunstschleier bereits besiegt waren, glitzerte die Wasseroberfläche silbern im Licht des anbrechenden Morgen. Eine beinahe ehrfürchtige bleierne Stille lag an diesem Morgen über dem Königssee. Plötzlich aber tuckerte ein Fischerboot aus den verbliebenen Nebelschwaden hervor.

Den Kragen hochgezogen, und mit einer Pfeife dicke Qualmwolken ausstoßend, saß ein älterer Mann am Ruder und steuerte das Boot in Richtung der Kreuzelwand. Vorn am Bug hockte im Schneidersitz ein junger Mann und sah suchend auf die entfernt auftauchenden Bojen ihrer Standnetze. Eine leichte Linkskurve steuernd nahm das Boot Kurs auf die erste rot markierte Boje, an der ein Netz befestigt war. Insgesamt sieben solcher Standnetze hatte der Fischer hier aufgestellt.

Der junge Mann am Bug erhob sich und nahm eine lange Stange mit einem Haken zur Hand. Damit hängte er sich an der Boje ein und zog das Boot langsam an das Netz heran. Der Motor war verstummt, und von der Holzstange abgebremst, verlor das Boot rasch an Fahrt. Es glitt nun lautlos, dahin bis es endlich zum Stillstand kam. Nun konnten die beiden Männer beginnen, das Netz mit ein paar kräftigen Armzügen einzuholen.

Der junge Mann begann, aufrecht im Boot stehend, kräftig das Netz herauszuziehen. Unterstützt von seinem Vater holten sie nun Meter um Meter des Fischernetzes ins Boot. Und immer wieder befreiten sie silbern glänzende Fische aus den Maschen, die sie in einen flachen Bottich mit Wasser warfen. Franz Gründl schüttelte ein ums andere Mal missmutig den Kopf.

„Das wird von Jahr zu Jahr auch immer weniger! Wir sollten es vielleicht doch wie die da drüben machen.“ Dabei deutete er mit dem Kopf auf die andere Seite des Sees hinüber.

„Ein paar Becken bauen und dann die Fische darin aufziehen“, knurrte er leise vor sich hin. Für einen Moment richtete er sich halb auf und streckte sein schmerzendes Kreuz. Sohn Anton, der neben dem Alten stand, lächelte bei den Worten seines Vaters und sah ihn von der Seite an.

„Ach Vater, das erzähle ich Dir doch nun schon seit Monaten. Wir hätten uns doch längst denen von der Genossenschaft nur anzuschließen brauchen. Unser Betrieb rentiert sich doch schon kaum noch. Wenn Mutter nicht die Zimmervermietung noch hätte, sähe es manchen Monat ganz schön finster aus!“

Der Alte zog knurrend an seiner Tabakspfeife und paffte ein paar Wolken in die kalte Morgenluft.

„Ja, ja, der Herr Studiosus hat mal wieder alles im Voraus gesehen! Aber schon mein Vater und unser Urgroßvater haben die Fische lieber aus dem See geholt, als solch eine Großzuchtanlage zu betreiben. Das kalte Wasser lässt sie nun mal langsamer wachsen. Dafür schmecken sie aber tausendmal besser, als denen ihre da oben!“ Wieder deutete der Alte mit dem Kopf auf die andere Seeseite hinüber, dort wo die Fischaufzuchtanlage der Genossenschaft ihren Sitz hatte.

Anton Gründl winkte genervt ab. Diesen Disput mit dem Vater hatte er mindestens jeden Monat einmal. Aber der Alte wollte es einfach nicht wahrhaben, dass der Fischbestand von Jahr zu Jahr weniger wurde. Die Fischreiher und der Bootsverkehr taten ihr Übriges. Immerhin fuhren inzwischen auch, Tag ein Tag aus, einundzwanzig Ausflugsboote mit Elektroantrieb im Abstand von zwanzig Minuten über den See, und störten die Ruhe der Fische.

Und wie zur Bestätigung schob sich gerade in diesem Moment das erste Ausflugsboot an diesem Morgen an ihnen vorüber und hupte kurz. Der Fischermeister kannte die meisten Bootsführer und winkte mit seinem Hut zurück.

Endlich hatten sie das erste Standnetz eingezogen, aber die Ausbeute war kläglich. Zurück auf seinen Sitzplatz balancierend, nahm der Alte wieder Platz und setzte erneut den Motor in Gang. Langsam dahin gleitend schob sich das Boot der nächsten Boje entgegen. Wieder verstummte der Motor und Anton griff wieder zu seiner Stange, um sich an der Boje einzuhaken. Diesmal hatten sie mehr Glück. Neben Renken und Saiblingen waren sogar zwei kapitale Hechte dabei.

Nach zwei Stunden hatten sie die leeren Netze wieder ausgesetzt und nahmen Kurs auf zu Hause.

Das „Gründlerlehen“ lag in Sichtweite der Zwiebeltürme der kleinen Kirche von St. Bartholomä, und einige Hundert Meter entfernt vom Anwesen des Jägers Hohlmayer. Nur diese beiden Familien lebten schon seit alters her auf der Halbinsel Hirschau, die aber allgemein nur unter dem Namen der Wallfahrtskirche St. Bartholomä bekannt war.

Das Gründlersche Anwesen bestand aus dem ehemaligen Fischerhaus sowie der Fisch-Schlachterei und Räucherei, einem Nebengebäude. In diesem Nebengebäude hatten sie vor Jahren zwei Ferienwohnungen ausgebaut. Etwas weiter entfernt stand das ehemalige bischöfliche Jagdschloss, das als Basis der Watzmann-Ostwand-Besteiger und als Gaststätte diente.

Ganz am Ende der Halbinsel stand das Försterhaus. Die Kapelle St. Bartholomä und das ehemalige Jagdschloss, welches nun als Gaststätte genutzt wurde, waren die Anziehungspunkte der kleinen Halbinsel.

Vor zwanzig Jahren hatte Franz Gründl das Anwesen von seinem Vater Xaver überschrieben bekommen. Da war er schon vierzig gewesen und hatte Frau und Kind. Lange hatte der alte Xaver diese Übergabe hinausgezögert. Doch eines Tages hatte Franz dem Alten dann die Pistole auf die Brust gesetzt.

„Also Vater, entweder Du überschreibst mir den Betrieb oder ich gehe mit meinen Beiden woanders hin um ein gesichertes Einkommen zu haben“, hatte er dem Vater gesagt. Da hatte Xaver eingelenkt und ihm schweren Herzens das gesamte Anwesen überschrieben. Zwei Jahre später kam dann das Nesthäkchen Katharina zur Welt. Er selber war auf diesem kleinen Stück Land genau so aufgewachsen, wie seine Kinder hier aufgewachsen waren.

Wenn er auch sonst immer grantelte und brummte, die Katharina war seine Sonne, sein Jungbrunnen. In ihr sah er seine Agnes, als er sie damals mit siebzehn kennengelernt hatte. Mittelgroß, gut gebaut, dichtes langes schwarzes Haar, dunkle kräftige Augenbrauen und dunkelbraune Augen, die wie zwei Sterne leuchteten. Und immer ein Lächeln im Gesicht, so wie seine Kathi heute.

Mit sechzehn hatte Kathi sogar schon die Titelseite des Werbekalenders der Region Berchtesgaden geziert. Stolz wie ein König war er damals auf seine junge Tochter gewesen.

Anton wedelte mit der Hand die Qualmwolken aus seines Vaters Tabakspfeife beiseite. Der Alte nahm den alten Kocher aus dem Mund und grinste seinen Sohn breit an „Tabaksqualm vertreibt die Mücken“, bemerkte er nur lakonisch. Anton nickte.

„Ja, und führt zum vorzeitigen Ableben, Vater! Du solltest damit endlich aufhören!“ Der Alte meckerte vor sich hin und schüttelte belustigt den Kopf.

„Vor lauter Gesundheitsbewusstsein seid ihr auch bei jedem Windzug krank“, entgegnete er süffisant und grinste wieder. Er spielte wohl darauf an, dass Anton heuer mitten im Sommer eine Grippe bekommen hatte. Eine Krankheit, die Franz selbst nicht einmal kannte. Plötzlich sah er seinen Sohn ernst von der Seite an.

„Sag mal Junge, mir ist zu Ohren gekommen, die Kathi hat neuerdings einen Verehrer. Stimmt das?“ Anton zuckte mit den Schultern, vermied es aber dabei seinen Vater in die Augen zu schauen. Wusste er doch ziemlich sicher, dass der Hohlmayer Fredo der Kathi schöne Augen machte. Ausgerechnet einer von den Hohlmayers drüben auf der anderen Seite der Halbinsel! Jeder am See wusste, dass es zwischen den Gründlers und den Holmayers schon seit Jahrzehnten eine Fehde gab. Dabei ging es um ein kleines Grundstück am See.

Der Urgroßvater von Franz Gründl hatte kurz nach dem Ersten Weltkrieg aus reiner Geldnot dem alten Hohlmayer das kleine Stück Land verpfändet. In der Urkunde sollte gestanden haben, dass nach Begleichen der Schuld von 600 RM der alte Melchior das Grundstück wieder zurückbekommen sollte. Doch die Urkunde war angeblich bei einem Brand im Försterhaus mit verbrannt. Der alte Melchior aber hatte noch auf dem Sterbebett geschworen, das Grundstück wieder ausgelöst zu haben. Doch da es weder eine Urkunde noch einen anderen Beweis dafür gab, herrschte seit jener Zeit offene Feindschaft zwischen den beiden Familien. Dies war umso tragischer, weil sie auf einer kleinen Halbinsel zusammenwohnten. Auf diversen Festen hatte es so immer wieder Schlägereien zwischen den Buben beider Familien gegeben. Wenn Kathi also dem Charme von einem dieser Halunken erlegen war, dann konnte das nur in einer Katastrophe enden! Allerdings begann sich zumindest bei den beiden großen Jungs die Einsicht durchzusetzen, dass es endlich an der Zeit war, nun Frieden zu schließen. Anton und Vincent waren es inzwischen einfach leid, den Zoff der Familienoberhäupter weiter fortzusetzen.

Durch Zufall hatten sich die beiden Jungen vor einiger Zeit in Berchtesgaden getroffen. Bei einem Bier hatten sie lange darüber geredet. Aber solange der Hohlmayer Simon nicht mit sich reden ließ, würde die Fehde wohl bis an das Lebensende der Beiden dauern.

Was allerdings Vincent maßlos ärgerte, war die Rolle die sein Bruder Fredo spielte. Auch darüber hatte er mit Anton gesprochen.

Sein Bruder war so alt wie die Kathi. Auch Vincent hatte schon öfters leidvoll erfahren müssen, wie hinterhältig sein kleiner Bruder war. Wegen ihm hatte er in früheren Jahren öfters vom jähzornigen Vater Prügel bezogen. Fredo hatte Mist gebaut und es Vincent in die Schuhe geschoben, und da war der Knirps gerademal acht Jahre alt gewesen. Damals wäre auch um ein Haar das Haus abgebrannt, nur weil Fredo einen Raketenantrieb aus unzähligen Zündhölzchen gebaut hatte. In einem Nebenraum der Scheune hatte er dann sein Werk ausprobiert. Sein Raketenantrieb brannte so sehr, dass sich das dort gelagert Holz entzündet hatte. Vincent war dazu gekommen und hatte den Brandt gerade noch gelöscht. Als der Vater dann zornbebend aufgetaucht war, hatte Fredo tatsächlich behauptet, Vincent hätte rauchend an seinem Mofamotor gebastelt und dabei Benzin verschüttet. Und Vincent bekam dafür eine ordentliche Tracht Prügel von seinem Vater.

Jetzt war Fredo siebzehn, sollte Forstmann werden und besuchte die Berufsschule. Allerdings auch nur, wenn er Lust dazu hatte. Dafür trieb er sich aber in letzter Zeit mit zwielichtigen Gestalten herum. Österreicher aber auch Tschechen waren dabei. Die Leute arbeiteten teilweise als Saisonarbeiter in der Gastronomie. Einer von diesen Halunken war im vergangenen Jahr wegen Handels mit Crystal Meth verurteilt worden. Dieser Stoff, der Gesunde in kürzester Zeit zu menschlichen Wracks macht.

Anton nahm sich vor, in Zukunft mehr auf seine kleine Schwester aufzupassen. Auch wenn das nun nicht gerade einfach war. So lieb die Kathi sonst war, aber wollte ihr jemand Zügel anlegen oder behandelte sie gar ungerecht, dann fuhr sie ihre Krallen aus. Selbst der Vater hatte da schon seine Erfahrungen gemacht.

Mutter hatte ihm deswegen erst vor Kurzem bei einem Streit die Leviten gelesen, weil Kathi erst spät nachts heimgekommen war und er nur mit den Schultern gezuckt hatte, als seine Gattin mit Kathi deswegen geschimpft hatte.

„Siehst Du, das hast Du nun davon, weil Du sie immer in den Himmel hebst und in Schutz nimmst“, hatte sie mit ihm geschimpft. Da war Vater wortlos aus der Stube gegangen. Und draußen im Hof hatten dann Vater und Tochter in enger Umarmung dagestanden, wie ein Sinnbild von Einigkeit und Vertrauen. Die Mutter hatte den Kopf geschüttelt und gemeint:

„Der Mann, der die Kathi mal kriegt, hat bestimmt nix zu melden! Sie wickelt selbst ihren alten Brummbär von Vater um den Finger.“

Also sollte der Vater auch vorerst nichts davon erfahren, wenn die Kathi ausgerechnet mit dem Fredo vielleicht ein Techtelmechtel angefangen haben sollte. Der alte Fischer sah seinen Sohn wieder von der Seite an.

„Woas is nu, woast was, he?“ Anton schüttelte wieder den Kopf. „Nee Vater! I wos nix davon!“ Den Gründl Franz schien diese Antwort offenbar sehr zu erleichtern, denn aufatmend brummte er: „Dös hät i dem Madl a net geroten!“ Aber warum sollte man etwas dagegen haben, wenn eine Siebzehnjährige heutzutage einen Freund hatte? Aber der Vater war eben, was Kathi betraf, sehr eigen.

Wenn er gewusst hätte, dass Kathi am gestrigen Abend erst spät nach Mitternacht nach Hause gekommen war, hätte er sicher ein ernsthaftes Wort mit ihr geredet. Auch wenn das Mädel schon siebzehn Jahre alt war, in solchen Dingen war Franz Gründl noch sehr altmodisch. Dabei hatte Kathi am Anleger mit Klassenkameradinnen nur in einer Disco gefeiert.

Es war eine von den Veranstaltungen, wo die Jugend zusammenkam, um einfach nur richtig zu feiern. Dabei spielte Alkohol allerdings auch eine Rolle, auch wenn sich Kathi davon fernhielt. Einige Jungs ihrer Klasse hatten ihr deswegen schon den Spitznamen „die Eiserne Kathi“ verpasst. Gerade am vergangenen Abend war es hoch hergegangen. Zu später Stunde hatten zwei Mädels und zwei Jungs die Idee gehabt, sich heimlich ein Ruderboot auszuleihen. Kathi hatte sie noch gesehen, als sie wenig später tatsächlich zu viert auf den See hinaus gerudert waren. Kurze Zeit später hatte sie ein Bekannter mit dem Jetski nach Hause gefahren, weil ihr Bruder Anton nicht wie vereinbart gekommen war, um sie abzuholen.

Die Vier in dem Boot waren schon stark alkoholisiert gewesen, als sie losfuhren. Die blonde Svenja war danach mit einem der Jungen allein weiter gefahren, nachdem sie das andere Pärchen am Ufer abgesetzt hatten. Svenjas Begleiter, schon stark angetrunken, hatte ihr eine selbst gedrehte Zigarette angeboten. In einer kleinen Bucht hatten sie geraucht, geknutscht und am Ende wollte der junge Begleiter Sex mit Svenja. Sie hatte sich gegen seine Aufdringlichkeit gewehrt, doch der Junge war stärker gewesen. In diesem Moment höchster Not, hatte ihr Herz ausgesetzt ...

Franz Gründl und sein Sohn Anton fuhren gerade mit dem Boot in eine kleine Einbuchtung des Sees hinein, wo ebenfalls zwei ihrer Standnetze standen, als ihnen plötzlich ein dahin treibendes Ruderboot den Weg versperrte. Es war eins von den Booten, die an der Bootsanlegestelle in Salet an die Urlauber verliehen wurden. Langsam fuhr Franz Gründl seitlich an das Ruderboot heran und schimpfte.

„Jetzt lassen sie schon die Ruderboote einfach ohne Aufsicht zurück, diese Bande! Sicher wieder ein paar Jugendliche, die sich erst vollsoffen und dann Unsinn machten.

Anton stand vorn am Bug plötzlich auf und erstarrte für einen Augenblick.

„Halt an Vater, da liegt jemand im Boot!“, rief er aufgeregt, und versuchte sich dann an dem Ruderboot festzuhalten. Franz Gründl schaltete den Elektromotor ab und sah gespannt nach vorn zu seinem Sohn.

„Was ist? Wer liegt da?“ Anton stieg vorsichtig in das Ruderboot über, balancierte bis zu dem blonden Mädchen, das da regungslos im Boot lag. Im gleichen Augenblick sah er, dass sie halb nackt war. Er fühlte ihren Puls und fuhr dann aber erschrocken zurück. Noch einmal legte er seine Hand auf die Stirn des Mädchens, die bestimmt nicht älter als 16 oder 17 Jahre alt war. Dann richtete er sich auf und schüttelte den Kopf. „Ich glaube das Mädchen ist tot, Vater“, stammelte er sichtlich erschrocken. Franz Gründl zog mit den Händen das eigene Boot so weit vorwärts, dass er nun selbst das blonde Mädchen sehen konnte.

„Ist die wirklich tot?“, fragte er geschockt nochmals seinen Sohn. Der nickte nur und kletterte, bleich im Gesicht, wieder zurück ins das eigene Boot, nachdem er sie mit seiner Decke zugedeckt hatte.

„Wir müssen sofort die Polizei anrufen, Vater!“ Der Alte nickte und paffte erregt ein paar Qualmwolken in die Luft. Anton holte sein Handy heraus und wählte die 110. Dann erklärte er dem Polizisten, was sie gefunden hatten. Dieser bat ihn vor Ort zu bleiben, bis die Polizei da war.

„Und fassen Sie bitte nichts im Boot an!“, bat er Anton noch einmal eindringlich. Anton setzte sich zu seinem Vater auf die schmale Bank am Heck des Boots. Nun hieß es warten. Es dauerte keine zwanzig Minuten, da kam das Boot der Polizei auch schon, eine tüchtige Bugwelle vor sich herschiebend, am Tatort an. Die Beamten gingen kurz an Bord des Ruderbootes, dann entschieden sie, das Boot anzuhängen und es nach Salet zum Anleger zu ziehen.

Agnes Gründl stand in der Küche und sah gerade zufällig aus dem Küchenfenster. Draußen legte das Boot mit den Männern an. Sie schubste ihre Tochter ein wenig an, die gedankenverloren schon eine Weile neben ihr sitzend eine Zwiebel schälte.

„Hallo, träumst Du schon am frühen Morgen? Geh bitte raus zu Papa und Anton und schließ die Schlachterei auf!“ Kathi legte das Messer beiseite, nickte wortlos und ging aus der Küche. Agnes Gründl schüttelte nachdenklich den Kopf. Was die Kleine nur in den letzten Tagen hatte? Sonst war Kathi immer zu Scherzen aufgelegt. Aber schon eine ganze Weile schlich die Kathi wie eine kranke Katze herum. Agnes musste schmunzeln. Wenn sie ihre Tochter ansah, glaubte sie in den Spiegel zu schauen, der einen Blick in ihre Vergangenheit zuließ. Sie war damals mit siebzehn genauso rebellisch gewesen, wie Kathi heute. Nur damals hatte man eben solches Verhalten mit ein paar Backpfeifen oder gar mit Stubenarrest behandelt. Im Gegenteil zu früher mussten heute die Eltern ja sogar vorsichtig sein, wenn ihnen doch mal die Hand „ausrutschte“. Anton stieg gerade auf den Anleger, als Kathi auch schon um die Ecke gelaufen kam und stumm die Tür zur Fischschlachterei aufschloss.

„Na Schwesterchen, Du bist wohl heute auch mit dem falschen Fuß aufgestanden? Du guckst so grimmig“, rief er ihr zu. Aber Kathis Augen schossen Blitze ab und sie warf den dicken Schlüsselbund auf den Alutisch. Scheppernd rubbelte der über die glatte Metallfläche, ehe er zum Stillstand kam.

„Wärst Du gestern Abend mal in Salet eine Stunde früher gekommen, dann wäre ich eine Stunde eher ins Bett gekommen!“, fauchte sie ihn an.

„Stattdessen musste ich warten, bis der Löffler Roland Zeit hatte und mich dann extra mit seinem Jetski heimgefahren hat. Da war es aber bereits ein Uhr.“ Anton grinste seine kleine Schwester breit an.

„Na dem Roland hat das doch bestimmt gefallen. Der guckt doch sonst auch wie ein angeschossener Hirsch, wenn er Dich sieht.“ „Idiot!“, zischte Kathi zurück und stürmte wieder zur Tür hinaus.

Der Löffler war der Sohn des Hotelbesitzers vom „Watzmann-Hotel“ in Berchtesgaden und managte die Disco in Salet. Er war zwei Jahre älter als Kathi und würde wohl das Hotel mal erben. Aber dazu musste der Alte erst einmal in den Ruhestand gehen. Woran allerdings in den nächsten zwanzig Jahren nicht zu denken war. Anton wuchtete eine Kiste nach der anderen mit den Fischen auf den Tisch. Es waren hauptsächlich Renken, Saiblinge und vier mittelgroße Hechte. Mit Ruhe begann er die Fische zu schlachten und auszunehmen.

Simon Hohlmayer nahm das Glas von den Augen und setzte die Brille wieder auf. Seit zwei Tagen schon beobachtete er eine Gamsfamilie, die sich unterhalb der Nordwand in einer Zwangslage befand. Eine breite Felsspalte hielt sie auf. Die Alte und drei ihrer Jungtiere warteten auf das Jüngste, welches sich aber offenbar nicht zu springen getraute. Die Alte selber war schon dreimal rüber und wieder zurückgesprungen. Der kleine Kerl hatte jedes Mal ebenfalls Anlauf genommen und war dann aber doch kläglich meckernd wieder stehen geblieben. Die Alte würde nun aber nicht mehr lange auf ihn warten können, weil sie die anderen drei Tiere auf sicheres Terrain führen musste. Dann würde der Kleine wohl allein zurückbleiben müssen und kaum eine Chance zum Überleben haben.

Simon Hohlmayer überlegte, was er tun konnte, um den kleinen Gamsbock zu helfen. Mit einem skeptischen Blick hinauf zur Felswand startete er den Motor des Bootes und nahm Kurs auf das Forsthaus. Er musste unbedingt mit seinem Sohn reden.

Vincent war Mitglied der Berchtesgadener Bergwacht. Notfalls mussten die eben mal einen kleinen Gamsbock retten! Für ihn war das genauso wichtig wie die Rettung dieser verrückten Bergwanderer, die sich überschätzten und dann gerettet werden mussten.

Als er am Bootssteg anlegte, lungerte sein Jüngster, Fredo, neben dem Steg im Gras und kaute an einem Grashalm. Als er seinen Vater sah, stand er langsam auf und ging ihm entgegen.

„Hallo Vater! Warst Du wieder bei der Geiß drüben?“, fragte er ihn. Simon Hohlmayer nickte.

„Und Du, wieso bist Du heute früh wieder nicht in die Berufsschule gefahren? Mal wieder verpennt?“ Fredo zog den Kopf ein und sah zur Seite, denn nun gab es sicher eine der nervigen Standpauken. Doch Förster Hohlmayer schüttelte stattdessen nur den Kopf. Dann brummt er mehr für sich als zu Fredo: „Ich möchte nur wissen, wann Du Lauser endlich mal erwachsen wirst.“ Danach drehte er sich abrupt um und stapfte ohne ein weiteres Wort in Richtung Wohnhaus.

Fredo sah ihm im ersten Augenblick verdattert hinterdrein, doch dann grinste er plötzlich und holte rasch sein Handy aus der Tasche. Er wählte und lauschte eine Weile. Es schien sich jemand zu melden.

„Hi! Hör zu Freund Petré! Ich komme nun doch in zwei Stunden an unseren vereinbarten Platz. Ich fahre mit dem nächsten Schiff. Meinem Alten sage ich einfach, dass ich nun doch noch zur Berufsschule fahre. Bis später!“

Auf dem Weg zur Scheune kam dem Förster seine Frau Astrid entgegen. Sie stellte schnaufend den schweren Weidenkorb mit Kartoffeln ab und reckte sich. Simon umarmte sie kurz.

„Du sollst doch nicht immer wieder diese schweren Körbe schleppen, Astrid! Wenn Fredo schon wieder verpennt hat, dann kann er Dir das doch abnehmen, oder?“ Astrid lächelte und verzog das Gesicht.

„Das ging aber leider nicht. Unser Kronsohn hat soeben das Schiff bestiegen, um doch noch zur Berufsschule zu fahren.“ Sie lächelte sarkastischer als sie es vorgehabt hatte. Denn wenn ihr Jüngster so weiter machte, würde er wohl niemals den Abschluss in Forstwirtschaft schaffen. Aber bei seinem Jüngsten war Simon taub und blind zugleich, obwohl der in der Vergangenheit einen Blödsinn nach dem anderen fabriziert hatte. Dagegen war der Vincent wirklich ein Sohn, auf den man als Eltern stolz sein konnte. Er hatte gebüffelt und jede Gelegenheit genutzt, etwas zu lernen. Und nun arbeitete er in der Forstwirtschaftsbehörde und hatte sogar noch ein Studium absolviert. Simon Hohlmayer hob den Weidenkorb mit den Kartoffeln an und schnaufte.

„Astrid, Du bist verrückt! Warum nimmst Du denn dann nicht wenigstens die Schubkarre? Das ist doch viel zu schwer für Dich!“ Die Zähne fest zusammenbeißend, stapfte er mit dem Korb vor dem Bauch los, bis Astrid ihm nach ein paar Metern lachend am Ärmel festhielt.

„Na komm, lass es gut sein! Tragen wir den Korb eben zu zweit nach Hause. Du bist ja schließlich auch nicht mehr der Jüngste“, lachte sie, und griff nach dem Henkel des Korbes.

Etwa zur gleichen Zeit kamen Kriminaloberkommissar Ludwig und seine Schweizer Kollegin Thoma an den Bootshallen in Salet an. Das Ruderboot hatte man bereits fürsorglich in eine der Unterstellhallen für die Schiffe der Königsseer Flotte gebracht. Wie immer war die KTU schon vor Ort.

Quirin Stadler begann mit seinen Untersuchungen, während ein anderer Kollege Quirins versuchte, Spuren abzunehmen. Doch schon nach kurzer Zeit winkte der ab.

„Das macht überhaupt keinen Sinn! Auf dem Kahn sind Hunderte von Spuren, die kann man nie zuordnen“, schimpfte er und gab entnervt auf. Markus Ludwig und Susi Thoma hatten bis dahin abseitsgestanden und darauf gewartet, dass die Leute von der KTU fertig werden. Markus sah zu Stadler hinunter in das Ruderboot.

„Kannst Du uns schon was sagen, Quirin?“ Der Angesprochene hob verzweifelt beide Hände hoch.

„Auf jeden Fall ist sie mal hundert prozentig tot! Und wie es aussieht, ist daran wieder einmal dieses Mistzeug Crystal Meth schuld. Aber das arme Ding ist zu allem Überfluss auch noch vergewaltigt worden. Genaueres kann ich Dir erst heute Nachmittag sagen, wenn ich sie auf meinem Tisch hatte. Wir müssen aber davon ausgehen, dass diese Tat einen sexuellen Hintergrund hat.“ Susi schüttelte betrübt den Kopf.

„Das Mädchen ist doch höchstens sechszehn oder siebzehn Jahre alt. Wieder so ein junges Ding!“, schimpfte sie und wandte sich an ihren Chef.

„Wir müssen unbedingt herausfinden, wie sie heißt. Es wundert mich nur, dass sie keine Papiere bei sich hat. Vielleicht ist sie nicht mal von hier und macht nur Urlaub.“ Markus zuckte mit den Schultern.

„Schaun wir mal, ob sie in den nächsten Stunden jemand abgängig meldet. Wir fahren wieder zurück ins Präsidium, hier können wir sowieso nichts mehr ausrichten.“

Er gab Stadler kurz Bescheid, dann fuhren sie zurück nach Berchtesgaden. Es nieselte leicht und die Berge ringsum waren in dichte Nebelschwaden gehüllt.

Die Nachricht vom Tod einer jungen Frau hatte sich am Morgen wie ein Lauffeuer in Königssee verbreitet. Stimmen wurden laut, nachts eine Bürgerwehr auf Streife gehen zu lassen, wenn es die Polizei nicht schaffte, den Täter zu finden. Immerhin war dies ja nicht der erste Fall dieser Art.

Am Nachmittag meldete sich aber dann eine ältere Frau bei der Polizei. Ihre sechzehn jährige Nichte, Svenja Koller, sei seit dem vergangenen Abend verschwunden. Sie habe nur mit einer Freundin zur Disco gehen wollen, sei aber bisher nicht wieder aufgetaucht. Ihre Eltern seien für sechs Monate dienstlich im Ausland, und sie habe die Verantwortung übernommen. Leider habe sich Svenja von ihr nichts sagen lassen.

Kriminaloberkommissar Markus Ludwig knipste seine Schreibtischlampe an. Obwohl es gerade mal 11.00 Uhr am Morgen war, herrschte draußen noch Halbdunkel. Die Wolken hingen tief in den Bergen und es begann gerade wieder zu regnen. Er schlug einen dünnen Hefter auf und vertiefte sich in den wenigen Blättern, die er enthielt. Ab und zu schüttelte er den Kopf. Als er zu Ende gelesen hatte, sah er auf die andere Seite des Schreibtisches.

Ihm gegenüber saß eine junge schlanke Frau um die Dreißig. Ihre halblangen schwarzen Haare leuchteten förmlich vor dem Fenster. Susi Thoma war 36 Jahre alt, war Schweizerin und machte seit einigen Monaten in Bayern ein einjähriges Austausch-Praktikum bei der Kripo.

Was allerdings Ludwig am meisten an seiner netten Schweizer Kollegin gefiel, war deren unverkennbarer Schwyzerdütsche Akzent. Wenn sie schnell sprach, und Susi Thoma sprach oft schnell, verstand er nur noch Bahnhof. Aber die „Halbe Portion“, wie er sie im Stillen manchmal nannte, hatte ein helles Köpfchen und eine ziemlich gute Kombinationsgabe. Sie würde garantiert einmal eine gute Kriminalistin werden.

Was hatte er damals gemosert, als er erfuhr, dass eine junge Schweizer Beamtin für ein Jahr seiner Abteilung zugeordnet werden sollte. Jung hieß in der Regel, frisch von der Schule, keine Praxiserfahrung und oftmals auch noch zickig. Drei Wochen vorher hatte sein alter Kollege Thielmann Berghammer den Dienst quittiert. Ein alter Haudegen vom alten Schrot und Korn, für den die neu angeschafften PCs Teufelszeug waren, und der tatsächlich den Tränen nahe war, als er seine alte Reiseschreibmaschine „Erika“ ausmustern musste. Aber sie hatten sich wortlos verstanden, wie ein altes Ehepaar.

Und dann kam diese Schweizerin und saß an einem Morgen bei Dienstbeginn plötzlich auf der anderen Seite des Schreibtisches. Doch bereits nach fünf Sätzen hatte sie das Eis bei Markus Ludwig gebrochen. Für ihn stand fest, diese junge Frau hatte Talent und eine schnelle Auffassungsgabe. Bereits nach zwei Tagen hatte sich Markus schon gefragt:

„Warum läuft mir so was von Frau nicht mal privat über den Weg?“ Er mochte die junge Frau und ihr manchmal schnoddriges Mundwerk.

Susi Thoma sah ihren Chef schmunzelnd über den Schreibtisch hinweg fragend an.

„Ischt was, Markus? Du schaust heut so verträumt drein“, bemerkte sie, ohne rot zu werden und grinste breit. Dabei glänzten ihre himmelblauen Augen, wie kleine Sterne. Markus Ludwig schreckte auf und deutete auf den gelben Hefter auf seinem Tisch.

„Hast Du das schon gelesen? Wie es aussieht, geht der Mist mit dem Crystal Meth jetzt auch bei uns los! Vor Wochen erst hat die Bahnpolizei auf dem Hauptbahnhof einen offenbar herrenlosen Beutel mit diesem Zeug konfisziert. Der lag in einem Papierkorb und sollte wahrscheinlich noch abgeholt werden.“ Susi Thoma zog die Augenbrauen hoch und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Na toll! Und die haben nicht gewartet, ob vielleicht einer das Zeug abholt? Ich denke die deutschen Polizisten sind die besten in Europa!“ Sie sprach wieder schnell und Ludwig hatte Mühe ihr zu folgen. Er machte mit beiden Händen eine Geste, diese bedeutete, dass Susi langsamer sprechen sollte. Dann aber lachte er breit.

„Dass Du eine Schweizerin bist, ist unüberhörbar, Susi! Also rede bitte langsam mit mir.“ Sie schüttelte den Kopf und sah ihn an wie eine Katze, die auf eine Maus wartet.

„Wieso, hört man dasch?“, fragte sie ganz erstaunt. Ludwig konnte sich ausschütten vor Lachen. Die Kleine war das Beste, was ihn seine Vorgesetzten jemals angetan hatten. Diese Susi war einfach eine tolle Frau und verdammt hübsch war sie noch dazu! Er nickte kurz.

„Tja, die beiden Kollegen von der Bahnpolizei gehören offenbar nicht zu den Besten, was die deutsche Polizei zu bieten hat. Die haben das Zeug eingesackt und zu ihrem Chef gebracht. Und der hat es zu uns geschickt. Natürlich hatten dann in der Zwischenzeit ein Dutzend Leute das Paket in der Hand! Mist, verdammter!“, fluchte er leise vor sich hin. Susi Thoma dachte angestrengt nach. Das sah man daran, weil sie dann mit dem Bleistift im Ohr bohrte oder ihn zwischen Daumen und Zeigefinger drehte.

„Kollegin Thoma!“, rief Markus ihr zu. Und Susi sah ihn ganz erstaunt an. „Wasch ist denn, Chef?“ Er grinste.

„Du bohrst Dir noch mal mit dem Bleistift ein Loch in den Kopf!“, bemerkte er und lachte dabei. Sie zog eine Schnute und hob die Augenbrauen an.

„Meinst Du, wir haben es hier bereits mit einer Bande zu tun?“, fragte sie, diesmal aber langsam und hochdeutsch sprechend. Markus zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung, jedenfalls ist das nun schon der dritte Vorfall innerhalb eines Vierteljahres.“ Susi Thoma griente ihn an.

„Toll! Gut zu wissen, dass mein Boss auch mal keine Ahnung hat!“, bemerkte sie kess und kniff die Augen zusammen. Ludwig drohte ihr aus Spaß mit dem Zeigefinger.

„Sei nicht so frech zu Deinem Chef, Du Schweizer Mini-Schokoriegel!“ Susi sah erst auf die Uhr, dann auf Ludwig. Es war inzwischen Mittagszeit geworden.

„Na gut, ich lade Dich auf eine Pizza ein, weil ich gerade frech zu Dir war, Chef! Einverstanden?“ Und ohne auf sein Okay. zu warten, stand sie auf, zog ihre Jacke über und stand auch schon wartend an der Tür. Markus Ludwig erhob sich und grinste seine Kollegin beim Anziehen der Jacke an. Er hatte immer wieder seinen Spaß daran, sie ein wenig zu necken.

„Pass auf, draußen geht starker Wind! Nicht dass der Dich davon trägt“, erwiderte er lachend. Susi Thoma sah ihn einen Augenblick eigentümlich kess an. Doch dann drehte sie sich um und meinte nur lapidar: „Ich bin stolz auf meine Figur! Ich komme im Gegensatz zu Dir wenigstens noch durch jedes Kellerfenster!“

Das wiederum war nun eine Anspielung auf einen Vorfall vor wenigen Wochen. Bei der Verfolgung eines Einbrechers war der Herr Kriminaloberkommissar an einem Kellerfenster gescheitert, während sie durchrutschte wie ein Aal und dann den Einbrecher noch schnappen konnte. Er musste die Kellertreppe wieder hinauf, durch den Hausflur zurück und dann in den Garten hinaus laufen. Aber da lag der Gauner schon auf dem Bauch im Gras, und Susi legte ihm gerade Handschellen an. Ludwig lachte leise. Neben ihr herlaufend meinte er: „Ist schon gut, ich halte Dich ja notfalls auch fest.“ Was ihm einen Ellenbogenstoß einbrachte.

Am Nachmittag rief Quirin im Büro an und bat sie in sein Allerheiligstes zu kommen, das zwei Treppen tiefer im Keller beheimatet war. Als sie eintraten, war er schon in Straßensachen und sah auf die Uhr.

„Ihr denkt auch ich mache wegen Euch dauernd Überstunden, he? Ich muss nach Hause, wir bekommen Holz!“ Ludwig lachte.

„Quirin, Du warst für uns immer ein Vorbild an Arbeitseifer! Also sag schon, was gibt es Neues?“ Quirin Stadler nahm einen dünnen Hefter zur Hand und schlug ihn auf.

„Also vorab Folgendes, der Tod trat etwa gestern Abend gegen 23.00 Uhr ein. Wie schon vermutet, hat sie eine Dosis Crystal Meth genommen, die jedes Pferd umhaut!

Aber was noch schlimmer ist, man hat sie vergewaltigt! So, und jetzt seid Ihr dran! Macht hin Leute, die Stimmung unter der Bevölkerung ist schon aufgeheizt genug!“

Er drückte Ludwig den Hefter in die Hand. Der nahm ihn und hielt ihn einen Augenblick hoch.

„Das heißt aber auch Quirin, Du hast Spermaproben.“ Quirin nickte ungeduldig.

„Klar habe ich welche. Aber was nützt uns das, wenn wir keinen Vergleich machen können! Ich sage Euch was, hier braut sich was über unseren Köpfen zusammen. Ihr müsst unbedingt diesen Ganoven schnappen, und zwar bald! Ich glaube, da läuft einer gerade Amok und hat es auf die jungen Dinger abgesehen!“

Als Markus und Susi wieder die Treppen zu ihrem Büro hinauf stiegen, brauste Quirin schon vom Hof. Die alte BMW mit Beiwagen blubberte laut, als er Gas gab und aus dem Tor hinaus auf die Hauptstraße fuhr.

Die Nacht hatte sich über den Königssee gelegt. Ein gelber fußballgroßer Vollmond breitete sein gelbes Licht über dem See aus, und man konnte verhältnismäßig noch weit sehen.

Auf dem Balkon unter dem Giebel des Försterhauses saß Fredo Hohlmayer in seinem Lehnstuhl und beobachtete aufmerksam das Haus des Fischermeisters Gründl. Es war gute Sicht und bestimmt noch 25 Grad warm.

In der Rechten hielt er ein Fernglas, in der Linken eine Büchse Energie-Drink. Ab und zu zog er vorsichtig den Rauch aus einem kleinen Tütchen mit Tabak ein. Dabei schloss der die Augen und lauschte der Musik aus den Kopfhörern. Seine Gesichtszüge wirkten im Mondlicht fahl und spitz wie eine Maske.

Plötzlich aber fuhr Fredo hoch und griff zum Fernglas, denn in dem gegenüberliegenden Haus ging in einem der Fenster im Obergeschoss das Licht an. Beide Ellenbogen fest auf der Brüstung des Balkons aufgelegt, stellte er das Glas langsam scharf und kicherte leise vor sich hin. Klar und deutlich, beinahe direkt vor sich, sah er, wie sich Kathi Gründl langsam auszog.

Fredo bekam vor Aufregung eine Schnappatmung. Er starrte auf den schwarzen BH, den sie gerade ablegte und den schwarzen Slip. Geil stierte er auf ihre nackten vollen Brüste, die im Lampenschein gut zu sehen waren. Ob sie den Slip noch ausziehen würde? In seiner Erregung bemerkte der junge Mann nicht einmal, dass es in seiner Hose plötzlich feucht geworden war. Er atmete tief ein und wieder aus und stöhnte leise, als wenn er eine schwere Last zu tragen hätte. Und dann verlosch plötzlich das Licht gegenüber. Mit einem wütenden Fluch knallte er die Büchse mit dem Energie-Drink in die Ecke des Balkons.

„Diese verdammte Schlampe!“, zischte er wütend durch die Zähne und brannte sich mit zittrigen Fingern das erloschene Papiertütchen wieder an. Das Ding stank wie alte Socken, die vier Wochen in Gummistiefeln gesteckt hatten. Doch Fredo sog den Qualm tief in seine Lungen ein und dabei entspannten sich seine Gesichtszüge langsam und er wurde wieder ruhiger.

Zur gleichen Zeit saß Franz Gründl im Wohnzimmer vor seiner Monatsabrechnung und schnaufte verzweifelt. Der Umsatz im Juli lag um zwanzig Prozent unter dem des Junis. Wenn das so weiter ging, war abzusehen, wann er die Fischerei als Broterwerb wohl bald aufgeben konnte. Sein Sohn hatte recht, es war an der Zeit etwas zu unternehmen!

Die einzige Lösung waren wohl Fischteiche. Aber dazu brauchte er unbedingt das Stück Land, das am Ende der Halbinsel gleich neben der Kiesablagerung lag. Genau das Stück Land, welches sein Urgroßvater damals an den Hohlmayer verpfändet hatte. Auch wenn der Xaver Stein und Bein geschworen hatte die 600 RM zurückgezahlt zu haben, es gab leider keine Unterlagen mehr darüber. Im Grundbuch stand die Familie Hohlmayer. Seit dieser Zeit herrschte diese schwelende Fehde zwischen den beiden Familien.

In die hatten in der nahen Vergangenheit schon die beiden Buben eingegriffen. Die letzte handfeste Prügelei hatte es im vergangenen Jahr im Juli zum Seefest gegeben. Und das nächste Seefest stand in drei Wochen an.

Franz Gründl goss sich einen Obstler ein. Genussvoll zog er an seiner Pfeife. Was konnte man tun? Noch mal mit dem Simon reden? Dieser sture Hund hatte ihn bereits vor zwei Jahren bei diesem Thema ausgelacht. Nachdenklich klopfte er die Pfeife aus, löschte das Licht und begab sich sorgenschwer zu Bett.

Im Büro des Försters klingelte an diesem Morgen das Telefon bereits zum dritten Mal. Ärgerlich schob sich der Förster das letzte Stück Semmel in den Mund und griff zum Hörer.

„Hohlmayer!“, meldete er sich kurz angebunden. Am anderen Ende war der Wirt der „Fischunkelalm“ vom Obersee. Und der gute Mann war ziemlich außer sich, wie es sich anhörte.

„Also stell Dir mal vor Simon, drüben am Steig hat sich doch tatsächlich ein Rehbock verkeilt. Ich möchte wissen, wie der da hinaufgekommen ist. Zu beiden Seiten stehen jetzt unten die Leute und kommen nicht weiter. Du musst also sofort, ja sofort was unternehmen! Schnell, komm rauf zu uns!“, schrie er ins Telefon, sodass Simon den Hörer vom Ohr weg halten musste.

Förster Hohlmayer sah kurz auf die Uhr. Sein Sohn Vincent hatte Urlaub und schlief sicher noch. Trotzdem stapfte er die Treppen hinauf und klopfte an seine Kammertür. Vincent war schon wach und rasierte sich gerade. Simon erklärte ihm, was vorgefallen war. Zehn Minuten später saßen beide schon im Boot und fuhren hinauf zum Obersee. Als sie dort ankamen, erwarteten sie schon eine ganze Menge Wanderer.

Gemeinsam stiegen sie die glitschigen Stufen hinauf. Auf der obersten Stufe angekommen, sah man drei Stufen tiefer den Bock, der mit seinem Geweih in den Stahlseilen an der Felswand hängen geblieben war.

Simon Hohlmayer kratzte sich am Kopf. Was war nur diesem blöden Viech eingefallen, sich unten durch das Drehkreuz zu zwängen und dann die Stufen hinauf zu steigen? Dabei grenzte es sowieso an ein Wunder, dass der Bock bis jetzt nicht in den See gestürzt war. Von hier oben ging es mindestens fünfzig Meter in die Tiefe.

Vincent reichte seinem Vater das Betäubungsgewehr und der legte an. Dann drückte er ab. Es machte dumpf „plupp“ und der kleine Pfeil mit der Betäubungsspritze steckte genau im Hinterteil des Bockes. Der zuckte noch ein paar Mal, dann lag er still da und sah Simon mit seinen großen Augen geradezu anklagend an.

Der Ludwig Ganghofer hätte jetzt wahrscheinlich ein rührseliges Verslein, vom glasigen Blick des armen Viehs auf die Berge, parat gehabt. Simon sah auf die Uhr, in zwei Minuten musste der arme Kerl eingeschlafen sein. Vincent begann bereits vorsichtig den Bock aus den Stahlseilen zu befreien. Hermann, der Wirt, kam mit drei Seilen, damit konnten sie das Vieh die Stufen hinunter tragen. Er sah Simon unglücklich lächelnd an.

„Wenn der Kerl noch ein Stück größer wäre, dann müssten wir ihn wohl ins Wasser werfen!“, bemerkte er sarkastisch. Sicher hatte Hermann bereits den Verlust der Einnahmen an diesem Morgen ausgerechnet. Und das alles nur wegen so einem blöden Viech, das den Urlaubern den Weg versperrte.

„Keine Angst Hermann, zu dritt kriegen wir ihn schon vom Steig runter“, kommentierte der Förster dessen Bemerkung. Und so geschah es dann auch. Unter den Kommentaren der Menge schleppten sie den Bock bis auf die Wiese und befreiten ihn dann wieder von seinen Fesseln. Jetzt mussten sie nur noch warten, bis der Herr des Waldes wieder aufwachte.

Vincent bat die Urlauber noch zu warten, bis der Bock sich aus dem Staub gemacht hatte. Denn so ein verwirrtes Vieh zwischen lauter Menschen, das konnte dumm ausgehen. Und Simon wollte seinen stolzen Bock ja nicht erschießen.

Eine viertel Stunde später war der Spuk tatsächlich vorbei. Der undankbare Bock hatte sich, ohne sich noch einmal umzudrehen, einfach aus dem Staub gemacht.

Simon und Vincent nahmen die Einladung des Wirtes zu einem „Schnapsl“ an. Wobei Vincent aus Erfahrung allerdings zu allererst eine Leberkässemmel verdrückte, bevor er den Obstler in einem Zug hinter kippte. Simon nickte seinem Bub anerkennend zu. Der war eben schon ein richtiger Mann geworden. Doch dann fiel ihm die Sache mit der Gams wieder ein und er erzählte Vincent davon.

„Meinst Du, Ihr könntet das kleine Biest in den nächsten zwei Tagen aus der Wand bergen? Lange wird die Alte nicht mehr auf den Nachzügler warten.“ Vincent rieb sich das Kinn und nickte dann.

„Weißt Du was Vater, ich rufe nachher einfach den Wächter, Willy an. Ich bin mir sicher, er wird mir dabei helfen. Aber jetzt muss ich zurück, ich habe um eins noch einen Termin in Berchtesgaden.“ Der Alte sah seinen Sohn von der Seite an.

„Ich denke Du hast eine Woche Urlaub?“ Vincent nickte und stand auf.

„Klar, aber es gibt noch ein Problem, dass ich leider mit dem Umweltdezernenten der Stadtverwaltung noch bereden muss. Er braucht ein paar Daten für seinen Bericht nach München.“ Simon Hohlmayer zuckte mit den Schultern.

„Na, wenn´s denn unbedingt sein muss. Noch mal danke für die Hilfe, Bub!“ Eine Weile sah er dem Davoneilenden hinterher. Vincent sah im Laufen auf die Uhr und legte noch einen Schritt zu. Gerade noch vor dem Ablegen erreichte er die „Maria Alm“, und ließ sich schnaufend auf eine der leeren Bänke fallen. Er wusste nicht, wie oft er in seinem Leben diese Route über den See schon gefahren war. Aber immer wieder erfreute er sich an der Natur, die den See umgab. Links von ihm die steil aufragende Bergflanke vom Watzmann, rechts das bewaldete Ufer.

Pünktlich um 12.00 Uhr stand Vincent auf dem Marktplatz in Berchtesgaden. In der Fußgängerzone war gerade ein Pärchen dabei, wehmütige Lieder zur Gitarre zu singen.

Ab und zu ließ einer der vorübergehenden Passanten ein paar Münzen in den Hut fallen. Die Frau hatte eine herrlich klare Stimme und Vincent hörte ihr ganz begeistert andächtig zu. Nach ihrem Aussehen zu urteilen, waren die beiden Roma, von denen es in der Stadt mehrere Familien gab.

Plötzlich stieß ihn jemand leicht von hinten an. Er drehte sich erschrocken herum und blickte in zwei braune Augen, die wie Bernsteine leuchteten.

„Hi Kathi! Ich habe Dich überhaupt nicht kommen sehen“, war das Erste, was er herausbrachte. Das junge, gut gebaute dunkelhaarige Mädchen in Jeans und einem Top mit dünnen Trägern lachte ihn an.

„Das ist mir schon klar, Du warst ja ganz hingerissen von der Sängerin“, erwiderte sie lächelnd und schon gab sie ihm unverblümt einen Kuss. Vincent nahm ihren Kopf in beide Hände und drückte ihr einen Schmatz auf die Lippen. Dann sah er sich kurz um.

„Komm, lass uns hier verschwinden! Es muss uns ja nicht gleich jeder hier zusammen sehen. Womöglich noch jemand aus Königssee“, lachte er.

Doch diese Überlegung war dem jungen Mann sicher etwas zu spät gekommen. Denn keine fünfzig Meter von ihnen entfernt stand Vincents Bruder Fredo, mit vollen Backen kauend unter einem großen Schirm und sah zu, wie sich beide küssten. An sich ist das ja heutzutage kein Vergehen mehr. Aber das ausgerechnet sein großer Bruder mit der von den Gründls in aller Öffentlichkeit herumknutsche, das war ein starkes Stück! Wenn er das dem Vater erzählen würde, dann gäbe es mal wieder richtig Zoff! Vater würde explodieren und sein Bruder bekäme sicher richtig Ärger! „So eine Matz, diese Kathi!“, knurrte er leise vor sich hin. Ihn übersah sie einfach, wenn er in ihrer Nähe war, seinen zehn Jahre älteren Bruder aber knutschte sie ab. „Soll sie doch der Teufel holen!“, knurrte er. Wütend knallte er den Rest der Semmel in den Abfalleimer und schlenderte dann weiter in Richtung Bahnhof. Vincent und Kathi aber waren indessen in eine schmale Nebengasse eingebogen, wo sich eine Pizzeria befand. Zielsicher ging Vincent grüßend durch die Gaststube auf den Hinterhof hinaus. An einem Zweiertisch nahmen sie Platz. Hier hinten saß um die Zeit niemand und sie waren allein.

Beide hatten kaum ihren Platz eingenommen, da kam auch schon der Kellner. Vincent bestellte zweimal Spezi und dazu zweimal Pizza. Dann sah er Kathi fragend an, die gerade noch einen kurzen Blick in den Handspiegel warf.

„Hast Du es gestern noch rechtzeitig nach Hause geschafft?“, fragte er die junge Frau. Die nickte und sah verträumt Vincent tief in die Augen.

„Es war ein sehr schöner Abend gestern, Vincent“, bekannte sie leise und lächelte wieder. Zum ersten Mal, seit sie sich näher kannten, hatten sie sich auf der kleinen Sandbank am Ende der Halbinsel geliebt. Leidenschaftlich und innig, aber ganz sanft hatte Vincent die junge Frau geliebt in dieser Nacht. Kathi hatte bis jetzt nur einmal eine kurze Erfahrung mit Jungs gehabt. Aber mit Vincent war es ein nicht enden wollender Schauer gewesen, der alle ihre Sinne zur Explosion gebracht hatte. Sie erschauerte immer noch, wenn sie nur daran dachte.

Vincent sah die junge Frau über den Tisch hinweg an. Kathi war unbestritten eine Schönheit. Bei ihr hatte der Herrgott wirklich ganze Arbeit geleistet. Aber eine unausgesprochene Frage stand seit dieser vergangenen Nacht nun über ihnen. Das war die Frage, wie es mit ihnen künftig weiter gehen sollte, denn Ihre Familien waren verfeindet.

Kathi schien Vincents Gedanken erraten zu haben. Auf einmal schimmerte es plötzlich feucht in ihren Augen und sie sah Vincent traurig und ein wenig unschlüssig an.

„Hast Du mich deswegen hier her bestellt, um mir zu sagen, dass die vergangene Nacht für uns ein einmaliger Ausrutscher war? Weil wir uns wegen unserer Eltern nicht weiter sehen dürfen?“ Bei den letzten Worten schien ihre Stimme kippen zu wollen, und plötzlich rannen dicke Tränen über ihre Wangen. Vincent sah Kathi erschrocken und ein wenig aus der Fassung gebracht an.

„Wie kommst Du denn nur auf so einen Unsinn, Kathi?“, fragte er sie und griff nach ihrer Hand auf der Tischdecke. Die junge Frau schluckte ein paar Mal heftig.

„Na ja, ich dachte halt nur. Die Einladung hier her und da dachte ich eben, dass Dir die ganze Sache vielleicht leidtut. Du bist ja auch ein paar Jahre älter als ich.“ Vincent sah Kathi erst staunend an, dann schüttelte er etwas fassungslos den Kopf.

„Also Kathi! Hältst Du mich tatsächlich für so einen Schlawiner? Wir schlafen zusammen und dann mache ich mich davon. Aber nee, nee Kleines, dafür hab ich mich inzwischen viel zu sehr in Dich verliebt!“ Als Kathi das hörte, entfuhr ihr ein lauter Schluchzer vor lauter Freude.

„Natürlich nicht Vincent! Aber wenn das mein Vater erfährt, dreht der durch! Eine Gründl die ausgerechnet mit einem der Hohlmayers ein Techtelmechtel hat, das kommt bei ihm gleich nach dem Sündenfall!“ Vincent grinste breit bei diesem Satz von ihr.

„Na ja, den Sündenfall haben wir nun schon hinter uns, nur dass wir weder Schlange noch Apfel dabei hatten“, witzelte er leise. Kathi wurde rot. Da beugte sich Vincent über den Tisch und gab ihr einen Kuss. Dann lehnte er sich zurück und sah seine Freundin ernst an.

„Hör mal Kathi, wir beide gehören doch zusammen. In einem viertel Jahr wirst Du achtzehn, dann kannst Du sowieso machen, was Du willst. Und sollten unsere Eltern Terror machen, dann gehen wir hier weg und suchen uns gemeinsam eine Wohnung. Ich bekomme überall Arbeit und kann uns die erste Zeit auch alleine ernähren. Ich hoffe natürlich, dass es nicht dazu kommt.“

Mit jedem Satz den Vincent sprach, waren Kathis Augen größer geworden. Plötzlich lachte sie wie befreit auf, sprang vom Stuhl hoch und saß auch schon auf seinem Schoß. Beide Arme um seinen Hals geschlungen gab sie ihm einen langen Kuss. Plötzlich hörten sie, wie sich jemand hinter ihnen räusperte.

Es war der Kellner, der mit seinen beiden Tellern dastand und sie angrinste. Er stellte die Teller schmunzelnd auf den Tisch. Sich immer wieder in die Augen schauend aßen sie zusammen ihre Pizza.

An diesem Nachmittag machten die beiden Verliebten nun zum ersten Mal Zukunftspläne. Was spielte es da für eine Rolle, dass Vincent acht Jahre älter war. Wie das eben so ist im Rausch der ersten großen Liebe – der Alltag würde früh genug kommen. So große Gefühle blenden zuerst einmal alle Hindernisse aus, wer kennt das nicht.

Als sie später in Königssee den Anleger betraten, setzten sie sich drei Bänke voneinander entfernt hin und lächelten sich pausenlos an.

Beim Aussteigen in Bartholomä ließ Vincent Kathi zuerst aussteigen. Eine Weile verwickelte er den Bootsmann noch in ein Gespräch. Als er sah, dass sie am Haus angekommen war, verabschiedete sich Vincent und ging dann ebenfalls nach Hause.

Agnes Gründl schaute erstaunt, als ihre liebe Tochter, wie der personifizierte Ausbund an Freude, in die Küche rauschte, sich eine Flasche Cola nahm und wieder hinaus stob. Bevor sie aber die Stube verließ, gab sie ihrer Mutter ein Bussi und lachte sie dann strahlend an.

„Hallo Mutsch, ich bin wieder da. Aber Hunger habe ich nun keinen, ich war mit Marion in der Pizzeria“, und schon stürmte sie wieder aus dem Zimmer und polterte dann die Treppen hinauf in ihr Zimmer.

„Was ist denn heute mit dem Mädel los?“, murmelte Agnes und lächelte vor sich hin. Vielleicht war die Kleine nur verliebt und daher ihr ständiger Stimmungswandel. Im Grunde ja auch zu erwarten, immerhin wurde ihr Küken bald achtzehn. Die Kleine hatte sich sowieso Zeit gelassen. Ein oder zweimal hatte sie eine kleine Liebelei gehabt, aber sonst ... Kathi trainierte im Winter lieber Langlauf und später sogar noch Schießen. Im Sommer ging sie in die Berge klettern. Die Neuner war eine Zeit lang ihr Vorbild gewesen. Aber ein richtiges Ass war die Katharina nicht geworden. Vielleicht weil sie es auch selber nicht so recht wollte.

Agnes Gründl überraschte sich bei dem Gedanken an die Enkelkinder. „Mein Gott, dafür hat die Kleine aber wirklich noch Zeit“, murmelte sie vor sich hin. Das war eigentlich viel eher dem Anton zuzutrauen. Aber der Bub hatte ja wohl zurzeit nicht mal eine Freundin. Dabei war der schon 26 Jahre alt.

Sie legte die Raspel beiseite und wischte sich die Hände ab. Als sie zufällig aus dem Fenster blickte, sah sie für einen kurzen Moment den Fredo Hohlmayer. Der drückte sich gerade bei den Büschen herum. Dabei stierte er die ganze Zeit herüber zum Haus, verschwand dann aber wieder.

Agnes rieb sich aufgeregt die Wangen. Ihre Gedanken fuhren Karussell. Was hatte das zu bedeuten? Die arme Kathi würde doch wohl nicht ausgerechnet mit diesem Lumich eine Liebelei angefangen haben?

„Lieber Herrgott, lass es nur ein Zufall sein!“, betete sie leise und machte das Kreuz. Nicht auszudenken, wenn das der Franz erfahren würde! Das würde garantiert das Fass zum Überlaufen bringen! Sie nahm sich vor, mit Kathi bald darüber zu reden.

Nicht weit entfernt vom „Gründellehen“ stand Fredo mit dem Feldstecher zwischen den hohen Büschen. Doch von Kathi war heute nichts zu sehen. Missmutig schlenderte er wieder nach Hause. In seiner Hosentasche raschelten die Geldscheine, die er heute verdient hatte. Sich mehrmals umschauend, ging er zur Scheune und verschwand durch die kleine Holztür ins Innere. Drinnen stieg er zur Tenne hinauf. In einer Ecke, ganz tief unter den Dachbalken holte er eine kleine Büchse hervor. Dann setzte er sich ins Heu und begann sein Geld zu zählen. Es waren schon siebenhundert Euro! Nicht mehr lange, und er würde sich ein Moped kaufen können. Offiziell half er ja ab und zu in der Disco in Königssee aus. Er konnte also immer noch sagen, er hatte das Geld gespart. Im Grunde stimmte es ja auch, nur das sein kleiner privater Vertrieb, den er nun schon seit Monaten betrieb, wesentlich mehr einbrachte. Er sah sich oft schon im Geiste mit einem tollen Wagen vorfahren. Aber dann würde er garantiert diese blöde Fischerstochter links liegen lassen! Er dachte eine Weile angestrengt nach.

Wenn das mit Vincent und der Kathi der Vater erfahren würde, wäre der Teufel los. Und der gute Vincent hätte mal wieder ganz schlechte Karten bei dem Alten. Aber wie es deichseln, dass der Verdacht nicht auf ihn selber fiel? Er nahm sich vor, darüber einmal gründlich nachzudenken und sah dabei auf die Uhr. Es war schon Abendbrotzeit, er musste zurück, denn sein alter Herr hasste nichts mehr als Unpünktlichkeit, außer natürlich auch die Nachbarn drüben im Fischerhaus! Er würde schon was finden, was diesen Streit wieder richtig anfachen würde!

Polizeianwärterin Susi Thoma stand seit einer halben Stunde am Busbahnhof in Berchtesgaden. Hier, wo Zugreisende und Busreisende sich mischten, musste das verdammte Mistzeug Crystal Meth doch ankommen und den Besitzer wechseln! Vor drei Tagen war ihnen zur Mittagszeit ein verdächtig vorkommender junger Mann in der Menge entwischt. Der Knabe hatte etwa so ausgesehen, wie der Junge der auf einer Zeichnung in ihrem Büro hing. War es Riecher oder Intuition? Aber das war in diesem Beruf das Wichtigste! Irgendwann würden sie einen der Kerle schnappen, dann konnten sie eventuell den Ring auffliegen lassen. Aber bis dahin hieß es, die Augen offen halten. Und da sie im Moment sowieso keinen Mann im Hause hatte, der mit ihr das Bett teilte, so verbrachte sie eben auch einen Teil ihrer Freizeit auf dem Gelände des Bahnhofes.

Plötzlich kam Susi eine gewagte Idee. Was wäre denn, wenn sie sich sozusagen als „Konsument“ unters Volk mischen würde? Ihr Chef Markus würde diese Idee zwar kategorisch ablehnen, aber er musste es ja nicht unbedingt erfahren. Also setzte sie sich an der Bushaltestelle bequem auf eine der Metallbänke, brannte sich eine Zigarette an und beobachtete die Leute.

Plötzlich dachte sie wieder an ihren Chef Ludwig. Ein netter Kerl, sehr aufmerksam, einer der nie den Chef herauskehrte. Komisch war nur, wie besorgt er manchmal um sie war. Manchmal zu besorgt, wie sie meinte. Hatte der etwa ein Auge auf sie geworfen? Sie nahm sich vor, die Sache mal intensiver zu beobachten. Denn dass der Herr Oberkommissar uncharmant war, konnte man ja nicht gerade behaupten. Sportlich, ruhig, überlegend, ehe er etwas in Angriff nahm. Im Großen und Ganzen das genaue Gegenteil von ihr selbst.

Sie war schon immer spontan und gerade zu. Früher auch manchmal sehr zum Leidwesen ihrer Eltern. Die waren mehr als einmal in die Schule gerufen worden, weil Klein-Susi sich mit den Jungs geprügelt hatte.

Sie sah auf ihre Uhr und stand wieder auf. Wenn sie hier was erreichen wollte, musste sie sich im Bahnhof aufhalten! Und so betrat sie die Vorhalle und sah sich um. Ein paar Jugendliche hingen in einer Ecke herum und machten Unsinn. Und so ging sie kurz entschlossen langsam auf sie zu.

Plötzlich stand sie neben einem stämmigen Kerlchen. Das Cap verkehrt rum auf dem Kopf, stand er da und qualmte. Sie schnupperte vorsichtig, roch aber nur Tabak. Crystal roch ganz anders! Sie stieß den Kerl neben sich an und fragte ihn leise:

„He, gibt’s hier irgendwo was zu rauchen? So bis fünfzig Scheinchen, hm?“ Der Knabe sah sie so erstaunt an, als ob sie ihn gerade ans Geschlechtsteil gefasst hätte, und rückte einen Schritt von ihr ab. Dann musterte er sie erst von oben bis unten, und dann grinste er sie breit an.

„Was willste, he? Was zu Rauchen?“ Spontan hielt er ihr seine Zigarettenschachtel entgegen.

„Na hier, nimm Dir eine! Ich will mal nicht so sein, auch wenn Du ein Bulle bist! Allerdings ein hübscher Bulle!“, lachte er laut und gab ihr sogar Feuer. Seine Kumpels grinsten und flüsterten sich was zu.

Susi war es, als wenn sie im Boden versinken müsste. Woher wusste der Kerl, dass sie bei der Polizei war? Sie bedankte sich und machte sich schnell aus dem Staub. Dann erinnerte sie sich plötzlich an den Kerl. Na klar doch! Den hatten sie doch vor einiger Zeit beim Taschendiebstahl erwischt, und Markus hatte ihn in ihrem Beisein damals verhört!

„Verdammter Mist!“, knurrte sie leise vor sich hin und beschloss nach dieser Pleite lieber nach Hause zu gehen. Ihr Töchterchen Franzi würde sicher schon auf sie warten. Die Kleine war vier Jahre alt, und wenn sie im Dienst war, passte die Nachbarin, Frau Schindler, auf die Kleine auf. Hoffentlich bekam sie nun bald endlich einen Kita-Platz.

Gegen 0.30 Uhr summte plötzlich das Handy auf Susi Thoma´s Nachttisch anhaltend. Aus dem Schlaf geschreckt fingerte sie nach dem Ruhestörer, und meldete sich noch verschlafen. Am anderen Ende war der Diensthabende der Nachtschicht.

„Hallo Frau Thoma! Entschuldigen Sie die nächtliche Störung, aber wir haben eine weibliche Leiche hinter der „Watzmann-Therme“. Sie sollen gleich hinkommen!“ Susi Thoma rieb sich die Augen und rekelte sich im warmen Bett.

„Aha, ich soll also gleich hinkommen. Sagt wer?“, fragte sie gedehnt zurück. Der Beamte am Ende der anderen Leitung lachte lauthals, ehe er antwortete.

„Na wer schon! Natürlich Ihr Boss Ludwig!“, meckerte er und beendete das Gespräch. Leise stöhnend schob sich die junge Frau aus dem warmen Bett heraus und schlich sich ins Nebenzimmer, wo Tochter Franzi schlummerte. Die Kleine lag auf der Seite, ihren Teddy im Arm und schlief fest. Susi verließ auf Zehenspitzen wieder das Zimmer. Zehn Minuten später läutete sie drüben an Tür ihrer Nachbarin. Es dauerte eine ganze Weile, bis man Schritte im Flur hörte und die Tür geöffnet wurde. Ein ziemlich verschlafener schwarzer Wuschelkopf mit Brille sah Susi an.

„Entschuldigung, Frau Schindler! Aber ich muss mal wieder zu einem Einsatz, hier sind die Schlüssel. Franzi schläft fest.“ Die ältere Frau nickte freundlich lächelnd, nahm ihrerseits einen Schlüssel vom Haken und zog die Tür hinter sich zu.

„Kein Problem Frau Thoma, ich lege mich aufs Sofa, da höre ich, wenn sie wach wird“, sagte sie und ging in die Wohnung.

Seitdem sie vor acht Monaten in Berchtesgaden infolge eines Austauschprogramms den Dienst aufgenommen hatte, gab es Frau Schindler im Leben von Franzi und Susi Thoma. Sie war die gute Seele und kümmerte sich um das Kind und manchmal auch um die Wohnung, wenn Bedarf bestand.

Zehn Minuten später rollte der rote „Clio Captur“ auf den Parkplatz der „Watzmann-Therme“ Ein uniformierter Polizist wies ihr den Weg zum Tatort.

Mit der Taschenlampe den Weg beleuchtend, marschierte sie los, dahin wo ein heller Scheinwerfer aufgebaut worden war. Als sie den hellen Lichtkreis betrat, begrüßte sie ihr Chef Markus mit einem schiefen Lächeln.