Scharfe Stiche - Sabine Deitmer - E-Book

Scharfe Stiche E-Book

Sabine Deitmer

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Beschreibung

Sabine Deitmer, eine der besten Krimiautorinnen in Deutschland, wagt sich in diesem Kriminalroman mit der Ermittlerin Beate Stein an ein brandheißes Thema: die Schönheitschirurgie. Hochaktuell, brisant und spannend. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Sabine Deitmer

Scharfe Stiche

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Inhalt

Für Moritz [...]Prolog123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960616263646566676869707172737475767778798081828384EpilogDanksagung

Für Moritz

Prolog

Freitag. Pünktlich um sechzehn Uhr fünfzehn verlässt er die Klinik. Für siebzehn Uhr dreißig ist er im Tennisklub zum Spiel mit einem Kollegen verabredet. Zufrieden blickt er auf seine Uhr. Zeit satt. Er holt eine Packung Zigaretten aus der Brusttasche des Hemds, das er unter dem weißen Tennispullover trägt. Mit zwei Fingern zieht er eine Zigarette heraus und steckt sie sich zwischen die Lippen. In der Tasche seiner weißen Hose fischt er nach dem Feuerzeug. Goldglänzend liegt es in seiner Hand. Ein Geschenk seiner Frau. Er drückt den Daumen herunter. Die Flamme schlägt hoch. Flackert rot. Er zieht an der Zigarette, genießt den Tabakduft, der ihm in die Nase steigt. Saugt ihn gierig ein. Auf diesen würzigen Geruch hat er sich seit Stunden gefreut. Es ist seine dritte Zigarette heute. Er hat sich vorgenommen, nur noch sechs Zigaretten pro Tag zu rauchen, und er ist es gewohnt, dass alles, so wie er es sich vornimmt, klappt. Mit der Zigarette im Mundwinkel läuft er quer über den Parkplatz zu seinem Cabrio. Die Nachmittagssonne verbreitet ein warmes Licht. Er freut sich auf das Wochenende, das vor ihm liegt. Im Hintergrund hört er das Rauschen der Schnellstraße. In wenigen Minuten wird er fern sein von diesem Rauschen. Mitten im Wald. In seinem Klub. Er wird nur noch Bälle hören, die durch die Luft zischen, und Vögel, die zwitschern. Er startet den Wagen.

Er freut sich darauf, mit offenem Verdeck zu fahren. Halb geraucht drückt er seine Zigarette im Aschenbecher aus. Vor zwei Jahren hat er sich seinen Jugendtraum erfüllt und ein Cabrio gekauft. Alle haben ihn für verrückt gehalten, damals. In diesen Breitengraden ein Auto zu kaufen, um es offen zu fahren. Aber auch mit dem Auto hat er den richtigen Riecher gehabt. Der Fahrtwind streicht ihm lau über das Gesicht. Die Sommer werden wärmer, das hat er vorausgesagt. Und Recht damit behalten.

Der Luxus, den er sich erlauben kann, ist ihm nicht zur Gewohnheit geworden. Er freut sich mit allen Sinnen daran. Genießt die weichen Lederpolster, in denen er sitzt, den Platz, den der Sitz ihm bietet, die Freiheit, seine Beine lang auszustrecken.

Er merkt, wie die letzten Reste von Anspannung sich lösen. Über Stunden hat er auf einem Drehstuhl gehockt und konzentriert gearbeitet. Geschnitten und genäht. Unzählige Male mit der Nadel durch Haut gestochen. Blut weggetupft. Ein großes Facelifting. Er blinzelt, genießt es, in die Weite zu schauen. Es ist erholsam nach dem konzentrierten Blick durch die Lupe.

Er überholt Männer in ihren Mittelklassewagen, die nach Hause fahren. Er hat alles richtig gemacht. Zur richtigen Zeit den stressigen Krankenhausjob an den Nagel gehängt und sich selbständig gemacht. Jetzt kann er seine Zeit frei einteilen. Keine Nachtdienste. Wenn er nachts einmal aus dem Bett geholt wird, weiß er warum. Die nächtliche Störung ist selbst verursacht. Er hat operiert. Er trägt die Verantwortung für die eigene Arbeit. Muss nicht mehr die Fehler anderer ausbaden. Ein faires Spiel mit klaren Regeln.

Die Patienten, die er operiert, sind in optimaler Verfassung. Er schickt sie sogar wieder nach Hause, wenn sich beim Eingangscheck herausstellt, dass sie erkältet sind. Wenn er daran denkt, wen er früher so alles auf dem OP-Tisch liegen hatte, weiß er, wie gut es ihm heute geht.

Er sieht auf das Nummernschild eines LKWs, bevor er ihn überholt. Liest die Werbeschriften auf dem Chassis. Ein Laster, der Frischgemüse aus Spanien in den Norden schafft. Er denkt an zwei Herren mit grauen Koffern, die ihm in der vergangenen Woche einen Besuch abgestattet haben. Das Angebot, das sie ihm unterbreitet haben, ist solide. Ein paar Tage hat er sie noch zappeln lassen, aber dann hat er unterschrieben. Er ist kein Träumer, er erkennt die Zeichen der Zeit.

Die Rücklichter eines dunklen BMW leuchten rot vor ihm auf. Er tritt auf die Bremse. Was ist da los? Vor ihm stauen sich die Wagen auf beiden Fahrbahnseiten. Um diese Uhrzeit ist er hier freitags noch nie in einen Stau geraten. Es geht im Schritttempo vorwärts. Zwei Kinder, die auf der Rückbank eines Kombis sitzen, winken ihm zu.

Er nimmt die rechte Hand vom Lenkrad und winkt zurück. Er hat nie bedauert, keine Kinder zu haben.

Er führt das Leben, das er sich immer erträumt hat. Dafür hat er sich in der Schule und an der Uni gequält mit all dem unnützen Kram, den man nur lernt, um Prüfungen zu schaffen, und danach schnell wieder vergisst. Er hat immer nur das eine gewollt. Raus aus der Enge einer düsteren Zweizimmerwohnung zu kommen, in der fünf Menschen miteinander leben mussten. Das hat er geschafft. Er lebt in einem luftigen, lichtdurchfluteten Haus. Zusammen mit einer Frau, die er liebt. Heute noch, nach fünfzehn Ehejahren. Auch wenn, ja, auch wenn er nicht jedes Angebot ausschlägt, das ihm von Frauen gemacht wird. Und er hat tatsächlich die Wahl. Die Versuchung ist zu groß, um ihr zu widerstehen. Warum auch? Solange er diskret ist. Ein bisschen Ablenkung, ein bisschen Bewunderung, ein bisschen Spaß.Das ist angenehm. So wie eine Runde Tennis nach Feierabend. Wichtig ist es ihm nicht.

Pfeile, die rot blinken, lenken ihn auf die linke Fahrbahn. Er fädelt sich ein. Es geht schrittweise vorwärts. Die Leitplanke ist aufgerissen. In der Ferne hört er die Sirenen des Rettungswagens. Ein Laster liegt umgekippt auf einer grünen Wiese, und – er traut seinen Augen kaum – rosafarbene Ferkel springen aus dem Wagen und rennen über die Wiese. In jedem Augenblick werden es mehr, Dutzende rosa Ferkel, die Bocksprünge vollführen und übermütig wie junge Hunde miteinander spielen und herumtollen.

Er lächelt. Unglaublich, mit welcher Energie und Freude über die neu gewonnene Freiheit die Ferkel über die Wiese hüpfen.

Sie erinnern ihn an all die Marzipanschweine, die er im Laufe der Jahre zu Silvester oder zum Geburtstag von seinen Eltern geschenkt bekommen hat. Jedes Marzipanschwein mit einem grünen Kleeblatt im Maul. In der Vorstellung seiner Eltern braucht man Glück, wenn man es im Leben zu etwas bringen will. Er wirft einen Blick in den Rückspiegel, sieht winzige rosa Flecken, die sich im Grün aufzulösen scheinen.

Die Fahrbahnen sind wieder frei. Er drückt mit dem Fuß das Gaspedal herunter. Er glaubt nicht an Glück. Er glaubt an richtige und falsche Entscheidungen. Vielleicht an einen angeborenen Instinkt, der einen leitet, einen anhält, das Richtige zu tun im richtigen Moment.

Er biegt von der Schnellstraße ab und ist sofort im Wald. Es riecht frisch und würzig. Er hat sich einen Tennisklub ausgesucht, der leicht erreichbar und landschaftlich attraktiv gelegen ist. Er blickt nach oben und sieht einen Eichelhäher, der von einer Tanne zur nächsten fliegt. Er erkennt ihn an den blau-weißen Schwingen. Das Leben ist schön. Es gibt keinen Morgen, an dem er nicht mit Vorfreude auf den Tag, der vor ihm liegt, aus dem Bett steigt. Er ist sicher, dass er das Leben führt, das ihm vorbestimmt ist.

Vor ihm unter den Bäumen am Rande der Straße taucht eine Gestalt in einem leuchtend roten Kleid auf. Er setzt den Fuß auf die Bremse, fährt langsamer. Die Frau kommt ihm bekannt vor. Er liebt schöne Frauen. Mit der Erfahrung des Kenners bewundert er die Anmut ihres Gangs, den leichten, fast tänzelnden Schritt.

Er freut sich, sie hier zu sehen. Er fragt sich nicht, wieso sie hier steht. Was sie von ihm wollen könnte. Er stoppt den Wagen und öffnet für sie die Autotür. Er tut, was sein Instinkt ihm empfiehlt.

In diesem Moment ahnt er nicht, wie oft ihm in den nächsten Stunden diese Szene im Kopf herumspuken wird. Das rote Kleid unter grünen Tannen. Wie oft er sich wünschen wird, er wäre einfach vorbeigefahren. Aber er fährt nicht vorbei. Er hält an.

Einmal in seinem Leben macht er das Falsche. Eine einzige falsche Entscheidung. Er wird mit seinem Leben dafür bezahlen. Aber das weiß er noch nicht.

1

Meine Türklingel schellte. Lang und anhaltend. Irgendwie eindrucksvoll. Ich warf die Bettdecke zurück und schwang mich aus dem Bett. Auf dem Weg zur Tür schlüpfte ich in meinen Kimono und strich mir mit der Hand durch meine Haarstoppeln. Es klingelte ein zweites Mal. Ich sah durch den Spion. Ein Mann wischte sich mit einem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn. Ich öffnete die Tür.

Er versenkte das Taschentuch in seiner dunkelblauen Hose.

»Sind Sie Frau Stein?«, erkundigte er sich.

»Ja«, bestätigte ich. »Beate Stein.«

»Ich habe ein Einschreiben für Sie.« Er klappte die Lasche der schwarzen Tasche auf, die über seiner Schulter hing, und zog ein hellbraunes Kuvert heraus.

Ich warf einen Blick auf den Umschlag, versuchte den Absender zu entziffern. Es gelang mir nicht.

»Wenn Sie mir bitte den Erhalt des Einschreibens quittieren würden.« Er hielt mir ein Brett entgegen, auf dem das Formular mit einer Klemme befestigt war. Und einen Stift. »Dort bitte.« Er zeigte auf die Stelle, wo ich unterschreiben sollte.

Ich malte brav mein Autogramm. Er reichte mir das hellbraune Kuvert, und ich gab ihm Brett und Stift zurück.

Er verstaute beides in seiner großen Tasche.

Ich sah auf den Umschlag in meiner Hand, las den Absender. Vera Kuhlmann, Hotel Eden Roc, Ascona, Schweiz.

»Arbeiten Sie bei der Polizei?«, fragte er.

»Wer hat Ihnen das verraten?«, erkundigte ich mich.

»Meine Tochter sammelt Artikel über die Polizei. Alles, was in der Zeitung steht. Sie hat auch welche von einer Kriminalkommissarin, die heißt Stein, so wie Sie.«

»Das bin ich«, gab ich zu. »Ich verdiene bei dem Verein meine Brötchen.«

»Meine Tochter hat sich jetzt bei der Polizei beworben.« Er sah mich mit sorgenvollem Gesicht an.

»Wir können gute Leute gebrauchen«, sagte ich.

»Sie muss da in zwei Wochen zu so einem Test.« Sein Blick wanderte hinunter zu meinen nackten Füßen. »Und da fragt man sich, was die für Leute wollen. Was die da wohl so testen.«

»Das ist eine ganz schöne Mühle«, seufzte ich mitfühlend.

»Wir können ihr da ja nicht helfen. Da muss sie allein durch. Aber haben Sie vielleicht eine Idee, wie sie sich vorbereiten kann?«

Ich stand eine Weile da mit dem Umschlag in der Hand und überlegte. Sein Blick hing erwartungsvoll an meinem Gesicht.

»Die meisten scheitern an der Rechtschreibung«, sagte ich. »Lassen Sie sie Diktate schreiben, bis sie keinen Fehler mehr macht. Und dann …« Ich überlegte. »Bauen Sie sie auf, vorher. Damit sie sich gut verkaufen kann. Sagen Sie ihr, sie soll sich genau überlegen, warum sie zur Polizei will. Danach wird sie sicher gefragt.«

»Selbstbewusst ist sie ja.« Sein Gesicht hellte sich auf.

»Na also«, sprach ich ihm Mut zu.

»Frau Stein.« Sein Körper straffte sich, und er hielt mir seine Hand entgegen. »Ich danke Ihnen vielmals.«

»Toi, toi, toi für Ihre Tochter.« Ich drückte ihm die Hand. »Grüßen Sie sie von mir. Und viel Glück.«

»Das wird sie freuen, Frau Stein, ganz bestimmt.«

Er drehte sich um und stieg die Treppe hinab.

Ich schloss die Tür und lief in die Küche. Ich legte den braunen Umschlag auf den Küchentisch. Vera Kuhlmann war keine Unbekannte für mich. Vor ein paar Jahren waren wir uns begegnet, bei den Ermittlungen zu einem Mordfall. Eine eindrucksvolle Dame. Ich sah sie vor mir in der Uniform ihres Berufs. So wie sie mir zum ersten Mal begegnet war. Mit einer schwarzen Lederkorsage und Netzstrümpfen.

Ich griff nach einem Messer und schlitzte den Umschlag auf.

Ein buntes Foto fiel heraus. Ich nahm es in die Hand. Vor einem weißen Hintergrund posierte ein nackter Mann. Das Fleisch hellrosa wie das eines Ferkels. Er kniete, die Arme mit den Handballen aufgestützt. Er war nackt bis auf die roten Riemen einer Art von Geschirr, das um den Hals gelegt war, um die Brust, um die Oberschenkel. Es war ein gut gebauter, kräftiger Mann. Die Haut fest und stramm. Die Haare, die in Kreisen um die Brust herum wuchsen, waren dunkel. Dunkler Haarflaum zog sich von oben nach unten in einer geraden Linie über seinen rosa Bauch. Sein Kopf steckte in einer weißen Maske mit knallroten Ohren, die weit abstanden, der Mundbereich eine schwarze Schnauze. Zwei runde Gläser, die wie Bullaugen aussahen, gaben den Blick auf die Augen frei. Die Farbe der Augen ließ sich nicht erraten. Dunkelbraun, grau, schwarz lagen sie hinter dem Glas.

Ich holte ein Blatt weißes Papier aus dem Umschlag heraus und klappte den Bogen auf. ›Sehr geehrte Frau Stein‹, las ich. Schwarze Druckbuchstaben, die vermutlich mit dem Computer auf das Papier gezaubert waren. ›Ich wollte Ihnen immer schon schreiben. Tanja hat es geschafft. Sie ist über den Berg und hat ihr altes Leben hinter sich gelassen. Es hat sich gelohnt. Das beiliegende Foto ist mein Dankeschön. Ich habe es von einer Kollegin bekommen. Jetzt gehört es Ihnen. Der Mann, der in der Maske steckt, wird Ihr neuer Chef werden, wenn ich richtig informiert bin, Herr F. Sie dürfen das Foto so nutzen, wie Sie wollen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie es brauchen könnten. Mit allen guten Wünschen, Vera Kuhlmann.‹

Ich holte einen großen Teller aus dem Schrank, stellte ihn in die Spüle und legte den Brief auf den Teller. Dann zündete ich mit einem Feuerzeug eine Ecke an. Die Flammen schlugen hoch, eroberten das Papier. Ich zweifelte keinen Moment an dem Wahrheitsgehalt dessen, was ich da las. Was Vera Kuhlmann mir mitgeteilt hatte, wurde von den Flammen verschlungen. Eine bizarre schwarze Plastik auf einem weißen Teller, an deren Rändern die letzten roten Punkte verglühten.

Ich nahm das Foto vom Küchentisch und steckte es vorsichtig in den Umschlag zurück. Ich lief mit ihm hinüber in mein Schlafzimmer, hob die Matratze an und schob das Bild darunter. Dort war es erst einmal gut aufgehoben.

Ich setzte mich auf mein Bett und dachte an die junge Frau, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Wie sie mit bleichem Gesicht und traurigen Augen im Krankenhausbett gelegen hatte. Tanja ging es gut. Eine erfreuliche Botschaft. Vera Kuhlmann hatte nicht umsonst gemordet, und ich hatte nicht umsonst eine Mörderin laufen lassen.

Es passte zu Vera Kuhlmann, dass sie mir nichts schuldig bleiben wollte und sich jetzt mit diesem eigenartigen Foto bei mir bedankte. Dafür, dass sie die Jahre in Freiheit verbringen konnte. Nicht im Gefängnis gelandet war.

Ich betrachtete die dunkelblauen Kleidungsstücke, die um das Bett herum verstreut lagen. Das dunkelblaue Jackett, den dunkelblauen Rock, die dunkelblaue Strumpfhose. Mein dunkelblaues Outfit. Für die offiziellen Anlässe in meinem Leben. Die, bei denen ich schlecht in Himbeerrot und Lila auflaufen kann. Ich liebe muntere Farben. Das war nicht immer so. Früher waren mir Klamotten ziemlich egal, Farbe inbegriffen. Aber seit ich ein paar Jahre meines Lebens in senfgelben Hosen und grünen Uniformjacken verbracht habe, ist das anders. Seither finde ich toll, dass es Farben gibt.

Dunkelblau lässt mein Herz nicht gerade höher schlagen, aber ich gebe zu, manchmal genieße ich es, die Kollegen mit meinem gediegenen dunkelblauen Outfit zu überraschen. Das gibt ihnen ein bisschen zu kauen, denke ich, ob die Schublade, in die sie mich einsortiert haben, die richtige ist.

Gestern war Heinze, unser allseits beliebter Chef, in einer kleinen Feierstunde vom Präsidenten verabschiedet worden. Ein paar Tränchen hatten in seinen Augen geschimmert, als er sich für ›die schönen Jahre der gemeinsamen Arbeit‹ bedankte. Ich konnte seine Trauer gut nachvollziehen. Er trauerte, weil er uns nicht weiter quälen konnte. Seine Frau sah auch nicht gerade fröhlich aus. Wahrscheinlich dämmerte ihr, dass sie jetzt diesen Kotzbrocken täglich zu Hause rumsitzen haben würde.

Woher wusste Vera Kuhlmann, dass Heinze pensioniert wurde? Und wer als sein Nachfolger ausgeguckt war?

Ihr Brief war perfekt getimt.

In Gedanken ging ich die Gesichter durch, die ich gestern Abend gesehen hatte. Eine seltsame Ansammlung schräger Typen. Manche der Kollegen sahen unseren Kunden verdächtig ähnlich. Und ich hatte mich wieder einmal gewundert, wie ich in diesem Haufen gelandet war.

Der Neue. Richtig. Weber, mein Kollege, hatte mich auf Froböse aufmerksam gemacht. Goldbrille und gut geschnittener Anzug. So was fällt in unserem Kreis auf.

Ich dachte an das Foto unter der Matratze. Den rosa Männerkörper im knappen Ledergeschirr mit der Ferkelmaske. Hübsches Outfit. War das die Reaktion eines Mannes auf ein Leben in gut geschnittenen Anzügen? Hatte seine Mama ihn vielleicht schon als Kind in Matrosenuniformen gezwängt?

Worüber machte ich mir eigentlich Gedanken? Bist du verrückt?, stoppte ich mich. Du brauchst einmal nicht zu malochen, feierst deine Überstunden ab und sitzt da und denkst nach über die Jungens, die dich auf der Arbeit nerven?

Aber so schnell kam ich nicht runter von dem Trip.

Ich dachte an Weber, meinen Partner. Was hatte der eigentlich gestern angehabt? Seine üblichen ausgebeulten Hosen und ein Jackett der besseren Sorte, das seine Frau ihm ausgesucht hatte. Richtig. Zur Feier des Tages hatte er eine Krawatte um den Hals gebunden. Irgendetwas dezent Seidenes, das farblich gut passte. Inga hat einen ordentlichen Geschmack. Trotzdem sieht er mit Strick um den Hals immer unglücklich wie ein gefangener Seehund aus.

Nach der Feierstunde hatte mich Weber noch zu einem Plauderstündchen abgeschleppt. Zwei Stunden auf einem Barhocker in einer verrauchten Kneipe hatten sich in meine Erinnerung eingebrannt. Zwei Stunden lang hatte mir Weber seinen Midlife-Blues ins Ohr gebrummt. Und mich mit Fragen von philosophischer Fallhöhe genervt. Wozu? Weshalb? Warum? Der Sinn des Lebens und überhaupt. Antworten darauf hatte er Gott sei Dank nicht erwartet. Er wusste immerhin noch, dass es die nicht gibt. Ich brauchte ihn nur reden zu lassen und ein paar Mal einfühlsam ›oh yeah‹ zu grummeln. Das baute ihn wieder auf.

Ich lief zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Die Sonne schien mir warm und kräftig ins Gesicht. Ich blinzelte ins Licht.

Zum Teufel mit irgendwelchen Damen, die mir Fotos schickten. Zum Teufel mit irgendwelchen Vorgesetzten, die in ihrer Freizeit mit Schweinchenmaske durch die Botanik krochen. Zum Teufel mit Webers Midlife-Blues. Das Leben war verrückt, kurz und sinnlos. Aber jetzt lockte es mich.

2

Alles fängt mit dem roten Kleid an. So ist es in ihrer Erinnerung. Aber kann sie ihrer Erinnerung trauen?

Vielleicht fängt es viel früher an. Vielleicht gibt es diesen einen Moment, in dem alles anfängt, gar nicht. Vielleicht gibt es nur Momente, viele einzelne, unzählige, eine ganze Kette davon, die den Keim für das legen, was Jahre später geschieht. Eine Großmutter, die bunte Perlen in die Zöpfe der Enkelin flicht. Eine Enkelin, die im Spiegel stolz den Kopf hin und her dreht, bis die bunten Zöpfe fliegen. Eine Mutter, die ihre Tochter mit einem Blick voller Liebe umfängt. Eine Tochter, die sich daran gewöhnt, im Zentrum liebevoller Blicke zu stehen. Eine Frau, die sich ohne diese Blicke verloren fühlt.

Solche Gedanken macht sie sich heute. Weil sie verstehen will: Was sie getan hat. Warum sie es getan hat. Sie will verstehen, wer sie war. Um herauszufinden, wer sie ist. Immer wieder kehrt sie zu dem roten Kleid zurück. Als ob die Frau, die am Tag vor ihrem neununddreißigsten Geburtstag ein rotes Kleid kaufte, eine ganz andere Frau sei. Vielleicht gehen ihre Gedanken so gern zu diesem Tag zurück, weil es in ihrer Erinnerung der letzte Tag ist, an dem ihr Leben sonnig und unschuldig war. Der letzte Tag, an dem sie sich voll Zuversicht mit allen Sinnen der Welt öffnete. Der letzte Tag, an dem sie glücklich gewesen ist.

Ist es wirklich so gewesen, oder will sie nur, dass es so war?

Sie denkt an die Wochen davor. In ihrem Kopf steigen Bilder auf. Sie erinnert sich, wie ihre Füße in einem weichen Teppich versinken, wie sie eine geschwungene Holztreppe hinaufsteigt. Eine junge Frau hält ihr einen Kassettenrecorder hin. Sie lehnt freundlich ab. Sie will sich die Bilder der Ausstellung ohne eine fremde Stimme im Ohr anschauen.

Die Ausstellung. Wie hat sie die nur vergessen können? Die Stillleben flämischer Meister. Die Ausstellung lange vor dem roten Kleid. Wie lange vorher? Sechs Wochen? Acht Wochen? Sie erinnert sich an graues Pflaster, auf dem weiße Blütenblätter kleben. Zertreten von den Schuhen der Besucher. Magnolienblüten. Und an den lila Fliederbusch am Eingang.

Auf diesem unglaublich weichen Teppich, der die Geräusche jedes ihrer Tritte schluckt, läuft sie von Bild zu Bild. Ist fasziniert von der Darstellung barocker Fülle, in die Vergehen und Verfall mit eingearbeitet sind. Sie erinnert sich an deftige Marktszenen mit frisch gefangenen Fischen, wo in den Ecken des Bildes schon die Fliegen und Schaben lauern. An Blütensträuße, in denen Blumen vereinigt sind, wie es sie in der Realität nicht zusammen gibt, weil sie alle zu unterschiedlichen Zeiten blühen. Darunter abgefallene Blätter, die verfaulen. Die Gleichzeitigkeit von Werden und Vergehen beeindruckt sie. Sinnenbetörende Lust mit eingebautem Verfall. Sie bewundert die Maler einer vergangenen Epoche, die in ihren Bildern Fülle und Vergänglichkeit gleichberechtigt nebeneinander Raum gaben. Vielleicht ist damit der Boden bereitet, dass sie auch sich als Teil dieses Prozesses begreift, dem nichts Lebendes entgeht.

Die Bilder haben sie stärker berührt, als es ihr bisher bewusst geworden ist. Heute noch nimmt sie die Postkarten zur Hand, die sie damals im Museum gekauft hat. Schaut sich den Mann an, der mit beiden Händen an einer Schnur zieht; den zarten Lauf eines Rehs, um dessen Sprunggelenk sich die Schnur dreimal windet. Dort fest verknotet ist. Das Reh mit dem sanften braunen Fell, das mit abgeknickten Läufen in der Luft hängt, mit Augen, aus denen noch Leben spricht. Die Magd mit wollüstig weißem Dekolleté, die mit roten Händen ein Rebhuhn rupft. Den dunkel getönten muskulösen Arm des Knechts, der an ihr zupft. Flammend das Rot ihres Rocks, der unter dem Kittel hervorbricht.

Vielleicht haben diese Bilder sie für das Rot gewonnen.

Das helle, kräftige Rot, das für Leben steht und nicht für Tod.

Sie sieht noch den roten Krebs vor sich mit seinen Scheren, im Zentrum ihres Lieblingsbilds. In der Mitte eines überladenen Tischs, gleich neben einem Obstkorb, der überquillt von Trauben, Äpfeln und Aprikosen. Das Hündchen, das mit dem Tischbein spielt, die Katze, die auf die Leckerbissen lauert. Und unter dem Tisch: die Knochen. Erinnerung an das, was bleibt, wenn das Fleisch vergeht.

3

Vor der Tür erwartete mich ein strahlend blauer Himmel. Am Hafenbecken baute ein Angler zum Schutz vor den Strahlen der Sonne einen bunten Schirm auf. Ein leichter Wind kräuselte die Wellen im Hafenbecken. Es roch frisch. Nur die Blätter, die über die Straße wehten, verrieten, dass der Herbst schon da war.

Auf dem Dach meines Golfs klebten gelb gefärbte Kastanienblätter. Ein Vogel hatte mit einem dicken weißen Klecks sein Revier markiert. Ich schwang mich in den Wagen, warf einen letzten Blick hoch zu den Fenstern meiner Wohnung. Verdammt, ich hatte sie offen gelassen.

Das kam davon, wenn man an einem freien Tag an Kollegen in gut geschnittenen und schlecht geschnittenen Anzügen dachte. Nichts wie weg, dachte ich. Raus aus der Stadt. Ich hatte Lust auf anzugfreie Zonen. Auf Lebewesen, die, so wie die Natur sie schuf, auf Wiesen grasten und sich den Wind um die Nase wehen ließen.

Das Loch in meinem Magen erinnerte mich daran, dass ich noch nicht gefrühstückt hatte. Ich steuerte Richtung Kaiserstraße, wo eine Konditorei selbst gebackenen Kuchen verkauft. Vorbei an Geschäften, die bunte Markisen zum Schutz ihrer Auslagen ausgefahren hatten, an Eisdielen, deren Tische und Stühle noch draußen standen, an Menschen, die Sonnenbrillen im Gesicht trugen.

Ich fand einen Parkplatz vor dem Gericht. Ein Jurist stieg die Stufen herunter und verstaute die schwarze Robe in seiner Aktentasche. Er blinzelte in die Herbstsonne.

Ich gesellte mich zu einer älteren Dame und einem jungen Mann, die vor dem Kuchenbüfett warteten. Hinter blitzblankem Glas thronten die Torten. Schwarzwälder Kirsch, Frankfurter Kranz, Käsesahne, Mokkacreme und Köstlichkeiten, deren Namen ich nicht kannte. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.

Eine junge Frau mit weißer Bluse und weißer Schürze auf schwarzem Rock jonglierte die Kuchenstücke aus dem Büfett auf das Tablett. Schlug das Tablett in ein großes Stück Papier ein.

Ich bewunderte die rosigen Marzipanschweine auf dem Tresen, die mit einem grünen Kleeblatt im Maul die Stellung hielten. Die bunten Herbstblätter aus Marzipan, die fächerförmig auf einem runden Teller drapiert waren. In der Mitte ein Nest aus hellbraunen Maronen.

Jetzt war ich an der Reihe. Aus Gier und fern aller Vernunft bestellte ich acht Stücke. Und eine Extraportion frische Sahne. Die Dame mit der Spitzenschürze jonglierte nach meinen Anweisungen.

Ich reichte einen Schein über die Theke und nahm das Tablett in Empfang. Sorgsam balancierte ich es zu meinem Wagen. Ich stellte es auf den hinteren Sitz und hatte es plötzlich sehr eilig, mein Fahrtziel zu erreichen.

Auf einer breiten Straße fuhr ich gen Süden. Die Sonne hing als strahlender Ball am Himmel. Schon bald ließ ich die Stadt hinter mir. Links und rechts der Straße lagen grüne Wiesen. Unter einem großen Baum suchten schwarz-weiße Kühe den Schatten. Zufrieden lagen sie da und kauten.

An der Ruhr trugen zwei Jungens ein Kanu über die Straße. Ein älteres Ehepaar bog in den Spazierweg ein. Er mit einer weißen Kappe auf dem Kopf und einem Spazierstock in der Hand, sie mit einem Strohhut mit breiter Krempe.

Mir sollte es recht sein, wenn die Sommer immer länger dauerten. Wenn es immer wärmer wurde. Ich hoffte nur, dass die globale Erwärmung gemächlich fortschritt. Dass das Ruhrtal erst mit Wasser voll lief, wenn es mich nicht mehr gab.

Tannen säumten die Straße, die sich aus dem Flusstal in die umliegenden Hügel zog. Ich ließ die Fensterscheibe herunter und roch den Wald. Würzig und kühl. Es war nicht mehr weit. Bald war ich an meinem Ziel.

Rechts und links der Straße lagen einzelne Häuser. Schilder zeigten an, wo man frische Kartoffeln und Eier kaufen konnte.

Ich bog in einen Weg ab, an dem kein Schild und kein Hinweis stand. Über Schotter fuhr ich zu dem Bauernhof, in dem meine Freundin lebte. Ich parkte unter der großen Kastanie, die vor dem Hofgebäude stand.

Das übliche Empfangskomitee erwartete mich. Die Pfauen in ihren Käfigen empfingen mich mit ihrem lauten Kreischen. Mit dem Kuchentablett in den Händen lief ich an ihrem Gehege vorbei. Konnte es sein, dass dieses Furcht erregende Tosen freundlich gemeint war?

Als würde er meine Gedanken erraten, stellte ein Pfau das Kreischen ein und begann mit seinen Federn zu rascheln. Gebannt blieb ich vor dem Maschendraht stehen und beobachtete ihn. Er spreizte seine Federn und schlug ein Rad. Ein Kreis blaugrüner Pfauenaugen changierte im Sonnenlicht. Ich war beeindruckt. Wenn meine Hände nicht anderweitig im Einsatz gewesen wären, hätte ich Beifall geklatscht.

Durch die angelehnte Tür, die früher einmal das Tor zu einer Scheune war, betrat ich den Vorraum des Ateliers. Sofort umfing mich ein vertrauter Geruch. Nach Steinstaub und Äpfeln. Sie waren hier auf Holzlatten gelagert. Ich stellte das Kuchentablett auf einer Kommode ab. Anna war nicht daran gewöhnt, dass ich etwas in der Hand trug, wenn ich sie besuchte.

Ich ging weiter ins Atelier. »Schön, dass du mal wieder kommst, Bea«, sagte sie und lächelte in meine Richtung. Es wird immer ein Wunder für mich bleiben, wie Anna ihre Besucher erkennt. An den Geräuschen ihrer Wagen? Oder kreischten die Pfauen anders, je nachdem wer kam?

Anna legte den Meißel neben riesigen Krallen aus Stein ab. Sie gehörten zu den Füßen eines Phantasietiers, das sie damit bearbeitet hatte.

Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf mich zu. Es gibt mir jedes Mal einen Stich, wenn ich ihre Augen sehe. Ein wässriges ausdrucksloses Blau. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie leuchteten, bevor ein verrückter Einbrecher dieses Leuchten mit Säure auslöschte.

Sie nahm mich in den Arm. Ich schnupperte an ihren Haaren. Steinstaub und Kernseife. Anna schwört auf Kernseife. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je eine Seife mit künstlichen Duftstoffen benutzt hätte. Wenn ich Kernseife rieche, fühle ich mich sicher und aufgehoben. Das hat Anna fertig gebracht.

»Ich freu mich so, dich zu sehen«, sagte ich.

Sie hakte mich unter. »Ich auch. Komm, wir gehen raus in die Sonne.«

»Ich hab uns Kuchen mitgebracht«, verkündete ich stolz.

»Geh schon einmal vor.« Anna schob mich durch die Tür. »Ich komme mit dem Kaffee nach.«

Auf einem schmalen Pfad lief ich zu dem Platz, den sie sich an der warmen Südseite eingerichtet hatte. Schmetterlinge saßen auf den letzten Blüten des Sommerflieders. Die Kapuzinerkresse leuchtete rot und gelb. Ich setzte mich auf die Bank und atmete den Duft der Kletterrose ein. Ich hatte sie Anna vor einem Jahr geschenkt. Jetzt war sie schon einen Meter an der Hauswand hochgeklettert und prunkte mit dicken weißen Blüten.

»Wir können anfangen.« Anna stellte Kaffeetassen und Teller auf den Tisch. Ich ließ mich bedienen. Anna mag es nicht, wenn ihr geholfen wird. Sie ist stolz darauf, dass sie alles selber geregelt kriegt.

»Was hast du uns mitgebracht?«, fragte sie, als sie die Tassen voll goss.

»Du musst riechen«, sagte ich. »Jetzt nehme ich das Tablett.«

Anna hielt den Kopf hoch in die Luft, als könnte sie an den Schwingungen der Luft ablesen, wo das Tablett sich gerade befand. »Hier ist sie, die Sternstunde der Konditorkunst.« Ich nahm ihre Hand, die rau von der Arbeit mit den Steinen war, führte sie die Abmessungen des Papptabletts entlang.

»Wie viel hast du uns denn mitgebracht?«, staunte sie, als sie das Tablett umrundet hatte.

»Acht Stück«, sagte ich. »Du darfst aussuchen.«

Sie beugte ihr Gesicht schnuppernd über das Tablett. Ihre Nasenflügel bewegten sich. »Oh«, stöhnte sie erfreut. »Himbeere.« Sie roch weiter. »Zitrone.«

»Schnuppertour beendet?«, fragte ich.

Sie hob den Kopf. »Einmal Himbeere und Zitrone für mich.«

Ich balancierte auf der Schneide des Messers ein Himbeertörtchen und eine Zitronenrolle auf ihren Teller.

Wir aßen andachtsvoll und stumm. Nur die Kuchengabeln klickten. Und das Summen von Bienen lag in der Luft.

Anna legte die Kuchengabel auf ihren leeren Teller. »Das war gut.« Sie wischte sich mit der Serviette über den Mund.

»Und?«, fragte sie. »Wie geht es dir?«

»Wenn die Sonne scheint, wunderbar«, prahlte ich.

»Lass fühlen.« Anna tastete mit ihrer Hand meine Schulterpartie ab. »Alles hart, zu wenig Weichheit. Du besserst dich nicht.« Sie seufzte. »Musst du es dir so schwer machen?«

Ich versuchte, mich zu entspannen, und lehnte mich zurück.

»Wenn du zu weich bist, gehst du bei meinem Job kaputt«, sagte ich.

»Zu weich.« Anna schüttelte den Kopf. »Die Gefahr sehe ich nicht.« Sie griff nach meiner Hand. »Entspann dich. Das Leben ist gut.«

»Und das sagst du?«, entfuhr es mir. »Nach allem, was dir geschehen ist.«

»Ja, das sage ich.« Sie nahm meine Hand zwischen ihre Hände, begann sie sanft zu massieren. »Du solltest mehr Zutrauen zum Leben haben. Was macht dein Freund?«

Seit drei Jahren versucht Anna, mich zu überzeugen, Beckmann mitzubringen, ihn ihr vorzustellen.

»Es geht ihm nicht gut, in der letzten Zeit.« Erst als ich es sagte, wusste ich, dass das eine Wahrheit war, die ich mir hier und jetzt zum ersten Mal eingestand.

»Weißt du, woran es liegt?«, fragte Anna mich. »Leidet er darunter, dass du so hart bist?«

»Nein, nein«, wischte ich ihre Vermutung schnell vom Tisch. »Das ist es nicht.«

»Was dann?«, fragte sie mich.

»Es ist beruflich«, vermutete ich. »Beckmann erzählt mir nichts mehr von seinen tollen Geschäften. Irgendetwas stimmt da nicht.« Ich zögerte. »Näheres weiß ich nicht.«

Anna begann meine andere Hand zu massieren. »Ein interessanter Satz, dein ›Näheres weiß ich nicht‹. Über einen Mann, mit dem du seit drei Jahren zusammen bist.«

»Ich bin nicht sein Kindermädchen.« Schroff zog ich meine Hand zurück.

»Hat er eigentlich einen Vornamen, dein Beckmann?«

»Alle Menschen haben Vornamen«, antwortete ich.

»Aber dich interessiert er nicht?«

»Ist ja gut, Anna«, gab ich mich geschlagen. »Ich bin neurotisch, hartherzig und bindungsscheu.«

»Nein«, widersprach sie mir. »Hartherzig bist du nicht.«

»Wie geht es dem Langohr?«, versuchte ich das Thema zu wechseln.

»Komm, wir gehen ihn besuchen.« Sie zog mich von der Bank.

Wir liefen zu Annas Gemüsegarten, wo sie dem Kaninchen ein großes Gehege gebaut hatte.

Ich erkannte es sofort. Schließlich hatte es drei Wochen auf meiner Fensterbank gelebt und jeden Morgen von mir frische Salatblätter zu knabbern gekriegt.

Seit dieser Zeit weiß ich, wie seidenweich und kuschelig ein Kaninchenfell sein kann. Und wie charmant ein Kaninchen durch die Nase fiept, wenn es das Leben süß und angenehm findet. Als der Nagezahn uns kommen hörte, spitzte er interessiert die Lauscher. Dann hoppelte er heran und presste sich meinem Streichelfinger entgegen. Ich war gerührt und hockte mich nieder, um ihn besser kraulen zu können.

»Du Möhrenvernichter«, gurrte ich. »Du Charmebolzen.«

»Na also.« Ich spürte Annas Hände im Nacken. »Du kannst doch weich werden.«

Ich kraulte dem Langohr weiter das Fell. Hinter den Ohren, dort, wo es ihm am besten gefällt. Dann stand ich auf.

Ich strich Anna den Steinstaub von der Wange und drückte auf die staubfreie Stelle einen Kuss.

»Bei dir kann ich weich sein«, sagte ich. »Du nutzt es nicht aus.« Ich pustete ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Aber erzähl es niemandem. Verrate mich nicht.«

»Niemals«, Anna hielt drei Finger in die Luft. »Indianer-Ehrenwort. Bea ist groß, Bea ist stark, Bea ist allmächtig.«

Ich nickte zufrieden.

»Und sie hat nie Angst und kann schießen und räumt unter den Bösewichtern auf«, steigerte sie sich. »Und jetzt muss sie schnell wieder weg.«

»Du bist eine schlaue Frau«, lobte ich und schloss die Wagentür auf.

»Warte einen Moment.« Sie drehte sich um, und schon war sie weg.

Ich schaute auf eine Krähe, die einen Regenwurm aus der Wiese pickte. Dann war Anna zurück. Anna samt Kuchentablett. Sie hielt es mir hin.

Ich nahm es ihr aus der Hand.

»Willst du einen Rat?«

Ich stöhnte auf. »Das ist keine echte Frage, hab ich Recht?«

»Nein«, stimmte Anna mir zu. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht.

»Na, denn«, gab ich ihr grünes Licht.

»Mag Beckmann Kuchen?«, fragte sie mich.

»Er vernichtet alles, was süß und klebrig ist.«

»Grüß ihn von mir«, gab Anna mir mit auf den Weg.

»Und frag ihn mal nach seinem Vornamen«, ergänzte ich.

Als ich vom Hof fuhr, winkte Anna mir mit erhobenen Händen nach.

Eine Figur in blauem Overall, die in meinem Rückspiegel langsam kleiner wurde.

4

Wie oft sie sich an diesen Tag erinnert. Wie er in ihrer Erinnerung strahlt. Der Tag vor ihrem Geburtstag. Alles ist vorbereitet. Nur was ihr an Frischem fehlt, holt sie sich noch auf dem Markt. Honigmelonen, Kirschen, Basilikum, Tomaten, Ruccola und Bärlauch. Und den Käse aus Rohmilch, den es an dem Marktstand gibt, an dem Mutter und Sohn die Kunden bedienen.

Ein sonniger Tag. Die Leute laufen mit einem Lächeln zwischen den Marktständen umher. Einem Lächeln, wie es nur die Sonne auf die Gesichter der Menschen zaubert. Die Frauen hinter den Ständen lächeln, Mütter mit Kindern an der Hand lächeln, selbst die Männer mit Aktentaschen lächeln und die Fahrradfahrer unter ihren bunten Helmen, in die Luftschlitze eingebaut sind. Mit einem Lächeln im Gesicht schieben sie ihre Räder an den Marktständen vorbei. Selbst die Kartoffelbauern lächeln. Die Frau hinter dem Gewürzstand lächelt. Und der Mann, der sonst nur griesgrämig die Zubehörteile für Staubsauger verkauft. Heute lächelt auch er hinter seinen Papierbeuteln, Düsen und Bürsten.

Ein ganz besonderer Tag. Oder hat sie ihn nur in ihrer Erinnerung dazu gemacht?

Rot ist an diesem Tag ihre Farbe. Wie unschuldig und ungetrübt ihre Vorliebe für Rot damals ist. Sie kennt noch nicht das dunkle, fast braune Rot von gestocktem Blut. Rot ist für sie die Farbe, die von pulsierendem Leben erzählt.

Heute sieht sie in Rot den Tod.

Sie kauft zwei Kilo sattrote Tomaten, rote Paprika, reife rote Pflaumen, Kirschen und zwei Kilo Futteräpfel, betört von ihrem Rot. Kleine runde Äpfel, die keiner EU-Norm entsprechen und nur als Futteräpfel abgegeben werden dürfen. Und wie sie duften. Sie hat diese Äpfel danach nie wieder auf dem Markt gesehen.

Die vollen Tüten bringt sie zu ihrem Wagen ins Parkhaus. Und anschließend macht sie etwas, was sie selten tut. Wozu sie dieser strahlende Sonnentag einlädt. Sie trinkt einen Kaffee in einem Bistro am Markt und flaniert durch die Stadt. Unbeschwert und mit dem gleichen Lächeln, das alle im Gesicht tragen, die an diesem Tag durch die Straßen laufen.

Oder hat ihre Erinnerung ihnen das Lächeln ins Gesicht gemalt?

An diesem ganz besonderen Tag, einen Tag vor ihrem neununddreißigsten Geburtstag, leuchtet ihr aus dem Schaufenster einer Boutique ein rotes Kleid entgegen. Sie bleibt vor dem Schaufenster stehen und hält den Atem an. Sie weiß sofort, dass sie dieses Kleid haben will. Es ist wie für sie gemacht. Der klassische Schnitt, die freien Schultern, das dezente Dekolleté, die seitlichen Schlitze im Rock.

Sie zögert keine Sekunde und betritt den Laden. Das Kleid ist ein Unikat. Es muss für sie aus dem Fenster genommen werden. Sie probiert es an. Zieht den zarten Stoff vorsichtig über ihren Kopf, streicht ihn an ihrem Körper glatt. Noch heute fühlt sie die Kühle der Seide. Die Zartheit des Stoffs, ein Streicheln ihrer Haut.

Zufrieden betrachtet sie sich im Spiegel. Ihre leicht gebräunte Haut schimmert sanft, das Dekolleté sitzt perfekt, der Rock hat die richtige Länge, zeigt viel Bein, ohne dass es aufdringlich wirkt.

Die Verkäuferin spricht aus, was sie denkt: »Sie müssen das Kleid nehmen. Es ist einfach für Sie gemacht. Das Rot zu ihrem blonden Haar …«

Es bedarf keiner großen Überzeugungsarbeit. Sie reicht der Verkäuferin das Kleid und lässt es sich einpacken. Unverhofft hat sie ein Kleid für ihren Geburtstag gefunden.

Voll Vorfreude packt sie die Schachtel mit dem Kleid in den Kofferraum ihres Autos und fährt nach Hause. Sie brennt darauf, es anzuziehen und ihren Mann damit zu überraschen, wenn er nach Hause kommt.

Den Abend vor ihrem Geburtstag feiern sie immer zu zweit. Um Mitternacht wird er für sie eine Rakete in den Himmel schicken. Es wird rote und grüne und blaue Sterne von oben regnen, und sie werden ein Glas Champagner zusammen trinken.

So hat sie es sich gedacht. So ist es immer gewesen die letzten Jahre. Er wird kochen für sie, und zu zweit werden sie in ihren Geburtstag hineinfeiern.

Als sie sein Auto hört, läuft sie ihm entgegen, um ihn willkommen zu heißen. In ihrem neuen roten Kleid. Voll Überschwang, voll Lebensfreude, voll Glück.

Ein Tag, an dem sie froh ist, zu leben, einen wunderbaren Mann zu haben, ein schönes Heim, gesund zu sein, das Leben zu genießen. In ihrer Erinnerung sieht sie sich auf ihn zulaufen in der Einfahrt, wo er seinen Wagen parkt. Immer wieder sieht sie in Zeitlupe die gleiche Szene. Wie sie ihm in ihrem roten Kleid über den Kies entgegenläuft. Wie er die Autotür öffnet, sie sieht sein Lächeln. Immer wieder läuft sie ihm entgegen. Immer wieder öffnet er die Autotür und lächelt. Immer wieder freut er sich, dass sie zu ihm herauskommt, ihn empfängt. Immer wieder nimmt er sie in den Arm. Immer wieder gibt sie ihm einen Kuss. Immer wieder gibt er ihr einen Kuss.

Dann löst sie sich aus seiner Umarmung und tritt zwei Schritte zurück. »Fällt dir nichts auf?«, fragt sie ihn.

Er sieht sie an und überlegt.

Sie dreht sich im Kreis, damit er sie von allen Seiten sehen kann.

»Ein neues Kleid?« Seine Stimme verrät, dass er sich nicht ganz sicher ist.

Sie nickt. »Gefällt es dir?«

Er betrachtet sie nachdenklich. »Findest du nicht«, fragt er, »dass Rot für eine Frau deines Alters etwas auffällig ist?«

5

Es kommt selten vor, dass ich mache, was man mir vorschlägt. Aber als ich die Stadt im Licht der Nachmittagssonne sah, fand ich es plötzlich eine gute Idee, Annas Rat zu befolgen und mit meinen Kuchenresten bei Beckmann vorbeizuschauen.

Ich fuhr am Museum vorüber, an dessen Mauer eine schwarzweiße Banderole für eine Ausstellung warb. Ein paar Meter entfernt liegt der Yuppiebunker, in dem Beckmann eine Wohnung von imposanter Größe füllt. Nur mit sich, seinem PC und ein paar netten Designerteilchen. Für das, was er da an Miete zahlt, muss ich einen Monat lang auf Mörderjagd gehen.

Einen Stellplatz vor dem Haus hat er trotzdem nicht. Parkplätze sind in dem Viertel das große Problem. Ich umrundete inzwischen zum zweiten Mal die Stahlfiguren, die auf dem Rasen des Museumsparks fröhlich vor sich hinrosteten. Suchte die linke Straßenseite nach einem freien Platz ab, die rechte, nichts.

Ich ging in die Kurve zur dritten Runde. Mein Rekord liegt bei sechs. Vor drei Jahren sah es noch aus, als würde es mit dem Viertel den Bach runtergehen. Mehr als eine Kneipe musste dichtmachen. Aber jetzt strahlt alles in neuem Glanz. Nirgendwo hängt mehr der Zettel eines Immobilienfritzen an den Fenstern eines leeren Lokals. Jetzt sieht man durch Glasscheiben, die bis zum Boden reichen, in hippe Cafés und Kneipen, in denen schöne Menschen auf Barhockern sitzen und ihre Proseccogläser schwenken.

Die Parkplatzsituation hat das nicht gerade entspannt. Ich kurvte weiter. Ah. Endlich. Vorne links schwang sich ein Typ in einen netten blauen Flitzer. Ich fuhr nah ran und stellte den Blinker an. Damit niemand auf die Idee kam, er könne mir den Parkplatz wegschnappen. Es klappte. Die Belohnung für vier Runden Rallye ums Museum. Ich konnte meinen Wagen tatsächlich direkt vor dem Haupteingang parken.

Ich riskierte einen Blick nach hinten. Dorthin, wo ich das Kuchentablett abgestellt hatte. Oje. Schräg hing es in der Ecke. Halb über dem Sitz. Kurz davor, in die Tiefen abzutauchen. Das Fahren im Kreis hatte ihm zugesetzt. Ich rettete es vor dem Absturz.

Mit dem Tablett in der Hand lief ich zur Ecke. Da drüben lag Beckmanns Domizil. Was war da los vor der Haustür? Sah ich richtig oder täuschte ich mich?

Ich stoppte abrupt. Samt meinem Kuchentablett.

Beckmann trat gerade mit einer Blondine auf die Straße. Was sage ich, Blondine, eine langmähnige Blondine, die Fleisch gewordene Männerphantasie an sich. Ich bin auch eine Blondine. Aber eine mit kurzen Stoppeln, nicht so ein Claudia-Schiffer-Verschnitt. Ich hielt die Luft an und trat einen Schritt von der Ecke zurück.

Beckmann lief mit der Blondine zu einem gelben Porsche, den ich ziemlich gut kannte, weil er ihn sich vor zwei Jahren angeschafft hat. Den schwarzen Vorläufer hatte er für mich vor eine Straßenbahn gesetzt, um mir das Leben zu retten. Jetzt warf die Blondine die Haare in den Nacken, wie es Frauen tun, die jede Geste vorher im Spiegel auf ihre Wirkung getestet haben. Und dort standen sie nun und plauderten sich fest.

Ich erstarrte. Fühlte mich, als ob ein Eishauch über mich gekommen sei. Die Blondine fuhr dem Porsche liebevoll über die Schnauze. Beckmann hielt für sie die Wagentür auf. Sie setzte sich auf den Fahrersitz. Er beugte sich über sie, war beim Anlegen des Gurts behilflich. Schlug die Autotür zu.

Ich fasste es nicht. Völlig zweifelsfrei handelte es sich um Beckmann, meinen Beckmann, der da auf der Straße stand und mit einer Frau rummachte, die ich noch nie gesehen hatte.

Er reichte ihr den Wagenschlüssel durch die offene Scheibe. Sie bedankte sich mit einem Kuss. Fassungslos starrte ich auf Beckmann, der sich zu einer Frau hinabbeugte und sie küsste. War das etwa ein Dankeschön für einen schönen Fick?

Es war unglaublich. Beckmann überließ sein liebstes Spielzeug dieser Blondine. Die beiden mussten seit Monaten schon ein Verhältnis haben.

Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich. Wie, wo, wann, warum? Wieso hatte ich nichts gemerkt? War ich zu blöd? Oder war er ein begnadeter Schauspieler? Der Speichel in meinem Mund schmeckte sauer. Auch nur so ein Scheißtyp wie alle. Und ich falle darauf herein. Ich spuckte aus.

Die beiden turtelten am offenen Fenster weiter. Dann trat Beckmann zurück, und die Blondine preschte winkend mit Beckmanns gelbem Porsche von dannen. Er winkte ihr nach.

Ich drehte mich um und lief zu meinem Auto zurück. Das war's ja dann wohl. »Bye-bye, Beckmann«, flüsterte ich und warf das Tablett mit dem Kuchen in eine Tonne, die als Abfallkorb vor dem Museum stand. Das Einzige, was mich in diesem Moment tröstete, war die Tatsache, dass er immer Beckmann für mich geblieben war. Kein Mausi, kein Schatzi, kein Larsie, nichts.

Es war aberwitzig, aber dieses Quäntchen Distanz, das ich durchgehalten hatte, tröstete mich.

Eine Weile saß ich wie gelähmt im Auto. Blickte auf die Leute, die am Museum vorbeizogen. Eine Frau mit einem kleinen Mädchen auf einem Roller. Ein Mann mit einer dunkelblauen Kappe. Ein Pärchen mit Einkaufstaschen, die an ihren Händen baumelten. Anna würde mir raten, lass den Schmerz raus, vergrab ihn nicht. Ich merkte, wie mir allein im Gedanken daran Tränen in die Augen schossen. Ich fuhr mit dem Handrücken darüber. Verdammt, diesen Schmerz wollte ich nicht. Ich wollte mich nicht hilflos fühlen wie ein kleines Mädchen.

Ich wollte nicht mehr daran denken, wie das war, als mein Vater mit dem Koffer in der Wohnungstür stand. Ich habe alles versucht, um ihn zum Bleiben zu bewegen. Ich habe geheult. Ich habe gesagt, ich liebe dich, Papi, du kannst nicht gehen. Ich spare mein Taschengeld, Papa, und dann lade ich dich ein, wir können zusammen ins Stadion gehen. Es hat alles nichts genützt. Er hat mich mit diesem langen Blick angesehen und gesagt: Ich muss gehen. Später wirst du das verstehen.

Jetzt waren die Tränen stärker als ich. Ich saß am Steuer und weinte, die Hände vorm Gesicht.

Anna, du würdest dich freuen, murmelte ich. Aber dann hatte ich mich wieder im Griff. Egal was Anna sagt, was die Seelenklempner sagen, Selbstmitleid hat noch keinen vorwärts gebracht. Ich war nicht die Einzige, deren Liebhaber sie betrügt. Es gibt Millionen von Frauen, die es trifft. Wahrscheinlich gibt es keine einzige Frau, die das nicht betrifft. Die paar, die glauben, sie träfe es nicht, sind nur naiv, verliebt, verblendet. So wie ich.

Ich wischte mir die Tränen von der Wange. Schluss damit. Plötzlich wusste ich, wonach mir jetzt war. Es gibt etwas, das mir immer das Gefühl gibt, die Dinge im Griff zu haben. Ich würde eine Runde schießen. Das bringt mir noch jedes Mal mein Gleichgewicht zurück. Ich stelle mir ganz einfach vor, die Pappfigur, auf die ich ziele, ist Beckmann. Dann macht es plopp, und er ist weg. Allein die Vorstellung ist schon nett.

Ich habe immer gedacht, ich sei Polizistin geworden, weil ich neugierig bin, weil ich wissen will, was sich hinter den Türen abspielt, die vor mir verschlossen sind.

Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht bin ich ja Polizistin geworden, weil ich schießen will. Weil ich mit einer Knarre in der Hand das Gefühl habe, dass keiner mir etwas antun kann. Nie mehr.

6

So sonnig und klar in ihrer Erinnerung alle Bilder sind, die mit dem Kauf des roten Kleides zusammenhängen, mit ihrem Besuch auf dem Markt, so trübe und verschwommen ist alles, was noch am gleichen Abend geschah. Hat sie das Kleid anbehalten? Oder es ausgezogen und gegen etwas Dezenteres eingetauscht? Sie weiß es nicht, wird es nie mehr wissen. So klar sie sieht, wie sie ihren Mann am Vorabend ihres Geburtstages begrüßt, wie sie ihm über den Kies der Einfahrt entgegenläuft, strahlend und voll Vorfreude in ihrem neuen roten Kleid, so wenig weiß sie, was danach geschehen ist. Hat er für sie die Schollenfilets zubereitet, die sie sich immer von ihm wünscht, zart und in Weißwein gedämpft, begleitet von karamellisierten Karotten? Hat er an diesem Geburtstag die Rakete gezündet? Hat es an diesem Abend Sterne für sie aus dem Himmel geregnet? Oder hat sie die Teller mit den Schollenfilets auf die Küchenfliesen geknallt?

Sie weiß es nicht. Und wen soll sie fragen? Sie vermutet, dass sie sich unauffällig verhalten hat. Kontrolliert. Es würde passen. Zu der Frau. Die sie damals noch war.

Oder täuscht sie sich? Hat sie ihm an den Kopf geworfen, dass auch er nicht mehr der Jüngste ist, dass er die ersten weißen Haare bekommt und ihm die Haare aus den Ohrmuscheln wachsen, wie den alten Männern? Auch das ist eher unwahrscheinlich. Es ist nicht ihre Art, die Gefühle anderer zu verletzen. Aber sie weiß es nicht. Alles ist ausgelöscht in ihrer Erinnerung. Alles bis auf diesen einen Satz: »Findest du nicht, dass Rot für eine Frau deines Alters etwas auffällig ist?«

Umso genauer erinnert sie sich daran, was in der Folge geschehen ist. Es kommt ihr vor, als habe sie nach ihrem Geburtstag Tage und Wochen vor dem großen Spiegel in ihrem Badezimmer verbracht. So wie sie jetzt wieder vor dem Spiegel sitzt und ihr Gesicht betrachtet. Als ob sie im Spiegel je etwas anderes gefunden hätte als ihre eigenen Gefühle und Gedanken. Ihre eigenen Ängste. Alte Gewohnheiten beißen sich fest. Sie darf sich nicht wundern, wenn sie ihnen auch jetzt nicht entkommt.

Damals hat sie ihr Gesicht Quadratzentimeter für Quadratzentimeter abgetastet. In ihm nach Spuren gesucht, die das Alter hinterlässt. Als habe sie vor, einen Katalog der Verwüstungen aufzustellen, die das Alter in einem Gesicht anrichtet. Eine Dokumentation des schleichenden Verfalls. Die Fältchen unter den Augen, in der Augenfalte, die hängenden Lider, den Bogen der Lippen, die Fülle der Lippen, die nachzulassen beginnt. Die Haut über den Wangen, die nach unten zieht, die steile Falte zwischen den Augenbrauen, die sich immer tiefer eingräbt und ihre wachsende Skepsis gegenüber dem Leben, gegenüber allem, an das sie geglaubt hat, verrät.

Was sie damals in ihrem Spiegel fand, hatte sie vorher nicht gesehen. Es ist ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Das sind die Zeichen des Verfalls, die alle sehen. Nur sie selbst hat sie bisher ignoriert. In ihrer Verblendung. In dem Irrglauben, dass das Alter unwichtig ist.

Der Mann, den sie liebt, hat die Zeichen ihres Alters sehr wohl aufmerksam registriert. Wie hat sie glauben können, dass sie für ihn ewig jung und für immer liebenswert bleiben wird? Ganz so wie im Märchen. ›Und danach lebten sie glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.‹

Aber das Leben ist kein Märchen.

»Findest du nicht, dass Rot für eine Frau deines Alters etwas auffällig ist«, hallt es in ihr nach. »Eine Frau deines Alters, eine Frau deines Alters …« Wie eine Schellack-Platte mit Sprung dudeln die Worte in ihrem Kopf. Ohne dass sie sie wieder abstellen kann.

Es gefällt ihr nicht, dass sie zu einer ›Frau eines gewissen Alters‹ geworden ist. Sie will dieses Alter nicht. Nicht die Krähenfüße unter den Augen, nicht die Haut, die sich der Schwerkraft ergibt. Sie will so sein, wie sie immer gewesen ist. Attraktiv und dynamisch, sie will ein rotes Kleid tragen und vorwärts gerichtet durchs Leben gehen. Sie will nicht daran erinnert werden, dass allem Leben ein Ende beschieden ist.

Sie denkt an früher. Wie lange ist das her? Es kommt ihr vor wie in einem anderen Leben. Der erste Geburtstag, den sie gemeinsam mit ihm gefeiert hat. Sie sind mit einem Picknickkorb an einen See gefahren. An einer einsamen Stelle haben sie nackt gebadet und sich anschließend geliebt. Unvorstellbar, dass er damals zu ihr gesagt hätte: ›Findest du nicht, dass Nacktbaden für eine Frau deines Alters ziemlich auffällig ist?‹

Ihre Vernunft sagt ihr, dass es nicht geht, dass sich das Rad der Zeit nicht anhalten und noch weniger zurückdrehen lässt. Die Postkarten der Stillleben zeigen ihr plastisch genug, dass es ein Festhalten der Zeit nicht gibt. Dass im Höhepunkt der Blüte schon der Verfall lauert: der pralle Granatapfel, der bei voller Reife aufplatzt, das offene Fruchtfleisch, das die ersten Fliegen anlockt. Aber sie will sich nicht einreihen in diese Kette von Verrottung und Vergehen. Sie will nicht, dass sie bei jedem Blick in den Spiegel an den schleichenden Verfall erinnert wird. Sie will keine Vernunft. Sie will ihre faltenfreie, frische Haut zurück, Fleisch, das prall gespannt über dem Knochen liegt. Sie will, dass der Blick ihres Mannes wieder voll Begehren auf ihr ruht. Dass er in ihr nicht mehr die Frau eines gewissen Alters sieht.

Sie will eine attraktive Frau bleiben. Eine begehrenswerte Frau. Eine Frau, die ein rotes Kleid trägt und es mit zwei Handbewegungen von sich wirft, wenn sie sich auf dem Waldboden mit ihrem Mann liebt.

Ihr Körper hält vor dem großen Spiegel im Badezimmer ihren kritischen Blicken stand. Ist es das Yoga? Oder hat sie einfach Glück? Die Spuren des Alters stehen nur in ihrem Gesicht. Und sie will diese Spuren nicht.

Ihr Entschluss ist schnell gefasst. Sie wird sich die Haut in ihrem Gesicht straffen, das überschüssige Fett einfach wegschneiden lassen. Warum soll sie nicht die Möglichkeiten der modernen Medizin nutzen? In den entsprechenden Publikationen heißt es, vierzig sei das ideale Alter, um ein Facelifting machen zu lassen. Mit einem gut gemachten Facelifting lassen sich nach Meinung der Experten zehn Jahre gewinnen.

Zehn Jahre, in denen ihr das Gesicht im Spiegel frisch und faltenfrei entgegenblicken wird. Eine verlockende Vorstellung. Zehn Jahre sind eine lange Zeit, sagt sie sich. Um sich noch jung zu fühlen, attraktiv und um das rote Kleid zu tragen.

Heute fragt sie sich manchmal, wieso eine normal intelligente Frau wie sie so dumm sein konnte zu glauben, dass das Leben sich so einfach manipulieren lässt, wie es die Werbung verspricht. ›Wollen Sie älter aussehen, als sie sich fühlen?‹

Aber wer kann so einem Satz schon widerstehen? Und wer will das? Sie will es nicht. Sie will genau das, was der Satz ihr verspricht. So jung aussehen, wie sie sich fühlt.