"Novizin Anna" - Hans-Peter Ackermann - E-Book

"Novizin Anna" E-Book

Hans-Peter Ackermann

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Beschreibung

Der Tradition entsprechend geht die Schweizer Bauerntochter Anna Schwandten 1673 mit Vierzehn Jahren in ein Kloster um Nonne zu werden. Dort trifft sie auf die gleichaltrige Dörte. Beide schließen Freundschaft und beginnen nach Dörtes Herkunft zu forschen, die als Säugling in das Kloster kam. Bald stoßen sie auf viele Ungereimtheiten und auf eine ungewöhnliche Verbindung zwischen der Äbtissin des Nonnenklosters und dem Abt des angrenzenden Mönchsklosters. Mit dem Mönch Anton Pontini, der Anna sehr zugetan ist, forschen die Drei immer weiter und geraten dabei in Lebensgefahr. Als die Novizin Dörte gar plötzlich über Nacht aus dem Kloster verschwindet, beschließen die Nonne Anna und der Mönch Anton sie zu suchen und geraten dabei in haarsträubende Ereignisse.

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Inhaltsverzeichnis

Dörtes Tagebuch

Ein sonderbarer Auftrag

Dörtes Rettung

13. Mai 1674 - Pfingstsonntag

Sechs Wochen später ...

Antons Heimkehr

Acht Wochen später ...

Überraschende Besuche

Annas großer Traum wird wahr

Ein Vierteljahr später ...

Das Hospiz wird geweiht…

Ein Jahr später…

D unkle Gewitterwolken ballten sich über dem „Kloster zum heiligen Franziskus“ in den Bergen Graubündens. Grelle Blitze zuckten und dumpfe Donnerschläge grollten, sich mehrfach brechend und dröhnend, durch die Nacht. Die dunstig warme Augustluft des Tages waberte noch immer durch das enge Tal in den Schweizer Alpen. Und hier, inmitten der Dreitausender, lag eingebettet in ein Tal, die zweigeteilte Klosteranlage „Zum heiligen Franziskus“.

Diese Klosteranlage war ein klobiger Bau, umschlossen von hohen Mauern und einem großen weit ausladendem Park. Innerhalb dieser Mauern lebten in der einen Hälfte die Mönche des Franziskanerordens, tief verwurzelt in die strenge Beachtung der Armutsregeln, und gegründet 1210 von ihrem Ahnherrn Franziskus von Assisi.

Im anderen Teil der Klosteranlage residierten seit mehr als 150 Jahren die Franziskanerinnen vom Orden „Die heiligen Samariterinnen“, deren 80jährige Ordensmutter und Lehnsherrin Brunhilde von Goisern, 1658 die Amtsgeschäfte aus Altersgründen der Äbtissin Klara von Lewante übertragen hatte. Die Klosteranlagen trennte ein fest verschlossenes eisernes Tor. Ein hoher gedungener Glockenturm ragte weithin sichtbar über das Land. Man schreibt das Jahr Anno 1673.

Die Turmuhr der nahen Kreuzkapelle schlug gerade Mitternacht. Das Matutin, die Mitternachtsmesse mit Chorgesang, war gerade vorüber, als plötzlich durch den langen dunklen Gang der Frauenabtei eine Gestalt in schwarzer Ordenstracht huschte. Diese Gestalt eilte die Stufen hinab, die in den Keller führten, und verschwand dann hinter einer schrill quietschenden eisernen Kellertür, die sie hinter sich wieder abschloss.

Dieser unterirdische Gang führte hinüber in den anderen Teil des Klosters. Und dort gelangte man direkt zu einer Wendeltreppe, die hinauf in den Wohnturm führte, in dem das Studierzimmer des Abtes Timoteo von Breswik lag. In diesem verbrachte der Abt gelegentlich auch seine Nächte. Dieser unterirdische Gang war einst geschaffen worden, um den Nonnen und Mönchen bei räuberischen Überfällen die Möglichkeit zur Flucht zu bieten.

Wieder zuckte ein greller Blitz durch die Nacht, der sich für Sekunden in den dicken Butzenscheiben widerspiegelte. Kurz darauf dröhnte ein Donnerschlag durch das Gewölbe und lies das Glas in den Fenstern klirren. Draußen heulte inzwischen ein Gewittersturm und trieb lose Äste und Laub durch den Innenhof des Klosters.

Vorsichtig schaute eine junge Novizin aus einer der vielen Wandnischen, in der sie schon eine ganze Weile still verharrt hatte. Hastig schlug sie drei Kreuze und entfernte sich dann rasch, um in der Dunkelheit des langen Korridors leise unterzutauchen. Sie beeilte sich um in ihre Klause zu gelangen und noch ein paar Stunden Schlaf bis zur Frühmesse um 6.00 Uhr zu erheischen.

In der großen Klosterküche herrschte an diesem Morgen bereits geschäftiges Treiben. Zwei junge Novizinnen schälten eifrig Kartoffeln, während die ältere, schon etwas lahm gehende Nonne Johanna, die Buchweizensuppe auf dem Herd rührte. Sie sah streng durch ihre kleine Brille zu den beiden jungen Novizinnen hinüber, die leise miteinander flüsterten und dabei immer wieder kicherten.

„Lasst lieber eure Hände so behände schaffen wie euer Mundwerk plappert!“, herrschte sie die beiden Mädchen an, und zog dabei den heißen Topf vom Feuer. Wie auf Geheiß schwiegen beide, sahen sich aber, das Lachen unterdrückend, an und verdrehten dabei die Augen. Schwester Johanna war nun mal eine alte, aber liebenswerte Person, auch wenn sie hin und wieder mürrisch war und die Jüngeren doch so manches Mal ermahnte. Aber wenn es ein Anliegen gab, dann konnte man sich getrost der alten Nonne anvertrauen. Die Jüngsten sahen in ihr so etwas wie die Großmutter, mit der man über alles reden konnte.

Die beiden jungen Novizinnen schleppten den heißen Topf mit dem Buchweizenbrei nach draußen in den Hof, und stellten ihn auf einen kleinen Wagen. Novizin Anna zog ihn dann mit Schwester Theresia, immer darauf bedacht nichts zu verschütten, bis zu dem eisernen Tor in der Klostermauer. Dort erwartete sie bereits ein junger Mönch und nahm den Karren mit der heißen Suppe in Empfang.

Er schien bereits auf sie gewartet zu haben, denn er lehnte an den Gitterstäben des Tores und sah ihnen lächelnd entgegen. Als er die beiden Novizinnen mit ihrem Wagen kommen sah, öffnete er rasch das Tor.

Bruder Anton hatte die Novizin Anna von Schwanten an ihrem roten Haar unter der Haube erkannt. Anna war im Jahre 1670 im Alter von 14 Jahren in das Kloster eingetreten. An ihrer Seite lief die schon etwas ältere Schwester Theresia. Bruder Anton lächelte beiden zu, als sie sich ihm näherten und den Wagen abstellten.

„Hier habt ihr euer Frühstück, Bruder Anton! Das Brot ist noch ganz frisch und warm, das wird den Abt sicher freuen“, begann Anna das Gespräch und lächelte dabei dem jungen Mönch freundlich zu. Sein markantes Gesicht mit dem schwarzen kleinen Bart am Kinn und seine dunklen, beinahe schwarzen leuchtenden Augen hatten es Anna angetan. Bruder Anton schien aber ebenfalls an dem rothaarigen Mädchen Gefallen zu finden, denn er betrachtete sie wohlgefällig und nickte dann.

„Ja, ja der gute Bruder Abt liebt nun mal einen warmen frischen Laib Brot“, beeilte er sich zu erwidern. Worauf Schwester Theresia leise nuschelte:

„Oh, ja! Warmes Brot und warme Leiber liebt der alte Gottesmann noch immer! Aber der Herr sieht alles!“ Und dann herrschte sie Anna an:

„Kommt endlich und hört auf zu schwatzen! Der Satan und die Sünde warten überall!“ Dabei zerrte sie die junge Novizin wieder mit sich fort. Im Geheimen hoffte Anna dabei inbrünstig darauf, dass Mutter Johanna sie später wieder losschicken würde, um den Wagen zurückzuholen. Sicher würde sie Bruder Anton dann wieder treffen und Zeit für einen kleinen Plausch mit ihm haben.

Als sie sich noch einmal kurz umsah, hob der Mönch kurz die Hand zum Gruß, lächelte ihr zu und wandte sich dann mit seinem Wagen ebenfalls zum Gehen. Die junge Novizin lief züchtig, die Hände gefaltet, neben der älteren Schwester einher und lächelte vor sich hin. „Bruder Anton ist nun mal ein hübscher junger Mann“, dachte sie im Stillen, schwieg aber lieber.

Das Mittagsmahl war gerade zu Ende und die beiden jungen Novizinnen Anna und Dörte waren eben von der seligen Schwester Agneta in den Garten beordert worden, um noch Melisse und Bohnenkraut zu holen. Und so schlenderten sie Hand in Hand über den schmalen Kiesweg im Garten und schwatzten lustig miteinander.

„Hast du den Bruder Anton schon mal gesehen?“, fragte Anna ihre Mitschwester Dörte. Die lachte erst, nickte dann aber verlegen.

„Ja, gesehen habe ich ihn vorgestern, aber nur ganz kurz. Er gefällt dir wohl?“, fragte sie zurück. Anna lächelte ihre Freundin etwas verschämt an.

„Er ist ein hübscher Bursche und immer sehr freundlich“, bekannte sie leise. Schwester Dörte sah ihre Anna fragend von der Seite an.

„Aber schwärmtest du nicht für den Bruder Dagobert? Er ist immerhin ein richtiger Mann, Anna!“ Die junge Novizin wurde unter ihrer Haube rot bis über beide Ohren.

„Was du immer für unzüchtige Gedanken hast, Dörte!“, schalt sie ihre Freundin, lachte dann aber verlegen und wandte sich dem Bohnenkraut zu, um es abzuschneiden.

Immerhin wusste sie, dass man erst vor drei Tagen in der Nacht eine Schwester gesehen hatte, wie sie heimlich das Kloster in Richtung Park verlassen hatte. Die alte Schwester Johanna hatte diese Person auch gesehen, weil sie nicht schlafen konnte und einen Spaziergang durch die Flure gemacht hatte. Aber offenbar musste in dieser Nacht auch noch eine weitere Schwester unterwegs gewesen sein.

Anna bedeckte mit der Hand die Augen und sah hinauf zu den Gipfeln des Piz Chavalatsch, der auch im Sommer oft mit Schnee bedeckt war. Mit Sehnsucht im Herzen dachte sie an ihr heimatliches Tal in den Bergen, in dem Mutter und Vater lebten, und gemeinsam mit ihren Bruder Johannes einen kleinen Bergbauernhof bewirtschafteten.

Der Tradition folgend, hatte Anna als das jüngste Mädchen der Familie Schwanten, genau wie ihre Großmutter Augustine, den Lebensweg in eines der Klöster annehmen müssen. Schon einen Tag nach ihrem vierzehnten Geburtstag hatte sie ihr Bündel geschnürt, sich von den Eltern verabschiedet, und dann den Weg hinauf in die Berge zum Kloster angetreten. Viele Nächte hatte sie anfangs in ihr Kissen geweint und sich zurückgesehnt auf den heimatlichen Hof, zu den Eltern und den Tieren.

Joschi war ihr damals bis zum Dorfausgang nachgelaufen und hatte zum Abschied noch leise gewinselt. Der junge Bernhardinerhund hatte ihr lange mit traurigen Augen hinterdrein geschaut, bis sie dann endgültig verschwunden war.

Seit diesem Tag waren inzwischen drei lange Jahre vergangen. Und nun kam der Zeitpunkt näher, an dem sie den Ring des Herrn an den Finger stecken würde, um dann seine Braut zu werden. Aber immer wieder hatte sie sich in den vergangenen Tagen heimlich gefragt, ob dies wirklich ihr weiterer Lebensweg sein sollte. Ob sie wirklich ein ganzes Leben lang in einem Kloster leben wollte. Natürlich wollte sie dem Herrn dienen, aber noch viel lieber wollte sie eigentlich den Menschen helfen. Denn seit gut einem Jahr beschäftigte sie sich mit Heilkräutern und las alles was es in der Klosterbibliothek dazu zu lesen gab.

In Gedanken versunken, war sie so schon die ganze Zeit wortlos neben Dörte hergelaufen, bis diese sie anstieß.

„Sag mal, träumst du von Bruder Anton?“, fragte Dörte und lachte. Ihre braunen Augen leuchteten dabei in der Sonne. Anna schreckte zusammen.

„Was hast du gesagt? Entschuldige bitte, ich war gerade mit meinen Gedanken wo ganz anders“, erwiderte sie erschreckt. Dörte schüttelte den Kopf.

„Was hast du nur in letzter Zeit? Du bist immer abwesend wenn man mit dir spricht.“ Anna hielt ihre Freundin am Ärmel ihrer Kutte fest.

„Versprich mir bitte, es niemand zu erzählen, Dörte!“ Ihre Freundin sah sie kopfschüttelnd an.

„Was soll ich denn niemandem erzählen? Anna, du sprichst in Rätseln!“ Die junge Novizin setzte sich auf eine kleine Bank die am Wegesrand stand und dann zog sie ihre Freundin neben sich.

„Höre zu! Ich denke dauernd darüber nach, ob mein Weg wirklich hier in diesem Kloster einmal zu Ende gehen soll“, flüsterte sie und unterdrückte dabei ihre Tränen. Dörte sah sie mit offenem Mund ungläubig an.

„Du bist dir nicht mehr sicher, ob du die Braut des Herrn werden willst?“, fragte diese entsetzt.

„Oh Gott, wenn das die Mutter Oberin erfährt! Jetzt so kurz vor der Profess. Sie bekreuzigte sich dabei hastig dreimal.

„Aber was willst du denn tun, Anna? In drei Monaten ist es soweit und du trittst vor die Äbtissin und leistest deinen Eid für die nächsten drei Jahre!“ Anna knetete ihre Hände und sah hinauf zum Himmel, als ob dort oben die Antwort liegen würde.

„Ich weiß es doch auch nicht, Dörte! Ich weiß nur, dass ich viel lieber den Kranken helfen würde. Aber eben nicht nur mit Beten, sondern richtig. Schau, noch so viele Frauen sterben bei der Geburt. Andere wiederum können sich die Medizin nicht leisten und holen deshalb keinen Medicus. Damit würde ich doch dem Herrn auch dienen oder nicht?“ Sie sah ihre Freundin verzweifelt an und diese nickte langsam und zustimmend.

„Da hast du natürlich auch Recht, aber dann musst du ja das Kloster verlassen! Was werden deine Eltern dazu sagen?“ Anna stand langsam auf und sah hinüber zur nahen Bergwand, die langsam im Nebel verschwand. In ihren Augen standen Trauer und Unschlüssigkeit.

„Komm, lass uns gehen, das Wetter schlägt bald um!“, meinte sie und zog Dörte am Ärmel ihrer Kutte mit sich fort. Tatsächlich wurde es zunehmend dunkler. Jetzt, zum Ende des August, konnte es sogar geschehen, dass die ersten Schneeflocken fielen, und sich das Wetter von einer Stunde auf die andere änderte. Der Sommer schien sich in diesem Jahr schon frühzeitig verabschieden zu wollen.

Dörte schaute ebenfalls zu den dunklen Wolken hinauf und seufzte tief. Anna sah sie erstaunt an.

„Warum seufzt du denn so liebe Dörte?“ Die junge Novizin ging langsam neben Anna her zurück zum Klosterhof.

„Ach, ich muss in den nächsten Tagen über den Pass, hinüber nach Samstetten! Und ich fürchte mich so vor dem langen Weg durch die rauen Berge. Besonders wenn es schon Schnee geben sollte. Aber all die alten Leute drüben im Hospiz brauchen doch unsere Kräutermedizin!“ Gemeinsam strebten sie wieder die Klosterküche zu. Anna hielt mitten im Laufen inne und sah ihre Freundin an.

„Und was hältst du denn davon, wenn ich dir diesen Weg abnehmen würde?“, fragte sie ihre Freundin.

„Dann könnte ich vielleicht sogar einen kurzen Umweg zu meinen Eltern machen. Die würden sich bestimmt freuen. Nur die Äbtissin darf davon auf keinen Fall etwas erfahren!“ Dörtes Augen leuchteten plötzlich wieder hoffnungsvoll.

„Das würdest du für mich tun?“, fragte sie erfreut ihre Mitschwester. Anna nickte.

„Na klar, ich werde gleich heute Abend mit der Schwester Johanna reden“, versprach Anna. Dörte stellte den Korb mit den Kräutern ab und sah sich einen Moment um. Dann flüsterte sie:

„Ich muss dir nach der Abendmesse auch noch unbedingt etwas erzählen, aber versprich mir, es für dich zu behalten!“ Anna umarmte gerade ihre Freundin herzlich, als sich auf einmal hinter ihnen eine raue strenge Stimme meldete. Wie aus dem Boden gewachsen stand die Äbtissin Klara von Lewante hinter ihnen.

„Was soll das denn werden? Seit wann umarmen sich denn die Schwestern wie Liebespaare? Schämt ihr euch nicht!“ Da fuhren die beiden Novizinnen erschreckt auseinander.

„Entschuldigt, Mutter Oberin! Entschuldigt!“, stotterte Anna und trat einen Schritt von Dörte zurück, die mit rotem Kopf dastand und nicht wusste, was sie sagen sollte. Doch die Äbtissin sah beide Schwestern unnahbar und streng durch ihre kleinen Brillengläser an. Dann schüttelte sie nur noch einmal wortlos den Kopf und verließ beide wieder grußlos.

Anna und Dörte waren vom ersten Tag an wie Freundinnen. Als Anna damals im Kloster ankam, war Dörte schon da gewesen. Aus ihren Erzählungen wusste sie, dass Dörte irgendwann als Säugling ins Kloster gekommen war, aber ihre Eltern nicht kannte.

Die Abendmesse war gerade zu Ende gegangen und die Glocke der Klosterkirche läutete weithin hörbar durch das Tal. Dörte und Anna strebten wieder dem Garten zu, wo es eine kleine Nische mit einer Bank gab. Dort trafen sich die Mädchen oft, wenn sie einmal allein sein wollten, so wie jetzt. Sie hatten noch eine Stunde Zeit bis zur Komplet, dem Abendgebet. Anna sah ihre Freundin fragend an.

„So Dörte, nun erzähle schon, was gibt es denn nun so geheimnisvolles?“ Dörte sah sich noch einmal um und dann begann sie zu erzählen.

„Also hör zu! Ich konnte heute Nacht nicht schlafen weil Vollmond war. Also bin ich um Mitternacht noch einmal aufgestanden und in die Küche gegangen, um mir einen Topf Milch zu holen. Auf dem Rückweg hörte ich plötzlich Schritte auf dem Flur und habe mich versteckt.“ Sie atmete tief durch und Anna sah sie gespannt an. „Und was geschah dann?“

„Du wirst es nicht glauben! Vor mir auf dem Gang lief eine Schwester. In einen dunklen Umhang gehüllt ging sie in den Keller hinab. Dort zündete sie eine Laterne an. Und neugierig wie ich nun einmal bin, lief ich ihr nach. Der Weg führte durch einen langen Kellergang und endete an einem eisernen Tor. Die Schwester aber nahm einen Schlüssel aus ihrer Kutte und schloss das Tor auf. Auf der anderen Seite schloss sie es wieder ab, und ich stand plötzlich allein in der Finsternis. Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich wieder zurück in meiner Stube war.“ Anna hatte atemlos zugehört.

„Und? Hast du die Schwester erkannt?“, fragte sie nun ihrerseits aufgeregt. Doch Dörte schüttelte den Kopf und Anna dachte kurz nach, welche der Schwestern da mitten in der Nacht heimlich das Kloster verlassen hatte und welche in den Keller gegangen sein konnte. Sie sah Dörte beschwörend an.

„Das darfst du niemals jemanden erzählen, Dörte! Wer es auch immer gewesen ist von den Schwestern, sie wird ihr Geheimnis gewahrt wissen. Also sei sehr vorsichtig und schleiche nicht wieder nachts durch das Haus! Ich habe mit der Schwester Johanna übrigens gesprochen, ich darf am Samstag den Weg nach Samstetten machen. Ich habe ihr erzählt, dass du dich nicht wohl fühlst und mich angeboten zu gehen. Erst hat sie ein wenig gezögert und hat gebrummelt, aber dann war sie doch einverstanden.“ Dörte sah ihre Freundin dankbar an.

„Anna, ich danke dir von ganzem Herzen! Der liebe Herrgott möge dich beschützen.“ Anna lächelt.

„Daran glaube ich jeden Tag, Dörte. Er wird uns sicher beide beschützen, wir sind doch gute Christenmenschen“, erwiderte sie und nahm Dörtes Hand in die ihre.

Und so saßen sie noch eine ganze Weile da und Anna erzählte wie schön es zu Hause gewesen war. Wie sie ihrer Mutter geholfen hatte und wie sehr sie die Tiere liebte.

Abt Timoteo von Breswik unterhielt sich angespannt mit dem jungen Bruder Anton. Beide liefen gemächlich auf dem Gang des Klosters nebeneinander her.

„Bruder Anton, wisst ihr was ihr da sagt!“, ereiferte sich der Abt gerade. Bruder Anton musste immer wieder mit seinen langen Beinen das Schritttempo verlangsamen und so blieb er deshalb mehrmals stehen.

„Ich weiß was ich gesehen habe, Bruder Abt! Eine Nonne ist in der Nacht auf der Treppe aus dem Kellertrakt herauf gesehen worden! Aber leider konnte man nicht erkennen wer es war“, entgegnete er und nahm den Schritt wieder auf. Der Abt rieb sich nachdenklich das Kinn und musterte seinen Mitbruder mit kleinen blinzelnden Augen kritisch von der Seite. Doch dann schüttelte der Gottesmann energisch den Kopf.

„Das kann ich nicht glauben. Wer von den Mitbrüdern sollte solch einen Frevel begehen! Ihr habt euch sicherlich geirrt! Glaubt es mir!“, entgegnete er Bruder Anton. Doch Bruder Anton schien sich die Sache nicht ausreden lassen zu wollen. Als er erneut die Rede darauf bringen wollte, schnitt ihm der Abt plötzlich brüsk das Wort ab.

„Genug! Es reicht, Bruder Anton! Gehen wir jetzt lieber in das Skriptorium und ihr zeigt mir eure Arbeiten an der neuen Chronik des Klosters“, befahl er dann und marschierte schnurstracks los, so dass Bruder Anton gezwungen war, ihm rasch in die Bibliothek zu folgen.

Es war Samstag und die Sechs-Uhr-Morgenmesse war soeben zu Ende gegangen. Anna sah hinauf zum Himmel, der grau wie ein Leichentuch und noch halb dunkel war.

Nebelschwaden verdeckten die Berggipfel. Die letzten Tage im August begannen mit Nässe und kalter Luft. Wie würde es erst oben auf dem Pass aussehen, den Anna auf ihrem Weg in das Hospiz von Samstetten noch zu überqueren hatte?

Noch einmal betrat sie ihre Kammer, stieg dann mit den dicken Schafwollstrümpfen in die festen aus Leder genähten Schuhe und warf sich das schwarze dicke Cape über, dass sie gut vor der Kälte schützen sollte. Am Bild des Heilands blieb sie kurz stehen und schlug das Kreuz, dann schloss sie die Tür von ihrer Kammer und lief zur Küche.

Schwester Johanna werkelte schon wieder am Herd und deutete bei Annas Eintreten auf das Bündel auf dem Tisch.

„Da sind die Arzneien. Sei vorsichtig und bummle nicht! Eine Wegzehrung habe ich dir in den Korb gelegt. Grüße Schwester Alice von mir, und nun beeil dich Tochter!“ Sie trat gebückt an Anna heran, schlug das Kreuz und gab ihr einen kurzen Kuss auf die Stirn.

„Pass auf dich auf und beeile dich, damit du am Dienstag wieder hier bist. Gehe mit Gott, Tochter!“ Ihre dünnen abgearbeiteten Hände streichelten über Annas Wange, dann wandte sie sich wieder dem Herd zu. Für Anna war sie vom ersten Tag an wie eine liebe Großmutter gewesen, der sie alles anvertrauen konnte was auch immer sie bedrückte.

Am Tor erwartete sie schon Schwester Agnes, die erst vor wenigen Wochen hier in dieses Kloster gekommen war und von der Mutter Oberin mit wachen Augen beobachtet wurde. Ihre stets lustige Art betrachtete die Mutter Oberin mit Argwohn. Schon mehrfach hatte sie die junge Novizin deswegen getadelt. Aber Schwester Agnes schien das nicht zu stören. Sie lachte als Anna näher kam.

„Na, geht ihr mal wieder rüber zu den Brüdern vom Hospiz? Verguckt euch nicht in einen von denen, Anna!“, rief sie ihr zu und öffnete das Tor. Die Novizin blieb kurz stehen und sah sie dabei missbilligend an.

„Und ihr solltet wissen, dass die Mutter Oberin ein Auge auf euch hat!“, entgegnete Anna lächelnd und ging weiter. Und so konnte sie auch nicht sehen, dass Schwester Agnes hinter ihr die Zunge heraus streckte, als sie das Tor wieder verschloss. Den Schlüssel in der Hand, sah sie sinnend einen Augenblick hinüber zur anderen Seite des Parks, dann aber wandte sie sich lächelnd ab, summte vor sich hin und ging langsam zurück.

Rasch ausschreitend hatte Anna bald das Kloster hinter sich gelassen und erreichte nun einen dichten Tannenwald. Der Nebel waberte zwischen den Bäumen und zauberte immer wieder neue Spukgestalten hervor. Doch Anna war nicht furchtsam. In den Bergen aufgewachsen, kannte sie diese magischen Zeiten, wenn sich der Sommer verabschiedete und der Winter schon anklopfte.

Einen Moment hielt Anna inne und atmete tief durch. Und gerade als sie sich wieder umdrehen wollte um ihr Bündel aufzuheben, knackte es laut im Unterholz. Anna fuhr erschreckt herum und starrte auf den jungen Bruder Anton, der nun ebenso erschrocken wie sie, sein großes Bündel Holzruten zu Boden fallen gelassen hatte.

„Mein Gott habt ihr mich erschreckt, Bruder Anton!“, entfuhr es Anna. Der junge Mönch lächelte verlegen und glaubte seine Holzstangen wieder zusammen.

„Das tut mir aber leid Schwester Anna, dass ich euch so erschreckt habe“, stotterte er verlegen und wurde dabei sichtlich rot im Gesicht.

„Wohin geht ihr, Schwester?“, fragte er leise. Sie lächelte den jungen Mönch an.

„Ich muss hinüber nach Samstetten in unser Hospiz, ich habe Schwester Dörte diesen beschwerlichen Weg abgenommen.“

Bruder Anton sah Anna mit einem Mal ernst an, als zögere er noch etwas zu sagen. Doch dann meinte er aber doch: „Seit vorsichtig auf eurem Weg, Schwester Anna!“ Anna lachte hell auf.

„Ich bin in den Bergen aufgewachsen, Bruder Anton. Mich schrecken sie nicht“, entgegnete sie ihm. Doch der Mönch schüttelte unmerklich den Kopf.

„Das meine ich auch nicht! Aber nicht alle Menschen die so tun als seien sie Freunde, sind es am Ende auch! Gebt also acht auf euch!“, wiederholte er noch mal ernst, nahm sein Bündel und trabte dann ohne eine weiteres Wort davon.

Sie sah ihm eine Weile sinnend hinterher. Was hatte er nur damit gemeint? Kopfschüttelnd machte sie sich wieder auf den Weg, der stetig bergan führte. Nach einer weiteren Stunde hatte Anna die Baumgrenze erreicht und es wurde merklich kühler. Dafür aber wurde der Himmel ein wenig heller. Sie entschloss sich eine Rast einzulegen und suchte sich ein Plätzchen an dem es noch ein wenig Gras gab. Hinter einem großen Felsen setzte sie sich und packte die Brotzeit aus. Schwester Johanna hatte ihre Brote mit viel Schmalz geschmiert und Anna ließ es sich schmecken.

Zur Mittagszeit wurde Dörte zur Mutter Oberin gerufen. Vorsichtig klopfte sie an die Tür. Ein lautes raues „Herein!“ ertönte und Dörte trat ein. Die Oberin saß an ihrem Arbeitstisch und deutete wortlos auf den Stuhl davor. Dörte setzte sich. Die Oberin musterte einen Augenblick wortlos das zarte Persönchen vor ihr, dann räusperte sie sich leise.

„Ich habe gehört, du schleichst des Nachts durch das Haus. Stimmt das?“ Dörte erschrak. Gleichzeitig aber dachte sie darüber nach, wem sie alles von ihren nächtlichen Erlebnissen erzählt hatte. Dabei fiel ihr aber nur Anna ein. Aber die war ihre beste Freundin und würde doch sicher niemals der Mutter Oberin davon erzählt haben! Dessen war sich Dörte sicher. Ob sie vielleicht jemand gesehen hatte in dieser Nacht?

„Ich war vor zwei Tagen in der Nacht in der Küche und habe mir etwas Milch geholt, Mutter Oberin! Ich konnte einfach nicht einschlafen“, erwiderte sie so unbefangen wie es ihr nur möglich war. Die Mutter Oberin starrte sie an und nickte dann.

„Hast du da jemand getroffen in dieser Nacht?“, fragte sie weiter, und ihre Augen starrten Dörte dabei unverwandt an. Doch die schüttelte entschieden den Kopf.

„Nein, Mutter Oberin! Wen hätte ich denn mitten in der Nacht sehen sollen? Ich war ja ganz allein, und die Matutin war längst vorüber!“, setzte sie noch hinzu. Und wieder nickte die Äbtissin wortlos und musterte dann unverwandt die junge Novizin. Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, lächelte sie und sah nun beinahe gütig aus.

„So, so, du warst also nach der Mitternachtsmesse noch unterwegs. Na gut mein Kind, du kannst dich wieder entfernen!“, entgegnete sie, setzte ihre Brille wieder auf, verschwendete dann aber keinen Blick mehr für Dörte. Die zog sich tief aufatmend schnell zurück. Auf dem Flur lehnte sie sich rasch einen kurzen Augenblick an die Wand und atmete noch einmal tief durch. Hatte sie gar jemand in dieser Nacht gesehen? Wenn Anna aus Samstetten zurück kam musste sie unbedingt mit ihr darüber sprechen.

Anna erreichte in den späten Nachmittagsstunden endlich den Pass. Graue Nebelschwaden hüllten das Bergpanorama ein, und sie konnte keine fünfzig Fuß mehr weit sehen. Die in ihr aufkommende Unruhe versuchte sie durch Singen zu unterdrücken. Leise sang sie ein Lied aus ihrer Kindheit, welches ihr die liebe Mutter öfters vorgesungen hatte. Sich auf den dicken Wanderstock aufstützend, schritt sie kräftig aus. Plötzlich begann der Weg sanft abzufallen und Anna atmete auf. Jetzt war sie sich sicher, dass sie endlich auf dem richtigen Weg zum Hospiz war. Und so war es dann auch.

Das kleine gedungene graue Gebäude lag außerhalb von Samstetten auf einer Anhöhe unter einer Bergwand und wurde von drei Nonnen und einem alten Mönch geführt. Das Haus beherbergte vor allem Alte und Kranke, die kein Zuhause mehr hatten und so auf die Gnade der Kirche angewiesen waren.

Der Nebel begann sich zu lichten und Anna konnte durch die Lücken im Nebel das kleine Tal überblicken. Aus dem Schornstein des Hospizes kräuselte sich der Rauch und unten im Tal läutete eine Glocke die Sechs-Uhr Messe ein.

Erst jetzt spürte Anna wie ihr die Füße schmerzten und der Rücken wehtat. Die letzten Schritte bis zum Haus erschienen ihr wie eine Ewigkeit. Tief durchatmend griff sie nach dem eisernen Türklopfer und klopfte dreimal an die Tür, die sich ihr wenig später schon öffnete.

Schwester Ludowika strahlte sie erfreut an, und nahm das junge Mädchen in die Arme. Dabei verzogen sich ihre vielen Falten im Gesicht wie zerknittertes Papier.

„Oh, wer kommt denn heute zu uns! Seid ihr nicht die kleine Anna vom Schwantenhof?“, fragte sie, und nahm der erschöpften Novizin das Gepäck ab.

„Kommt in die warme Stube und wärmt euch ein wenig auf. Und eine kräftige Suppe bekommt ihr natürlich auch gleich!“, radebrechte sie und zog Anna in die Küche des Hauses. Anna legte ihren Übermantel ab, zog die Schuhe von den Füßen und streckte die Beine lang aus. Währenddessen hatte ihr Schwester Ludowika bereits eine Schüssel Suppe hingestellt. Anna atmete erschöpft tief durch und trank einen Schluck Apfelmost.

„Ich soll euch ganz herzlich von der Schwester Johanna grüßen. Sie lässt euch ausrichten, dass dies für dieses Jahr die letzten Kräuter sind. Sie meinte, dass die Kräuter aber ausreichen müssten, um genug Medizin herzustellen, die ihr über den Winter braucht“, erzählte Anna zwischen zwei Löffeln Suppe. Schwester Ludowika sah die junge Novizin mitfühlend an und setzte sich zu ihr an den Tisch.

„Müsst ihr etwa Morgen schon wieder zurück, Anna?“ Doch die Novizin schüttelte freudig lächelnd den Kopf.

„Nein Schwester Ludowika, nein! Ich will morgen noch meine Eltern und meinen Bruder besuchen, ehe ich übermorgen wieder ins Kloster zurückkehre.“ Sie zögerte einen Augenblick.

„Allerdings darf die Mutter Oberin von meinem kleinen Umweg nichts erfahren! Ich habe euch also einen ganzen Tag geholfen, ja?“, erwiderte sie und sah dabei die alte Nonne bittend an. Die Schwester verzog das Gesicht etwas und sah Anna ernst an.

„Was sagt uns die Heilige Schrift Anna? Du sollst nicht lügen! Oder?“, wandelte sie ein wenig das heilige Gebot ab und lächelte sanft dazu. Dann aber nickte sie.

„Ich verstehe natürlich, dass ihr Sehnsucht nach euren Lieben habt. Ich glaube, der liebe Herrgott wird die kleine Ausrede auch sicher verstehen und nicht mit euch zürnen.“ Schwester Ludowika sah die junge Novizin prüfend an und stand auf um den leeren Teller wegzutragen. Als sie zum Tisch zurückkam meinte sie leise: „Ihr seht aber auch nicht gerade sehr glücklich aus. Bedrückt euch etwas, ihr seid so ernst, so kenne ich euch sonst gar nicht?“ Anna sah einen Augenblick betreten zu Boden, aber dann erzählte sie ihr, was ihr Dörte anvertraut hatte und was ihr schwer auf der Seele lastete. Die alte Nonne hatte stumm zugehört. Als Anna geendet hatte und ihr außerdem noch erzählt hatte, dass sie immer noch zögere Nonne zu werden, stand Schwester Ludowika langsam vom Tisch auf. Mit der Bemerkung:

„Kommt mit, meine Tochter! Gehen wir ein paar Schritte vor das Haus, die Vögel haben keine Ohren!“, verließen sie gemeinsam das Haus. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Die kleine Laterne neben der Tür spendete fahles gelbliches Licht. Sie gingen hinüber in den Stall, der neben Ziegen auch Schafe und eine Kuh beherbergte. Als sie eintraten schlug ihnen die warme Luft entgegen, und nur das leise Meckern der Tiere war noch zu hören. Schwester Ludowika setzte sich auf einen Schemel und sah Anna ernst von unten herauf an.

„Ihr müsst eurer Freundin Dörte unbedingt ins Gewissen reden, Anna! Sie darf auf keinen Fall irgendjemand im Kloster davon erzählen! Hört ihr, niemand!“, betonte die Nonne. Während sie sprach sah sie Anna wieder sehr ernst an.

„Wenn ihr dem Herrn dienen wollt Anna, könnt ihr das auch ohne den Ring des Herrn zu tragen. Ich würde das zwar sehr bedauern, denn ihr würdet bestimmt eine gute Magd des Herrn werden. Aber was man tut, das sollte man mit reinem Herzen tun, Anna! Darüber entscheiden aber könnt nur ihr allein! Nun lasst uns wieder zurück ins Haus gehen, die Abendmesse beginnt gleich.“ Sie erhob sich ächzend von dem Schemel auf dem sie gesessen hatte, und beide verließen wieder den Stall. In dieser Nacht drehte sich Anna noch lange unruhig auf ihrem Strohsack von einer Seite auf die andere und dachte darüber nach, was ihr die Nonne Ludowika geraten hatte.

Am nächsten Morgen traf sie auf Bruder Bernhard, einen älteren Mönch um die siebzig Jahre, mit weißen Haaren und einem üppigen weißen Bart. Er begrüßte Anna herzlich, und jedes Mal wenn er laut lachte, hüpfte sein beachtlicher Bauch. Und Bruder Bernhard war ein fröhlicher Mensch und lachte oft. Ausgiebig musste sie ihm vom Leben im Kloster erzählen. Und Anna bemühte sich alles in einem freundlichen Licht erscheinen zu lassen. Als sie geendet hatte, sah sie der alte Mönch sinnend von der Seite an.

„Wenn ich hinter eure freundlichen Worte schaue meine Tochter, dann scheint es so, als ob ihr da oben nicht gerade sehr glücklich seid!“, erwiderte er plötzlich leise. Einen kurzen Augenblick sah er sich kurz um. Dann flüsterte er Anna zu:

„Ich kenne euren Abt Timoteo, und ich kenne auch die Äbtissin Klara von Lewante. Und ich weiß, dass sie ein Geheimnis haben. Und ich sage euch, sie sind sicher nicht umsonst vom Orden da hinauf in diese Einöde beordert worden. Passt also auf euch auf, Schwester Anna! Verlasst nie des Nachts eure Kammer, und verriegle stets gut die Tür!“

Er sah ihr dabei fest in die Augen und stand auf. Noch im Weggehen meinte er ihr wieder lustig lachend:

„Grüßt eure Eltern von mir, Novizin Anna! Ich warte schon geraume Weile auf diesen herzhaften Schlehentrunk, den euer Vater braut, und der meine müden Glieder im Winter wärmt.“ Anna versprach dem Mönch auf dem Rückweg noch eine Flasche dieses wärmenden Getränks vorbeizubringen.

Die Abendmesse war soeben zu Ende gegangen und alle Schwestern hatten zwei Stunden Zeit für sich. Dörte eilte hastig in den ersten Stock in das Skriptorium. Sie wollte die zwei Stunden nutzen, ehe sie wieder in ihrer Kammer sein musste, wenn die Mutter Oberin zu ihrem Kontrollgang aufbrach.

Leise öffnet sie die Tür und sah sich um. Niemand war mehr in der Bibliothek. Also zündete sie eine Kerze an und ging hinüber zu den dicken Folianten. Im fahlen Schein der Kerze buchstabierte sie was auf den Buchrücken stand.

Endlich schien sie gefunden zu haben was sie suchte. Nahm das schwere Buch heraus und trug es zu einem der Lesepulte, dann schlug sie es auf. Es enthielt die Auflistung aller Äbtissinnen, Nonnen und Novizinnen, die alle in den letzten 100 Jahren im Kloster gelebt hatten, hier gestorben und beerdigt waren.

Hastig schlug sie die Seiten um, bis sie zum ersten Mal auf den Namen ihrer Äbtissin stieß und wann diese in das Kloster eingetreten war. Zu ihrem Erstaunen las sie plötzlich keine zwei Zeilen weiter unten, ihren eigenen Namen. Sie waren beide am gleichen Tag im Kloster „Zum heiligen Franziskus“ aufgenommen worden. Sie starrte auf die Eintragung unter ihrem eigenen Namen. Dörte wurde es heiß und kalt. Fand sie hier das Rätsel um ihre Herkunft? Und so las sie hastig die Zeilen die mit schöner Handschrift geschrieben waren:

„Eintritt des Findelkindes Dörte Pflügli, Anno Domini 1658, am 11. Januar. Elf Monate alt.“ stand da geschrieben, mehr nicht.

Plötzlich hörte sie Schritte auf dem Flur. Schnell schlug sie das Buch zu, blies die Kerze aus und stellte sich dann in den engen Raum zwischen einem großen Schrank und der Wand. Dörte stieg der Rauch der erloschenen Kerze in die Nase, sie musste sich die Nase zuhalten, um nicht zu niesen.

„Hoffentlich entdeckt mich jetzt niemand hier oben. Hilf mir Herr!“, betete sie insgeheim und hielt den Atem an.

Die Tür öffnete sich und eine Nonne mit einer Laterne in der Hand trat ein. Zielstrebig ging sie zu dem Regal, in dem die dicken Folianten aufgereiht nebeneinander standen. Plötzlich aber stutzte sie und schien etwas zu suchen. Kopfschüttelnd drehte sie sich herum und ging zum Tisch, um dort die Laterne abzustellen. Dabei fiel ihr Blick auf das dicke Buch welches auf dem Pult lag. Ihre Hände strichen verwundert darüber. Sie schien über etwas nachzudenken. Dann aber nahm sie es, schlug es hastig auf und blätterte eine Weile darin und las an einer Stelle. Danach trug sie es wieder zurück und stellte es sorgsam neben die anderen Bücher zurück.

Dörte hatte die ganze Zeit mit angehaltenem Atem hinter dem Schrank gestanden und nur ganz kurz einen Blick in den Raum gewagt. Da erkannte sie die Oberin! Vor Angst zitternd, presste sie sich gegen die kalte Wand und hielt den Atem an. Und prompt fiel ihr durch das Zittern ihrer Hände, die Kerze aus dem Leuchter und polterte auf dem Boden. Dörte war es, als ob ihr Herz aussetzte und sie erstarrte! Die Oberin, gerade schon im Gehen begriffen, fuhr erschrocken herum und hob nun die Laterne hoch um besser sehen zu können. Doch als sie nichts sehen konnte, drehte sie sich wieder um und brummelte vor sich hin:

„Kein Wunder dass es hier Mäuse und Ratten gibt in dem alten Gemäuer!“ und verließ dann rasch wieder den Raum. Dörte atmete auf und tastete mit der Hand den Fußboden ab, um die heruntergefallene Kerze wieder zu finden. Und endlich ertastete ihre Hand das Gesuchte. Mit zitternden Fingern zündete sie die Kerze wieder an und ging rasch zur Tür. Vorsichtig schaute sie hinaus in den Gang, doch alles war ruhig. Mit raschen Schritten strebte sie ihrer Kammer zu. Als sie diese dann endlich erreicht und die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete Dörte erleichtert auf und setzte sich auf ihr Bett.

Endlich hatte sie das Datum gefunden an dem sie in das Kloster gekommen war. Dörte dachte nach. Nun wusste sie, dass sie knapp ein Jahr alt gewesen war, als man sie ins Kloster gebracht hatte, so stand es im Buch. Tränen traten ihr in die Augen. Aber genau an diesem Tag im Januar, war auch die Äbtissin in das Kloster „Zum heiligen Franziskus“ eingetreten. War das nicht alles seltsam? Was hatte das alles zu bedeuten? Mehrfach hatte sie die Oberin danach gefragt, wer ihre Eltern gewesen seien, doch immer hatte sie von ihr nur eine ausweichende Antwort erhalten.

Dörte kleidete sich aus und legte sich dann in ihr schmales Bett mit dem Strohsack. Noch lange dachte sie darüber nach, woher sie gekommen war, und wer sie damals ins Kloster gebracht haben könnte. Die Auskunft der Oberin, es seien wandernde Mönche gewesen, glaubte sie nun aber inzwischen schon nicht mehr. Sie musste unbedingt mit Schwester Johanna noch einmal reden, die damals schon im Kloster gewesen war. Aber morgen musste sie schon früh in der Kapelle auf der Empore putzen. Vielleicht war es möglich, später mit Schwester Johanna noch einmal ungestört reden zu können. Womöglich konnte sich die alte Schwester noch an so manche Einzelheiten von damals erinnern.

Eiligen Schrittes strebte Anna die kleine Anhöhe hinauf, die zum Hof ihrer Eltern führte. Es war Mittagszeit und aus dem kurzen Schornstein der Kate kräuselte weißer Rauch. Mit einem Mal sah sie einen Mann, der ein Pferd in den Stall führte. Vater! Ja, das war der Vater! Sie erkannte ihn an seiner Pfeife, die er immer im Mund hatte, auch wenn kein Tabak darinnen war.

Noch einen Schritt zulegend stürmte sie die letzten Meter dem Haus entgegen. Genau in diesem Augenblick trat eine Frau aus dem Haus und rief laut:

„Johannes, Melchior, kommt zum Essen! Das Essen ist fertig!“ Plötzlich gewahrte sie aber die junge Nonne, die da geradewegs auf sie zugelaufen kam. „Mutter! Mutter!“, rief Anna und fiel der erschrockenen Frau um den Hals.

„Anna! Meine liebe Anna! Mein Gott, wo kommst du denn auf einmal her?“, stammelte die Mutter und nahm dabei Annas Gesicht in beide Hände. Auf einmal stand der Vater daneben und lachte über das ganze Gesicht.

„Sieh an, unsere Novizin besucht uns! Ja, was treibt denn dich zu deinen Eltern nach Hause?“, fragte er lachend und nahm Anna in die Arme und drückte sie ganz fest und liebkosend an sich. Anna roch den bekannten Duft seines Tabaks und freute sich, wie gesund der Vater aussah. Dann gingen alle gemeinsam ins Haus.

„Ich habe gestern die dringend benötigten Kräuter ins Hospiz gebracht, Vater. Und da war der Umweg nicht allzu groß.“ Der Vater schüttelte dennoch missbilligend den Kopf.

„Und deswegen schicken sie dich junges Ding über den Pass um diese Jahreszeit! Das ist eine Schande! Die Herren Mönche sind sich wohl dafür zu schade?“, schimpfte er weiter. Die Mutter wehrte seine Tirade ab und schob ihm seine Schüssel zu.

„Nun sei doch froh, Melchior! Wenn sie nicht der Weg zum Hospiz geführt hätte, hätten wir sie sicher dieses Jahr überhaupt nicht mehr gesehen! Also höre auf zu schimpfen und iss mal schön!“

Im gleichen Moment öffnete sich die Tür und ein junger kräftiger junger Mann trat ein, schaute einen Augenblick ganz verdattert zum Tisch, um dann zu rufen: „Anna! Schwesterherz! Na wo kommst du denn auf einmal her? Du bist doch nicht etwa bei den Schwarzkitteln ausgerissen? Wundern würde mich das aber nicht!“ Und dann lagen sich die beiden auch schon in den Armen und herzten sich. Und Bruder Johannes sah seine Schwester aufmerksam an.

„Du bist aber dünn geworden, Schwester! Gibt es etwa bei euch so wenig zu essen? Du warst mal eine stramme Maid, hinter der alle Kerle im Tal her waren, jetzt siehst du aus wie eine dünne Bohnenstange!“, lachte er und schob seiner Schwester lachend sein Stück Brot zu.

„Hier iss dich satt du Bohnenstange!“ Die Mutter tadelte ihn wegen seiner Ausdrucksweise, doch Johannes lachte breit.

„Ach Mutter, wir ärgern uns doch immer, das weißt du doch noch, oder?“ Bauer Schwanten musterte seine Tochter von der Seite und brannte sich seine Pfeife an.

„Und? Wie ergeht es dir da oben auf dem heiligen Berg? Fühlst du dich wohl bei den Schwestern? Du scheinst mir etwas zu unruhig zu sein für eine künftige Nonne.“ Anna sah zu Boden und auf einmal traten ihr Tränen in die Augen. Maria Schwanten trat ihrem Mann unter dem Tisch auf den Fuß und schüttelte unmerklich den Kopf. Johannes kniff die Augen zusammen und nickte leicht.

„Ich glaube du hast es dir anders vorgestellt, stimmt`s?“, fragte Johannes seine Schwester. Da fuhr die Mutter unwirsch dazwischen.

„Nun hört doch schon auf! Ihr macht sie doch noch ganz unsicher! Der Herrgott wird sie sicher beschützen und sie wird ihren Weg schon gehen!“ Melchior Schwanten lachte kurz auf und schüttelte dann belustigt den Kopf.

„Als ob es den lieben Herrgott interessiert wie es uns hier unten auf Erden geht! Diese Gottesmänner schlagen sich die Bäuche voll Bier und wir sollen schön Fasten und Arbeiten! Deshalb sage ich, bist du Gottes Sohn, so hilf dir selbst!“ Die Bäuerin bekreuzigte sich rasch dreimal und schüttelte dabei entsetzt den Kopf.

„Melchior! Wie kannst du denn nur so gotteslästerlich im Angesicht einer künftigen Nonne reden! Schäme dich, Mann!“ Anna wischte sich die Tränen ab und sah dabei ihre Mutter flehend an, ehe sie zu sprechen begann.

„Mutter, liebe Mutter! Ich weiß wirklich nicht, ob dies meine Bestimmung ist! Gerne will ich doch den Menschen in ihrer Not helfen. Aber ein ganzes Leben lang hinter den Mauern eines Klosters zu verbringen, das ist für mich inzwischen eine furchtbare Vorstellung!“, brach es nun aus ihr heraus und sie weinte bitterliche Tränen. Da klatschte Vater Melchiors breite Hand laut auf die Tischplatte.

„Dann musst du zurückkommen, Tochter! Lieber heute noch als morgen! Deine Kräuter kannst du auch hier zubereiten. Ich habe es gleich gesagt, es war eine törichte Idee. Aber nein, ihr Weiber müsst ja euren Kopf durchsetzen! Eine aus der Familie muss unbedingt Nonne werden, so ein Unfug!“, donnerte er nun tatsächlich laut los. Maria Schwanten bekreuzigte sich wieder und war ganz blass im Gesicht.

„Melchior, du bist vom Satan besessen! Wie kannst du nur so wider dem Herrn reden! Er wird dich dafür strafen!“ Melchior Schwanten feixte breit, stand dann auf und setzte seinen Hut wieder auf den Kopf. Sich an der Tür kurz noch einmal umdrehend, meinte er dann sarkastisch:

„Ich bin doch schon gestraft, Frau! Der Herrgott hat mir eine Heilige ins Ehebett gesteckt, die mich dauernd piesackt!“, sprachs und verließ die Stube. Die Bäuerin sah ihre Tochter streng von der Seite an.

„Was man im Leben beginnt Kind, das muss man auch zu Ende führen! Du Anna bist auserwählt eine Braut des Herrn zu werden, vergiss das nicht! Was sollen der Herr Kaplan und die Leute im Dorf sagen, wenn du wieder zurückkommst?“ Johannes, der die ganze Zeit stumm dem Disput zugehört hatte schüttelte nun ebenfalls missbilligend den Kopf.

„Mutter! Was interessieren uns die Leute! Soll sie denn ihr ganzes Leben lang da oben verbringen? Ohne Freude, ohne Liebe, ohne lustig zu sein? Nie erfahren wie es ist, wenn sie ein Mann liebt? Das ist doch Frevel und wider der Natur!“ Er stand abrupt auf und sah seine Schwester bittend an.

„Komm Schwester, lass uns ein Stück hinausgehen und uns besprechen. So wie wir es früher oft getan haben.“ Und so liefen sie wenig später gemeinsam nebeneinander her, sich wie selbstverständlich an der Hand festhaltend und schwiegen sich aus. Bis Johannes stehen blieb und auf einem alten Holzstamm Platz nahm. Er sah seine Schwester von der Seite an.

„Anna, was sagt dir denn dein Herz? Denn nur das allein zählt! Immerzu reden alle dauernd von Gott, aber wo ist der denn? Warum lässt er dann soviel Leid zu? Der Herr Kaplan sagt, wir sollen duldsam und wie die Schafe Gottes sein. Und was passiert dann? Die Schafe werden geschoren und letztlich geschlachtet! Ich will aber kein Schaf sein, Schwester! Ich will leben, lieben und lachen, so wie ich es will!“

Anna hatte sich neben ihren Bruder gesetzt und sah hinauf zum Himmel, als ob dort die Antwort stehen würde.

„Ach Bruder! Du sprichst Dinge aus, die unsere Mutter Oberin zornig werden ließen. Das ist wider den Geboten! Der Mensch darf sich nicht über Gott stellen!“ Johannes schüttelte den Kopf.

„Aber ist es denn gerecht, wenn die Herren drüben in der Burg und oben bei dir auf dem Berg völlern und sich an unsrem Eigentum mästen? Und zum Dank treten sie uns noch mit Füßen! Ist das Gottes Wille, Anna? Das kann ich mir nicht vorstellen, dass er so ungerecht ist, dieser unser Gott!“ Er zog seine Schwester vertrauensvoll am Ärmel zu sich herüber und legte den Arm um ihre Schultern.

„Was willst du denn nun tun, Schwesterherz?“ Doch noch ehe Anna antworten konnte, hörten sie plötzlich das laute Zetern eines alten Weibes, das mit einem Korb voller Reisig den Weg entlang kam und losgeiferte.

„Unzüchtige Brut! Ihr seid vom Satan besessen! Eine Nonne wälzt sich mit einem Bauernburschen im Gras! Das ist Sodom und Gomorrha, das muss sofort der Herr Kaplan erfahren!“, keifte sie und wackelte eiligst den Berghang hinab. Doch plötzlich bückte sie sich, und warf einen Stein auf die beiden Geschwister, der diese nur knapp verfehlte. Dabei fiel ihr beim Bücken die Hälfte des Reisigs aus dem Korb. Als Johannes aufstand und es aufheben wollte um es ihr wieder in den Korb zu packen, lief die Alte schreiend wie von Furien gehetzt den Weg hinab. Johannes wollte sich ausschütten vor Lachen und konnte sich kaum wieder beruhigen. Aber Anna stand plötzlich da wie erstarrt. Dann flüsterte sie:

„Sie wird es dem Kaplan erzählen, und der wird es dem Abt erzählen, und dieser der Äbtissin! Meine Strafe wird hart sein, Bruder Johannes. Ich werde nie wieder herüber zum Hospiz kommen dürfen!“ Johannes aber stampfte wütend mit dem Fuß auf und schrie Anna auf einmal wütend an.

„Dann bleibe bei uns und gehe nicht zurück! Wir haben doch nichts verbrochen! Du bist meine Schwester, zum Donnerwetter noch mal!“ Anna schüttelte den Kopf.

„Darum geht es doch nicht, Johannes! Sie sollten es doch nie erfahren, dass ich in der Probezeit zu Hause gewesen bin! Das ist einer Novizin streng verboten! Nun ist alles aus!“ Sie sank zu Boden und weinte bitterlich. Johannes zog seine Schwester wieder resolut auf die Füße.

„Steh auf Anna! Nichts ist aus, Schwester! Ich werde jetzt sofort mit dem Kaplan reden und ihm alles erklären. Also beruhige dich, und jetzt gehen wir wieder nach Hause zurück.“ Dankbar lehnte sich Anna beim Gehen an ihren Bruder und dachte darüber nach, wie schön es wäre, wenn sie immer so zusammen sein könnten. Die Arbeit auf dem Hof hatte ihr Spaß gemacht. Voller Liebe hatte sie sich um all die Tiere gekümmert, hatte mit den Eltern Heu gemacht, und dann im Winter mit der Mutter die Schafswolle gesponnen, und es hatte ihr an nichts gemangelt. Ihr Leben war bis dahin schön und voller Fröhlichkeit gewesen. Sie erinnerte sich an den Tanz zur Sonnenwende oder zum Erntedankfest. Und jetzt? Jetzt war das Leben freudlos, trist und ohne Lachen. Tagein, tagaus, hieß es nur beten und arbeiten!

Die fahle Septembersonne war gerade über die Gipfel der Berge aufgestiegen, als Anna sich schon wieder auf den Weg zum Kloster begab. Der Vater sah ihr noch sinnend hinterdrein, ehe er noch einen besorgten Blick hinauf zum Himmel schickte. Anna drehte sich noch einmal um und winkte ihm lachend zu. Dann schritt sie kräftig aus.

Schon wenig später verschleierten graue Wolken den Blick auf die Sonne. Fahles bleiches Licht bedeckte die Bergwelt und die ersten Flocken tanzten in der Luft.

„Sie läuft mitten hinein in das Unwetter“, brummte der Bauer besorgt. Doch er vertraute seiner Tochter die hier oben in den Bergen aufgewachsen war und sich auskannte. Wenn sie schlau war, kehrte sie vorerst im Hospiz ein, ehe sie weiter lief und wartet dort das Unwetter ab.

„Ich hätte ihr Johannes mitgeben sollen“, sinnierte er, wandte sich dann aber ab und ging in den Stall, denn die Kühe mussten gemolken werden und waren schon unruhig.

Als Anna den Abzweig zum Hospiz erreichte, kam ihr ein kleiner zerzauster Bub entgegen. Sie hielt ihn an.

„Bringst du bitte diese Flasche dem Bruder Bernhard im Hospiz und sagst ihm schöne Grüße von Schwester Anna?“ Der Bub nickte und strahlte, als ihm Anna eine Süßigkeit in die Hand drückte. Dann lief er los und winkte Anna noch einmal fröhlich lachend zu.

Sie schritt kräftig aus und erreichte schon wenig später den Steig, der hinauf zum Pass führte. Das Hospiz hatte sie trotz des Wetters doch linker Hand liegen gelassen, um nun den ausgewaschenen Weg hinauf auf den Pass in Angriff zu nehmen. Doch der Schneefall war dichter geworden. Die zuerst kleinen schwebenden Flöckchen wurden abgelöst von großen dicken schweren Flocken.

Anna hielt einen Moment inne und sah sich um. Aber ihr Blick reichte keine zehn Schritte mehr weit. Den Blick starr auf den Boden geheftet, schritt sie weiter. Noch konnte sie den Weg sehen den sie nehmen musste. Doch wenn erst der Schnee alles zugedeckt hatte war es beinahe aussichtslos, sich zurecht zu finden. Unruhe stieg in ihr auf. Wäre es nicht besser gewesen erst im Hospiz einzukehren und dort das Unwetter abzuwarten?

Zumal nun auch noch der kalte Wind aufkam. Dieser ließ die Flocken beinahe waagerecht dahinfliegen. Doch Anna versuchte sich an den schemenhaften Felsenformationen zu orientieren durch die sie gerade schritt. Irgendwo musste sie nach links abbiegen, sonst lief sie geradewegs auf eine steile Abbruchkante zu!

Sie begann ein Lied zu singen um sich Mut zu machen, doch gleichzeitig musste sie sich eingestehen, dass es wohl unmöglich war, weiter zu gehen. Sie blieb kurz stehen und tastete dann mit dem langen Wanderstock den Weg ab. Unversehens stand sie vor einer riesigen Felswand, in die ein schmaler Gang hinein führte. Sie erinnerte sich dunkel daran, dass sie auf dem Herweg daran vorbei gelaufen war.

Kurz entschlossen ging sie leicht gebückt in den engen Gang hinein und erreichte alsbald eine kleine dunkle Höhle. Der liebe Herrgott hatte ihr einen Unterschlupf gewährt und sie bedankte sich artig bei ihm dafür. Dann setzte sie sich auf einen trockenen Stein und ruhte sich aus. Notfalls musste sie eben hier drinnen warten bis dieses Unwetter vorbei war. Die Mutter hatte ihr vorsorglich eine kleine Wegzehrung eingepackt. Aber ohne Feuer würde es hier oben in der Nacht schnell sehr kalt werden.

Sie stand wieder auf und trippelte umher um sich ein wenig zu erwärmen. Dabei begann sie wieder zu singen, alles was ihr gerade einfiel. Besonders angetan hatte ihr aber das Ave Maria, dass sie schon vergangenes Weihnachten zur Messe an Heiligabend in der Klosterkirche zur Freude aller Schwestern und Mönche gesungen hatte. Und während sie das Lied anstimmte, lief Anna langsam hinaus aus der Höhle, um nachzusehen wie das Wetter war. Aber immer noch fielen dicke Flocken, nur der Sturm hatte nach-gelassen. Und als wenn sie gegen dieses Unwetter mit aller Kraft ansingen müsste, erhob Anna ihre Stimme und sang nun, in Mitten des Flockenwirbels stehend, noch lauter als vorher. Der Wind wehte ihr die Worte von den Lippen.

Schwester Johanna hatte bereits am Vorabend vergebens auf Annas Rückkehr gewartet. Unruhig geworden, war sie nach der Morgenmesse zur Oberin gelaufen. Die hatte sich angehört was die alte Nonne vortrug, dann hatte sie Schwester Agneta zum Tor geschickt, um dort zu läuten. Kurz darauf war auch schon Bruder Anton erschienen. Schwester Agneta hatte ihm aufgetragen, dem ehrwürdigen Abt auszurichten, dass er einen Bruder hinauf zum Pass schicken sollte, um die Novizin Anna zu suchen.

Keine halbe Stunde später war Bruder Anton selbst mit der Sennenhündin „Heidi“ aufgebrochen. Im immer noch dichter werdenden Schneetreiben bahnte sich die Hündin zielstrebig ihren Weg. Heidi trabte, die Nase dicht auf dem Boden, mit ziemlichem Tempo den Berg hinauf. Offenbar machte es ihr Spaß wieder einmal in der Natur zu sein. Bruder Anton hatte einen Sack mit zwei Decken, einer Brotzeit, einem kräftigen Schnaps und einer Laterne bei sich. Er kam ordentlich ins Schwitzen, weil die Hündin sich immer wieder bellend nach ihm umschaute, als wollte sie ihn zum schnelleren Laufen auffordern.

Inzwischen war es schon am späten Nachmittag als beide die Passhöhe erreichten. Von Anna aber war weit und breit nichts zu sehen wegen des dichten Schneefalles. Anton bekam langsam Angst, dass er Anna vielleicht doch nicht finden würde. Vielleicht war sie ja aber auf Grund des Unwetters erst gar nicht losgelaufen? Heftig prustend und schwitzend blieb er nur einen kurzen Moment stehen, um zu verschnaufen. Heidi jaulte leise und stupste ihn mit ihrer warmen Schnauze an, als wollte sie ihn zum Weitergehen ermuntern. Ganz plötzlich aber lauschte Anton angestrengt in das Schneegestöber hinein. Sang da nicht jemand? Die Hündin wurde ebenfalls unruhig und trippelte erst hin und her, dann begann sie zu bellen. Anton schalt sie ruhig zu sein. Und wieder hörte er eine helle Stimme singen. Mein Gott, waren das die Berggeister? Zitternd vor Furcht war Anton schon drauf und dran wieder umzukehren. Doch die Heidi bellte erneut und rannte dann einfach los, so das Anton ihr unweigerlich folgen musste, wenn er sie nicht verlieren wollte.

Anna hatte gerade die letzten Töne des Ave Maria beendet als sie Hundegebell hörte. Sie formte die Hände zu einem Trichter und rief so laut sie konnte „Hallo! Hallo!“ Und plötzlich tauchte aus dem Flockenwirbel ein großer gefleckter weißbrauner Hund auf und bellte sie unversehens schwanzwedelnd an. Kurz darauf kam auch schon Bruder Anton überglücklich auf sie zugelaufen.

„Schwester Anna! Da seid ihr ja!“, rief er außer Atem. Beinahe automatisch breitete sie die Arme aus und fing den heranstürmenden jungen Mann mit ihren Armen auf. Einen Augenblick presste er sie ganz fest an sich und Anna ließ es geschehen, froh darüber endlich gerettet zu sein. Verschämt ließ er Anna schnell wieder los.

„Ihr habt mich gesucht, Bruder Anton? Ich war schon ganz verzweifelt und dachte, ich muss die ganze Nacht hier oben verbringen!“, sprudelte Anna freudig erregt heraus. Bruder Anton sah besorgt zum Himmel hinauf. Denn in den letzten Minuten war das neblige Grau in Grau gewichen, dafür aber begann wieder ein heftiger Wind zu blasen, der die Flocken wie kleine Geschosse waagerecht durch die Luft fliegen lies.

„Wir müssen schnell loslaufen, Schwester Anna! Wenn der Sturm noch stärker wird, kommen wir hier oben nicht mehr weg!“, schrie er gegen den orgelnden Sturm an. Er nahm ein Seil, um es Anna um die Hüften zu schlingen. Dann nahm er ihr Bündel zu dem seinen auf den Rücken und dann stapften sie gemeinsam los. Mühsam mussten sie nun gegen den Sturm ankämpfen und kamen nur langsam vorwärts. Heidi lief wenige Schritte vor ihnen und bellte immer wieder mit ihrer kräftigen dunklen Stimme, als wollte sie die beiden Menschen auffordern, schneller zu gehen. Anna war klar, dass sie ohne die Hündin Heidi schon längst verloren gewesen wären. Heidi schnupperte immer wieder am Boden und lief dann weiter.

Inzwischen begann es schon zu dämmern und noch immer war kein Ziel in Sicht. Anna ließ sich völlig erschöpft zu Boden gleiten um ein wenig auszuruhen. Doch der Bruder Anton versuchte sie wieder hoch zu zerren und war ganz verzweifelt.

„Steht bitte auf, Schwester Anna! Steht doch auf! Wenn ihr hier sitzen bleibt erfriert ihr doch!“, schrie er verzweifelt gegen den Sturm an, umfasste Anna unter den Achseln und versuchte sie wieder hochzuziehen. Doch sein Körper, durch den Marsch geschwächt, verweigerte ihm die Kraft die er brauchte, um Anna wieder auf die Füße zu ziehen. Und so setzte er sich neben die Novizin in den Schnee, umfasste sie dann mit beiden Armen und legte eine Decke über sich und Anna. Die Hündin begann wütend zu bellen und sprang um beide herum. Doch als die Beiden sich nicht bewegten, legte sie sich eng an die Körper der Menschen. Ihre warme Zunge fuhr über Annas und Bruder Antons Gesicht, dann legte sie ihren zottigen Kopf auf Annas Schoß und sah sie traurig mit ihren großen braunen Augen an.

Sie wussten nicht mehr wie lange sie so dagesessen hatten, und es war schon dunkel, als plötzlich gedämpfte Stimmen zu hören waren und Laternen in der Dunkelheit sichtbar wurden.

Als Anton bei Anbruch der Dunkelheit immer noch nicht zurück war, hatte der Abt noch drei Mönche auf die Suche geschickt.

Bruder Anton stand mühsam auf und schüttelte den Schnee ab. Um ein Haar wäre er eingeschlafen, und so kamen die Mitbrüder gerade noch rechtzeitig, um ein Unglück zu verhindern. Sie hatten warmen Tee und etwas Brot dabei. Nach einer kurzen Brotzeit fühlte sich Anna wieder wohler und so brachen sie auf. Nur mit halbem Ohr dem Gespräch der Brüder zuhörend nahm sie war, dass wohl im Kloster ein Unglück geschehen sein musste. Doch Anna hatte mit sich selbst zu tun, um gegen den inzwischen abflauenden Wind anzukämpfen.

Nach zwei weiteren Stunden Weg konnten sie endlich ins Tal absteigen und erreichten dann wenig später erschöpft das Kloster. Bruder Anton übergab Anna am Tor einer jungen Novizin, die erst am Vortage ins Kloster gekommen war. Diese führte Anna zuerst in die Küche zu Schwester Johanna. Erschöpft ließ sich Anna auf die Holzbank sinken, um dann die Kleidung ein wenig zu öffnen. Schwester Johanna hatte ihr heißen Tee und einen Teller Suppe hingestellt. Dann setzte sie sich neben die Novizin und sah sie mitfühlend an.