Perfekte Pläne - Sabine Deitmer - E-Book

Perfekte Pläne E-Book

Sabine Deitmer

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Beschreibung

Lohnt es sich, mit 73 noch Pläne zu machen? Sein Leben von Grund auf zu ändern? Alles noch einmal neu und besser zu machen? Nach einem Schlaganfall zieht ein älterer Herr in einer Kurklinik Bilanz. Er macht einen Plan, voller Hoffnung und Zuversicht. Einen Plan, der tödlich ausgehen wird ... Weil sein Plan die Pläne von anderen zunichte macht. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Sabine Deitmer

Perfekte Pläne

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Inhalt

Perfekte Pläne [...]Prolog123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354.55565758596061626364656667686970717273747576777879808182Epilog

Perfekte Pläne

Prolog

Die Türen glitten lautlos vor ihm auseinander. Er betrat die weiße Zellé. Der Boden federte unter seinem Gewicht. Neonlicht flackerte auf, leuchtete auf kahle weiße Wände, Metallstangen, den Toilettentopf. Die Türen schlossen sich. Endlich. Endlich allein. Er sah sich um. Alles war sauber, makellos. Die Krone der Zivilisation. Eine Melodie setzte ein. Wie im Supermarkt. Er stellte das Hörgerät ab. Warum hatte er das nicht schon früher gemacht? Er lehnte den Stock an die Wand, zog den Mantel aus, hängte ihn an einen silbernen Haken, griff nach einer silbernen Stange, hielt sich daran fest. Seine Knie zitterten. Er atmete tief durch. Luft, die süßlich roch, drang in seine Lungen. Von einem Reinigungsmittel, vielleicht.

In der Klinik hatten sie ihm beigebracht, was er tun konnte, wenn die Angst kam. Er konzentrierte sich auf seinen Atem. Tief einatmen: eins, zwei, drei – und ausatmen: vier, fünf, sechs. Und wieder: einatmen und ausatmen. Eins, zwei, drei – seine Brust füllte sich mit Luft –, vier, fünf, sechs. Und wieder: einatmen und ausatmen. Und anschließend alles noch einmal. Den Brustkorb aufpumpen und ihn wieder in sich zusammenfallen lassen. Danach das Gleiche noch einmal von vorn. Er machte alles genau so, wie er es gelernt hatte.

Heute nutzte es nichts. Das Zittern in seinen Knien hörte nicht auf. Seine Finger, die fest um das Metall gelegt waren, hörten nicht auf zu zittern. Die Angst war stärker als jede Angst, die er kannte. Stärker als die Angst auf der Intensivstation, die Angst in der Klinik. Die Angst ließ seine Knie zittern, seine Finger, sie quetschte ihm das Herz, wühlte in seinen Gedärmen. Rumorte in seinem Bauch.

Er suchte nach einem Apparat an der Wand, aus dem er eine Schutzfolie für den Toilettensitz ziehen konnte. Nichts. Dies war ein WC der neuesten Generation. Er erinnerte sich, dass auf dem Schild neben dem Münzeinwurf gestanden hatte, dass die Toilette sich innerhalb von dreißig Sekunden nach jeder Benutzung automatisch selbst reinigte. Da brauchte man keine Schutzfolie mehr für den Toilettensitz. Er suchte die Wände nach Düsen ab, aus denen die Reinigungsmittel kommen könnten. Aber er sah keine feinen Löcher, nichts.

›Sie können den Aufenthalt in unserer City-Toilette bis auf maximal vierzig Minuten verlängern‹, las er an der Wand. ›Drücken Sie dazu auf diesen Knopf.‹ Er würde nicht so lange brauchen. Sein Darm rebellierte. Das war die Aufregung. Mit den Hosen in den Kniekehlen setzte er sich auf die weiße Toilette.

Er hätte misstrauischer sein sollen, nicht so vertrauensselig. Der Gedanke deprimierte ihn. Er erinnerte ihn an alles, was sich unangenehm und schmerzhaft anfühlte. Warum war er nicht vorsichtiger gewesen? Er hätte sich absichern können, Vorkehrungen treffen. Für den Fall, dass sich die Dinge anders entwickelten, als er es erwartete. Sein alter Fehler. Zu schnelles Handeln. Ohne die Dinge sorgfältig zu prüfen. Es war deprimierend zu wissen, dass man sich selbst nicht entkam. Nicht dem, was man einmal gewesen war. Dass man die alten Fehler machte. Er drückte den Knopf, und das Wasser kam laut in das Becken gespritzt. Am liebsten würde er hier sitzen bleiben, die ganze Nacht. ›Sie können den Aufenthalt in unserer City-Toilette bis auf maximal vierzig Minuten verlängern.‹ Maximal! Was machten die mit einem, wenn man die Toilette in der Zeit nicht räumte? Setzten sie Sprinkler ein, aus denen Wasser von der Decke regnete, um ihn zu vertreiben? Oder fiel von der Decke ein feiner Nebel aus Tränengas, der in die Augen drang, in die Nase, bis man es nicht mehr aushielt und nach draußen flüchtete?

Er kam sich hilflos und ausgeliefert vor. In dieser weißen Zelle mit ihren runden Wänden. Den feinen Düsen, die in diesen Wänden sitzen mussten, unter der Decke, auch wenn er sie nicht sah. Er wanderte mit den Augen weiter. Ein roter Knopf in Griffweite. ›Notruf.‹ Warum drückte er nicht darauf? Irgendetwas würde passieren, irgendwo würde eine Alarmglocke läuten, irgendwer würde aufspringen, in ein Fahrzeug steigen, hier erscheinen. Die Türen würden sich öffnen, jemand würde zu ihm kommen, und er wäre nicht mehr allein. Nicht mehr ohne Beistand dem ausgeliefert, was draußen vor dem Eingang auf ihn wartete. ›Der Notruf funktioniert nur, wenn Sie den Schlüssel für Behinderte besitzen.‹

Panik überflutete ihn. Ein Raubtier, das ihn in seinen Klauen hielt. Er zwang sich, dagegen anzugehen.

Tief einatmen: eins, zwei, drei – langsam ausatmen: vier, fünf, sechs. Die Brust aufpumpen. Und die Luft ablassen. Und wieder: ein und aus und ein und aus und ein und aus. Die Panik flaute ab.

Er hatte diesen Knöpfen immer schon misstraut. Was für eine Farce. Er konnte nicht einfach auf den roten Knopf drücken. Er brauchte dazu einen besonderen Schlüssel. Den Notruf konnte er vergessen. Vielleicht war es besser so. Vielleicht hätte er den Notruf auch nicht gedrückt, wenn er den Schlüssel in der Tasche gehabt hätte. Hilferufe waren etwas für Feiglinge. Er war kein Feigling. Er war noch nie ein Feigling gewesen. Werner Krieger ist vieles, aber nicht feige, machte er sich Mut. Ich werde die Sache durchstehen, alles in Ordnung bringen. Ein für alle Mal klären. Eine Trennungslinie ziehen. Egal, wie schmerzhaft das sein wird.

Er zog das Toilettenpapier aus dem silbernen Halter, putzte sich ab. Er verzichtete darauf, das Toilettenpapier nach Spuren von Blut zu überprüfen. Auch so eine Angewohnheit, die er seit zwei Jahren angenommen hatte. Eine Angewohnheit, die ihm Angst machte. Weil sie fern jeder Vernunft war. Jeder wusste, dass die Spuren von blutenden Organen kaum vom menschlichen Auge wahrnehmbar waren.

An Krankheiten zu denken, die ihm Angst machten, war weniger schlimm, als daran zu denken, wer vor der Tür auf ihn wartete. Warum waren sie nicht zufrieden mit dem, was er ihnen gegeben hatte? Warum wollten sie mehr? Warum waren sie so gierig? Beunruhigende Fragen. Ging es ihnen nur um das, was sie gefordert hatten? Sie waren gewissenlos und ohne Moral. Was waren das nur für Menschen?

Seine Därme waren leer, sie hatten alles, was in ihnen lag, entlassen, nein, nicht alles. Seine Angst war noch da. Das spürte er genau. Die Angst saß mitten in seinem Bauch. Sie hatte sich fest darin eingenistet.

Er zog die Hosen hoch und betrachtete sich im Spiegel. Weiße Haare und Falten. Ein alter Mann. Aber einer, der nicht aufgab. Er hatte alles gemacht. Hatte Fehler, Lieblosigkeiten, Grausamkeiten begangen. Er hatte nichts ausgelassen. Aber er hatte nie aufgegeben. Darauf war er stolz. Mit neu erwachtem Selbstvertrauen blickte er in sein Gesicht. Nichts hatte ihn zum Aufgeben bringen können. Nicht der Tod von Edith, nicht der Hirnschlag, nicht die Tage, die er auf der Intensivstation gelegen hatte, nicht die Wochen in der Klinik. Noch nicht einmal die Zeit, als er nur stammeln konnte wie ein Sechsjähriger und sein linker Arm und das linke Bein ihm die Gefolgschaft aufgekündigt hatten.

Er hatte sich wieder hochgekämpft, und er hatte die Kraft gefunden zu einem neuen Anfang, einem neuen Leben. Das sollte ihm, Werner Krieger, erst einmal einer nachmachen. So etwas schaffte nur einer, der wusste, was er wollte. Einer, der einen Plan hatte. Eine genaue Vorstellung von dem, was kommen sollte, und der alles daransetzte, aus seinem Plan Wirklichkeit werden zu lassen. Und genau das hatte er geschafft.

Auch wenn er jeden Morgen und jeden Abend diese dummen Pillen schlucken musste. Damit sein Blut dünnflüssig blieb und kein Pfropf ihm die Adern verstopfte. Damit er keinen zweiten Schlaganfall bekam. Den ersten hatte er gut überstanden. Sein linker Arm und das linke Bein gehorchten wieder seinen Befehlen. Er sprach wie früher. Sprach so, dass ihn alle verstanden. Und er konnte sich alleine versorgen, war klar im Kopf. Er konnte mit Jonas in den Zoo gehen, auf den Spielplatz. Auch wenn er sich dabei auf einen Stock mit Entenkopf stützte. Er konnte Jonas auf das Schaukelpferd setzen, ihn zum Juchzen bringen.

Er hielt seine Hände unter den Trockner, spürte die Wärme, die die Tropfen von seinen Händen pustete. Es gab keinen Grund, sich noch länger hier in dieser weißen Zelle zu verstecken. Er nahm seinen Mantel vom Haken, knöpfte ihn sorgfältig zu.

Er würde mit ihnen schon fertig werden. Er hatte schon ganz andere Sachen in seinem Leben überstanden. Er würde nicht klein beigeben, sich nicht erpressen lassen. Was hatte er zu verlieren, wenn es zum Schlimmsten kam? Das Zittern in seinen Knien ließ nach. Er sah Edith. Edith. Wie sie lächelnd und ungläubig den Kopf schüttelte. ›Werner Krieger, du bist verrückt. Und weil du verrückt bist, liebe ich dich.‹ Unter Ediths Lächeln verabschiedete sich die Angst. Was hatte er zu verlieren? Er würde nicht feige kneifen. Er drückte auf einen silbern glänzenden Metallknopf. Lautlos glitten die Türen vor ihm auf.

1

Ich knallte den Stapel Akten, den ich aus dem Keller hochgeschleppt hatte, vor mir auf die Schreibtischplatte. Eine Staubwolke flog auf, breitete sich aus. Ich hustete, flüchtete ans Fenster und riss es weit auf. Kalte Luft strömte herein. Ich atmete tief durch. In der Dachrinne des gegenüberliegenden Hauses saßen Drosseln und schimpften. Mit ihren Schnäbeln hackten sie in der Rinne herum. Das Telefon schrillte. Ich schloss das Fenster. Die Drosseln tobten jetzt lautlos hinter der Scheibe. Das Telefon schellte weiter. Mit drei Schritten lief ich zu meinem Schreibtisch zurück.

»Beate Stein, erstes Kommissariat«, meldete ich mich.

»Endlich«, stöhnte eine Frauenstimme erleichtert auf. »Ich dachte schon, du wärst nicht da.«

»Einer muss die Stellung halten.« Ich sah auf den leeren Schreibtisch, der gegenüber meinem stand. Auf den Drehstuhl davor. Ein Stuhl, auf dem normalerweise mein Kollege saß. »Wie geht’s Weber?« Wenn jemand meine Frage beantworten konnte, dann Inga: als Ärztin und als Ehefrau meines Kollegen, der seit drei Wochen nicht mehr im Büro gesichtet worden war.

Sie seufzte. »Unverändert. Es ist grauenhaft.«

Ich überlegte, was ich ihr Tröstliches sagen könnte. Mir fiel nichts ein.

»Kannst du nicht mal versuchen, mit ihm zu sprechen, Bea?«, fragte sie. »Vielleicht redet er ja mit dir.«

»Er sagt immer noch nichts?«

»Kein Wort«, stöhnte sie. »Es ist grauenhaft.«

»Und die Zwillinge?«

»Er will sie nicht sehen.«

»Das glaub ich nicht.« Ich ließ mich in meinen Schreibtischstuhl fallen.

»Kannst du nicht kommen?«, drängte Inga.

»Wenn er mit seinen Mädels nicht spricht, redet er mit mir erst recht nicht.«

»Du kannst es wenigstens versuchen«, beschwor sie mich. »Du kennst ihn. Du arbeitest Tag für Tag mit ihm zusammen.«

»Du kennst ihn doch viel besser als ich, Inga«, seufzte ich.

»Willst du, dass ich auf Knien vor deinem Schreibtisch rumrutsche und dich darum bitte? Bea, ich bin fertig, ich weiß nicht mehr weiter. Ich brauche Hilfe.«

»In einer halben Stunde bin ich da«, sagte ich.

Mein Blick wanderte über Webers Schreibtisch. Gab es irgendetwas, das ich ihm mitbringen konnte? Etwas, das meinen Kollegen wieder zurück in die Welt führte, von der er sich eine Auszeit nahm?

Halbherzig wühlte ich zwischen Büroklammern und Stiften in einer grünen Schale, zog eine Schreibtischschublade auf, beguckte mir die Vorräte an farbigem Papier, die er da gehortet hatte. Ich warf die Schublade wieder zu, ich war verrückt. Wenn Inga und die Zwillinge ihn nicht zurückbringen konnten, wie sollte das irgendein Gegenstand schaffen, der hier im Büro herumlag?

Oder suchte ich etwa nur, weil ich ein paar Minuten gewinnen wollte? Weil ich Angst davor hatte, was mit meinem Kollegen geschehen war? Weil ich nicht wusste, was ich gleich zu sehen bekommen würde? Weil die große, starke Bea im Grunde nichts als ein kleiner Schisshase war. Schnell verscheuchte ich den Gedanken. Eine Übung, in der ich Weltmeister war. Ich griff mir meine Daunenjacke, warf die Tasche über die Schulter und lief zur Tür. Die Akten auf meinem Schreibtisch hatten zwei Jahrzehnte im Keller geruht, da konnten sie ruhig noch ein paar Stunden länger auf mich warten.

Auf dem Gang kam mir ein Mann entgegen, dem ich jetzt lieber nicht begegnet wäre, Froböse. Ausgerechnet. Mit etwas Glück war er auf dem Weg zu einer Besprechung und sah mich nicht. Dieses Glück hatte ich nicht.

»Frau Stein.« Er stoppte vor mir und rückte die silberne Brille auf seiner Nase zurecht. »Gut, dass ich Sie noch erwische.«

»Ich bin eigentlich schon gar nicht mehr da.«

Das stoppte ihn nicht. »Sie haben hoffentlich schon angefangen mit den unaufgeklärten Fällen?«

»Befinden sich auf meinem Schreibtisch.«

»Ich brauche heute noch Ihre Einschätzung.«

»Heute?«, fragte ich ungläubig.

»Morgen habe ich eine Sitzung in Düsseldorf. Beim Innenminister, der will wissen, welche Verbesserungspotenziale wir als Nächstes angehen, wie wir uns da aufstellen, positionieren und welche Strategien wir entwickeln.«

»Sie wollen ihm die ungelösten Fälle servieren«, staunte ich. »Als Verbesserungspotenzial?«

»Wir haben heute kriminaltechnische Möglichkeiten, die wir damals nicht hatten.«

»Wissen Sie, wie lange ich das letzte Mal auf die Auswertung eines genetischen Fingerabdrucks gewartet habe?«

»Frau Stein«, rügte er mich. »Es geht um Visionen, Strategie. Die Zukunft der Polizei. Da zählen solche Petitessen nicht.«

»Die Praxis als Petitesse. Nett.«

»So habe ich das nicht gesagt«, empörte er sich.

»Wie lange sind Sie heute noch im Hause?«, erkundigte ich mich.

»Bis um sechs.«

»Bis dahin haben Sie meine Einschätzung auf dem Tisch.«

Ohne ein weiteres Wort stürmte er von dannen. Er hatte, was er wollte. Wozu noch weitere Energien in die Kommunikation mit einer Untergebenen stecken? Ein kleiner schwarzer Punkt auf seiner Agenda war erfolgreich abgehakt. Dieses kleine schwarze Nichts in seinem Kalender, das war ich.

Während ich in den ächzenden Paternoster stieg und mich von ihm nach unten schaukeln ließ, fragte ich mich, ob Webers Zustand etwas mit dem Klima im Amt zu tun hatte, mit dem seelenlosen Jargon von Unternehmensberatung und Marketing, die Menschen zu Zahlen in frisierten Bilanzen degradierten.

Mit beiden Armen stieß ich die Eingangstür auf. Die Luft schlug mir feucht und frisch entgegen. Es roch herbstlich, nach Nebel und nach vermoderten Blättern.

Ich stieg in meinen Wagen. Bald tauchten in den Geschäften die ersten Nikolause auf. Bildete ich mir das ein, oder verging das Jahr wirklich immer schneller?

Würde ich es diesmal schaffen, mir früher als sonst Gedanken über meine Weihnachtsgeschenke zu machen und nicht erst am Heiligen Abend durch die City zu hetzen? Jetzt brauchte ich kein Weihnachtsgeschenk, sondern ein passendes Mitbringsel für einen kranken Kollegen. Was brachte man jemandem mit, der sich von einem Tag auf den anderen ohne Vorwarnung ins Bett gelegt hatte und seitdem nichts mehr sagte?

An der Kreuzung lag ein Supermarkt. Ich stellte den Wagen auf den Parkplatz. Neben dem Eingang standen Palmen mit zarten Wedeln. In großen Eimern rote und gelbe Tulpen. Ich griff mir einen roten Tulpenstrauß.Nix für Weber, aber Inga würde sich freuen. Wie sie sich am Telefon angehört hatte, konnte sie ein bisschen Aufmunterung gut gebrauchen.

An der Obsttheke blieb ich stehen, Vitamine waren die klassische Beigabe für jeden Krankenbesuch. Warum auch nicht? Ich griff mir eine dicke dunkelblaue Traubendolde. Jetzt brauchte ich nur noch ein paar Pralinen. Damit war ich auf der sicheren Seite. Feine Schokolade war etwas, das die Laune meines Kollegen bisher in jedem Fall verbessert hatte.

Was wohl auf Webers Krankmeldung stand, fragte ich mich, als ich wieder im Wagen saß.Dyslexie? Vegetative Dystonie? Chronisches Erschöpfungssyndrom? Depression? In irgendeine Schublade würden sie ihn schon packen, meinen empfindsamen Kollegen.

Wenige Minuten später stieg ich mit meinem Strauß Tulpen, den Pralinen und den Trauben die Treppe zu Webers und Ingas Wohnung hoch. Ich schellte an der Wohnungstür, an der zwei Gänse den Schriftzug ›Willkommen‹ zwischen ihren Schnäbeln schaukelten.

Inga öffnete sofort die Tür. Als ob sie dort schon eine Weile gestanden und auf mich gewartet hatte. Ich erschrak. Inga, die rosige, patente Inga sah bleich und kraftlos aus, der hellrote Lippenstift, den sie aufgetragen hatte, wirkte deplatziert wie in einem Clownsgesicht.

»Die sind für dich.« Mit einem Rascheln entfernte ich das Papier von den Blumen.

»Rote Tulpen.« Für einen Augenblick leuchtete ihr Gesicht in einem Lächeln auf. »Sind die schön! Danke, Bea.« Das Gesicht der alten Inga. Der Inga, die ich kannte. »Komm rein.« Das Lächeln fiel schnell wieder ab, und sie sah ausgelaugt und müde aus. Eine fremde Frau.

Auf dem Esstisch stand noch das Frühstücksgeschirr. Mittags um zwölf. In diesem Augenblick, als ich auf drei Teller voller Krümel blickte, drei Tassen, an deren Rand eine Milchhaut hing, und ein Stück Butter, das schwitzte, auf dem kleine Tröpfchen Feuchtigkeit saßen, in diesem Moment, als ich ein offenes Marmeladenglas sah, den Deckel achtlos daneben, ein Glas, das niemand verschlossen und in den Kühlschrank gestellt hatte – in diesem Moment wurde mir klar, dass das, was hier geschah, ein Ausmaß besaß, auf das ich nicht vorbereitet war.

Inga stellte die roten Tulpen neben die Cornflakes-Packung auf den Tisch. Ich legte die Tüten mit den Trauben und die Packung Pralinen daneben. »Isst er wenigstens ordentlich?«, erkundigte ich mich.

Sie schüttelte den Kopf. »Er isst nicht. Er trinkt. Eigelb mit Rotwein, immerhin. Und heiße Milch mit Honig. Das hat ihm seine Mutter früher immer gemacht, wenn er krank war.«

»Zurück in die Kindheit«, vermutete ich.

Inga nickte. »Die letzte Fluchtburg. Das warme Bett.« Sie zog ein Taschentuch aus einer Packung, faltete es auseinander und schnäuzte sich. »Stell dir vor, manchmal beneide ich ihn. Im nächsten Augenblick könnte ich ihn würgen, weil er mich allein mit allem lässt.«

»Drei Wochen sind lang«, sagte ich.

»Ihm scheint’s zu gefallen.« Sie tupfte sich mit dem Ende des Taschentuchs eine Träne aus dem Augenwinkel. »Aber ich pack das nicht länger.«

»Wie stecken die Mädels das weg?«, fragte ich.

»Du weißt ja, wie sie sind. Teenies. Die haben mit sich selbst genug zu tun. Schule, Freunde, Sport …«

»Ist ja gut, dass es so ist«, sagte ich.

»Ich versuche, sie da rauszuhalten.« Inga schnäuzte sich. »Er fragt nicht nach ihnen. Er will sie nicht sehen.«

Sie sah auf die Wand über dem Esstisch, wo die frühen Werke der Mädels sorgfältig gerahmt hingen. Fröhliche Striche in klaren Farben.

»Er liebt seine Mädels«, sagte ich.

»Das weiß ich doch auch.« Inga warf ein Papiertaschentuch durch die silberne Klappe des Abfallkübels. »Aber er weiß es nicht, er ist völlig durch den Wind.«

»Er wird sich schon wieder einkriegen«, versuchte ich Inga zu trösten.

»Klar wird er das. Aber wann?« Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, sie bemerkte es nicht. »In einem Monat, in einem Jahr. Und die Mädchen? Und ich?«

»Kann er nicht weg zur Kur, in eine Klinik?«

»Klar kann er.« Ingas Stimme klang bitter. »Aber er will nicht. Das sagt er laut und deutlich. Ansonsten hält er sich zurück.«

»Was erhoffst du dir von mir?«, fragte ich.

Inga wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen. »Das weiß ich ja auch nicht. Dass er wieder zu sich kommt. Raus aus der Lethargie. Irgend so was …«

Ich sah auf den Käse, der auf seinem Teller die Form verloren hatte, zerflossen war.

»Ich arbeite zwar mit ihm«, ich sah mich an der Rinde einer Salamischeibe fest, die schwitzend über einem weißen Tellerrand hing, »aber ich kenne ihn nicht wirklich.«

»Meinst du, mir geht das anders?« Inga sah mich ernst an. »Ich lebe seit zwanzig Jahren mit ihm zusammen, wir haben zwei Kinder, und jetzt merke ich, ich weiß gar nicht, wer er ist.« Sie schnäuzte in ein neues Taschentuch. »Völlig verrückt.«

Ich schnappte mir die Trauben und die Packung mit den Pralinen vom Tisch. »Dann versuche ich mal mein Glück.«

»Die Tür da drüben.« Inga zeigte mir die Richtung.

Während ich der Tür entgegenlief, überschlugen sich die Gedanken in meinem Kopf. Was sollte ich gleich sagen, tun? Konnte ich überhaupt schaffen, was Inga von mir erwartete? Konnte ich Weber erreichen, wo sie das schon drei Wochen lang versucht hatte? Ging das überhaupt noch? Oder hatte er sich in eine Welt abgesetzt, zu der es keinen Schlüssel mehr gab? Wie brachte man Menschen ins Leben zurück? Wenn Verständnis und liebevolle Zuwendung nicht halfen, was dann? Von Komapatienten hatte ich gehört, dass sie durch eine Schocktherapie zurückgebracht worden waren. Weber lag nicht im Koma. Aber vielleicht sollte ich es trotzdem mit einem kleinen Schock probieren?

Ich drückte die Türklinke herunter. Das Zimmer lag im Halbdunkel. Meine Augen brauchten ein bisschen, um sich auf die Lichtverhältnisse einzustellen. Dann sah ich das Bett, den Nachttisch, die zugezogenen Gardinen und den Kopf meines Kollegen auf einem weißen Kissen. Wie vertraut einem ein Gesicht werden kann. Wie gut ich es kannte. Den Bart auf seiner Oberlippe, dessen Enden sich wie bei einem traurigen Seehund nach unten neigten. Seine braunen Augen. Heute sah ich ihre Farbe nicht. Seine Augen waren geschlossen.

Probier’s, Beate, ermunterte ich mich. Probier’s mit der Schocktherapie. Du willst Webers braune Augen heute noch sehen. Ich sog meine Lungen voll mit Luft.

»Hallöchen«, trompetete ich. »Hallihallo.«

Meine Lautstärke hätte Tote wieder aufgeweckt. Er verzog nicht einmal das Gesicht. Ich trat näher an sein Bett.

»Heh, mach die Augen auf«, röhrte ich laut. »Ich bin’s, Bea, deine Kollegin.«

Er zog es vor, die Augen geschlossen zu halten. Er blinzelte nicht einmal. Verdammt, wie ging’s jetzt weiter. Ich musste mir etwas Neues einfallen lassen.

»Wenn du nicht sofort die Augen aufmachst«, ich überlegte kurz, »kippe ich dir einen Liter Wasser ins Bett.«

Keine Reaktion. Er rührte sich nicht.

»Ich habe hier eine Anderthalbliter-Plastikflasche mit Wasser in der Hand«, drohte ich. » Jetzt, in diesem Moment halte ich sie über deinen Kopf.« Ich ließ die Worte wirken. »Wenn du nichts sagst, schütte ich dir das Wasser ins Gesicht.«

Er blinzelte. »Du hast gar keine Wasserflasche. Du bluffst.«

Weiter, Beate, trieb ich mich an. Es funktioniert, du musst einfach weitermachen.

»Ich habe sie hinter meinem Rücken. Und jetzt …«

Er riss die Augen auf.

Ich grinste. »Wie schön, dass du noch unter den Lebenden weilst.«

»Was weißt du schon«, schimpfte er los. »Du kannst mir gestohlen bleiben mit deinen faulen Tricks.«

Noch nie hatte ich mich so gern von meinem Kollegen beschimpfen lassen.

»Keine faulen Tricks«, versicherte ich. »Ehrlich.«

»Warum bist du dann da? Was willst du von mir?«

»Nichts«, antwortete ich ehrlich. »Ich will nichts von dir. Inga macht sich Sorgen, deshalb bin ich hier.«

»Dann ist ja alles in Ordnung.« Er zog die Decke bis ans Kinn. »Und ich kann weiterschlafen.« Er machte die Augen wieder zu.

»Sag mir, warum du die Nummer abziehst, und du bist mich los. Für immer.«

Er machte ein Auge auf und gleich wieder zu. »Du bluffst doch nur.«

»Nein«, versicherte ich, »ich bluffe nicht. Ich meine es ernst. Du sagst, warum du das machst, und ich hau sofort ab.«

Er stöhnte auf. »Du bist eine Nervensäge, weißt du das?«

»Sag mir, warum du diese Show hier abziehst.«

»Das ist keine Show.«

»Was dann?«

»Ein Experiment.«

»Und worum geht’s in deinem Experiment?«, wollte ich wissen.

»Ich dachte, du wärst clever?«

»Hab ich nie behauptet«, verteidigte ich mich. »Also, worum geht es in deinem Experiment?« Ich setzte ihm die Pralinenschachtel auf die Bettdecke. »Greif zu.«

Er hob den Deckel von der Packung und hielt sie mir hin. »Bedien dich.«

Jeder von uns mampfte eine Praline und blieb für eine Weile stumm.

»Also warum?«, fragte ich, als keine Schokolade mehr auf meiner Zunge klebte.

»Weil alles für’n Arsch ist.«

»Kannst du mir das erklären?«

»Ist doch ganz klar«, sagte er und schob die Bettdecke von seinem Kinn weg. »Immer wenn ich was mache, krieg ich Probleme. Am besten, ich mach gar nichts. Dann gibt’s auch keine Probleme.«

»Wie meinst du das?«, fragte ich.

Er stöhnte laut auf. »Ich dachte, du hättest Phantasie.«

»Jetzt sag schon«, forderte ich.

»Nimm mal die Arbeit.«

»Roger«, bestätigte ich.

»Also da machst du was, reißt dir den Arsch auf. Und was ist der Lohn?«

Ich sah ihn neugierig an.

»Du arbeitest zweieinhalb Stunden mehr pro Woche, kriegst aber keinen Pfennig mehr, im Gegenteil, sie streichen dir noch das Urlaubs- und Weihnachtsgeld zusammen.«

»Daran änderst du nichts, wenn du hier im Bett rumliegst.«

»Richtig«, freute Weber sich. »Hundertprozentig. Aber weißt du, was der Unterschied ist?«

Ich schüttelte hilflos den Kopf.

»Ich fühle mich weniger verarscht, weil ich seit drei Wochen nicht arbeiten gehe und unter der Bettdecke entspanne.«

»Hmmm.« Ich brauchte ein bisschen, um zu verarbeiten, was er gesagt hatte.

»Endlich mal ausschlafen, nichts tun«, schwärmte er. »Du glaubst gar nicht, wie geil das sein kann.«

»Was hat der Arzt auf deine Krankmeldung geschrieben?«, erkundigte ich mich.

»Irgendwas halt. Darum kümmert Inga sich.«

»Der ganze Scheiß hängt jetzt an Inga«, stellte ich fest.

»Ihre Schuld.« Weber schob sich eine Praline zwischen die Lippen. »Sie hat die Mädels zu sehr verwöhnt. Die könnten ihr ja helfen.«

Mein Kollege sah fast schon wieder so fröhlich wie in alten Tagen aus.

»Wie lange willst du das Experiment noch laufen lassen?«

Er zuckte die Achseln. »Solange es Spaß macht. So lange, bis ich richtig ausgeschlafen bin.«

»Und was meinst du, wie lange du dazu noch brauchst?«, wollte ich wissen.

»Keine Ahnung.« Er griff nach der nächsten Praline. »Im Moment halte ich das Experiment noch gut aus.«

»Du fehlst mir«, sagte ich. »Bei diesem Schwachsinn von Qualitätsmanagement und Verbesserungspotenzialen braucht man ’n Partner. Sonst klinkt man völlig aus.«

»Da siehst du, wie klasse das ist, sich einfach mal drei Wochen ’ne Auszeit zu nehmen«, strahlte mein Kollege.

»Wie meinst du das?«, fragte ich.

»Man wird einfach wieder ganz anders geschätzt.«

»Und wie lange willst du noch in diesem Wonnegefühl baden?«

»Bis es genug ist.«

»Und wann ist es genug?«

»Bis ich es sage.«

»Könntest du dir vorstellen, morgen wieder ins Büro zu kommen?«

»Morgen?« Er verzog angeekelt das Gesicht. »Frühestens in einer Woche. Und das auch nur, wenn du meine Eltern morgen zum Bahnhof bringst.«

»Wieso ich?«

»Weil Inga platt ist«, erklärte er mir. »Die kann nicht mehr. Wenn meine Eltern Inga so sehen, machen die sich nur Sorgen. Und die Mädels sind noch für nichts ernsthaft zu gebrauchen.«

»Und was steht, verdammt nochmal, für deine komischen Eltern morgen an?«

»Routine.« Er grinste mich an. »Nichts Großes. Die müssen nur zum Bahnhof gebracht werden, weil sie in die Eifel wollen. Sag ihnen bloß nicht, dass ihr Sohn im Bett liegt und über den Sinn des Lebens nachdenkt. Sag ihnen, ich hab einen Virus gefangen, liege flach. Das ist unverfänglich. Das kennen sie. Das können sie verkraften.«

»Ich soll sie in den Zug setzen? Mehr nicht? Ist das wirklich alles?«

»Das ist alles«, bekräftigte er. »Sobald du die in den Zug gesetzt hast, breche ich das Experiment innerhalb der nächsten acht Tage ab.«

»Dann steigst du aus dem Bett und kommst wieder ins Präsidium?«

Er nickte. »Innerhalb von acht Tagen. Darauf gebe ich dir mein Wort.« Er streckte mir seine Hand entgegen.

Ich schlug ein.

»Und?«, fragte Inga, als ich zurück in die Küche kam.

»Er hat geredet.«

»Er hat was?« Sie sah mich mit großen Augen an.

»Geredet. Nicht ganz freiwillig, aber immerhin.«

»Gott sei Dank.« Sie seufzte tief. »Du kannst dir nicht vorstellen, was für Sorgen ich mir gemacht habe.«

»Er ist ganz in Ordnung«, sagte ich. »Eine kleine Auszeit. Mehr braucht er nicht.«

»Eine kleine Auszeit? Die könnte ich auch gebrauchen.«

»Wer könnte das nicht?«, stöhnte ich. »Und? Warum nehmen wir sie uns nicht?«

2

Liebe Edith,

wenn ich die Gardine zur Seite schiebe – und das tue ich jeden Morgen als Erstes –, gucke ich hinunter in den Park, auf eine weiße Winterlandschaft. Die Äste der Tannen sind dick mit Schnee beladen, sie biegen sich unter seinem Gewicht. Manchmal rieselt der Schnee von einem Ast wie feiner weißer Staub. Ich denke daran, wie sehr Du den Winter gemocht hast. Wie oft Du zu mir im Winter gesagt hast: ›Komm, Werner, lass uns raus in den Schnee, spazieren gehen.‹ Wie oft habe ich Dich allein nach draußen gehen lassen. Du hast versucht, Dir Deine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Aber ich wusste, dass Du lieber mit mir durch den Schnee gestapft wärst. Heute gucke ich hinaus in den Schnee, und ich wünschte, die Tür ginge auf, Du stündest da in Deinem Mantel mit Schal und Handschuhen, voll Vorfreude in Deinen funkelnden Augen, und Du würdest zu mir sagen: ›Komm, Werner, raus in den Schnee, spazieren gehen.‹ Was würde ich heute dafür geben, noch einmal mit Dir zusammen da draußen im Schnee umherzugehen. Dein Arm fest unter meinem verhakt. Du neben mir. Wir beide Seite an Seite.

Zu Hause kann ich jeden Tag zu Dir auf den Friedhof gehen, zu Deinem Grab. Du liegst da unter einer großen Kastanie.

Manchmal bringe ich Dir Blumen mit, stelle sie in eine Vase. Ich erinnere mich daran, wie viele Vasen voll Blumen Du im Laufe der Jahre im Haus aufgestellt hast. Das sind schöne Erinnerungen. Ich sehe Dich dann, wie Du summst und mit einem Arm voll Flieder aus dem Garten ins Haus kommst. Wie Du die Zweige mit den blauen und weißen Blüten im Wohnzimmer verteilst. Manchmal kommt sogar der Duft zurück. Dann kann ich den Flieder riechen. Ein schwerer süßer Duft. Er erinnert mich an Sonne, an Frühling und an Dich.

Der tägliche Weg auf den Friedhof fehlt mir hier. Ich sitze fest in einer Klinik, sechshundert Kilometer von zu Hause entfernt, und ich kann nicht zu Dir ans Grab gehen. Deshalb schreibe ich Dir. Auch wenn meine Buchstaben noch schief und krumm aussehen. Und auch wenn ich die Briefe in keinen Umschlag stecken werde, in keinen Briefkasten werfe. Es ist eine Möglichkeit, Dir nah zu sein. Hier in dieser fremden Umgebung, wo es nur weißgekleidete Menschen gibt, Ärzte und Schwestern und Krankenpfleger und Therapeuten. Und sonst natürlich Menschen wie mich. Du müsstest mich sehen. In meinem Bademantel mit den Schlappen. Es ist nicht viel übrig geblieben von dem strahlenden Helden, der Dich im weißen Kleid über die Türschwelle getragen hat. Ein komischer alter Mann in einem dunkelblauen Bademantel mit gelben und grünen Streifen. So wie ich laufen hier alle Patienten herum, in Bademänteln mit Plastikschlappen und in Trainingsanzügen mit Turnschuhen. Kranke, die alles tun, um wieder auf die Beine zu kommen. Sich massieren lassen, auf dem Standfahrrad strampeln, in der Gymnastikhalle im Kreis laufen, an einer Stange Klimmzüge machen und im warmen Wasser nach Anweisungen aus dem Lautsprecher die Glieder strecken. Ich gebe mir Mühe. Du kennst mich. Du weißt, dass ich so schnell nicht aufgebe.

Ich habe immer gedacht, dass ich vor Dir gehen werde. Es ist anders gekommen. Vielleicht ist es besser so. Heute tröstet es mich, dass Du so friedlich eingeschlafen bist. Dich abends ins Bett gelegt hast neben mir, ›Schlaf gut, Werner‹ zu mir gesagt hast und meine Hand gedrückt wie jeden Abend. Du bist einfach nicht mehr aufgewacht.

Sobald ich kräftig genug bin, werde ich versuchen, mit meiner Gehhilfe raus in den Schnee zu gehen. Ob die Räder im Schnee stecken bleiben? Welche komischen Fragen man sich heute stellt, stellen muss. Es ist ein gutes Zeichen, wenn das Denken noch funktioniert. Nicht mehr sprechen zu können war schlimm für mich. Als ich im Krankenhaus aufgewacht bin, habe ich kein Wort über die Lippen gebracht. Kannst Du Dir das vorstellen, Edith? Du denkst etwas, aber du bringst es nicht über die Lippen? Das war ein Schock. Meine größte Angst dabei war, nicht mehr denken zu können. So weit ist es Gott sei Dank nicht gekommen. Das Denken hat von Anfang an wieder geklappt. Ohne Worte denken, ich weiß gar nicht, wie ich das hingekriegt habe. Irgendwie hat es funktioniert. Die Worte sind mit den Kreuzworträtseln zurückgekommen. Du weißt ja, ich kann kein Rätsel in der Zeitung ungelöst lassen. Jetzt hat es mir geholfen. Engl. Anrede mit drei Buchstaben: S-i-r. Nebenfluss des Rheins: M-a-i-n. So sind die Buchstaben zurückgekommen. Plötzlich konnte ich wieder reden.

Ich hatte Glück, dass ich schnell ins Krankenhaus gekommen bin. Bei einem Schlaganfall zählt jede Sekunde, sagen die Ärzte. Frau Heimer hat mich gefunden, auf dem Teppich neben dem Fernsehsessel. Was für ein Zufall, dass es ein Mittwoch war, der Tag, wo sie zum Putzen kommt. Sie hat sofort den Notarzt gerufen. Und mir Waschzeug und einen Bademantel ins Krankenhaus gebracht. Ich glaube, sie hat auch den Kindern Bescheid gesagt.

3

Zurück an meinem Schreibtisch, erwartete mich ein Gruß von Froböse, verpackt in einer rosa Umlaufmappe. Dutzende von Kürzeln verrieten mir, dass sie schon über mehr als einen Schreibtisch gewandert war. Fettige Kleckse und Spritzer, Daumenabdrücke und verschmierte Schokoladenreste legten Zeugnis davon ab, dass es in den Amtsstuben der Polizei nur halb so dröge zuging, wie manche sich das vorstellten.

Ich schob das Gummiband hoch und öffnete die Mappe. Mit spitzen Fingern nahm ich das mehrseitige Papier zur Hand.

›Leitfaden‹, las ich. ›Zur Beschreibung von herausragenden Qualitätsprojekten. A) Projektname: Stellen Sie sicher, dass die Bezeichnung des Verbesserungsprojekts für Ihr Team und die externen Validatoren klar und verständlich ist.‹ Was für ein Team, fragte ich mich. Hier in diesem Raum gab’s nur mich. ›B) Projektverantwortlicher.‹ Dreimal durfte ich raten, wer für diese wunderbare Aufgabe in Frage kam. ›C) Termin für die vollständige Umsetzung.‹ Auch das noch: Zeitdruck. ›D) Rang/Priorität, Position innerhalb der Rangfolge der Projekte, die aus der Priorisierung aller Verbesserungsprojekte und -maßnahmen resultiert. Stellen Sie Leuchttürme auf.‹ Das wurde ja immer toller. ›G) Vorgehen, Beschreiben des Vorgehens zur Verbesserung. Nennen Sie die Gründe, warum diese Vorgehensweise ausgewählt wurde, und legen Sie dar, welcher Nutzen für die Organisation erwartet wird, z.B.: Bezug zum Businessplan klären; Leistungsfaktoren anführen, deren Verbesserung zu erwarten ist; Interessengruppen benennen, die profitieren werden.‹

Ich schnappte mir das Papier und stürmte los. Wenn Froböse dachte, ich würde das faule Ei, das er mir auf den Tisch gelegt hatte, einfach so schlucken, hatte er sich geschnitten.

Ohne anzuklopfen, riss ich seine Bürotür auf. Ich erwischte ihn an seinem Schreibtisch bei seiner Lieblingslektüre. Dem Studium der Wirtschaftsseiten der Zeitung, hinter der sich laut Werbung ein kluger Kopf verbarg. Froböse vergaß, die Seite mit den Aktienkursen zuzuschlagen, und blickte mich ungläubig an.

Ich ließ mich vor ihm auf den Besucherstuhl fallen und wedelte mit dem Papier in meiner Hand. »›Projektverantwortlicher‹«, schnaubte ich. »Ich erinnere mich nicht, dass ich von irgendwem, geschweige denn von Ihnen mit der Projektleitung von irgendwas betraut wurde.«

Er musterte mich über den Rand seiner Brille wie ein lästiges Insekt. »Ich habe Sie darum gebeten, die nicht aufgeklärten Fälle der letzten zehn Jahre herauszusuchen, und Sie auf die Verbesserungspotenziale hingewiesen, die darin liegen. Oder irre ich mich?«

»Sie wollten meine persönliche Einschätzung«, erinnerte ich ihn. »Von der Leitung eines Projektes bis zur Umsetzung war nie die Rede, geschweige denn der zu dokumentierenden Vorgehensweise mit der Aufstellung von ›Leuchttürmen‹. ›Leuchttürme.‹ So was können sich nur Jungens ausdenken, die einmal zu oft mit ihrer Familie an die See gefahren sind.«

»Worüber möchten Sie sich unterhalten«, er spreizte seinen schmalen Mund zu einem süffisanten Lächeln, »über Ferienplanung von Familien, Geschlechtergerechtigkeit oder Ihr Verbesserungsprojekt?«

»Das ist nicht ›mein‹ Verbesserungsprojekt«, schäumte ich.

»Aber ja, Frau Stein, es ist Ihr Projekt. Spätestens in diesem Moment ist es Ihnen offiziell übertragen.« Er schlug mit einer Handbewegung die Zeitungsseiten zusammen und faltete sie. Papier raschelte. »Das Formblatt im Anhang geben Sie mir bitte heute noch zurück. Vergessen Sie nicht die Begründungen, warum Sie wie vorgehen, beschreiben Sie den Nutzen für die Gesamtorganisation und machen Sie sich Gedanken über die Messgrößen, anhand deren Sie die Fortschrittsmessung vornehmen werden.« Er beförderte die gefaltete Zeitung in den Papierkorb. »Haben wir uns verstanden?«

In diesem Moment dachte ich an ein Foto von Froböse, das mir von einer Frau, die im Milieu arbeitete, verehrt worden war. Es zeigte meinen Vorgesetzten, wie er nackt mit einer Schweinemaske vorm Maul über den Boden kroch. Ein kleines Dankeschön dafür, dass ich der Gerechtigkeit und nicht dem Gesetz zum Sieg verholfen hatte. Dass sie nicht im Gefängnis saß, obwohl sie einen Mord begangen hatte.

War dies der Moment, das Foto sinnvoll zu nutzen? Die Versuchung war mächtig. Aber ich hielt mich zurück. Das hier würde ich auch so geregelt bekommen. Für so einen läppischen Auftrag verbrannte ich meinen Joker nicht.

»Wenn ich Papierchen für Sie tippe, wird die Aufklärungsquote in unserem Verein nicht automatisch steigen«, sagte ich.

»Meine liebe Frau Stein«, hob er leutselig an. »Sie werden dafür bezahlt, das zu tun, was man Ihnen sagt. Das Nachdenken über die geschäftspolitischen Ziele unserer Behörde dürfen Sie ruhig den Führungskräften überlassen.«

»Verstehe. Aufklärung war gestern. Heute vertreiben wir uns die Zeit mit Arbeitsgruppen und dem Fertigen von Papierchen für die große Rundablage.« Ich zeigte auf den Papierkorb, den seine Zeitung verstopfte. »Verstehe ich das richtig?«

»Die Exzellenz einer Einrichtung«, dozierte er mit Nachdruck, »lässt sich anhand konkreter Daten erfassen. Und das stetige Bemühen einer Einrichtung, besser zu werden, lässt sich durch die Aufstellung und Durchführung herausragender Projekte dokumentieren.«

»Warum habe ich bei Ihnen immer das Gefühl, dass Sie von einem Waschmittelkonzern reden oder einem Zulieferer für die Autoindustrie und nicht von der Polizei?«

»Weil es da keinen Unterschied gibt.« Er lächelte überlegen. »Wir bieten genauso Produkte an. Nur eben keine Autos oder Waschpulver, sondern Dienstleistungen.«

»Haben Sie noch nie daran gedacht, dass Sie auf diese Art und Weise die Polizei überflüssig machen?«

»Überflüssig?« Er sah mich neugierig an.

»Wenn wir unsere Arbeit immer schlechter machen, weil wir nur noch mit uns selbst beschäftigt sind, werden die Bürger zwangsläufig immer unzufriedener mit uns. Das leuchtet doch ein, oder?«

»Die Zufriedenheit der Bürger. Wenn das alles ist, was Sie umtreibt.« Er lehnte sich in seinem Chefsessel zurück. »Dafür haben wir Profis. Das Bild der Polizei in der Öffentlichkeit lässt sich steuern. So etwas überlässt heute niemand mehr der Phantasie von Lieschen Müller – oder Heribert Meier«, setzte er fein lächelnd nach.

»Wir sind die Polizei«, flötete ich. »Frage dich nicht, was die Polizei für dich tun kann, frag dich, was du für die Polizei tust.«

»Sie haben es erfasst«, lobte er mich.

»Wenn Zahlen vorliegen, wie teuer wir sind. Wie tief der Bürger für immer weniger Leistung in die Tasche greifen muss.« Ich holte Luft. »Dann kommt mit Sicherheit als Nächstes der Vorschlag aus der Politik, dass private Sicherheitsfirmen unsere Arbeit übernehmen. Hessen hat das bei den Gefängnissen ja schon vorgemacht.«

»Ich verfolge die Entwicklungen in Hessen mit Interesse«, verriet er mir. »Private Dienstleister im öffentlichen Raum sind für mich kein Tabu.«

Steckte hinter dem Ganzen etwa System? War Froböse als U-Boot in unseren Verein eingeschleust worden, um Sabotage zu betreiben? Den Weg für private Sicherheitsfirmen frei zu machen? Begann ich langsam paranoid zu werden, oder bekam er die Dienstleistungen im Bordell, die er so schätzte, tatsächlich, ohne dafür zu zahlen? War sein Weinkeller, mit dem er so gern prahlte, von Gönnern gesponsert? Hatten die ihm gratis im Kellerraum nebenan ein Andreaskreuz an die Wand gedübelt, wo er nach Feierabend hing und entspannte? Hütete er in seinem privaten Safe schon die Vereinbarung mit einer Sicherheitsfirma, die ihm einen Platz in der Geschäftsleitung versprach? Für Ausverkäufer des öffentlichen Tafelsilbers, egal welcher politischen Couleur, sprang immer etwas heraus, mindestens ein fettes Aufsichtsratspöstchen. In den Statistiken der von Korruption befallenen Länder kletterte Deutschland nicht umsonst Jahr für Jahr höher, den Spitzenplätzen entgegen.

»Frau Stein«, rief Froböse mir nach, als ich den Raum verließ. »Ich brauche die Projektbeschreibung heute noch. Denken Sie bitte daran.«

4

Liebe Edith,

heute habe ich von Ruth eine Karte bekommen, aus München. Die Adresse der Klinik kann sie nur von Frau Heimer haben. Sie hat mir alles Gute gewünscht, eine gute Besserung. Gekommen ist sie nicht. Dabei bin ich hier nur einen Katzensprung von München entfernt. Johannes hat sich gar nicht gemeldet bisher. Auch Franka nicht. Bei Franka verstehe ich das, sie ist beruflich voll eingespannt. Alles, was sie macht, macht sie hundertfünfzigprozentig. Aber Johannes? Mit seiner Musik? Der ist in keinen festen Zeitplan eingeklemmt. Kann sich alles so einrichten, wie es ihm passt. Mit meinem monatlichen Geld. Da sollte man doch glauben, dass er sich mal meldet. Vielleicht bin ich zu ungeduldig. Vielleicht kommt das ja noch. Vielleicht wollen sie mich überraschen. Und kommen einfach so am Wochenende vorbei. Um ihrem kranken Vater eine Freude zu machen.

Du hast den Kindern immer näher gestanden als ich. Das ist normal, denke ich. Du hast sie neun Monate lang in Deinem Bauch mit Dir herumgetragen. Ich habe sie das erste Mal nach der Geburt erlebt. So verschrumpelt und winzig waren sie, dass ich mich kaum getraut habe, sie mit meinen großen Händen anzufassen. Bestimmt habe ich sie oft auch zu grob angefasst. Wenn ich ehrlich bin – dann waren die Kinder für mich nie so wichtig. Sie liefen immer irgendwie mit, neben dem Geschäft. Das war das Wichtigste für mich.

Du hast das gewusst. Und Du hast es verstanden. Deine Unterstützung war immer selbstverständlich für mich.

Nichts ist mehr selbstverständlich, wenn man in einem Krankenhausbett aufwacht und einem die Wörter fehlen. Dann merkt man erst einmal, wie gut es einem vorher gegangen ist. Dabei geht es schon wieder. Die Ärzte sind zufrieden mit mir. Die linke Seite macht sich. Ich kann mit der linken Hand wieder zupacken. Das Bein schleift noch. Aber es wird besser. Die Gymnastik tut mir gut, das spüre ich.

Manchmal denke ich, ich will wieder gesund werden, damit ich alles besser machen kann. Ich habe so viel falsch gemacht in meinem Leben. Die Spaziergänge im Schnee. Lach nicht. Aber es sind nicht nur die Spaziergänge. Es ist so viel, was ich nicht gemacht habe. Wir wollten mit dem Wohnmobil nach Kanada, erinnerst Du Dich?

Hier in der Klinik habe ich Zeit zum Nachdenken. Viel zu viel Zeit. Heute kommt es mir eigenartig vor, dass ich für jeden Kunden Zeit gefunden habe, aber nicht für Dich. Mit Dir an meiner Seite ist mir alles geglückt. Das Geschäft hätte sich gar nicht entwickeln können, wenn Du mir nicht die Bücher geführt hättest, den Haushalt gemanagt, die Kinder. Ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern, ich hätte Dir einmal gesagt, dass ich Dich liebe. Dass es ein schönes Leben mit Dir an meiner Seite ist. Wie dankbar ich Dir für Deine Unterstützung bin. Aber wie kann man über etwas sprechen, das einem ganz selbstverständlich ist. Heute würde ich Dir meine Zeit geben, nicht den Kunden. Heute gebe ich Dir mehr Zeit. Heute rede ich mit Dir. Wenn auch nur in diesen Briefen.

Draußen hat es angefangen zu schneien. Eine Drossel sitzt unter einem Busch und plustert die Federn auf. Du hast jeden Winter für die Vögel Futter ausgelegt, Meisenringe aufgehängt, Apfelscheiben auf Drähte gesteckt. Ich habe das immer belächelt. Nie für wichtig gehalten. Wie dumm kann ein Mensch nur sein?

Ob ich noch eine Chance bekomme? Hier, in diesem Leben? Was meinst Du, Edith? Kann aus einem dummen alten Mann wie mir noch etwas werden? Lohnt es sich für mich noch, Pläne zu machen? Mit dreiundsiebzig davon zu träumen, alles in meinem Leben noch einmal ganz anders, besser zu machen?

5

Petra saß an ihrem Schreibtisch und ging ihrer liebsten Beschäftigung nach, Feldforschung, per Telefon. Erkunden und Sammeln von Informationen jeglicher Art, die die kleinsten Veränderungen innerhalb unserer Behörde betrafen und erfassten. Es überraschte mich immer wieder, was meine Kollegin alles in ihrem Kopf, unter den blonden Locken, speicherte. Unvorstellbare Datenmengen, nichts ging verloren. Jedes Detail auf Wunsch abrufbereit.

»Das darf nicht wahr sein«, stöhnte sie lustvoll und spielte mit der Telefonschnur in ihrer Hand. »Ausgerechnet die.«

Sie zeigte mit der wippenden Schuhspitze auf den freien Stuhl neben ihrem Schreibtisch. Ich verstand, was sie meinte, und setzte mich.

Während Petra den Gesprächsfluss am Telefon durch mitfühlende Laute wie »Ts, ts – Ha, ha – Ui, ui« begleitete, betrachtete ich ihre Schuhe. Petra war in Modedingen topfit und jedem Trend einen Fußbreit voraus.

Ich staunte, wie man Pumps mit hauchdünnen Absätzen designen konnte, die von vorne wie ein Stiefel aussahen. Mit Goldschnalle, gerüschtem Leder und einem Loch über dem Spann, durch das man Petras hellen, seidig glänzenden Fuß bewundern konnte.

Das Klacken, mit dem der Telefonhörer auf die Gabel fiel, ließ meinen Blick wieder nach oben wandern.

»Stell dir vor.« Petra beugte sich verschwörerisch zu mir über den Schreibtisch. »Diese Tussi vom Diebstahl mit den Schlabberröcken hat sich an den Haimann von der Organisierten Kriminalität rangemacht.«

»Wo die Liebe hinfällt«, kommentierte ich.

»Der Haimann sieht aus wie ’n Zuhälter und sie wie ’ne Sozialtante von der Bahnhofsmission. Wie soll das denn gehen?« Sie sah mich kopfschüttelnd an.

»Gegensätze. Wie wär’s damit?«

»Gegensätze funktionieren nicht.« Sie zog mit der Spitze ihrer Pumps-Stiefelette die unterste Schreibtischschublade auf. Ich sah auf einen Stapel bunter Blätter. »Warte mal.« Sie bückte sich und wühlte in dem Stapel.

»Hier.« Sie schlug eine Seite auf und knallte die Zeitschrift vor mir auf den Schreibtisch. »Stephanie und ihr Schweizer Zoodirektor.« Ich blickte auf einen gut gekleideten älteren Herrn, der seriös in die Kamera blickte, und eine junge Frau im Bikini, die Grimassen schnitt. »Das ging nicht lange gut. Gegensätze führen immer in die Katastrophe.« Sie nahm mir die Zeitschrift wieder weg und warf sie nach unten zu den anderen, dann schob sie mit dem Fuß die Schublade wieder zu. »Seid ihr auch Gegensätze, du und dein Beckmann?«

»Kleidungsmäßig schon.« Ich überlegte. »Sonst eigentlich weniger. Er ist genau so ein Chaot wie ich.«

»Dann habt ihr Chancen«, klärte sie mich auf. »Paare, die sich ähnlich sind, werden zusammen steinalt. Nur so um die sechzig wird’s kritisch, da lassen sich viele wieder scheiden. Guck dir Meier drei an. Der hat sich kurz vor der Pensionierung von seiner Ulla getrennt, nach dreißig Jahren, obwohl sie beide Treckies sind und Motorrad fahren. Was wolltest du bei Froböse? Oder hat der dich bestellt?«

»Er hat mir ein faules Ei gelegt«, schnaubte ich.

»Das ist ein ganz Linker«, stöhnte Petra mitfühlend. »Jedes Mal, wenn ich ihm den Rücken zudrehe, habe ich ein ungutes Gefühl. So ein Kribbeln an den Schulterblättern, als hätte ich Angst, dass er mich von hinten erwischt.«

»Erst hat er so rumgeschleimt«, berichtete ich. »›Jetzt, wo Ihr Kollege unpässlich ist‹, du weißt ja, wie er sülzt, ›könnten Sie sich doch mal die ungelösten Fälle der letzten Jahre vorknöpfen.‹ Das hab ich auch brav gemacht – und dann finde ich auf einmal Anweisungen von ihm auf meinem Schreibtisch, wie ich daraus ein Qualitätsprojekt zu stricken habe.«

»Wundert mich nicht.« Petra nickte. »Die sitzen alle nur noch in diesen komischen Qualitätszirkeln rum. Und in der Zeit bimmelt ihr Telefon, und keiner kann wen erreichen, weil nicht einer von denen sein Telefon umgestellt hat. Und die wollen mir was von Qualität bei der Arbeit erzählen. Wenn ich das schon höre, ›Qualität‹.«

Petra legte den ganzen Abscheu, dessen sie fähig war, in dieses eine Wort.

»Und jetzt hab ich an der Backe, so einen Scheißbericht zu schreiben. Heute noch«, stöhnte ich. »Der interessiert niemanden. Der ist so überflüssig wie ein Kropf.«

Petra schwieg mitfühlend.

»Verdammte Korinthenkacke«, fluchte ich. »Rechtsgedrehte Kacke, dunkelbraune, unappetitliche, klebrige.«

»Ich besorg dir einen Cappuccino«, bot sie sich an. »Mit Sahne. Fett ist gut für die Nerven.«

Ein echter Liebesdienst, den nächsten Cappuccino gab’s zweihundert Meter vom Präsidium entfernt in einer Pizzeria, und draußen regnete es.

»Petra, willst du das wirklich für mich tun?« Allein die Nennung dieses Suchtmittels besserte meine Stimmung. »Das wär total lieb.«

Mit Schwung erhob ich mich von meinem Sitz.

Petra zog einen glänzenden schwarzen Plastikmantel an und holte einen Schirm aus dem Schrank. »Wie geht’s Weber? Hast du was gehört?«

»Inga hat mich angerufen. Ich bin heute mal kurz vorbei. Sieht so aus, als ginge es ihm langsam wieder besser.«

»Was hat er überhaupt?«, fragte sie mich.

»Sag mir nicht, dass du nicht weißt, was auf der Krankmeldung steht. Bei deinen Beziehungen.«

Mit der Kollegin, auf deren Schreibtisch unsere Krankmeldungen landeten, ging Petra jeden Freitagmittag in der Kantine Fisch essen.

»Na ja …« Sie legte ihre hübsche Stirn in Falten. »So was sollte man nicht rumtratschen. Da hört der Spaß auf.«

»Ich tratsche nicht.«

»Also angeblich … aber behalt das bitte für dich«, warnte sie mich, »irgendein ›vegetatives Dingsbums‹, da kann man sich alles und nichts drunter vorstellen.«

»Mir hat er erzählt, dass alles mit einer Erkältung anfing, die er sich gefangen hat«, schwindelte ich, um den Tratsch im Kollegenkreis in die richtigen Bahnen zu lenken. »Ist ja kein Wunder bei unserem Job. Wer von unseren Kunden hält sich schon ein Taschentuch vor den Mund, wenn er hustet …«

»Das wäre doch mal was«, kicherte Petra. »Mundschutz für jeden Kunden an der Pforte.«

»Erst die Erkältung, und danach hat es ihn umgehauen, und er lag auf der Bleiche.«

»Das ist immer so.« Petra schloss ihren Schreibtisch ab. »Es erwischt einen immer gerade dann, wenn man sich sowieso schlapp fühlt. Total ungerecht, findest du nicht?«

6

Liebe Edith,

heute bin ich in der Sonne zwei Stunden lang mit der Gehhilfe durch den Park spaziert. Zum ersten Mal habe ich es so lange geschafft. Es ist ein komisches Gefühl, auf so ein Ding angewiesen zu sein. Rollator sagen die Schwestern dazu. Ein komisches Wort. Noch nicht einmal in den Kreuzworträtseln findest du das. Ich kann mich schlecht daran gewöhnen. Früher haben wir den alten Leuten nachgeguckt, die mit so einem Ding über die Straße geschoben sind. Jetzt bin ich selbst ein Alter, der mit so einer Karre durch die Gegend fährt, ich halte mich an ihr fest, und ich bin froh, dass es sie gibt.

Trotz der Sonne war es bitterkalt draußen. Es ist ein ganz anderer Schnee als noch vor ein paar Tagen. Er ist nicht mehr weich wie Watte, sondern hart und kalt. Die Farbe ist auch ganz anders, nicht weiß, eher farblos, durchsichtig. Wie das zerstoßene Eis, das unser Kühlschrank zu Hause zubereitet. Die Sonne glitzert und funkelt, wenn sie auf den gefrorenen Schnee trifft. Ich denke jedes Mal, der Schnee müsste schmelzen. Aber das tut er nicht. Das schafft die Sonne nicht. Die Luft ist zu kalt.

Ich schiebe mit meiner Gehhilfe über die freigeschaufelten Wege. Da streuen sie noch Salz, zusätzlich. Die Räder knirschen, aber es geht, ich komme gut vorwärts. Nur wenige hier trauen sich bei dem Wetter nach draußen. Obwohl die Wege freigeräumt sind, haben sie Angst. Beim Frühstück und beim Mittagessen hörst du unglaubliche Geschichten. Über die Gefahren von Schnee und Eis und das Splittern von morschen Knochen. Man traut sich kaum noch, die Hand nach der Teetasse auszustrecken, aus Angst, mit einem Finger am Henkel anzuecken, ihn sich zu brechen. Ich versuche das alles mit Humor zu nehmen. Aber es ist nicht lustig, wenn du hörst, dass alte Knochen wie Glas splittern. Ich muss den Tisch wechseln oder die gemeinsamen Mahlzeiten ausfallen lassen und auf dem Zimmer essen. Dieses Gerede tut mir nicht gut. Ich habe schon daran gedacht, das Hörgerät auszuschalten. Aber das tut man dann doch nicht.

Wenn Du bei mir wärst, wäre alles ganz anders. Zu zweit würden wir uns die Seiten halten vor Lachen und jede Menge Spaß an den Horrorgeschichten haben. Wir würden aus vollem Hals über die Menschen lachen, die immer den falschen Fuß in den Schnee setzen, auf eine mattglänzende Eisfläche treffen, ausrutschen, hinfallen, die Beine in den Himmel recken. Wir würden darüber lachen, dass sich Hundeleinen um die Beine von Menschen schlingen, sie zu Fall bringen. Aber auch zu zweit würden wir es nicht schaffen, die Folgen der Stürze wegzulachen, die komplizierten Brüche, die genagelten Knochen, die falsch zusammenwachsen, die Gipsverbände, unter denen die Haut juckt, die langwierigen Aufenthalte in Krankenhäusern und Rehakliniken.

Jetzt sitzen sie wieder unten in der Halle und gucken nach draußen. Der Schnee fällt, hört gar nicht mehr auf zu fallen. Ob sie die Schneeflocken überhaupt sehen? Ich meine, richtig? Sie erzählen sich, wie Tante Erika – oder Onkel Heinrich – im Winter vor fünf Jahren auf dem Eis ausgerutscht ist, sie zählen Knochenbrüche. Kein Wunder, dass sie sich nicht nach draußen trauen. Warum erzählen sie sich keine fröhlichen Geschichten, die gibt es doch auch? Vielleicht erzählen sie sich all diese trübseligen Sachen auch nur, weil sie faul und träge sind und ängstlich. Nicht nach draußen wollen in die Kälte, in Ruhe gelassen werden. Das würde mir einleuchten. Dass diese Geschichten für sie das sind, was für mich immer die Zeitung war. Ein Alibi, um mich auf dem Sofa zu strecken und gar nichts zu tun. Das wäre eine Erklärung.

Mit Verstand betrachtet, ist das natürlich widersinnig. In einer Klinik zu sitzen, wo es darum geht, dass du neue Kräfte gewinnst, und immer nur von den Katastrophen zu erzählen, die über einen Menschen hereinbrechen können. Wie willst du da neue Kräfte schöpfen? Wenn du immer nur daran denkst, was alles passieren könnte, gehst du gar nicht mehr vor die Tür. Dann sitzt du nur noch herum und erzählst irgendwelche schaurigen Sachen. Oder du schaust, als Zuschauer, nach draußen. Lebst selber nicht mehr, schaust nur noch zu.

7

Ich saß im Schein der Schreibtischlampe und bastelte an meiner Projektbeschreibung. Neben mir das, was von Petras Cappuccino noch übrig war. Eine kleine Pfütze auf dem Boden eines Pappbechers, die ich nicht verkommen lassen wollte. Ich kippte den Rest herunter. Mein Kopf schwirrte. Begrifflichkeiten, gegen die ich mich gewehrt hatte, nahmen ihn in Besitz. Man sollte Gedichte schreiben, dachte ich. Diese blöden Begriffe aufspießen. Aneinanderreihen, sie den Leuten um die Ohren hauen, damit sie merken, was hier geschieht.

Projektplan, Leistungsplan, Kostenplan, Umsetzung, Maßnahmenplan, Zielerreichung, Verbesserungspotenziale, Verbesserungsprojekte, Kriterien, Positionen, Priorisierungen, Relevanz, Schalthebel, Strategie, Validierungen, Selbstbewertung, Fremdbewertung, Rangfolgen, Termine, Leistungsindikatoren, Unternehmensziele, Unternehmensleistungen, Effektivität.

Woher kam mein Widerstand gegen diese blutarmen Wörter, dieses technokratische Vokabular, das vorgab, die Wirklichkeit abzubilden? Eine Wirklichkeit, die sie kalt wie chirurgische Instrumente zerschnitten und verstümmelten. In den Wirtschaftsunternehmen waren die Bergers und McKinseys längst verjagt, warum verschwendete man für sie jetzt Millionen und Milliarden an Steuergeldern, statt sie in die Ausbildung oder die Sicherheit der Bürger und Bürgerinnen zu stecken?

Was mir wirklich unter die Haut geht, was mir wieder unter die Haut gefahren ist, als ich die ungeklärten Fälle der letzten Jahre überflogen habe, ist das Gleiche, das mich dazu gebracht hat, diesen Beruf zu ergreifen. Staunen darüber, wozu Menschen fähig sind.

Zwei Tage vor Weihnachten hatte jemand ein Baby auf der Toilette einer Szenekneipe in den Mülleimer gesteckt; dort war es erstickt. Eine Frau war im Keller eines Hochhauses wie ein Stück Vieh abgeschlachtet worden, ein alter Mann totgeschlagen und anschließend im Waldboden verscharrt. Hunde hatten ihn erschnüffelt und ans Tageslicht gezerrt.

Wie Menschen sterben, wie Menschen leben, was sie aus ihrem Leben machen. Das ist es, was mich interessiert. Mich von jeher interessiert hat. Ich kenne unzählige Spielarten, wie Menschen sich selbst und anderen das Leben schwer machen. Weiß, wie unfähig und unwissend und hilflos erwachsene Menschen sein können. Eingezwängt in ein Korsett aus schlechten Gewohnheiten und falschen Überzeugungen.

In der letzten Zeit ertappte ich mich manchmal bei dem Gedanken: Es ist genug. Du hast genug gesehen. Du hast genug gelernt über die Menschen. Du musst nicht noch einem begegnen, dem die Gase den Bauch aufblähen, nicht noch einen Toten begutachten, durch dessen Fleisch die Maden kriechen. Du musst dich nicht noch einmal dem Geruch von Tod und Verwesung aussetzen. Den Geschmack von Magensäure in deinem Mund schmecken.

Wenn ich mich bei so einem Gedanken ertappe, schiebe ich ihn schnell beiseite. Ich will meine Neugierde nicht verlieren. Auf die Menschen. Auf das, wozu sie fähig sind im Guten wie im Schlechten.

Meiner Neugier verdanke ich alles. Meine Neugier hat mich gerettet. Heute weiß ich das. Wenn ich meine Familie als Maß der Dinge genommen hätte, wäre ich nicht älter als acht geworden. Am gleichen Tag, als mein Vater mich und meine Mutter verlassen hat, wäre ich aus dem Fenster gesprungen. Dorthin, wo meine Mutter die Geschenke meines Vaters zu befördern pflegte, um ihn zu verletzen. Mit welcher Inbrunst die beiden sich gegenseitig zermürbt haben. Schon früh brannte ich darauf, herauszubekommen, was in den Wohnungen anderer Familien geschah. Ich guckte auf die Fenster mit den weißen Stores, wenn ich durch die Straßen lief, auf die ordentlich in Reih und Glied gelegten Falten, und ich fragte mich, ob es in diesen Wohnungen auch Türen gab, die mit Absätzen eingetreten waren, die Löcher mit Hansaplast verklebt. Als wäre die Tür ein Patient, der mit einem Pflaster geheilt werden könnte.

Für die Verletzungen der Menschen, die sich so etwas gegenseitig antun, habe ich mein Leben lang kein Verbandzeug gefunden. Das Einzige, was ich herausgefunden habe, ist, dass es hilft, andere Muster kennenzulernen, andere Arten, miteinander umzugehen. Nie haben mir Theorien geholfen, immer nur die Praxis, reale Situationen, positive Beispiele, echte Menschen.

Ich seufzte. Und jetzt saß ich an meinem Schreibtisch und musste Papierchen produzieren, die mit der Praxis der Polizeiarbeit so viel zu tun hatten wie das Raumschiff Enterprise mit dem wahren Leben.

Ich überflog mein Machwerk. Der Form war Genüge getan, eine Projektverantwortliche benannt, ich, ein Starttermin des Projekts, ein Projektende. Meine Leuchttürme hatte ich aufgestellt. Der erste: die Auflistung sämtlicher Tatorte und Tathergänge. Der zweite: das Sammeln noch vorhandener Beweismittel zur gentechnischen Analyse. Wenn ich mich nach der Praxis richten würde, läge das Projektende in jahrelanger Ferne – so überlastet waren die Labore, die wir mit der Analyse der Spuren betrauten, so eng die Mittel, die uns dafür zur Verfügung standen, dass sie schon Ende Januar für das ganze Jahr ausgeschöpft waren.

Wie müde einen so eine überflüssige Arbeit machte. Als ob man stundenlang Steine geschleppt hätte. Ich gähnte und räumte den Taschenrechner in die Schublade. Mit so einem Teil ließen sich leicht Arbeitsstunden zusammenzählen, multiplizieren. In der Praxis sah das etwas anders aus. Da hieß es den Mangel verwalten. Damit klarzukommen, dass von niemandem zusätzliche Arbeitsstunden bereitgestellt wurden. Dass es für neue Aufgaben keine Neueinstellungen gab. Dass jedes neue Projekt bedeutete, dass die Kollegen, die jetzt schon Hunderte von Überstunden vor sich herschoben, noch mehr machen mussten.

Ich sah auf das Formular vor mir. ›Verbesserungsprojekt, Verbesserungsprojekt-Nummer‹. Damit hatte ich nichts zu tun. Das würden andere für mich ausfüllen. Aber das Feld neben dem ›Projektnamen‹ war noch unschuldig weiß.Das war mein Ding, den Namen musste ich mir noch einfallen lassen. Ungelöste Fälle‹. War das zu prosaisch? Ja, schon. Andererseits wusste dann jeder, was gemeint war. ›Projekt Hades‹ oder ›Projekt Prometheus‹ machte mehr her. Alte Angeberin, stoppte ich mich. Mit einem schwarzen Filzstift schrieb ich ›Ungeklärte Fälle‹ in den freien weißen Kasten.

8

Liebe Edith,

gleich werde ich noch einmal um die Klinik laufen. Bevor es dunkel wird. Mich raus in die Kälte wagen, mir den Schnee ins Gesicht pusten lassen. Dem Körper tut es gut, wenn er gefordert wird. Wenn ich Besuch von den Kindern bekomme, will ich mit ihnen laufen, auch wenn ich mich dazu an einem Karren mit Rädern festhalten muss. Ich will ihnen zeigen, dass ihr alter Vater noch Ehrgeiz hat, sich anstrengt, um wieder auf die Beine zu kommen, gesund zu werden. Ich werde mit ihnen um die Klinik laufen, Edith, mit ihnen sprechen. Ich will all das Versäumte nachholen. Ich werde ihnen sagen, dass ich sie liebe. Dass es ein Wunder ist, so kleine Wesen heranwachsen zu sehen. Dass ich stolz darauf bin, ihr Vater zu sein. Dass ich oft keine Zeit für sie hatte, zu streng zu ihnen war. Sie mit meinen groben Händen, die Speis und Fliesen gewohnt sind, zu hart angefasst habe. Aber dass ich sie liebe. Das habe ich den Kindern nie gesagt. Genauso wenig, wie ich es Dir gesagt habe. Wenn ich darüber nachdenke, wird mir ganz anders, Edith. So viel Versäumtes. So viel Liebe, die verkümmert ist. Wie können wir Menschen nur so blind vor uns hin leben, wo das Leben so kurz und mit einem Ende versehen ist?