Neoliberalismus - Jurgen Reinhoudt - E-Book

Neoliberalismus E-Book

Jurgen Reinhoudt

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Beschreibung

Sommer 1938: Knapp zehn Jahre nach dem Börsencrash an der Wall Street und dem Einsetzen der New-Deal-Politik ist der wirtschaftliche Liberalismus auf dem Rückzug. In der Sowjetunion, Deutschland und Italien hält der Faschismus Einzug. Angesichts dieser geopolitischen Lage lädt der französische Philosoph Louis Rougier 26 Ökonomen, Soziologen, Philosophen und Juristen zu einem Kolloquium nach Paris ein. Darunter auch Walter Lippmann, der gerade sein Werk "The Good Society" vorgelegt hatte, in welchem er die These aufstellt, dass die Marktwirtschaft gerade nicht das spontane Ergebnis einer natürlichen Ordnung sei, sondern Ergebnis einer Rechtsordnung, die das Eingreifen des Staates voraussetze. Steht ein neoliberales Denken also für ein Mehr oder ein Weniger an staatlichem Eingreifen? Die Teilnehmer des Walter-Lippmann-Kolloquiums sind mit der schillernden Unklarheit des Begriffs konfrontiert. Dennoch markiert ihr Zusammentreffen die Geburtsstunde einer geistigen Bewegung, die den weltweiten ökonomischen Diskurs entscheidend mitprägen wird. Der amerikanische Politologe Jurgen Reinhoudt und der französische Soziologe Serge Audier haben die Transkription der relevanten Passagen des Walter-Lippmann-Kolloquiums in einen wissenschaftlich kontextualisierten Rahmen gestellt und stellen damit sicher, diese einzigartig vielschichtige Begriffsgeschichte nachvollziehbar und jedem zugänglich zu machen, der den heutigen Diskurs mit dem adäquaten Instrumentarium gestalten will. Erstmals erscheint Reinhoudts und Audiers Werk nun in deutscher Übersetzung. Neben den Originalbeiträgen bietet "Neoliberalismus. Wie alles anfing: Das Walter-Lippmann-Kolloquium" seinen Lesern hilfreiche Kommentare und Erläuterungen, einen Einblick in den historischen Kontext der Veranstaltung und Hintergründe zu allen Teilnehmern.

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Serge Audier Jurgen Reinhoudt

NEOLIBERALISMUS

Wie alles anfing: Das Walter Lippmann Kolloquium

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Hein

Inhalt

Teil I

Kapitel 1 | Einleitung

Die Entdeckung eines wesentlichen Dokuments der Geschichte des »Neoliberalismus«

Das Walter-Lippmann-Kolloquium: eine heterogene Versammlung von »Liberalen«

Der Anspruch, mit Lippmann den Liberalismus zu revidieren

Was ist neu am »Neoliberalismus«?

Was ist ein Name?

»Der Mensch der Leidenschaft«

Die soziologische Kritik von Röpke und Rüstow

Pluralismus und der Staat

Die Verantwortung des Staates

Die Schlüsselfrage des frühen neoliberalen Denkens

Fazit: Die Schwierigkeiten der Interpretation

Kapitel 2 | Teilnehmer des Kolloquiums

Weitere Eingeladene

Teil IIÜbersetzung des Walter-Lippmann-Kolloquiums

Kapitel 3 | Vorwort und Vorträge zur Eröffnung des Walter-Lippmann-Kolloquiums

Vorwort von Louis Rougier

Tagungsprogramm des Lippmann-Kolloquiums

Liste der Teilnehmer am Walter-Lippmann-Kolloquium

Das Walter-Lippmann-Kolloquium

Ansprache von Professor Louis Rougier

Ansprache von Walter Lippmann

Diskussion

Kapitel 4 | Hat der Niedergang des Liberalismus endogene Ursachen?

Samstag, 27. August: Vormittagssitzung

Kapitel 5 | Liberalismus und Kriegswirtschaft

Samstag, 27. August: Nachmittagssitzung

Kapitel 6 | Liberalismus und ökonomischer Nationalismus

Sonntag, 28. August: Vormittagssitzung

Kapitel 7 | Liberalismus und die soziale Frage

Sonntag, 28. August: Nachmittagssitzung

Kapitel 8 | Psychologische und soziologische Ursachen, politische und ideologische Ursachen für den Niedergang des Liberalismus

Montag, 29. August: Vormittags- und Nachmittagssitzung

Kapitel 9 | Die Agenda des Liberalismus

Dienstag, 30. August: Vormittagssitzung

Kapitel 10 | Die theoretischen und praktischen Probleme einer Rückkehr zum Liberalismus

Dienstag, 30. August: Nachmittagssitzung

Dank

Literaturverzeichnis

Quellen

Sekundärliteratur

Sachregister

Personenregister

Impressum

Teil I

Kapitel 1Einleitung

Obwohl in den letzten Jahrzehnten häufig gebraucht, ist die analytische Bedeutung des Begriffs »Neoliberalismus« noch immer mit vielen Unklarheiten verbunden.1 Das im Jahr 1938 veranstaltete Walter-Lippmann-Kolloquium, in theoretischer Hinsicht der Ursprung des Neoliberalismus, ist in jüngster Zeit zum Gegenstand des Interesses geworden.2 Aber wenngleich Wissenschaftler die Bedeutung des Kolloquiums bereitwillig anerkennen, ist über diese wichtige Primärquelle noch relativ wenig geschrieben worden, insbesondere in der englischsprachigen Forschung.3 So hat der französische liberale Ökonom François Bilger in seiner 1964 veröffentlichten Studie des deutschen Ordoliberalismus die Bedeutung des Lippmann-Kolloquiums zwar hervorgehoben, diesen Punkt aber nicht weiter ausgeführt.4 Dreißig Jahre später hat Richard Cockett, der englische Historiker der Thatcher-Revolution, das Lippmann-Kolloquium lediglich in einer kurzen Bemerkung erwähnt.5 Und auch dem liberalen Kapitalismus-Historiker Max Hartwell, seines Zeichens Mitglied der Mont Pèlerin Society, auf dessen Arbeiten sich Cockett – trotz seiner ganz anders gearteten politischen Überzeugungen – bezieht, war das Lippmann-Kolloquium nur eine kurze Erwähnung wert: Er konzentriert sich auf die Geschichte der Mont Pèlerin Society nach dem Zweiten Weltkrieg.6 Schließlich haben Vivien Schmidt und Mark Thatcher in ihrer Studie zum liberalen Denken in Europa vom Lippmann-Kolloquium ebenfalls nur en passant Notiz genommen.7 So ist die Relevanz des Lippmann-Kolloquiums durchaus seit geraumer Zeit bekannt, doch kaum gewürdigt worden. Denn keiner der genannten, in ihren Auffassungen divergierenden Autoren gibt eine umfassende Darstellung oder Analyse des Kolloquiums, ganz so, als sei dessen Bedeutung offenkundig und als stelle das Kolloquium nur einen – in den Augen der einen verhängnisvollen, nach anderer Ansicht segensreichen – Schritt auf dem Weg zur Mont Pèlerin Society und dem Triumph des »Neoliberalismus« in den 1970er- und 1980er-Jahren dar.

Die Entdeckung eines wesentlichen Dokuments der Geschichte des »Neoliberalismus«

Sogar der Begriff »Neoliberalismus« ist jedoch bei Weitem nicht klar, wie die Analyse des Lippmann-Kolloquiums zeigt. Tatsächlich hat er eine verwickelte Geschichte. Von den 1930er-Jahren bis in die 1950er-Jahre unterschieden unter anderem die beiden französischen Ökonomen Alain Barrère und Gaëtan Pirou – zwei bedeutende und sich ausdrücklich vom klassischen Liberalismus distanzierende Vertreter der französischen Wirtschaftswissenschaften – in ihren historischen Darstellungen des ökonomischen Denkens den »Neoliberalismus« vom »Laissez-faire«-Liberalismus des 19. Jahrhunderts.8 Der deutsche Politologe Carl Friedrich wiederum gebrauchte die Bezeichnung »Neoliberalismus« in Bezug auf die ordoliberalen Wirtschaftstheoretiker in Deutschland.9 In den 1970er-Jahren wurde der Begriff »Neoliberalismus« verschiedentlich verwendet, zum Beispiel von den »neuen Ökonomen« in Frankreich, um die Ideen Friedrich August von Hayeks und Milton Friedmans zu verbreiten,10 und in der Folge dann von Michel Foucault in seinen Vorlesungen über den Ursprung der »Bio-Macht«,11 aber ungefähr zur gleichen Zeit ebenso von einem führenden Politiker der französischen Sozialisten, Jean-Pierre Chevènement.12 Ebenfalls seit den 1970er-Jahren sind die »Rational Choice«-Modelle Gary Beckers13 sowie die von Gordon Tullock und James Buchanan entwickelte »Public Choice«-Theorie gelegentlich mit dem Begriff »Neoliberalismus« in Verbindung gebracht worden. Und in Lateinamerika gewann die Bezeichnung »Neoliberalismus« nach dem Putsch in Chile und der Betätigung der »Chicago Boys« 14 zunehmend, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, an Verbreitung.

In den 1980er- und mehr noch in den 1990er-Jahren wurde »Neoliberalismus« dann zu einem allgemein geläufigen Begriff. Die Wahlerfolge von Margaret Thatcher und Ronald Reagan und die anschließende Durchsetzung ihrer wirtschaftspolitischen Programme in Form von Deregulierung, Steuersenkungen und (vor allem im Fall Thatcher) der Privatisierung von Staatsunternehmen führten dazu, dass der Begriff »Neoliberalismus« praktisch mit diesen politischen Programmen identifiziert wurde.15 In den 1990er-Jahren erfuhr der Begriff noch weitere Verbreitung, insbesondere im Zusammenhang mit dem wachsenden Welthandel und dem »Konsens von Washington«, dem Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank folgten, allerdings beinahe durchweg in kritischer Weise.16 Als die Bezeichnung »Neoliberalismus« in den 1980er- und 1990er-Jahren zunehmend in Gebrauch kam, war die Frühgeschichte dieser Bewegung mit ihren Komplexitäten und Nuancen weitgehend vergessen, selbst unter den Verfechtern einer sogenannten neoliberalen Politik, die diese Bezeichnung im Allgemeinen aber gar nicht für sich in Anspruch nahmen.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts blieb »Neoliberalismus« ein oft verwendeter Begriff. So argumentierte der Geograf und marxistische Denker David Harvey 2005, »überall in der wirtschaftspolitischen Praxis wie im wirtschaftspolitischen Denken hat es seit den 1970er-Jahren eine bewusste Kehrtwende zum Neoliberalismus gegeben«.17 Im Jahr 2010 befanden Manfred Steger und Ravi Roy, der Neoliberalismus sei »ein eher umfassender und allgemeiner Begriff, der auf ein ökonomisches Modell oder ›Paradigma‹ verweist, das in den 1980er-Jahren Bekanntheit erlangte.« 18 In jüngster Zeit ist der Begriff dann mehr und mehr in Form der Kritik benutzt worden.19 Nach der Finanzkrise von 2007 hat der »Neoliberalismus« erneut Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wiederum meist unter einem kritischen Gesichtspunkt.20 Oft wird Neoliberalismus dabei als synonym mit einer ungezügelten Laissez-faire-Politik angesehen, die mit Deregulierung und Liberalisierung der Märkte einhergehe. Aber der Begriff ist durchaus auch anders verstanden worden. Gerade als Reaktion auf die Debatten über die Eigenart des »Neoliberalismus« des europäischen Einigungsprozesses seit den 1990er-Jahren haben Theorien vom »starken Staat«, der über den gesellschaftlichen Interessengruppen steht und das Funktionieren der Marktordnung sicherstellt, im Kontext des frühen neoliberalen Denkens neues Interesse gefunden.21 Tatsächlich ist es nicht klar, ob »Neoliberalismus« für den »Rückzug« des Staates aus dem Wirtschaftsleben steht oder im Gegenteil für eine Stärkung der staatlichen Rolle als Garant des Wettbewerbs auf dem Markt. Diese Zweideutigkeiten sind ein Grund mehr, sich den Wurzeln des »Neoliberalismus« zuzuwenden.

Als Primärquelle bleibt das Kolloquium von 1938 wichtig, weil es die offizielle Geburtsstunde des Neoliberalismus als geistige Bewegung markiert. Da die Mitschrift des Lippmann-Kolloquiums nicht leicht zugänglich ist, war in der Vergangenheit die Kenntnis darüber meist aus zweiter Hand.22 Einige der Diskussionsbeiträge wurden nicht mitgeschrieben, wodurch diese Primärquelle unvollständig ist. Und es gibt auch keine Tonbandaufzeichnung, die als unabhängige Aufzeichnung des Kolloquiums dienen könnte. Hingegen gibt es eine Textversion des Lippmann-Kolloquiums, die vermutlich von Louis Rougier, als dem Veranstalter, selbst hergestellt worden ist, und dieser Text stellt eine Quelle von unschätzbarer Bedeutung für ein Verständnis der Ursprünge des Neoliberalismus dar. Da Historiker, politische Theoretiker und Philosophen nicht müde werden, die Geschichte des Begriffs »Neoliberalismus« und dessen Bedeutung zu diskutieren, ist es sicherlich hilfreich, dem Kolloquium unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden, auf dem die Bewegung offiziell ihren Anfang nahm.

Das Walter-Lippmann-Kolloquium: eine heterogene Versammlung von »Liberalen«

Als Ideengebäude wie auch als Netzwerk von Gelehrten und Forschern hatte der »Neoliberalismus« seinen Ursprung in einem Kolloquium, das vom 26. bis 30. August 1938 in Paris abgehalten wurde. Das bedeutet nicht, dass es nicht zuvor schon »neoliberale« Ideen oder Thesen gegeben hätte. Es bedeutet, dass der Neoliberalismus als geistige Bewegung 1938 eine Geschlossenheit annahm (ungeachtet ihrer tiefen inneren Heterogenität, wie wir noch sehen werden), die ihm bis dahin gefehlt hatte, sowie einen offiziellen (wenn auch umstrittenen) Namen. Vielleicht hatte der Wissenschaftsphilosoph und Epistemologe Louis Rougier als Veranstalter des Kolloquiums und Organisator der »neoliberalen« Bewegung dabei an den ihm vertrauten Begriff »Neopositivismus« gedacht.23 Rougier war ein Mitglied des Wiener Kreises, der als einer von wenigen die analytische Philosophie in Frankreich bekannt gemacht hatte.24 Im Jahr 1935 hatte er an den Pariser Sorbonne den großen, bahnbrechenden Internationalen Kongress für wissenschaftliche Philosophie organisiert und dabei, in Anwesenheit der bedeutendsten Philosophen des Logischen Empirismus und der Epistemologie, sowohl den Einführungs- als auch den Abschlussvortrag gehalten.25 Aber auch der ideologische und der politische Kontext werden bei der Namensgebung eine Rolle gespielt haben. Dabei sollte man sich in Erinnerung rufen, dass die Bezeichnung »Neoliberalismus« damals mit Bezug auf eine andere Gedankenströmung, den »Neosozialismus«, aufkam. In den 1920er-Jahren war »Neo« ein Trend der Zeit: Neosyndikalismus, Neo-Saint-Simonismus, Neokapitalismus und so weiter. Aber die berühmteste Neo-Verknüpfung, und gewiss auch diejenige, die sich in Rougiers Kopf festgesetzt hatte, war der »Neosozialismus«, eine von der offiziellen Linie der Französischen Sozialistischen Partei (SFIO) abweichende Strömung, die den Marxismus zu überwinden suchte, indem sie eine neue Art von »Planung« propagierte, die sich an den Ideen des belgischen Sozialisten Henri de Man orientierte. Aus Rougiers Schriften wissen wir, dass er mit dieser Strömung vertraut war. Und genau wie die französischen »Neosozialisten« in den 1930er-Jahren den alten Sozialismus zu reformieren suchten, indem sie ihn im Sinne der neuen Herausforderungen der Zeit modifizierten und »erneuerten« – was hieß, sich mit der aktuellen Bedeutung der »Rationalisierung« im Wirtschaftsgeschehen, der Schlüsselrolle der Mittelschichten und der Stellung von Autorität und Nation angesichts der faschistischen Bedrohung auseinanderzusetzen –, suchten die »Neoliberalen«, den Liberalismus kritisch zu überprüfen und zu erneuern.

Das Wort erscheint also im Kontext einer ernsten Krise: der Krise des Kapitalismus, also dem Börsencrash an der Wall Street 1929 und der anschließenden Weltwirtschaftskrise, und der durch den Aufstieg der totalitären Regime ausgelösten politischen Krise.26 In diesem Kontext nun wurde die Bezeichnung »Neoliberalismus«, lange vor Rougier, von Pierre-Etienne Flandin lanciert, einem französischen Politiker der konservativen Rechten. »Ich sage ›Neoliberalismus‹, weil es richtig ist, dass die alte, traditionelle liberale Wirtschaftsordnung reformiert werden muss«, argumentierte Flandin 1933, »und sei es nur als Antwort auf den Wandel, den die Produktionsverfahren und die Organisation des internationalen Handels erfahren haben.« 27 Die Bezeichnung »Neoliberalismus« wurde dann 1934 von dem Nationalökonomen Gaëtan Pirou – der zur Überwindung der Krise ganz entschieden für neue Formen sozialer und wirtschaftlicher Interventionen plädierte – aufgegriffen, als er von »einem Versuch, die liberale Lehre zu erneuern«, sprach.28 Und die Bezeichnung wurde, mit abwertender Intention, auch von einigen Sozialisten benutzt, so von Marcel Déat, einem der bedeutendsten Theoretiker und Aktivisten des »Neosozialismus«, der 1937 den »Tod des Liberalismus« verkündet hatte. Déat warf Léon Blum und dessen Volksfront-Regierung vor, nach einem Kompromiss zwischen sozialem Interventionismus und Liberalismus zu suchen, der seiner Auffassung nach Gefahr lief, einem »Neoliberalismus das Wort zu reden« und damit die linken Wähler der Volksfront zu verprellen.29

Ungefähr zu dieser Zeit hatte Louis Rougier, selbst politisch konservativ eingestellt und ein elitärer Theoretiker der Demokratie, mit großem Interesse das 1937 erschienene Buch The Good Society von Walter Lippmann gelesen. Rougier war der Ansicht, dass Lippmanns Buch »darlegt, dass die Marktwirtschaft nicht, wie viele klassische Ökonomen geglaubt hatten, das spontane Ergebnis einer natürlichen Ordnung ist, sondern das Ergebnis einer Rechtsordnung, die den Eingriff des Staates voraussetzt«.30

Diese Entwicklungen entfalteten sich, wie wir gesehen haben, in einem für den Liberalismus höchst ungünstigen Umfeld. Viele hielten ihn für »tot« seit der Krise von 1929, dem Einsetzen der New Deal-Politik und den verschiedenen Experimenten mit korporatistischen Ordnungen, nicht zu vergessen auch das Modell der »Fünfjahrespläne« in der Sowjetunion, an dem viele Intellektuelle im Westen Gefallen fanden, weil es eine Alternative zum todgeweihten Kapitalismus zu bieten schien. Und nicht nur der wirtschaftliche Liberalismus war auf dem Rückzug: Beinahe überall sah sich der politische Liberalismus bedroht, und in Josef Stalins Sowjetunion, dem faschistischen Italien und NS-Deutschland wie auch in Portugal, Spanien und vielen Ländern Osteuropas wie zum Beispiel Rumänien wurde er in der einen oder anderen Form sogar ausgeschaltet. Das Lippmann-Kolloquium fand fast genau ein Jahr vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs statt, weniger als ein halbes Jahr nach dem »Anschluss« Österreichs und einen Monat vor dem Münchner Abkommen; und einige der deutschen und österreichischen Teilnehmer, wie Ludwig von Mises, waren zu diesem Zeitpunkt vom NS-Regime verfolgte Exilanten, die angesichts der totalitären Gefahr und des drohenden Krieges um ihr Leben fürchten mussten.

Dieser tragische Kontext wirft ein Licht auf die Art und Weise, in der sich zu diesem Zeitpunkt besonders isoliert, zerstreut und machtlos scheinende »Liberale« auf Anregung von Louis Rougier versammelten, um den Liberalismus zu verteidigen und zu erneuern. Auf Einladung Rougiers trafen sich also im August 1938 insgesamt 26 Nationalökonomen, Philosophen, Soziologen, Staatsbeamte, Unternehmensleiter und Juristen, um The Good Society zu diskutieren. Lippmann, der mit seinem Buch ein breites Publikum erreicht hatte, verteidigte darin den wirtschaftlichen wie den politischen Liberalismus angesichts des weltweiten Aufkommens von Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus, allesamt illiberale, antiparlamentarische Bewegungen, die in mehr oder weniger großem Maß auf Planwirtschaft und, im Hinblick auf eine künftige Kriegswirtschaft, verstärkter Autarkie fußten. Auch in den Vereinigten Staaten löste das Buch Diskussionen aus, hatte sein Verfasser doch den New Deal kritisiert, obgleich er als Vertreter eines »progressiven Denkens« 1932 die Kandidatur von Franklin D. Roosevelt gegen Herbert Hoover unterstützt hatte. Angesichts der drohenden Kriegsgefahr schien Lippmann eine Lenkung der Wirtschaft in jeglicher Form abzulehnen (auch wenn sein Standpunkt tatsächlich differenzierter war, wie eine genauere Lektüre seines Buches zeigt).31 Auch in Frankreich fand Lippmanns Buch in konservativen Kreisen viel Lob, und man beschloss, es übersetzen zu lassen. Dazu wurde der Pariser Verlag Librairie de Médicis gewonnen, dessen eindeutig konservative Ausrichtung von Rougier in der Folge genutzt wurde, um dort dem »Neoliberalismus« ein Zuhause zu geben und, in gewissem Sinne, die Führung der Reaktion gegen die Volksfrontregierung zu übernehmen. Zahlreiche Originalausgaben und Übersetzungen von Büchern liberaler Autoren erschienen dort Ende der 1930er-Jahre auch in der Absicht, die öffentliche Debatte, die staatliche Politik und das geistige Klima zu beeinflussen.

Die Veranstaltung des Walter-Lippmann-Kolloquiums war mindestens zum Teil dem Zufall geschuldet, auch wenn es einem politischen und geistigen Bedürfnis entsprach. Als Rougier erfuhr, dass Lippmann auf einer Reise durch Europa in Paris Station machen wollte, hatte er zunächst geplant, einige Interessierte zu einem Abendessen zusammenzubringen, woraus dann letztlich das Kolloquium wurde. Rougiers Ziel war simpel: eine Gruppe heterodoxer Denker zu versammeln, die ähnliche oder wenigstens ähnlich erscheinende 32 Thesen wie Lippmann in The Good Society vertreten hatten oder dessen Hauptthesen, nach Rougiers Auffassung, aufgeschlossen gegenüberstünden. Trotzdem erwies es sich als nicht ganz einfach, das Treffen zustande zu bringen, denn Lippmann war zunächst skeptisch.

Zweifellos waren seine und Rougiers soziologische und politische Auffassungen sehr verschieden. Während Lippmann als Journalist von internationalem Ruf aus progressiven Kreisen stammte (als Student in Harvard hatte er einen sozialistischen Diskussionskreis gegründet und später gemeinsam mit Herbert Croly und Walter Weyl die Zeitschrift The New Republic herausgegeben) 33, war Louis Rougier der Enkel eines liberalen Ökonomen aus Lyon, ein kaum bekannter Philosophieprofessor und Erkenntnistheoretiker, dessen politische Einstellung zunächst sehr konservativ war. Aber Lippmanns politische Entwicklung hin zu einem »Liberalismus« kontinentaler Prägung sowie der Zeithintergrund – der Aufstieg totalitärer und autoritärer Systeme überall in Europa – führten die beiden Männer in ihrer Verbundenheit mit dem Liberalismus zusammen. Und das war dann auch die Grundlage, auf der sich eine breiter gefächerte, sehr amorphe liberale Gemeinde konstituierte.

Es ist aufschlussreich zu lesen, mit welchen Worten Rougier das Ziel des Lippmann-Kolloquiums beschrieb. In einem maschinengeschriebenen Brief vom 12. Juli 1938, der einigen Eingeladenen zugesandt wurde, beschrieb der Philosoph das inhaltliche Programm der Tagung wie folgt: »Die Freunde von Walter Lippmann haben beschlossen, anlässlich seines Aufenthalts in Paris und der Übersetzung seines Buches The Good Society ins Französische … ein kleines Kolloquium in geschlossenem Kreis abzuhalten, um die Kernthesen des Buches über den Niedergang des Liberalismus und die Bedingungen für eine Rückkehr zu einer liberalen Ordnung, die sich vom Manchester-liberalen Laissez-faire unterscheidet, zu erörtern.« Die Einladung führte weiter aus, »das Kolloquium wird das praktische Ziel haben, ein Studienprogramm zu erarbeiten zur Vorbereitung eines internationalen Kongresses im Jahr 1939 zu den gleichen Themen«. Schließlich wurde auch die Liste der wichtigsten eingeladenen Teilnehmer aufgeführt: »Diese Einladung wurde an die Herrn Baudin, Casillero [d. i. Castillejo, d. Hg.], Detoeuf, L. Einaudi, Hayek, Huizinga, Kittredge, Lavergne, Lippmann, Marlio, Mercier, Ludwig von Mises, Nitti, Ortega y Gasset, Rappard, Ricci, Rist, Robbins, Röpke, Rougier, Rueff, Truchy, Marcel van Zeeland versandt.« 34

Die Suche nach einem »erneuerten« Liberalismus, der einen Bruch mit dem »Manchester«-Liberalismus bedeuten sollte, stand auch im Mittelpunkt einer Notiz zum Walter-Lippmann-Kolloquium, die am 30. August 1938 in der Tageszeitung Le Temps veröffentlicht wurde, einem damals sehr einflussreichen Blatt, das dem gemäßigten Republikanismus nahestand. Dabei lässt sich der besondere geschichtliche Kontext des Kolloquiums mit einem Blick auf die Titelseite der Zeitung erfassen, wo ausschließlich die tschechoslowakische Frage und die militärische Drohung durch NS-Deutschland Thema ist. Auf der letzten Seite erwähnt eine anonyme, vermutlich von Louis Rougier verfasste Mitteilung unter dem Titel »Wie man uns mitteilt« daher die mit der Veranstaltung verknüpften Erwartungen. Dabei werden die Kernthesen von The Good Society so zusammengefasst: »In diesem Werk legt Walter Lippmann, wie wir wissen, dar, dass die Missstände unserer Zeit auf zwei irrige Vorstellungen zurückgehen: den irreführenden Gegensatz, der zwischen Sozialismus und Faschismus behauptet wird, und der nicht weniger falschen Gleichsetzung des Liberalismus mit der Manchester-Doktrin des Laissez-faire, Laissez-passer. Herr Walter Lippmann zeigt, wie die liberale Wirtschaftsordnung, die auf dem Privateigentum, freiem Wettbewerb und dem Preismechanismus beruht, nicht nur das Ergebnis einer naturgegebenen Ordnung ist, sondern auch das Ergebnis einer rechtlichen, vom Gesetzgeber geschaffenen Rahmensetzung, die der kontinuierlichen Anpassung an die unablässig sich verändernden Umstände der wirtschaftlichen auf Arbeitsteilung beruhenden Verfahren bedarf.« 35 In diesem Zusammenhang sei das Vorhaben einer gemeinsamen Überprüfung des Liberalismus sowohl auf gedanklicher wie auf organisatorischer Ebene entwickelt worden, nicht unter dem Namen »Neoliberalismus« – das Wort taucht in diesem Text nicht auf –, sondern unter der Bezeichnung »positiver Liberalismus«: »Ziel dieses rein privaten Kolloquiums ist die Einrichtung einer internationalen Forschungsstelle mit der Aufgabe einer systematischen Untersuchung der theoretischen wie praktischen Probleme, die eine Rückkehr zu einem positiven Liberalismus beziehungsweise dessen Erhaltung aufwirft, einem System, das die Voraussetzung jeder Zivilisation ist, denn es ist als einziges dazu fähig, die persönlichen Werte, die allen Fortschritt schaffen, zu schützen.« 36

Etliche der Teilnehmer des Kolloquiums stammten aus Frankreich, aber die übrigen Eingeladenen kamen aus ganz verschiedenen Ländern und gehörten ganz unterschiedlichen beruflichen Gruppen an. Es ist wichtig, das hier zu betonen, denn bislang wurde das Lippmann-Kolloquium im allgemeinen Bewusstsein meist nur mit einer kleinen Auswahl von Namen verknüpft, die in späteren Jahren Berühmtheit erlangt haben. Unter dem Gesichtspunkt einer kontextuellen Geschichtsschreibung (und das ist der hier eingenommene Blickwinkel) ist es hingegen wünschenswert, keinen allzu beschränkten Blick auf die damals beteiligten Akteure zu werfen. Im Anschluss an diese Einleitung wird man daher eine Art Prosopografie finden, die jeden Teilnehmer am Lippmann-Kolloquium kurz vorstellt, sowie eine Liste der Eingeladenen, die an einer Teilnahme verhindert waren. Hier soll zunächst auf die allgemeineren soziologischen, intellektuellen und nationalen Gruppierungen hingewiesen werden. Ökonomen waren die zahlenmäßig größte Gruppe unter den Teilnehmern, darunter die Franzosen Louis Baudin, Jacques Rueff, Bernard Lavergne, André Piatier, Etienne Mantoux und Robert Marjolin, die Deutschen Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, als führende Vertreter der Österreichischen Schule Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek, teilweise sekundiert von Michael Heilperin, sowie eher unorthodoxe Ökonomen wie zum Beispiel der in Großbritannien ausgebildete John Bell Condliffe. Zu den Philosophen zählten neben Louis Rougier auch Raymond Aron und Michael Polanyi. Die Sozialwissenschaften waren vertreten durch Bruce Hopper und Alfred Schütz, deren intellektuelle Anliegen sich zum Teil mit denen der »Philosophen« überschnitten. Der Franzose Roger Auboin und der Belgier Marcel van Zeeland (nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Paul, dem belgischen Staatsmann) waren leitende Staatsbeamte.

Außerdem nahmen an dem Kolloquium erfolgreiche Geschäftsleute, Industriekapitäne und Technokraten teil (Marcel Bourgeois, Auguste Detoeuf, Louis Marlio, Ernest Mercier), ein spanischer Jurist (José Castillejo) und natürlich, als einziger Journalist, Walter Lippmann.37

Wenngleich also rund die Hälfte der Teilnehmer aus Frankreich stammte, war das internationale Kontingent mit Österreichern, Deutschen, Amerikanern (Hopper und Lippmann, aber kein einziger amerikanischer Ökonom), je einem Belgier, Spanier und Neuseeländer (Condliffe, der damals an der London School of Economics unterrichtete) und einem Ungarn (Polanyi, der damals im Exil in England lebte) doch gut vertreten. Eine ganze Reihe von ihnen waren Exilanten: Röpke hatte den Nationalsozialisten den Eid verweigert und war über die Türkei in die Schweiz emigriert, wo er am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien arbeitete; sein Freund Rüstow lehrte in Istanbul; Mises hatte sich der antisemitischen Verfolgung in Wien gerade noch entziehen können, aber Hab und Gut beim »Anschluss« verloren, und auch Schütz war vor der Judenverfolgung der Nazis in die Vereinigten Staaten geflohen.

Neben der unmittelbaren historischen Kontextualisierung muss eine Analyse des Lippmann-Kolloquiums auch die Soziologie der Netzwerke, der akademischen wie die der Aktivisten, und der mit ihnen verbundenen Institutionen in Erinnerung rufen. Mehrere der Teilnehmer kannten einander zum Teil seit vielen Jahren durch gemeinsame Arbeit an Universitäten und Forschungseinrichtungen. So gab es mehrere ehemalige Teilnehmer an Ludwig von Mises’ Wiener »Privatseminar« (Hayek und Schütz), zwei Dozenten der London School of Economics (Hayek und Condliffe; eingeladen war auch Lionel Robbins, wiederum ein früherer Teilnehmer an Mises’ Seminar), Franzosen, die sich an der »X-Mines«-Gruppe ehemaliger Schüler der Ecole Polytechnique beteiligten (Detoeuf, Rueff und andere), Forscher, die an der Ecole Normale Supérieure als Mitarbeiter von Célestin Bouglé tätig waren (Aron und Marjolin), und einige (darunter Castillejo), die in Verbindung standen mit dem Internationalen Institut für geistige Zusammenarbeit (einer Einrichtung des Völkerbundes in Paris), unter dessen Dach auch das Kolloquium stattfand.

Eine weitere bedeutsame Einrichtung in diesem Zusammenhang war das Hochschulinstitut für internationale Studien (HEI) in Genf. Es wäre falsch, diese Einrichtung als die Wiege des Liberalismus zu bezeichnen (so unterrichtete dort für einige Zeit zum Beispiel auch Hans Kelsen, alles andere als ein Liberaler der alten Schule), aber dort lehrten damals sowohl Röpke als auch Mises, und Rougier hielt seine Vorlesungsreihe über die »mystiques économiques« (ökonomischer Aberglauben, Mythen der Ökonomie) und entwickelte dabei seine neoliberalen Ideen. Das Genfer HEI war auch der Ort, an dem Hayek 1937 seine (heute nahezu vergessenen) Vorlesungen über »monetären Nationalismus« hielt.38 Und hier fand auch der liberale italienische Antifaschist Guglielmo Ferrero 1932 Aufnahme als Dozent, nachdem ihm Rougier bei der Ausreise aus Italien geholfen hatte. Bewundert von Rougier, aber auch von Röpke, der gut mit ihm befreundet war, starb Ferrero 1942 an einem Herzinfarkt – oberhalb von Vevey in Mont Pèlerin, wo Röpke und Hayek fünf Jahre später die Mont Pèlerin Society gründen sollten.

Das HEI stand unter der Leitung von Paul Mantoux, dem Vater von Etienne (der am Kolloquium teilnahm), und William Rappard, der trotz Einladung nicht teilnahm, aber in der Folge eine überaus aktive Rolle in der Mont Pèlerin Society spielte. So lässt sich sagen, dass das Lippmann-Kolloquium keineswegs bei null anfing, aber seine historische Rolle bleibt von großer Bedeutung aufgrund der damit verfolgten Ziele eines Zusammenschlusses und insbesondere einer gemeinsam entwickelten Doktrin.

Ein Wort sei noch gesagt zu den intellektuellen Protagonisten, die Rougier besonders wichtig und von ihm eingeladen worden waren. Sie stehen sinnbildlich für die geistige Ausrichtung des Kolloquiums, selbst wenn ihre Anwesenheit ihm eine Wendung mehr zum Kulturellen und Sozialen gegeben hätte. Die wichtigsten unter ihnen waren vielleicht José Ortega y Gasset, Johan Huizinga, Lionel Robbins, Francesco Saverio Nitti und Luigi Einaudi. Ortega y Gasset und Huizinga lassen sich vermutlich am besten in Verbindung bringen, denn sowohl der spanische Philosoph als auch der niederländische Historiker hatten in den 1930er-Jahren die schwere Krise der zeitgenössischen Zivilisation einer Untersuchung unterzogen.

Erschüttert vom Aufstieg des Faschismus und des Nationalsozialismus hatte der renommierte niederländische Mediävist bereits seit Längerem vor den Gefahren einer Epoche gewarnt, die von einer Mischung aus Irrationalismus und Technologieverehrung gekennzeichnet war. Und Ortega y Gasset hatte in seinem berühmten Buch Der Aufstand der Massen (eine Formulierung, die Rougier gern verwendete, auch auf dem Kolloquium), das gleich nach seinem Erscheinen in zahlreiche Sprachen übersetzt worden war, vor den Gefahren eines Massenzeitalters gewarnt und für eine tief greifende Erneuerung des Liberalismus plädiert, damit diese Doktrin die sozialen Forderungen aufgreifen könnte, für die die totalitären Systeme eine so trügerische wie gefährliche Antwort angeboten hatten. Sozialer ausgerichtet und weniger an den »Manchester«-Prinzipien orientiert, sollte der Liberalismus nach den Vorstellungen des spanischen Philosophen sich dennoch vor Dirigismus und Bürokratie hüten. So waren Huizinga und Ortega y Gasset, obgleich keine Ökonomen, sondern Denker, denen in der Krise der modernen Zivilisation Gehör geschenkt wurde, für Rougier von überragender Bedeutung, was in noch größerem Maß für Wilhelm Röpke, der sie oft zitierte, galt.

Lionel Robbins, damals Professor an der London School of Economics (LSE), hatte 1937 ein aufsehenerregendes Buch vorgelegt, Economic Planning and International Order (auf das Rougier in seinem Eröffnungsvortrag verwies), dem er 1939 The Economic Causes of the War folgen ließ. Damals ein enger geistiger Weggefährte von Mises und vor allem Hayek verwarf Robbins in Economic Planning die Vorstellung, dass es in einer liberalen Wirtschaftsordnung »keine Wirtschaftsplanung« gebe, anders als in marxistischen und anderen zentral gelenkten Systemen mit ihrer »Planwirtschaft«. Ganz im Gegenteil, so argumentierte Robbins, gebe es im wirtschaftlichen Liberalismus durchaus Wirtschaftsplanung; er sei keineswegs anarchisch. Nur sei die Wirtschaftsplanung in einer liberalen Wirtschaftsordnung ganz anderer Art als in der zentralisierten Planwirtschaft, wie sie in Ländern wie der Sowjetunion betrieben werde.39 Robbins vertrat die Auffassung, dass »weder das Eigentum noch der Vertrag in irgendeinem Sinne natürlich« seien, sondern »ihrem Wesen nach eine Schöpfung des Rechts«.40 Damit hob Robbins hervor, dass der Liberalismus einer Erneuerung oder einer Rückkehr zu seiner wahren Bedeutung bedürfe, nämlich der Erkenntnis, dass der Markt des Wettbewerbs durch Regeln organisiert sein muss, deren Einhaltung von staatlichen Organen überwacht wird. Außerdem betonte er, dass der Liberalismus die Notwendigkeit erheblicher staatlicher Eingriffe anerkennen müsse, die über das Funktionieren des Marktes hinausgehen, insbesondere bei der Bereitstellung der kostspieligen Infrastruktur. Aber, so fügte er hinzu, John Maynard Keynes sei im Irrtum, wenn er, am Schluss seines Buches The End of Laissez-faire, der Auffassung sei, dass diese Voraussetzungen etwas Neuartiges seien: schon Adam Smith habe sie erkannt.41 Allerdings, so räumte er ein, treffe es zu, dass dessen Nachfolger mitunter in einen gefährlichen Dogmatismus des Antiinterventionismus verfallen seien. Rougier war voller Bewunderung für Robbins’ Studie, deren rasche Übersetzung ins Französische er vermittelte; er erklärte, sie stimme mit den grundsätzlichen Überzeugungen von ihm selbst als auch von Lippmann überein.

Obgleich heute so gut wie vergessen, soll auch Francesco Saverio Nitti nicht unerwähnt bleiben, der im Kontext der Krise des Liberalismus seinerzeit eine bedeutende Gestalt war. Als einstiger italienischer Premierminister 42 wie auch politischer Beobachter und Kritiker des Totalitarismus (ganz gleich ob faschistischer, nationalsozialistischer oder kommunistischer Couleur) und eloquenter Verteidiger der liberalen Demokratie, verlieh er in einer Vielzahl von Essays in den 1930er-Jahren seiner Sorge über den Aufstieg dieser antiliberalen Systeme, die sich auf »die Massen« beriefen, Ausdruck. Als Antwort darauf plädierte Nitti für eine Erneuerung des Liberalismus, die anerkennen sollte, was der Sozialismus an Wahrem enthalte: Damit hatte Nitti eine Art Synthese von sozialistischen und – hauptsächlich – liberalen Gedanken vorgeschlagen, die viel weiter ging, als von Rougier gewünscht, und die bei Liberalen wie Mises nur auf Ablehnung stoßen konnte. Trotzdem hielt Rougier Nitti für sehr wichtig, und während seiner Kampagne für einen »Neoliberalismus« in den Jahren 1937/38 war Rougier von dem Italiener bei einem Treffen der französischen Vereinigung Union pour la vérité (Union für die Wahrheit) öffentlich unterstützt worden. Schließlich sollte man, auf der italienischen Seite – als Beleg für die Bedeutung, die man der faschistischen Bedrohung beimaß –, auch Luigi Einaudi nicht vergessen, den bedeutenden Verfechter des Wirtschaftsliberalismus, der bereits mit Hayek in Verbindung stand und der nach dem Krieg Präsident der Republik Italien wurde. Bemerkenswert ist weiterhin, dass Robbins, ebenso wie Nitti und Einaudi, verschiedene französische Neoliberale und seinerzeit auch Hayek, sich als Anhänger eines europäischen Föderalismus bekannten.43

Auf diese Weise kann man, allein anhand der Eingeladenen, drei Themen für das Kolloquium erkennen: die Bedrohung durch die totalitären Systeme mit Massenbasis, den drohenden in Verbindung mit einer Autarkiepolitik und schließlich die Notwendigkeit einer mehr oder weniger weitreichenden Reform des Liberalismus angesichts des Aufstands der Massen.

Das Ziel der Kolloquiumsteilnehmer war es, den Fortbestand des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus zu sichern, und während des Kolloquiums äußerten mehrere von ihnen ernste Zweifel, ob der politische Liberalismus überhaupt überleben könne. Unter diesen Umständen war das Hauptanliegen des Kolloquiums nicht die Formierung einer konzertierten Opposition etwa gegen Keynes’ »Allgemeine Theorie«, obgleich einige der Teilnehmer dessen Thesen durchaus ablehnten – Hayek, Rueff und Mantoux zum Beispiel, und auch Röpke bereits in gewissem Maße. Doch um Keynes ging es auf dem Kolloquium an keiner Stelle, und man weiß auch, dass mehrere der Teilnehmer den Verfasser der General Theory in hohem Maß schätzten – vor allem Lippmann, der mit Keynes persönlich befreundet war, aber auch Marlio, Aron, Marjolin, Condliffe und selbst Polanyi. Vielmehr konzentrierten die Teilnehmer ihre Anstrengungen auf die Analyse der Krise des Liberalismus, auf die Verteidigung des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus und auf die Möglichkeiten, ihn angesichts der zu erwartenden Stürme zu erneuern und damit seinen Fortbestand zu sichern. Einig waren sich die Teilnehmer in ihrer Ablehnung jeglicher zentralen Planwirtschaft, auch wenn es dabei durchaus Unterschiede gab; so lagen zum Beispiel die Standpunkte von Mises und Aron in dieser Frage weit auseinander. Ebenfalls einig war man sich darüber, dass Planwirtschaft nicht nur ökonomisch ineffizient sei, sondern außerdem mit dem Verlust der persönlichen und politischen Freiheit verbunden war: Dadurch bekamen ihre Diskussionen eine wichtige politische und sogar moralische Dimension, die über die Debatte wirtschaftlicher Wirkungen hinausging. Und ihre Diskussionen wurden auch von der Frage bestimmt, ob die liberalen Demokratien den Herausforderungen durch einen Krieg, dessen unmittelbares Bevorstehen allen klar war, gewachsen sein würden.

Der Anspruch, mit Lippmann den Liberalismus zu revidieren

Ein Teil der Kolloquiumsteilnehmer war, ausgehend von Lippmanns Thesen, der Auffassung, dass der Liberalismus nur überleben könne, wenn er gründlich reformiert würde. Schwierig war, genau zu bestimmen, wie das zu bewerkstelligen sei. In seinem Buch hatte Lippmann die These vertreten, dass es falsch sei, den Wirtschaftsliberalismus als eine Doktrin des staatlichen Nichteingreifens zu verstehen, denn damit werde man dem nicht gerecht, was der Wirtschaftsliberalismus mit seinem Laissez-faire ursprünglich gewollt habe. Lippmann argumentierte, dass Laissez-faire historisch betrachtet eine »revolutionäre politische Idee« gewesen sei, »um den anhaltenden Widerstand eigennütziger Interessen gegen die industrielle Revolution« zu brechen.44 So war Laissez-faire ursprünglich eine Ideologie entschiedenen Handelns, »formuliert zu dem Zweck, Gesetze, Einrichtungen und Gebräuche zu zerstören, die vernichtet werden mussten, um der neuen Produktionsweise Platz zu machen … die notwendigerweise zerstörerische Doktrin einer revolutionären Revolution Bewegung«. Sobald diese Aufgabe erledigt war, also etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts, verfiel der Liberalismus in eine Art von Passivität. Als Folge davon »wurde der Liberalismus zu einer Philosophie der Vernachlässigung und der Weigerung, die nötigen sozialen Anpassungen vorzunehmen«.45 Lippmann drängte die Liberalen, wieder eine aktive Rolle dabei zu spielen, der Gesellschaft auf angemessene Weise zu helfen, mit wirtschaftlichem Wandel und Anpassungsprozessen zurechtzukommen und ihre Passivität in Wirtschaftsfragen aufzugeben, nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit dem Problem der sozialen Verelendung. Lippmann bestritt die Ansicht, »das Debakel des Liberalismus« habe etwas »mit irgendeiner Art von historischer Notwendigkeit zu tun«, und gab die Verantwortung dafür stattdessen »den Fehlern der Liberalen«, den Liberalen, die es versäumt hatten, einzugreifen, als die vom Wirtschaftsliberalismus hervorgerufenen menschlichen Verwerfungen nicht länger tragbar waren. Liberale dieser Art »hatten sich in einer dogmatischen Sackgasse verrannt«, und der Liberalismus war »erstarrt«.46

In den 1930er-Jahren war der politische und wirtschaftliche Liberalismus ein schwer angeschlagenes System, das an einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise litt. Lippmann selbst war 1933 von der Entwicklung der Wirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten so erschüttert, dass er zu Präsident Franklin D. Roosevelt sagte, ihm bleibe womöglich keine andere Wahl, als sich selbst »diktatorische Befugnisse« zu geben.47 Während der politische Liberalismus mitunter für synonym galt mit parlamentarischer Selbstblockade und Untätigkeit, unfähig, das Vertrauen der breiten Öffentlichkeit zu gewinnen, wurde der Wirtschaftsliberalismus aufgrund des Verzichts auf staatliche Intervention und wegen des Mangels an Solidarität in der Gesellschaft oft als Ideologie des »Laissez-souffrir« (leiden lassen) angesehen. So schien nicht wenigen Bürgern, die in dysfunktionalen parlamentarischen Demokratien wie Belgien und Frankreich lebten, der Faschismus oder der Kommunismus eine vielversprechende Alternative zu den Übeln des Liberalismus ihrer Zeit zu sein. Lippmann jedoch, der zunächst im New Deal eine vielversprechende Lösung gesehen hatte – die den von ihm in seinem Buch The Method of Freedom (1934) empfohlenen und von Keynes angeregten Eingriffen sehr nahe kamen –, änderte später seine Meinung und kritisierte die New Deal-Politik als übertrieben etatistisch und sah darüber hinaus in ihr eine Bedrohung des Rechtsstaates, nachdem Roosevelt den Vorschlag einer Vergrößerung des Supreme Court gemacht hatte.48 Lippmann lehnte sowohl den Faschismus als auch den Kommunismus ab, weil diese Systeme über ihre wirtschaftliche Ineffizienz hinaus auch einen nahezu völligen Verlust der persönlichen Freiheit mit sich brachten: »Es ist dem Volk nicht nur nicht möglich, den Plan zu kontrollieren, sondern darüber hinaus müssen die Planer auch noch das Volk kontrollieren. Sie müssen Despoten sein, die nicht dulden können, dass ihre Autorität infrage gestellt wird. Zivile Planung setzt daher die Annahme voraus, dass die an die Macht gelangten Despoten gütig sein werden, das heißt das höchste Gut für ihre Untertanen kennen und anstreben.« 49 Lippmann war der Auffassung, dass in solchen Systemen »der Ausnahmezustand nie aufhört«, mit Konzentrationslagern, Geheimpolizei und Zensur verbunden sei und letztlich zum Krieg führe.50 Weiterhin bezog er sich in seinem Buch auf Mises und dessen Kritik an der Unmöglichkeit der Wirtschaftsrechnung in einer Planwirtschaft.

Gleichzeitig enthielt Lippmanns Buch aber auch eine »Agenda des Liberalismus«, die Maßnahmen wie etwa »eine drastische Erbschaftssteuer und eine Einkommenssteuer mit starker Progression« 51 enthielt, Investitionen in öffentliche Bauvorhaben und so weiter, durchweg mit lobenden Verweisen auf Keynes. Diese Agenda war sozial wesentlich ehrgeiziger als die Kompromisse, die ein Jahr später beim Kolloquium vereinbart und von Lippmann dort aber dennoch unter dem Titel »Agenda des Liberalismus« mitgetragen wurden. Lippmann sprach sich sogar für eine weit weniger ungleiche amerikanische Gesellschaft aus, legte dabei aber großen Wert darauf, sich gegen Sozialismus und Dirigismus abzugrenzen. Sein Ziel war es, die Gesellschaft in dem Maß weniger ungleich zu machen, dass Einzelne nicht länger von Privilegien oder Spekulationsgewinnen auf dem Markt profitieren sollten. Und wenn es erforderlich war, den Ärmsten und den vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen zu helfen, dann, um sie dafür auszubilden, wieder an einem ständig sich wandelnden Markt teilzunehmen.

Auch vom Konzept des Eigentums legte Lippmann in seinem Buch eine eigene Auffassung dar. Zwar sprach er sich für Privateigentum aus, aber er hielt Eigentum nicht für ein naturgegebenes Recht, sondern Eigentum war für ihn eine Schöpfung des Rechts. Angeregt von der amerikanischen »institutionellen ökonomischen Theorie« – Lippmann hatte sich intensiv mit dem Werk von John R. Commons auseinandergesetzt – wollte er auch in diesem Punkt mit gewissen Dogmatismen des klassischen Liberalismus brechen. In seiner Kritik an William Blackstone, einem Juristen und typischen Vertreter des 18. Jahrhunderts, verwarf Lippmann gleich an mehreren Stellen die Idee eines absoluten Rechts auf Eigentum. Ihm zufolge ließ sich das Recht auf Eigentum durch Gesetze regulieren und entwickle sich nicht nur gemäß den Bedürfnissen des wirtschaftlichen Fortschritts, sondern auch gemäß den Bedürfnissen der sozialen Gerechtigkeit. Auf diesen Punkt legte er umso mehr Wert, als das dogmatische Festhalten an einem absoluten Recht auf Eigentum, wie es die »alten« Liberalen befürwortet hatten, im Volk einen starken Wunsch nach Kollektivismus und Dirigismus genährt hatte. Lippmann jedoch, auch darin wieder auf Mises und Hayek sich berufend, hielt diese »Lösungen« (Kollektivismus und Dirigismus) für wirkungslos und gefährlich. Seine größte Sorge war ein weltweiter Krieg, für den er in seiner Analyse Dirigismus und Protektionismus, also die Politik wirtschaftlicher Autarkie, vor allem in ihren totalitären Formen, verantwortlich machte.

Auf dem Kolloquium 1938 war, wie wir gesehen haben, die Furcht sogar noch größer geworden, dass der Liberalismus durch den stetigen Aufstieg der totalitären Staaten ganz ausgelöscht werden könnte. In seinem Eröffnungsvortrag erklärte Lippmann mit düsterem Realismus: »Denn die zeitgenössische Welt wird von der Tatsache beherrscht, dass alle Nationen sich gezwungenermaßen auf einen Krieg vorbereiten, der jeden Augenblick losbrechen kann.« In diesem Zusammenhang wird das große Interesse verständlich, das Lippmanns Buch geweckt hatte und in dem Rougier ein Echo seiner eigenen Schriften zu vernehmen meinte. Auch Rougier hatte in seinem wichtigen Buch Les mystiques économiques52 eine Erneuerung des Liberalismus gefordert, wenn auch mit einer weniger prononcierten sozialen Komponente als Lippmann, obgleich er erklärte, dass ein reformierter Liberalismus den Schutz bedrohter Wirtschaftssektoren, wie zum Beispiel die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die für die Nation als lebenswichtig erachtet werden, rechtfertigen könne. Mit seinen eigenen Auffassungen focht Rougier, wie Lippmann, gegen eine Reihe von »mystiques« (Mythen), Trugbildern dogmatischer Rhetorik im Bereich der Ökonomie, und prangerte nicht nur den faschistischen Korporatismus und die sowjetische Planwirtschaft an, sondern auch den »alten« Liberalismus der französischen Physiokraten, mit ihrem irrigen Glauben an eine natürliche Ordnung, und den »Manchester«-Liberalismus der englischen Schule.

Im Gegensatz zu diesen Auffassungen plädierte Rougier für einen »aufbauenden« oder »konstruktiven Liberalismus« (libéralisme constructeur): Demzufolge sollte man nicht länger an die codes de la nature, also eine spontane und natürliche Marktordnung, der physiokratischen Ökonomen glauben, sondern sich tatkräftig für einen code de la route einsetzen, eine »Straßenverkehrsordnung«, die aufmerksam die technologischen und anderen Veränderungen im Kapitalismus verfolgte und dadurch den Markt überwachte und stimulierte. Diese »Ordnung« sollte die Entscheidungen der Marktakteure nicht unmittelbar steuern, sondern vielmehr den Wechselwirkungen ihrer frei getroffenen Entscheidungen einen Rahmen geben. Rougier argumentierte, der »alte« Liberalismus des Laissez-faire sei fehlerhaft, gefährlich und befinde sich in einer Krise, verstehe er doch nicht die Gefahren der Monopolbildung und des sozialen Leids, das sie hervorrufen können. Wenn Rougier sich in seiner Kritik an Sozialismus, Kollektivismus und Dirigismus sowie in seiner Verteidigung des Markt-Preis-Mechanismus und seiner Befürwortung des Marktes den Ideen der Österreichischen Schule um Hayek und insbesondere Mises anschloss, dann tat er das, um, was den entschlossenen Umbau des Liberalismus betraf, über diese hinauszugehen.53 Rougier war nicht nur akademischer Philosoph, sondern auch ein Intellektueller, der ein Umdenken der öffentlichen Meinung bewirken und die Wirtschaftspolitik Frankreichs in eine liberale Richtung umorientieren wollte angesichts der Folgen des – in seinen Augen – katastrophalen Experiments der Volksfront von 1936. So führte er also auch einen politischen und ideologischen Feldzug und bemühte sich, Einfluss auf die Presse zu nehmen. Das galt insbesondere für die Mitte-links angesiedelte, antikommunistische Tageszeitung La République. Ihre Herausgeber hatten der von Neosozialisten wie Marcel Déat propagierten »Wirtschaftsplanung« zunächst überaus wohlwollend gegenübergestanden. Aber in einer Reihe von Artikeln im Frühjahr 1938 ließen die Herausgeber von La République Schritt für Schritt Übereinstimmungen mit Rougiers Ideen erkennen,54 und Rougier zählte sie zu seinen wichtigsten öffentlichen Unterstützern in der 1939 von ihm lancierten »Offensive des Neoliberalismus«.55 Doch gingen seine Absichten über Frankreich hinaus, was in seinem Vorschlag, das Walter-Lippmann-Kolloquium zu veranstalten, zum Ausdruck kam.

Das alles trägt zu einem besseren Verständnis der Ursprünge des »Neoliberalismus« bei. Bei seiner Gründung im August 1938 hatte der Neoliberalismus zwei Hauptanliegen. Erstens unterstützten die Kolloquiumsteilnehmer den wirtschaftlichen und politischen Liberalismus und lehnten zentral gelenkte Systeme ab (in erster Linie natürlich den Kommunismus, Nationalsozialismus und Faschismus, daneben aber auch demokratische Staatsformen, die sich ihrer Ansicht nach auf solche Systeme beriefen). Zweitens sprachen sich die Teilnehmer für den Markt-Preis-Mechanismus als den Verteiler von Ressourcen in allen Bereichen der Wirtschaft aus. Darüber hinaus belegt das Kolloquium, dass der Neoliberalismus 1938 als Gedankengebäude weder staatlichen Interventionen in die Wirtschaft grundsätzlich ablehnend gegenüberstand noch – was insbesondere für Rüstow, aber auch für Rougier galt – einem »starken Staat«, der den Fortbestand der Marktordnung garantierte.56 Die partiellen Übereinstimmungen zwischen Rougier und den Deutschen in dieser Hinsicht sind aufschlussreich. Rüstow, der nach dem Machtantritt der Nazis ins Exil ging, beklagte den schwachen Staat, der von Einzelinteressen beherrscht werde und sich »in einen totalitären Staat mit Einheitspartei verwandelt« hatte.

Auch wenn eine derart scharfe Kritik am »Pluralismus« längst nicht von allen Teilnehmern geteilt wurde (diese Kritik ging vor allem von Rüstow und Röpke aus und bezog sich auf die Erfahrungen in Deutschland), gab es wenig grundsätzlichen »Anti-Etatismus« oder Bekenntnisse zur prinzipiellen Nichteinmischung des Staates unter den Teilnehmern. Eine Reihe der Franzosen sprach sich ebenfalls für ein gewisses Maß an staatlichem Eingreifen aus; Aron und Marjolin, die früher gemäßigt sozialistische Überzeugungen vertreten hatten und inzwischen von der Volksfrontregierung einigermaßen enttäuscht waren, waren Keynesianer. Die Anhänger des Laissez-faire, wie etwa der Österreicher Mises, waren eindeutig in der Minderheit. Und sogar Mises war kein »Antietatist« im strengen Sinne des Wortes. Sein Anti-Etatismus war rein ökonomisch. In seinem Buch Liberalismus hatte er bereits 1927 die These vertreten (und tat das auch noch 1938), dass »der Staat ein Zwangs- und Gewaltapparat« sei, dass »Liberalismus nicht Anarchismus ist noch irgendetwas mit Anarchie zu tun hat« und dass »der Anarchismus das wirkliche Wesen des Menschen missversteht«.57 Nach Mises kam dem Staat eine unverzichtbare Rolle darin zu, das Privateigentum zu schützen und die Möglichkeit zur sozialen Kooperation zu garantieren. Doch sollte sein wirtschaftlicher Interventionsbereich streng begrenzt sein: Auf dem Gebiet der Wirtschaft war Mises ein entschiedener Kritiker eines jeden »Dritten Weges« und dessen, was er »Interventionismus« nannte. Aber sein radikaler Antiinterventionismus wurde von den meisten Teilnehmern des Kolloquiums nicht geteilt.

Wie Mises unterstützte die Mehrheit der Teilnehmer den Markt-Preis-Mechanismus. Aber im Allgemeinen unterschieden sich ihre Anschauungen von ihm und waren mehr interventionistisch. Im Gegensatz zum »Manchester«-Kapitalismus oder dem Laissez-faire-Kapitalismus Herbert Spencers versuchten die Gründer des Neoliberalismus herauszufinden, welche Typen staatlicher Intervention mit dem Funktionieren des Markt-Preis-Mechanismus zu vereinbaren waren. Viele der Teilnehmer kritisierten ausdrücklich die Orthodoxie des »Manchester«-Liberalismus und des Laissez-faire, sowohl aus wirtschaftlichen wie aus sozialen Gründen. Der höchste mögliche Lebensstandard durch ständige ökonomische Anpassung aufgrund des Markt-Preis-Mechanismus sowie die Verteidigung der persönlichen Rechte gegen willkürliche Autorität – das waren, was man altmodische Überzeugungen des Liberalismus nennen könnte, die während des Kolloquiums ergänzt wurden durch ein gemeinsames Bekenntnis zu bestimmten Typen staatlicher Intervention – auf den Gebieten Sozialversicherung, öffentliche Dienste, Bildung, wissenschaftliche Forschung und Investitionen zum Zweck der Landesverteidigung, um das wirksame Funktionieren der Marktwirtschaft zu gewährleisten und erfolgreich auf soziale, spirituelle und soziale Forderungen – im Sinne sozialer Integration – reagieren zu können, die von den durch die antiliberalen Regime angezogenen Massen erhoben wurden.

Was das frühe neoliberale politische Denken an »Homogenität« aufzuweisen hatte, steckt in dem eben Aufgeführten. Das lässt Raum für ein großes Maß an Heterogenität. Diese Heterogenität war umso bemerkenswerter, als die Teilnehmer nicht nur aus verschiedenen Ländern stammten und verschiedenen Berufsgruppen angehörten, sondern auch, weil bestimmte Themen zu ganz unterschiedlichen Analysen Anlass gaben. So waren die Teilnehmer über Fragen wie die Ursachen von Monopolen, das Wesen des demokratischen politischen Systems, die Wechselwirkung zwischen Demokratie und Marktwirtschaft, die soziale Integration der einzelnen Menschen im fortgeschrittenen Kapitalismus, Massenpsychologie und die politische Rolle der Arbeiterklasse nicht einig und ebenso wenig darüber, wie man mit Arbeitslosigkeit umgehen sollte, die aus raschem Technologiewandel resultierte, mit der Landflucht, den Auswirkungen von Arbeitslosenunterstützung oder den wirtschaftlichen Dynamiken, die durch Investitionen in die Landesverteidigung freigesetzt wurden.

Das Kolloquium wirft auch Licht auf Thesen, die von frühen neoliberalen Theoretikern aufgestellt worden waren. Daraus erhellt, dass mindestens in einer wichtigen Hinsicht – der Unterstützung des Markt-Preis-Mechanismus in sämtlichen Bereichen der Wirtschaft – der frühe Neoliberalismus sowohl wirtschaftlich als auch sozial äußerst transformatorisch war. Und er war, zumindest in vielen Fällen, ausdrücklich antireaktionär und lehnte überkommene Systeme von Rang, Klasse und Privilegien generell ab. Das heißt nicht, dass sich unter den frühen Neoliberalen nicht auch konservative, elitäre und selbst autoritäre Neigungen gefunden hätten.58 Unter den Franzosen galt das für Baudin, der das Salazar-Regime in Portugal bewunderte. Mises hatte als Berater des österreichischen Kanzlers Engelbert Dollfuß fungiert, der die Arbeiterbewegung zerschlagen hatte. Aber selbst in seinem Buch Liberalismus, in dem Mises den Faschismus dafür lobt, Europa vor der bolschewistischen Bedrohung geschützt zu haben, hatte er den den Faschismus »erfüllenden Glauben an die durchschlagende Wirkung der Gewalt« kritisiert und betont, »dass es nur eine Idee gibt, die sich dem Sozialismus wirksam entgegenstellen lässt, nämlich die des Liberalismus« 59. Mises’ Verteidigung des Faschismus war demnach Ausdruck einer Strategie des politischen Realismus und nicht einer tatsächlichen Anhängerschaft. Der Antisemitismus in Frankreich und überall in Europa, dessen Opfer er selbst geworden war, erschreckte ihn zutiefst.

Was Rougier betrifft, dem man ein geheimes Einverständnis mit der Regierung Pétain in Vichy vorgeworfen hat, weil er dessen Geheimabkommen mit Winston Churchill