NeonNächte - Sabine Deitmer - E-Book

NeonNächte E-Book

Sabine Deitmer

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Beschreibung

Beate Stein, grünäugige Emanze in Staatsdiensten, jagt in ihrem dritten Fall einen Mörder, der mehr als eine Frau auf dem Gewissen hat. Seine Opfer sind Straßenbahnfahrerinnen, Frauen, die nachts arbeiten, Frauen, die sich vor der Dunkelheit nicht fürchten. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 325

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Sabine Deitmer

NeonNächte

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Inhalt

Das Buch widme ich [...]Prolog1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162636465666768697071727374757677787980Epilog

Das Buch widme ich Ingeborg,

die Straßenbahnen Wolfgang,

und den Porsche widme ich Moritz,

meinem Beckmann.

Prolog

»Es geht weiter mit unserem ›Nachtcafé‹. Ich grüße alle Nachtschwärmer und Nachtfans. Am Mikrophon ist der Frank. Hallo, ihr da draußen. Wie verbringt ihr die Nacht? Ruft mich an. Erzählt mir, was ihr so treibt. Egal, ob ihr im Altenheim Nachtwache macht, mit dem Taxi durch die Stadt düst, ein tolles Buch lest oder mit Freunden feiert und die Post gerade voll abgeht. Schnappt euch den Telefonhörer oder steuert die nächste Telefonzelle an. Wählt die 77 00 67 und erzählt mir, was ihr heute nacht so denkt, träumt und macht.«

 

Die Frau in der grauen Uniform stellte das Radio aus. Sie sah auf die Uhr. Sieben nach Mitternacht. Noch fünf Minuten. Sie schulterte die Tasche und lief durch die helle Straßenbahn. Ihr Blick schweifte über die Sitze. Nichts Besonderes. Eine zerfledderte Zeitung, eine leere Zigarettenschachtel, auf dem Boden ein paar Kippen. Wenn es weiter nichts war. Keine aufgeschlitzten Polster, kein Betrunkener, der seinen Rausch ausschlief. Alles normal. Am anderen Ende der Bahn packte sie ihre Tasche wieder aus. Mit einem Knopfdruck änderte sie die Zielbeschriftung über dem Fahrerhaus. Sie sah auf die Uhr, trug die Zeit in ein graues Buch ein. Sie klappte das Buch zu und legte das Blatt mit der Fahrtroute vor sich über dem Schaltpult aus.

 

»Hier ist wieder der Frank vom ›Nachtcafé‹. Ich gebe die Leitung frei für den ersten Nachtschwärmer, der in dieser kalten Novembernacht zum Telefon gegriffen hat.«

»Hallo Frank.«

»Hallo. Nett, daß du durchgeklingelt hast. Stellst du dich kurz vor?«

»Ich bin der Udo.«

»Hallo Udo.«

»Hallo Frank.«

»Und was machst du gerade so, Udo?«

»Ich fahre einfach so rum.«

»Ist ja toll. (Pause) Machst du das nur heute oder öfter nachts?«

»Jedesmal, wenn ich nachts nicht schlafen kann.«

»Hey, das ist ja toll, dann setzt du dich einfach in deine Karre und kurvst so rum. Na, wie find ich denn das?«

»Wenn ich nicht schlafen kann, setz ich mich einfach in mein Auto und düs los.«

»Super. Und wohin fährst du dann?«

»Einfach so rum.«

»Und wo bist du jetzt gerade?«

»In der Nähe vom ›Sacré Cœur‹.«

»Wow. Da ist sicher ganz schön was los.«

»Ja, die kommen gerade alle aus der Disco.«

»Ich wünschte, ich wär jetzt nicht hier im Studio, sondern da. Sind bestimmt ’n paar heiße Feger unterwegs heute nacht. Udo, war toll, daß du angerufen hast, ich wünsch dir noch eine aufregende Nacht. Und euch zu Hause heiz ich jetzt mit Mariah Carey ein. Genau, das ist die Lady, bei der der stärkste Mann schwach in den Knien werden kann. Ab geht die Post.«

 

Die Frau in der Uniform steuerte die Bahn durch die Nacht. Die Scheinwerfer strahlten hell. Das Licht brach durch den Dunst, der über den Schienen lag. Sie fuhr am liebsten nachts. Das einzige, worauf man achten mußte, waren die dunklen Ecken. Haltestellen im Schatten von Unterführungen. Fahrgäste, die plötzlich aus der Dunkelheit vor die Schienen sprangen. Sie bremste, gab die Türen frei. Eine Frau stieg in der mittleren Tür ein. Im Spiegel verfolgte sie, wie die Frau nach vorn gelaufen kam. Jede Frau, die um diese Zeit in die Bahn stieg, setzte sich auf einen Platz, von dem aus sie den Fahrer sah. Sie konnte die Angst der Frau riechen. Welche Frau kannte keine Angst? Auch wenn es nicht die Angst vor der Dunkelheit war. Sie strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und startete die Bahn. Bunte Lichter wanderten über den Asphalt.

 

»Hier ist die Sandy.«

»Hallo Sandy. Von wo rufst du uns gerade an?«

»Aus den Städtischen Kliniken.«

»Und was machst du da?«

»Ich arbeite.«

»Und als was, wenn ich fragen darf?«

»Als Krankenschwester.«

»Das ist ja toll. Die erste Nachtarbeiterin am Apparat. Wo arbeitest du denn da?«

»In der Aufnahme.«

»Also, wenn ich hier umfalle, und der Hausmeister findet mich und bestellt einen Krankenwagen, dann lande ich bei dir in der Aufnahme. Und was würdest du mit mir machen?«

»Ich würde aufschreiben, in welcher Krankenkasse du bist, wie du heißt, warum du da bist und so was.«

»Ist ja spannend. Total heiß. So ein Job macht bestimmt unheimlich Spaß.«

»Doch. Meistens, ja.«

»Was findest du denn nicht so spannend, Sandy. Wo drückt der Schuh?«

»Manchmal ist es ganz schön heavy. Wenn Leute zusammengeschlagen werden und so.«

»Kann ich mir vorstellen. So was ist wirklich nicht schön.«

»Oder Frauen, die kommen.«

»Hey, du Glückliche. Was für Frauen kommen denn nachts zu dir?«

»Frauen, die überfallen wurden oder vergewaltigt oder verprügelt und so.«

»Sandy, jeder Job hat seine Schattenseiten. So ist das nun mal. Außer meinem. Der ist ganz toll. Ich danke dir, daß du angerufen hast. Mach’s gut. Und noch einen spannenden Abend bei dir in der Notaufnahme da.«

 

Das Signal stand auf Grün. Sie fuhr mit der Bahn in den Tunnel ein. Hoffentlich schläft er schon, wenn ich nach Hause komme, dachte sie bei sich. Die Tunnelwände rauschten grau neben ihr vorbei. Sie passierte die Weiche, steuerte den Seitentunnel an. Konzentriert blickte sie auf die Schienen. Nicht, daß auf den letzten Metern noch ein Verrückter vor die Räder lief. Sie zog den Hebel nach hinten. Mit einem Quietschen stoppte die Bahn. Sie räumte die Tasche ein, stellte das Licht ab. Mit einem Griff verstellte sie den Hebel über der Tür, öffnete sie, stieg die Treppen nach unten. Der Schotter knirschte unter ihren Füßen. Sie war nicht vorbereitet auf das, was kam. Ein Arm schoß durch die Dunkelheit, legte sich von hinten um ihren Hals. Sie schrie in Todesangst. Bis der Arm ihr die Luft abschnürte und ihr Schrei nur noch ein Krächzen war.

 

»Und hier ist wieder der Frank vom ›Nachtcafé‹. Ein neuer Anrufer ist am Apparat. Kannst du mich hören? Dann melde dich mal.«

»Hier ist die Pia.«

»Wow. Deine Stimme hört sich echt geil an. Eine richtige Powerfrau. Pia, von wo aus rufst du uns denn an?«

»Ich bin von der Aktionsgruppe ›Frauen erobern die Nacht‹.«

»Das hört sich ja cool an, Pia, und was macht ihr da?«

»Also für den November haben wir ein paar Aktionen geplant, und dazu wollte ich alle Frauen einladen, die Bock darauf haben, nicht nur zu Hause rumzuhängen.«

»Da dreht ihr echt voll auf? Erzähl mal.«

»Wir haben ’ne Fahrrad-Demo geplant nachts, wir wollen zu den Bullen gehen und uns informieren, was die nachts für unsere Sicherheit tun …«

»Find ich total gut. Könnte ich da mitmachen, als Mann?«

»Nimm’s nicht persönlich, Frank. Aber Männer bleiben da außen vor, das geht nur uns was an.«

»Jetzt bin ich gebügelt, Pia. Seid ihr total verbohrte Emanzen oder was?«

»Du hörst dich an, wie der letzte Macho, Frank. Wir finden es nur beknallt, wenn Frauen nachts Angst haben. Und dagegen wollen wir was tun. Das ist alles, Frank.«

»Auch wir Jungs haben manchmal nachts Angst, Pia. Glaubst du mir das?«

»Wir Frauen tun euch nichts. Habt ihr darüber schon mal nachgedacht?«

»Du langst echt voll zu, Pia, finde ich toll. Und ich find auch super, was ihr da machen wollt mit der Nacht. War toll, daß du angerufen hast. Und es geht weiter im Nachtcafé mit James Brown. Der soll gerade in L.A. vor dem Richter stehen, weil er nicht immer zart mit seiner Frau umgegangen ist. Wie auch immer. Jimmy ist und bleibt der Größte. Hier kommt: the one and only James Brown.«

1

Ich folgte den mattgelben Leuchtpfeilen und lief durch einen dunklen Korridor in Richtung Damenklo. Es ist garantiert die letzte Tür am Ende aller Berge, die den Damen vorbehalten ist. Ein Typ mit einem Haarschopf, der vor Pomade glänzte, drosch mit seiner Faust auf einen Zigarettenautomaten ein. Wumm, hallte es durch den Gang. Wumm, wumm.

Die letzte Tür des Gangs fiel hinter mir zu. Helle Leuchtröhren, himmlische Ruhe, das Damenklo. Ich entspannte mich. Soweit das möglich ist, ohne mit einem Toilettendeckel Kontakt aufzunehmen. ›Ich ficke jede. Alter und Aussehen egal. Ruf einfach an‹, war mit Kuli in die Toilettenwand geritzt. Daneben eine siebenstellige Telefonnummer und die stark vereinfachte Darstellung des männlichen Fortpflanzungsapparats. Apart.

Eine Tür knallte gegen die Wand. Schrittegetrampel. Eine hysterische Frauenstimme. Mit meiner Ruhe war es vorbei.

»Hau ab«, schrie die Frau. Das Geklapper von Stöckelschuhen kam näher. Die Tür der Nachbartoilette sprang auf, schlug zu. Der Riegel schepperte. »Zieh Leine«, schrie sie mit einer Stimme, die sich zu gefährlichen Höhen aufschwang. »Zisch ab.«

»Komm raus«, röhrte eine kräftige Männerstimme vor der Tür. »Sag mir das ins Gesicht.« Er rüttelte an der Klinke.

Ich warf einen Blick durch eines der Löcher, das wackere Spanner in die Wand zum Nachbarklo gebohrt hatten.

Jetzt schlug er mit der flachen Hand auf die Tür.

»Komm raus«, brüllte er.

Ich blickte auf schwarze, stoffumspannte Hüften, aus Spannersicht zweifellos die interessanteste Partie der weiblichen Anatomie.

»Hau ab, du Blödmann«, schrie sie zurück. »Ich will nicht mehr.«

Mich hätten ganz andere Körperpartien interessiert. Zum Beispiel der Ausdruck auf ihrem Gesicht. Spannermäßig langweilig, vermute ich.

Er hatte sich auf die Kraft seiner Füße verlegt. Rums, donnerte ein Tritt gegen die Tür, rums. Langsam wurde es mir zu bunt. Ich fischte meine Walther aus der Tasche und zog die Spülung. Das Wasser rauschte. Einen Moment lang waren beide still.

Dann legte er wieder los. Diesmal ging der Fußtritt gegen meine Toilettentür. »Halt du dich da raus«, warnte er mich.

Er wandte sich wieder der Nachbartür zu. Rums.

Ein günstiger Moment. Ich machte die Tür auf. Ein Ausfallschritt mit dem rechten Bein, und ich stand lehrbuchmäßig adrett mit lockeren Knien, gestreckten Armen und der Walther zwischen beiden Händen da. »Hände hoch.«

Es war der Typ mit der Pomade, der auf den Automaten im Gang eingedroschen hatte. Mit einem Ausdruck ungläubigen Staunens blinzelte er mich an. Das Neonlicht knallte ihm voll in sein Milchgesicht.

»Keine Bewegung«, befahl ich. »Rüber an die Wand.«

Er tat, was ich wollte, brav wie ein Lamm. Die Begegnung mit mir und meiner Walther hatte in Sekundenschnelle einen friedlichen Mitbürger aus ihm gemacht. Ich klopfte ihn nach Waffen ab.

»Alles okay«, beschied ich ihn. »Hau ab.«

»Was soll das?« maulte er.

»Ich hab was gegen Typen, die ihre Freundinnen verprügeln. Außerdem ist das hier ’n Damenklo, falls du das noch nicht gemerkt hast.«

»Bist du ’n Bulle oder was?«

»Schlimmer«, sagte ich. »Kripo. Und jetzt hau ab.«

Er ging mit erhobenen Händen rückwärts zur Tür.

»Du kriegst es mit mir zu tun, wenn du sie anpackst.«

Die Tür fiel hinter ihm zu. Mit der Fußspitze stieß ich sie wieder auf, sah ihm mit gezogener Waffe nach. Er rannte mehr, als er lief, über den Gang.

»Sie können rauskommen«, rief ich laut. »Er ist weg.«

Eine junge Frau mit kurzen roten Haaren stöckelte auf mich zu. »Danke.« Sie zog an ihrem Schlauchkleid. »Das war knapp.«

Ich steckte die Walther in meine Tasche zurück.

»Was haben Sie denn mit dem gemacht?« wollte ich wissen.

»Abgehängt«, sie strich sich vor dem Spiegel mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht. »Für ’n neuen. Ich hab noch keinen Typen getroffen, der das einstecken kann.«

»So sind sie«, gab ich ihr recht. »Und jetzt? Alles okay? Trauen Sie sich wieder raus?«

»Draußen läßt er mich in Ruhe«, beruhigte sie mich.

»Na, dann wollen wir mal.«

Seite an Seite liefen wir durch den schlecht beleuchteten Gang in die Kneipe zurück.

»Eigentlich hab ich was gegen Bullen«, verriet sie mir.

»Ich auch«, sagte ich. »Meistens.«

»Trotzdem danke«, verabschiedete sie sich.

2

Unter warmen Lichtern steuerte ich den leeren Barhocker an. Ein Mann, den ich nicht erst seit gestern kannte, wartete auf mich.

Beckmann empfing mich mit frohem Blick und einem blauen Gesicht. »Richtig langweilig ohne dich.«

Hinter ihm kletterte ein kräftiges Blau die Windung einer Leuchtröhre hoch, fiel wieder herunter, schwang sich den nächsten Bogen hoch.

»Nase pudern muß auch sein«, teilte ich ihm mit.

›Love‹ war das Wort, das in schwungvollen Buchstaben auf der dunklen Scheibe stand. Es blitzte dreimal blau auf. Das Gesicht meines Begleiters blinkte blau mit. Jetzt stieg ein leuchtendes Rot die Röhre hoch.

»Wie gefällt es dir hier?« Beckmann in Rot. Ein aparter Anblick. Der Stolz, mich in so ein exquisites Etablissement entführt zu haben, stand ihm gut.

Ich knabberte an einer Cocktailkirsche, die am Ende eines Holzstabs aufgespießt war, und suchte nach einem Wort, das meine Gefühle halbwegs treffend umriß.

»Cool«, antwortete ich lässig. Das traf es so ziemlich. Die Rothaarige in dem schwarzen Schlauch stand jetzt an einem Tisch mit einem Typen, von dem ich nur den Lederrücken sah. Ich hielt nach ihrem alten Freund Ausschau. Jede Menge pomadegetränkte männliche Haarschöpfe unter den Propellern, die an der Decke kreisten, aber nicht das passende Gesicht.

»Hast du schon die Fotos gesehen?« Beckmann machte eine elegante kleine Drehung auf dem Barhocker und zeigte auf die Wand hinter sich. Seinem Gesicht nach zu urteilen, wartete dort eines der sieben Weltwunder auf mich.

Ich stärkte mich mit dem Schluck eines Gebräus, das als ›Kuß der Spinnenfrau‹ auf der Getränkekarte stand. Dann konzentrierte ich meine geballte Sehkraft auf die Wand hinter seinem gelben Gesicht. Herren mit Schlapphüten vor Oldtimern. Daneben Koffer. Mehr sah ich nicht.

»Prohibition, Chicago«, lieferte er mir eifrig die Stichwörter. »Na?« fragte er ungeduldig. »Sagt dir das nichts?«

»Cotton Club, Blues.« Die Anregung verdankte ich einer schwarzen Lady, die im Hintergrund stöhnte und sang.

»Gib dir ein bißchen mehr Mühe«, forderte er mich. »Was glaubst du, warum ich dich hierher schleppe? Bestimmt nicht, weil das ’n Musikerschuppen ist.«

Ich strengte mich an. Also keine Musiker. »Die Unberührbaren?« Die Truppe war zwar nicht bei der Kripo, sondern beim FBI. Solche Feinheiten interessierten Beckmann vermutlich nicht.

»Die falsche Seite.« Er schüttelte enttäuscht den Kopf. Ein trauriger Anblick. Beckmann, seine Enttäuschung und das grüne Gesicht.

Ich war sicher, jetzt hatte ich’s. »Al Capone und seine Jungs«, triumphierte ich. Genau, die Kästen auf dem Foto waren nicht für Musikinstrumente, sondern für MGs.

»Fast.« Beckmann war endlich mit mir zufrieden. Er lächelte. Diesmal in Gelb. Und sah wie ein glücklicher Löwe aus. »Meyer-Lansky und Co«, teilte er mir mit. »Nach dem haben sie die Bar benannt.«

Soweit ich mich erinnerte, war Chicago fest in der Hand der Mafia, römisch-katholisch und kein bißchen jüdisch. Aber ganz sicher war ich nicht. Im Feststellen der Religionszugehörigkeit verblichener amerikanischer Gangster bin ich nicht ganz fit. Außerdem war alles, was jetzt zählte, Beckmanns zufriedenes Gesicht.

»Trinken wir noch einen?« fragte er mich.

»Immer«, balzte ich. »Mit so einem schönen Mann.«

Geschmeichelt blinkte er mich mit seinem blauen Gesicht an. In Blau war Beckmann geheimnisvoll und stolz wie ein Pfau.

Ich blätterte die Getränkekarte durch. Hunderte von Cocktails, sonst nichts. Der ›Kuß der Spinnenfrau‹ war okay. Aber für den Rest des Abends schwebte mir etwas Romantischeres vor.

Ein Kellner mit schwarzem Jackett nahm unsere Gläser mit.

»Engelsläuten«, entschied ich mich.

»Mineralwasser«, bestellte Beckmann mit grünem Gesicht. Grün war eine Katastrophe. Er sah aus wie ein Krokodil, das seine Schnauze verloren hat.

Auf der Bank unter dem Neonschild wurden zwei Plätze frei. Ich hüpfte vom Barhocker. Entschieden romantischer als getrennte Sitzgelegenheiten, fand ich.

»Das ist das Schönste hier.« Beckmann setzte sich schräg auf die Bank und zeigte in die Dunkelheit vor der Scheibe.

Ich schwang ebenfalls zur Seite und sah hinaus in die Nacht.

Rechts von mir leuchtete ein riesiges blauweißes Viereck. Die Tankstelle. Da war nicht viel los. Aber geradeaus, keine fünfzig Meter entfernt, tobte der Bär. Rote Lichter, weiße, gelbe. Personenwagen, Transporter, Brummis mit Leuchtkerzen auf der Scheibe, eine hell erleuchtete Bahn.

Was für eine Aussicht. In Achterreihe zog vor uns der gesamte nächtliche Verkehr über die B 1.

Beckmann ist nicht umsonst bei mir im Bett gelandet. Er hat eben einen ganz besonderen Geschmack.

»Ist das nicht toll hier?«

Berauscht von den beweglichen Lichtern blickte er hinaus in die Nacht.

3

Die Ratte sprang quer über die Schienen. Sie lief zu einer Wand, neben der ein Mann lang ausgestreckt auf dem Boden lag. An einem Kabel kletterte sie zu einem Metallkasten hoch. Satt hockte sie da und schleckte mit der Zunge über die Zähne. Ihre Augen glühten rot in der Dunkelheit.

Am Ende des Tunnels ging das Licht an. Der Mann ächzte und wälzte sich zur Seite. Er stützte sich mit den Händen ab, richtete sich auf, verlagerte sein Gewicht auf die Knie. Auf allen vieren hockte er da, mit gesenktem Kopf, und lauschte in die Nacht.

Er kannte jedes Geräusch im Tunnel. Das Knacken der Elektrokabel an den Wänden. Das Summen der Leitungen über den Schienen, das leise Tropfen, mit dem das Wasser an der defekten Leitung aus der Wand kam. Und das Pfeifen der Ratten, die nachts auf der Suche nach Nahrung durch den Tunnel jagten.

Er setzte einen Fuß nach vorn, suchte mit der Hand Halt an der Wand und richtete sich auf. Er fuhr mit dem Fuß unter die Pappschachtel, auf der er gelegen hatte, schob sie hoch. Er kriegte die Kante zu fassen, lehnte die Pappe an die Wand. Dann schüttelte er sich und klopfte mit beiden Händen den Mantel ab.

Er hob den Kopf und sah zu dem Metallkasten an der Wand. Zwei rote Augen blinkten ihn an. Leo war wieder zurück. Der Mann nahm einen Beutel von einem Haken und humpelte zu den Gleisen. Zwischen den Schienen hangelte er sich von Holzbalken zu Holzbalken, dem Licht am Ende des Tunnels entgegen. Der Stoffbeutel stieß bei jedem Schritt in seine Seite, und der Schotter knirschte, wenn er das Bein nachzog. Schwelle für Schwelle arbeitete er sich vorwärts. Schritt für Schritt weichte die Dunkelheit weiter auf, kam er näher an das Licht. Er warf den Beutel auf den Bahnsteig und kletterte über die Drahtstufen des Seitengitters nach oben.

Im Licht der Neonröhren glitzerte der leere Bahnsteig kalt und bedrohlich. Er kniff die Augen zusammen, machte einen Bogen um den gelben Automaten und humpelte zu den Treppen. Am Geländer zog er sich Stufe für Stufe höher.

Er haßte dieses Licht, das die Dinge so hart machte. Er hatte mehr als eine von den Röhren abgeschossen, die hier unter den Plastikkästen saßen. Das gab nur Ärger. Die anderen verstanden das nicht. Niemand konnte das verstehen. Er hätte das früher auch nicht verstanden. Da hatte er immer das Licht angemacht. Nie hätte er freiwillig im Dunkeln gesessen. Heute konnte er nicht mehr damit leben. Er konnte Kälte ertragen, Nässe und Hunger. Aber zuviel Licht konnte er nicht mehr aushalten.

Gleich hatte er es geschafft. Das Licht war der Preis, den er zu zahlen hatte für das Beste, was es gab in seinem Leben. Wenn das Licht an war, wußte er, daß die Türen offen waren. Jedesmal hatte er Angst, sie würden verschlossen sein. Sie würden die Türen erst später aufmachen. Erst wenn es draußen hell war, oder wenn die Leute, die Arbeit hatten, hierher kamen.

Er humpelte unter zahllosen Lichtröhren auf die Glastüren zu, hinter denen die Nacht auf ihn wartete. Seine Hände legten sich auf den Griff, die Tür ging auf. Jedesmal war er dankbar, daß sie nicht verschlossen war.

Er humpelte ins Freie. Der Wind war scharf. Er spürte ihn nicht. Er legte den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel. Die Sterne und der Mond waren die einzigen hellen Teile, die er heute noch ertragen konnte. Millionen von Kilometern entfernt. Verdammte Milchstraßen. Sollten sie leuchten. Wen störten die schon? Die waren weit genug weg. Nicht wie diese verdammten Glühstäbe über den Spiegeln auf dem Bahnhofsklo, wo sein Gesicht wie eine zerknautschte Mülltüte aussah. Oder die Glitzerscheiben in der Fußgängerzone, in denen er auf sich stieß, ob er wollte oder nicht. Er kicherte. Einmal hatte er mit einem Backstein so ein Fenster eingeschlagen. Mannschaftsweise waren die Grünweißen angerückt. Aber da war er längst weg. Und ein paar Tage später hatte er sich entschieden. Keine zehn Pferde würden ihn zum Leben zurück ins Helle bringen. Nie mehr.

Taubenblau war das Dunkel heute. Die Leute sagten, es ist dunkel. Aber sie wußten nicht, wovon sie redeten. Er kannte sie alle: das luftige Taubenblau, das vorwitzige Spatzenbraun, das mächtige Grau wie von Adlerschwingen und das tiefglänzende Drosselschwarz. Und das Dunkel, in dem Rot war. Wie Blut, das über die Federn floß, wenn man einer Taube den Flügel abriß.

Das Dunkel im Tunnel war modrig, breiig, grauschwarz. Das kannte er so gut, das konnte er mit geschlossenen Augen riechen. In ihm fühlte er sich sicher, zu Hause. Aber es war auch träge wie Erbsensuppe und kein bißchen leicht.

So ein luftiges Taubenblauschwarz kam im Tunnel nicht vor. Das gab es nur draußen. Das ließ sich nicht einsperren. Das war frei.

4

»Ich dachte schon, du wirst nie wach.«

Ein Mann mit blauen Augen saß auf meiner Bettkante. Der Duft war durchdringend. Kaffee. Mein liebstes Suchtmittel am Morgen. Ich packte mir ein Kissen und schob mich und meinen Rücken an der Wand nach oben. Er setzte den Kaffee auf die Matratze.

»Beckmann spezial. Für Kommissarinnen und Langschläfer. Zwei Löffel pro Tasse.«

Ich erinnerte mich an einen Beckmann mit rotem und blauem Gesicht, einen Cocktail namens ›Engelsläuten‹ und an eine lange Nacht.

»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«

Eine entschieden ungemütliche Frage.

Ich tat so, als ob ich nichts gehört hätte, zog die Bettdecke ans Kinn und blies über die schwarze Oberfläche in meiner Tasse.

»Viertel nach elf.«

Eine erschreckend zivilisierte Zeit. Auch ohne ›Engelsläuten‹ krieche ich an einem freien Samstag nicht freiwillig vor zwölf aus dem Bett. Ich schlürfte weiter meinen Kaffee.

»Um zwei machen die Geschäfte zu.«

In meinem Kimono mit dem Drachen saß Beckmann vor mir auf dem Bett. Über der Brust klaffte der Kimono auseinander. Ich sah auf das helle Stück Haut, das von der Seide auf das vorteilhafteste umspielt wurde. Es setzte eindeutig wollüstige Erinnerungen frei.

»Früher hättest du nach einer Nacht mit mir nicht an die Ladenöffnungszeiten gedacht.« Ich drückte ihm die leere Tasse in die Hand.

Er stand auf. »Du irrst. An einem unserer ersten Samstage bin ich losgespurtet und habe eingekauft. Kaninchen, wenn ich dich erinnern darf.«

»Ich weiß noch, daß du meine Küche verwüstet hast«, rückte ich seine Erinnerungen gerade.

»Quatsch nicht, schwing deinen Hintern aus dem Bett.«

»Warum sollte ich?« fragte ich aufmüpfig. »Wo es so schön kuschelig ist. Und ich mich ausnahmsweise mal strecken kann, ohne an männliche Beine und Füße zu stoßen.«

»Weil es ein toller Tag ist.« Er zog die Vorhänge auf.

Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf.

»Und weil es für Kommissarinnen äußerst lehrreich ist«, drang es bettdeckengedämpft zu mir, »ein Stück normales Leben zu sehen. Nicht nur faulige Leichen.«

Probeweise schob ich die Bettdecke bis zur Nase, klappte die Augendeckel auf. Novemberlicht. Ungemütlich grau. Ich klappte sie schnell wieder zu. »Zieh sofort die Gardinen vor«, befahl ich, »sonst mache ich gar nicht erst die Augen auf.«

Er ging zum Fenster. Stoff rauschte, Rollen rasselten in einer Schiene. Ich schlug die Augen auf. Von den Vorhängen gebremst, floß das Licht sanft und schmeichelnd über meine Bettdecke. Mit einer dynamischen Geste schlug ich die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett.

»Wann sollen wir los?« fragte ich. »Viertel vor zwölf?«

»Viertel vor«, bestätigte er, bückte sich und sammelte seine Klamotten vom Boden auf.

Ich schaffe einen Schnellstart in acht Minuten, Duschen inklusive. Er braucht mindestens dreißig. Ohne Duschen, versteht sich.

Exakt zweiunddreißig Minuten später brachen wir auf. Ich mit duftenden Ohrläppchen und einem lila Plastikpelz, er in blauem gediegenen Tuch mit Cashmere. Zwei Wanderer aus unterschiedlichen Welten.

Wenn mir jemand vor sechs Monaten gesagt hätte, daß ich mit Beckmann, der sein Geld mit windigen Geschäften an der Börse macht, mehr als ein paar Flaschen Weißwein und gelegentlich das Bett teilen könnte, hätte ich ihn noch ausgelacht.

5

Es war kalt. Wenn er nicht erfrieren wollte, mußte er in den Tunnel zurück. Er hängte den Beutel über die Schulter und humpelte auf den Papierkorb zu. Mit dem Messer hackte er durch Plastik und Papier. Es schepperte hell. Dosen. Ein dumpfes Klirren. Glas. Keine Pfandflasche. Er warf sie in den Korb zurück. Es raschelte. Das Rascheln hörte sich nach weggeworfenen Schülerbroten an. Er klappte die Brotscheiben auseinander. Salami. Ein guter Fang.

Er sah eine Frau mit einem krummen Rücken die Tür aufziehen und durch die helle Eingangshalle laufen.

Er verstaute das Brot in seinem Sack. Vor den frühen Leuten brauchte er sich nicht zu verstecken. Die sahen ihn kaum. Die waren viel zu früh aufgestanden und viel zu müde, um ihn zu sehen. Es waren Leute, die man gut aushalten konnte. Nicht die Sorte, die einem angst machte mit ihren teuren Tüchern und Schals, dicken Mänteln und Ledertaschen mit protzigen Verschlüssen. Die kamen erst später, wenn die Büros aufmachten.

Er humpelte Stufe für Stufe die Treppen hinunter. Die Rolltreppen waren noch nicht angestellt. Die Frau mit dem krummen Rücken saß auf einem der roten Sitze und hatte die Augen zugemacht. Frauen wie sie putzten in den Arztpraxen oder in den Büros. Es gab ganze Horden von ihnen, die hier morgens auf die ersten Bahnen warteten.

Manchmal versteckte er sich den ganzen Morgen lang unter dem Bahnsteig in dem Hohlraum neben den Gleisen. Dann horchte er auf ihre Schritte, auf das Klacken der Schuhe mit den Absätzen. Wenn viele Frauen auf dem Bahnsteig waren, zogen Schwaden von Parfüm und Haarshampooduft zu ihm unter die Gleise. Leo war ganz verrückt danach, wie sie rochen. Er stand mit den Hinterpfoten auf seiner Schulter, reckte die Nase ganz hoch und schnüffelte entrückt.

Wie oft hatte er da schon gehockt und wie Leo die Nase nach oben gehalten und geschnuppert? Darauf gewartet, daß die Erinnerungen kamen. Die guten. An die Zeit, als neben ihm im Bett noch Frauen geschlafen hatten. Eigentlich hatte nur Lisa neben ihm in einem Bett geschlafen. Aber wenn er das Fußgeklapper über sich hörte, dachte er immer, Dutzende von Frauen hätten neben ihm im Bett gelegen.

Er kletterte über die Gittertreppen nach unten auf die Gleise. Aber vielleicht war es ja dasselbe, ob eine neben ihm geschlafen hatte oder ein Dutzend. Vielleicht war die eine ja ein Dutzend. Er fühlte sich beschwingt von dem Gedanken. Der linke Fuß zog ganz leicht über den Schotter nach. Heute früh würde er einen kleinen Morgenspaziergang machen.

Er hangelte sich unter der Kante des Bahnsteigs durch. Um diese Uhrzeit konnte man nicht mehr auf den Gleisen gehen. Das war zu gefährlich. Wenn man hängenblieb, war alles zu Ende. Eines Tages würde er auf die Schwellen laufen und extra stolpern. Das ging nur ihn allein etwas an. Noch war es nicht soweit. Für heute hatte er andere Pläne. Als erstes wollte er zu den abgestellten Bahnen.

Er umfaßte das Messer in der Manteltasche. Man konnte nie wissen, wen man da traf.

6

Wohin mein Auge schweifte, nichts als Grau. Der Himmel, das Wasser, die Brücke. Ein ungemütliches, pappiges Grau. Der Tag war genauso kalt und trübe, wie ich befürchtet hatte.

Zielsicher steuerte Beckmann sein liebstes Statusobjekt an, einen schwarzen Porsche. Mit den feuchten Blättern auf dem Dach sah er fast aus wie ein ganz normales Auto, ein Gefährt, das Menschen und Tiere trocken von einem Punkt zum anderen schaukeln kann.

»Mach dich nicht lächerlich«, sagte ich. »In der Stadt kriegst du eh keinen Parkplatz.«

»Soll ich mich etwa so …«, er wedelte mit einem echt wollenen Hosenbein, »… zu dir auf die Maschine setzen?«

»Es gibt andere Transportmöglichkeiten.« Ich zog ihn am Mantelarm von seiner Luxuskarosse weg. »Da drüben zum Beispiel.«

Er sah verständnislos auf die Kreuzung. Wie üblich mit Autos vollgestopft.

»Rechts.«

Er drehte den Kopf zur Seite.

»Die Bahnen in die Stadt fahren alle zehn Minuten.«

Wir steuerten die Haltestelle unter dem Glasdach an. Beckmann vertiefte sich in die Tafeln mit den Abfahrtzeiten. Ich stand vor einem gelben Fahrkartenautomaten und studierte die Gebrauchsanweisung. Ein Druck auf den Knopf, und der Fahrpreis erschien in hellen Digitalzahlen. Ich zog einen Zehnmarkschein glatt und legte ihn in den Metallschlitz. Lautlos schluckte ihn die Maschine. Kurz darauf regnete es Münzen. Ich fischte sie mit dem Fahrschein heraus und probierte das Ganze mit einem Fünfmarkstück noch einmal.

Weiter hinten tauchten zwei Lichter auf. Die Straßenbahn pflügte sich ihren Weg durch das Grau. Eine alte Frau stand von einer Sitzschale auf und rollte ihren Einkaufswagen an die Bahnsteigkante. Ich stopfte Beckmann seinen Fahrschein in die Tasche neben dem Mantelkragen. »Paß gut drauf auf. Sonst kaschen sie dich noch wegen Schwarzfahren.«

Die Straßenbahn rumpelte auf den Schienen heran. Ich drückte auf einen roten Knopf, silberne Stufen fuhren vor uns aus. Die Türen öffneten sich.

»Und jetzt entwerten«, führte ich einen Porschefahrer in die Geheimnisse des Öffentlichen Personen-Nahverkehrs ein. Der Apparat schluckte das Papier, klingelte und spuckte es wieder aus.

Im vorderen Teil des Wagens spähte ich zwei freie Sitzplätze aus. An Horden von Schülern vorbei, die mit sich und ihren Mappen den Gang verstopften, kämpften wir uns nach vorne. Mit einem Ruck fuhr die Bahn an. Wir fielen auf die Sitze. »Nächster Halt Schützenstraße«, tönte es über unseren Köpfen.

Beckmann zupfte mit einer Hand an meinen Nackenhaaren. Mit der anderen suchte er einen Eingang zwischen den Knöpfen meines lila Tigers. »Praktisch, Bahnfahren.« Seine Hand legte sich breit über meinen Magen. »Hat man die Hände frei zum Spielen.«

»Und gut für die Nerven.« Ich zeigte nach draußen. Während wir fuhren, standen die Wagen in Zweierreihe. Ich sah Finger, die sich um Lenkräder krampften. Beckmanns Hand wanderte weiter nach oben. Zärtlich steckte er die Nase in meinen falschen Pelzkragen.

Auf dem Sitz gegenüber sprang ein Teenie samt Walkman hoch. Zusammen mit den anderen Kids stürmte er an der Schützenstraße aus dem Wagen. Beckmanns Hand lag wieder entspannungsfördernd auf meinem Magen. Mit seiner Nase hatte er sich bis an mein Ohr vorgearbeitet. Jetzt fühlte ich seine Lippen an meiner Ohrmuschel. Das Kribbeln in meinem Ohr hörte auf.

Er fuhr hoch. »Wir sitzen fest. Es geht nicht weiter.«

War da ein Hauch Panik in seiner Stimme? Ich sah mich um. Die Tür neben dem Fahrerhaus war offen. Eine Frau in einer grauen Uniform stieg die Treppen hinunter auf die Straße. Die Fahrgäste begannen zu tuscheln. Im Licht der Bahn sah ich ein paar Kollegen in Uniform über die Straße turnen.

»Scheiße«, entfuhr es mir. »Wir müssen laufen, Beckmann.«

»Laufen?« Sein Gesicht verzog sich, als müßte ich ihn innerhalb von Sekunden beim zahnärztlichen Notdienst abliefern.

»Kurden-Demo. Die ganze Innenstadt ist abgesperrt.«

Automatisch befühlte ich meine Tasche. Alles klar. Der harte Kern an der Seite sagte mir, daß ich meine Pistole nicht vergessen hatte. »Da kommt keine Bahn mehr durch.«

Wir stiegen durch die offene Tür aus dem Wagen. Die blonde Fahrerin der Straßenbahn stand auf den Gleisen und unterhielt sich mit einem Kollegen. Ich schlug mich mit Beckmann auf den Bordstein und übernahm die Führung.

»Wie läuft es sich so?« fragte ich den Fußgänger wider Willen an meiner Seite.

»Gibt es etwas Schöneres als Laufen?« grinste er mich an.

Die Luft in den Straßen war kalt. Sie stank nach dem, was Autos und Schornsteine so in die Gegend pusten. In der Brückstraße roch es besonders apart. Da gesellte sich noch Gyros- und Pommesduft dazu. Auf dem Hellweg schoben und drängten sich die Leute. Wir machten, daß wir weiterkamen. An jedem anderen Punkt der Stadt ist es weniger voll.

Auf dem Markt war ich froh, daß ich noch vor zwölf aus dem Bett gekrochen war. Apfelsinen, Äpfel, Tomaten, Bananen. Farbe pur. Der totale Anti-Grau-Trip.

»Maronen«, Beckmann blieb gebannt vor einem Stand mit Eßkastanien stehen. Sie lagen da, glänzten in sattem dunklen Braun. »Au ja. Wir rösten Maronen.«

»Machen wir Maronen«, stimmte ich ihm zu.

Beckmann bestellte mit leuchtenden Augen zwei Kilo. Ich kenne niemanden, der sich so begeistern kann. Für die ganz einfachen Dinge des Lebens, Früchte, die sich auf Marktständen stapeln, und Lichterketten, die in der Nacht funkeln. Aber vielleicht war es ja nur ein Zeichen gefährlichen galoppierenden Verliebtseins, daß ich in einem Moment wie diesem, vor dem Stand mit den Eßkastanien, Beckmann glatt zutraute, hier und jetzt, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, seinen Porsche gegen eine einzige, fette, runde Kastanie einzutauschen.

»Wir brauchen einen Kupfertopf. Für die Maronen.«

Mit diesem Satz brachte mich Beckmann in Lichtgeschwindigkeit von Wolke sieben auf die Erde zurück. Nichts in der Welt würde mich dazu bringen, mit ihm durch eine Haushaltsetage zu streifen. Das hatte er einmal mit mir gemacht. Ein Beckmann, der stundenlang zwischen Töpfen, Messern und anderem Gerät der gehobenen Gourmetküche umherschweift, setzt in mir nichts als Mordgelüste frei.

»Ich besorge den Wein.«

Er nickte zerstreut. Nach sechs Monaten mit Beckmann hatte ich eine ungefähre Vorstellung von dem, was sich jetzt in seinem Kopf abspielte. Vermutlich lief da gerade ein Fließband mit Kupfertöpfen, und er nahm jeden einzeln in die Hand, hielt ihn ins Licht und prüfte die Haltbarkeit der Verbindung zwischen dem Kupfer und den angeschweißten Henkeln.

7

Wir stapften durch die Parfümabteilung. Künstliches Licht brachte die Glastheken mit ihren Flacons und Cremetöpfen zum Funkeln. Vorbei an Vitrinen, hinter denen Schmuckstücke glitzerten, gelangten wir zur Rolltreppe. Hier trennten sich Beckmanns und meine Wege. Er nach oben in die Haushalts-, ich nach unten in die Feinkostabteilung.

»Wo treffen wir uns?«

»Am Stand mit den Zeitschriften«, schlug er vor. Das war der einzige Punkt, wo er mich warten lassen konnte, ohne daß ich maulte.

»Um halb zwei?« fragte ich.

»Viertel vor?«

»Okay«, stimmte ich zu.

Auf silbernen Stufen rollte ich nach unten. Feinkostabteilungen sind die Teile von Kaufhäusern, die mich noch am wenigsten nerven. Und vor den Weinregalen ist es meist schön ruhig. Jedenfalls ruhiger als in dem Gewühl vor den Fleischtheken.

Ich bin ein Fan von trockenen Weißweinen, vorzugsweise Riesling, aber heute lachten mich die Flaschen mit dem neuen Beaujolais an. Wahrscheinlich war es die Farbe. Rot. Eine klare Alternative zu Grau. Ich stellte zwei Erzeugerabfüllungen in den Wagen.

Dann reihte ich mich in die Schlange an der Käsetheke ein. Plötzlich begann es in meiner Tasche zu tuten. Mit geübtem Griff stellte ich den Piepser ab. Das war’s ja dann mal wieder. Ich räumte meinen Platz vor der Käsetheke.

Ein Kurztrip in die Stadt, und schon war mein freies Wochenende vorbei. Im Geiste verabschiedete ich mich von Beckmann, meinem Kuschelbett und den heißen Maronen. Ich gab dem Einkaufswagen einen Schubs und ließ ihn ohne mich in Richtung Frischmilch trudeln.

In der Ecke neben dem Schnäppchenmarkt gab es ein Kartentelefon. Ich wühlte in meiner Handtasche. In einem Seitenfach wurde ich fündig. Ich schob die Karte ein und wählte die Nummer der Zentrale. Während das Freizeichen in meinem Ohr summte, fragte ich mich, wie ich aus der abgesperrten Innenstadt zum Tatort kommen konnte.

Eine völlig überflüssige Frage. Die Leiche lag keine dreihundert Meter Luftlinie von mir entfernt im Untergrund neben den Gleisen.

Über die Lautsprecher gab ein Mann die Knüller des Schnäppchenmarkts bekannt. Mäntel mit echtem Lammfutter für den Winter. Wer immer da auf mich wartete, hatte keinen Mantel mehr nötig.

Beckmann, schoß es mir durch den Kopf. Beckmann und sein Kupferkessel für die Kastanien. Ich arbeitete mich zu dem Schild Kundeninformation / Umtausch vor.

»Könnten Sie für mich eine Durchsage machen?« Ich versuchte es mit meinem charmantesten Lächeln.

Die Dame mit dem blonden Lockentuff legte den Kopf schief.

»Was für eine Durchsage?« Die Locken hüpften zur Seite. »Wir machen nur Diebstähle und verlorengegangene Kinder«, klärte sie mich auf.

Bei der beschränkten Auswahl konnte ich nicht viel machen.

»Kinder«, sagte ich.

»Mädchen oder Junge?«

»Junge.«

»Wie heißt er?«

»Lars Beckmann«

Sie griff nach einem Zettel. »Wie alt?«

»Fünf«, antwortete ich, ohne zu zögern.

»Wo haben Sie ihn verloren?«

»In der Haushaltsabteilung.«

»Und das merken Sie erst hier unten?« Die Locken wippten entrüstet. Sie fing an zu schreiben und las laut mit: »Der kleine Lars Beckmann hat in der Haushaltsabteilung seine Mama verloren.«

»Tante«, verbesserte ich spontan.

»Also, noch mal«, sagte sie. »Der kleine Lars Beckmann hat in der Haushaltsabteilung seine Tante verloren. Und wie heißen Sie?«

»Stein«, gab ich bereitwillig Auskunft.

»Vorname?«

»Beate.«

»Tante Beate«, fuhr sie fort, »wartet im Tiefgeschoß in der Information.«

»Das geht nicht. Ich muß sofort nach Hause.«

»Sie wollen nicht auf den Kleinen warten?« In ihrem Gesicht stand das Grauen.

»Ich kann nicht. Lassen sie durchsagen: ›Der kleine Lars soll allein nach Hause gehen.‹ Er kennt den Weg«, fügte ich erklärend hinzu.

»Ist denn zu Hause jemand da für den Kleinen?« fragte sie streng.

»Natürlich«, log ich. »Seine Eltern.«

»Das geht in Ordnung.« Sie klang eine Spur versöhnlicher. »Wenn Sie weg müssen.«

Ich lief zu den Rolltreppen. Als ich nach oben fuhr, hörte ich die Durchsage. »Der kleine Lars Beckmann ist in der Haushaltsabteilung verlorengegangen. Ich wiederhole: Der kleine Lars Beckmann ist in der Haushaltsabteilung verlorengegangen. Tante Beate kann nicht auf ihn warten. Lars soll nach Hause gehen, zu seiner Mama und seinem Papa. Ich wiederhole …«

Ich trat die Flucht nach vorn durch die Glastüren an. An den Ständen mit den bunten Herbstblumen vorbei lief ich die Hansastraße hoch, einer Leiche entgegen.

8

Er packte sie unter den Armen, zerrte sie weg von den Gleisen. Sie war schwerer, als er dachte. Oder er war schwächer, als er für möglich gehalten hatte. Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn. Der Schotter knirschte. Endlich hatte er es geschafft. Er lehnte sie an die Wand und kniete sich vor sie.

Ihr Haar roch nach Aprikosen. Knopf für Knopf drehte er das runde Metall aus dem Stoff. Er packte sie am Nacken, zog sie an sich, streifte erst den einen, dann den anderen Stoffärmel von ihrem Arm. Die Jacke fiel hinter ihr auf den Boden. Er knöpfte die Bluse auf, zog sie von den Schultern.

Eine Weile hielt er sie einfach weiter so in den Armen. Wie gut sie roch. Seine Finger strichen über ihr Haar. Frauenhaar. Er hatte schon lange über keine Frauenhaare mehr gestrichen. Sie fühlten sich ein wenig struppig an. Struppiger als Leos Fell. Er sah auf den Träger, der unter ihrem Unterhemd rosa über den weißen Arm baumelte. Wann hatte er das letzte Mal eine Frau in einem Unterhemd gesehen?