Dominante Damen - Sabine Deitmer - E-Book

Dominante Damen E-Book

Sabine Deitmer

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Beschreibung

Im zweiten Fall der Kommissarin geht es um Geld und Geilheit, um Doppelmoral, um Dienstleistungen, die rasant nachgefragt werden. Und es geht um Dominante Damen in Staats- und anderen Diensten, die wissen, worauf es im Kampf ums Überleben ankommt. Für »Dominante Damen« erhielt Sabine Deitmer den Deutschen Krimi Preis und wurde für den »Glauser« nominiert. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 281

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Sabine Deitmer

Dominante Damen

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Inhalt

Für Gisela Z. [...]Prolog12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152535455565758596061626364Epilog

Für Gisela Z.

Prolog

Die Fliege saß auf der Scheibe, streckte zwei Beine nach vorn und rieb sie aneinander. Sie setzte die Beine zurück auf das Glas und stand still. Nach einer Weile hob sie die Flügel. Mit einem Surren flog sie in die obere Ecke, setzte die Beine auf, knickte sie ein und lief vorwärts. Sie bog nach links, lief im Kreis, nach rechts, schob sich in Bögen und Kreisen der Ecke entgegen, in der das Metall des Fensterrahmens aneinanderstieß.Sie verharrte bewegungslos, die Füße fest auf dem Glas. Licht brach durch das Fenster. Die Flügel mit den feinen Adern schillerten regenbogenbunt.

Sie löste sich von der Scheibe und schwirrte durch den Raum. Das Surren brach ab. Sie landete auf glattem schwarzen Grund. An dem Gummi des Scheibenwischers entlang wanderte sie einem hellen Punkt auf der roten Kühlerhaube entgegen. Dort putzte sie sich die Flügel. Mit einem Bein fuhr sie über den Flügel und unter ihm hindurch.

Dann flog sie los, ließ sich nieder auf einem fingerdicken Seil, das von einem Rohr unter der Decke quer durch den Raum verlief. Sie setzte ein Bein vor das andere. Auf einem Knoten machte sie eine Pause. Sie kletterte weiter, stieg über ein Seil, das vor ihr lag, über ein zweites, löste sich von dem Hanf und wagte über warmem Grund den Aufstieg nach oben.

Auf einer weiten, weichen Fläche marschierte sie vorwärts. Sie stoppte, spürte einen festen Belag unter ihren Füßen. Ein gefundenes Fressen. Sie saugte mit ihrem Rüssel an dem eingetrockneten Brei, der dem Toten aus dem Mund gelaufen war.

Ein Speicheltropfen fiel aus dem Rüssel und glänzte milchig weiß.

1

Mein Name ist Stein, Beate Stein.

Ich schieße, trete Türen ein und lasse mich nicht einmachen. Von nichts und niemandem. Aber was Gefühle angeht, bin ich ein jämmerlicher Feigling.

Er sah mich an aus seinen dunklen Augen.

Ich sah an ihm vorbei nach draußen.

Die Herbstsonne stand über dem Hafen. Ein Kahn mit blauweißroter Flagge schwamm durch das Wasser. Wellen klatschten gegen die Metallbohlen.

Ich räusperte mich und suchte nach Worten.

»Es liegt nicht an dir. Du bist schon in Ordnung.«

Der Kahn mit den Containern dockte auf der anderen Kanalseite an.

Ich atmete tief durch und sprach weiter.

»Ich bin einfach kein Typ für so was. Ich hasse es, für jemanden verantwortlich zu sein. Ich halte das nicht aus. Jemand, der zu Hause auf mich wartet, auf mich angewiesen ist. Das ist, als würde ich ersticken.«

Er ließ mich nicht aus den Augen.

»Ich habe es doch versucht«, verteidigte ich mich. »Es ist nicht so, als würde ich es mir leichtmachen. Sechs Wochen lang habe ich es versucht. Ich schaffe es einfach nicht.« Meine Stimme klang trotzig. »Ich kann für niemanden Verantwortung übernehmen. Ich habe für mich selbst ja schon alle Hände voll zu tun.«

Er musterte mich stumm mit seinen vorwurfsvollen Augen.

»Eins verspreche ich dir. Du kommst in gute Hände.«

Ich steckte den Zeigefinger durch die Gitterstäbe und kraulte dem Kaninchen die watteweichen Backen.

»Es ist nicht, daß ich dich nicht mag.«

Das Kaninchen preßte die Backe gegen meinen Finger.

»Ich bin verkorkst. Bindungsscheu. Zu große Nähe macht mich einfach nervös.«

Mit drei Fingern kraulte ich ihm den grauen Pelz hinter den Ohren.

»Allein schon mein Job. Ich kann nicht arbeiten, wenn ich daran denke, daß zu Hause jemand sitzt und wartet.«

Das Kaninchen schloß die Augen und überließ sich meinem Streicheln.

Auf den Treppen vor der Anlegestelle lag ein Pärchen und knutschte.

»Wir bleiben Freunde. Das verspreche ich dir.«

Das Telefon schellte.

Ich zog den Hörer an mein Ohr. »Ja?«

»Ich habe Ihre Anzeige gesehen.«

»Welche Anzeige?«

Der Nagezahn saß auf seinen Hinterpfoten und spitzte interessiert die Lauscher.

»Sie wissen schon. Lady Elvira. Sie sieht dich. Sie nimmt dich. Sie versaut dich.«

»Sehr witzig.« Ich knallte den Hörer auf die Gabel.

Es gibt jede Menge Männer, denen ich diese Nummer zutraue. Kollegen. Alte Kunden. Wenn ich ehrlich bin, kenne ich keinen, dem ich sie nicht zutraue.

Lady Elvira. Toll.

Ich schnappte mir den Käfig mit dem Schlappohr. Er riß die Augen auf und preßte sich platt auf den Boden.

Diesmal ließ ich mich nicht erweichen. Diesmal stellte ich ihn nicht zurück auf die Fensterbank. Gefühle hin, Gefühle her. Er war ein Männchen. Und noch war ich nicht soweit, mit einem Vertreter des männlichen Geschlechts mein Leben zu teilen.

Ich hängte mir die Tasche mit der Pistole über die Schulter. Wenn es etwas gibt, das ich an meinem Beruf hasse, dann ist es das. Daß ich nie mehr einfach so zur Tür hinausgehe, ohne Pistole. Auch nicht, wenn ich freihabe. Ich weiß zu gut, was einer Frau in dieser Stadt zu jeder Tages- und Nachtzeit passieren kann. Ich habe mehr als eine Frau gesehen, die am hellichten Tag neben dem Eingang zum Supermarkt vergewaltigt und getötet wurde.

Das Leben war leichter, als ich weniger wußte.

Vor der Tür war es angenehm warm. Das Klirren schwerer Eisenketten hallte über das Wasser. Das Pärchen auf den Stufen ließ sich von dem Lärm nicht stören. Hingebungsvoll knutschte es weiter. Ein gelber Container hing zwischen den Klauen einer dicken Metallspinne.

Ich stellte den Käfig auf den Rücksitz und fuhr los.

2

Die Stadt war eine einzige Baustelle. Pfeile, die den Verkehr auf eine Spur leiteten, Löcher mit rotweißen Plastikverspannungen, aufgeschüttete Sandhaufen.

Selbst ein Stück der Landstraße, die zu Anna führte, war aufgerissen. Arbeiter schaufelten dampfenden Teer auf die Fahrbahn. Ein Mann in einer orangefarbenen Jacke schwenkte eine Plastikfahne und dirigierte die Autos schubweise vorbei.

»Wir sind gleich da.«

Ich sah in den Rückspiegel. Plattgedrückt wie auf dem Weg zur Schlachtbank lag der Nagezahn auf dem Käfigboden.

»Kein Grund zur Panik. Anna wird dir gefallen.«

Ich bog in die Einfahrt. Ein blauer Kombi kam mir entgegen. Die Sonne stand auf der Windschutzscheibe und blendete. Ich konnte nicht sehen, wer in dem Auto saß.Auf dem Anhänger stand eine Ziege und hielt den Kopf in den Wind.

Der Schäferhund zerrte an der Kette und bellte.

»Leise ist es nicht hier«, verriet ich dem Nagezahn und zog den Käfig vom Rücksitz. »Du wirst dich daran gewöhnen.«

Wir liefen an dem Käfig mit den Pfauen vorbei. Sie kreischten laut.

»Die tun nur so wild«, beruhigte ich das Kaninchen. Seine Barthaare zitterten. »Im Grunde sind sie harmlos.«

»Bea, bist du das?« Anna stand in der offenen Haustür.

Sie erkannte ihre Gäste an dem Motorengeräusch der Autos. Ein Golf Diesel, das bin ich.

»Ich bin nicht allein«, warnte ich sie.

»Wen hast du mitgebracht? Deinen jungen Mann?«

»Einen jungen Mann, aber nicht meinen.«

Ich setzte den Käfig auf die Mauer und nahm sie in den Arm. Sie roch nach Haarshampoo. Normalerweise riecht sie weniger aufdringlich. Nach Steinstaub oder Lehm. Ich ließ sie schnell wieder los.

Mit leeren Augen sah sie in die Luft. Es gab mir einen Stich. Ich werde mich nie daran gewöhnen, daß irgendein Verrückter meiner besten Freundin Gas in die Augen gesprüht hat, daß sie nie wieder sehen kann.

Leise machte ich die Käfigtür auf und faßte das Kaninchen am Nacken. Ich setzte ihr den Nagezahn in die Halsbeuge. Sie griff nach ihm und steckte ihre Nase in das weiche Fell. Das Schlappohr knabberte an Annas Fingern.

»Ein Kaninchen.« Sie lächelte. »So weich. Der Überlebenskünstler aus deinem letzten Fall?«

Ich sah in den Himmel. Ein Wolkenberg trieb auseinander. Es war mein vorletzter Fall. Der, den ich nicht so leicht vergessen werde. Ich trug den Käfig ins Haus, stellte ihn auf den Küchentisch. Anna strich mit einer Hand sacht über die Käfigstangen.

»Gehört er niemandem?« fragte sie.

»Keiner wollte ihn haben. Wenn du ihn nicht willst, nehm ich ihn wieder mit.«

»Er kann bleiben«, sagte sie. »Ich besorg ihm einen größeren Käfig.«

Anna goß kochendes Wasser in die Teekanne. Ich fragte mich einmal mehr, wie sie das schaffte, ohne einen Tropfen daneben zu gießen. Der Geruch von Pfefferminz zog durch die Küche.

»Er war das einzig Erfreuliche an dem Fall. Er und ein kleines Mädchen.«

»Was war das für ein Fall?« fragte sie.

Ich sah zu, wie Anna das Netz aus dem Tee nahm und in den Ausguß tat. Sie goß die Tassen voll.

»Horror pur. Ein Ehemann, der im Eisfach endet. Zersägt und ordentlich in Plastiktüten verpackt … Willst du noch mehr hören?«

Ich nippte an dem heißen Tee.

»Und eine Kommissarin, die um ein Haar einen unschuldigen Menschen ins Gefängnis gebracht hätte.«

Der Tee brannte in meiner Speiseröhre.

»Du führst ein aufregendes Leben, fängst Verbrecher, flirtest mit Kaninchen. Bist du nicht deshalb zur Polizei gegangen?« Annas Stimme klang ironisch.

»In dem Fall bin ich um Jahre zu spät gekommen. Was ich herausgefunden habe, nützt heute keinem mehr.«

»Und das gefällt dir nicht«, stellte sie fest. »Am liebsten hättest du es wie im Märchen. ›Und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.‹«

»Na hör mal, findest du es vielleicht in Ordnung, wenn jemand anderen jahrelang das Leben zur Hölle macht? Bis die Opfer denken, sie hätten es nicht anders verdient?«

»Natürlich finde ich das nicht in Ordnung.« Sie strich über meinen Arm. »Aber meinst du nicht, daß du dir etwas viel vornimmst, wenn du alles Unrecht dieser Welt wieder in Ordnung bringen willst?«

»Warum nicht?« fragte ich. »Willst du mir meine Wut nehmen?«

»Nein. Ich will nur, daß du dich nicht übernimmst. Mit der ganzen Welt auf einmal. Freu dich, daß du einem Kaninchen zu einem Zuhause im Grünen verholfen hast …«

»Ich bin Polizistin und keine Tierpflegerin.«

»Du bist Polizistin. Nicht der liebe Gott.«

Die Worte standen im Raum.

»Übrigens, ich hab' was für dich.«

Anna stand auf und kramte im Küchenschrank. Sie legte eine Pappschachtel vor mir auf den Tisch.

»Was ist das?« Ich beäugte das Geschenkpapier. Silberfolie mit zarten blauen Streifen.

»Pack es aus. Es ist keine Bombe.«

Ich knibbelte ein Stück Tesa los und zog den Karton aus dem Papier.

»Weiter«, trieb Anna mich an.

Ich öffnete die Lasche und zog einen länglichen, in Plastik verpackten Kasten heraus. Was mochte das sein? Ich riß das Plastik auf, und eine bunte Bedienungsanleitung fiel mir entgegen. Eine Polaroid. Das neueste Modell.

»Was soll ich denn damit?« fragte ich entgeistert.

»Zu viele häßliche Bilder.« Sie ahmte meine Stimme nach. »Zu viele häßliche Bilder.«

Das mußte ich gesagt haben. Keine Ahnung, wann.

»Sammle die schönen. Du kannst sehen, ich nicht. Mach die Augen auf. Oder meinst du, ich will, daß meine Freundin vor die Hunde geht? Nur weil sie bei der Polizei ist?«

Sie hatte es mal wieder geschafft. Ich war sprachlos. Ich nahm den grauen Kasten in die Hand, fuhr über das Gehäuse, den eingelassenen Schalter und den Gummikranz, der die Linse schützte.

»Setz dich.«

Unsanft faßte ich sie an den Schultern und dirigierte sie auf den Stuhl. Dann packte ich den Nagezahn am Fellkragen und setzte ihn ihr in den Schoß.

»Und jetzt tu dein Bestes«, befahl ich. »Das wird mein erstes verdammtes Bild von der schönen Sorte.«

Sie streichelte das Kaninchen hinter den Ohren. Es legte die Schnauze in die Beuge von Annas Arm und streckte die Pfoten. Ihr Gesicht war entspannt. Ein Lächeln spielte um die Mundwinkel.

Mit einem Rattern rollte das Foto aus dem Apparat.

Langsam kamen die Farben. Annas dunkle Haare, die kräftigen Hände, die den Marmor bearbeiten, der dunkelblaue Overall, das Grau des Nagezahns, die weiße Schnauze.

Der Ausschnitt stimmte.

Das Foto war umwerfend.

 

Die Sonne stand hinter den Birken, als ich mich von Anna verabschiedete. Sie stand in der Tür und winkte. Ich kurbelte das Fenster herunter. Die Luft war frisch. In den Kronen der Laubbäume leuchteten gelbe und rote Flecken. Die abgeernteten Felder glänzten schwarzbraun. In den Furchen, die mächtige Reifen durch den Boden gezogen hatten, gingen die Krähen spazieren.

Nur die schönen Bilder sammeln. So einfach war das. Hier oben bei Anna kam mir immer alles ganz einfach vor.

3

Das alte Hafenamt glühte im Licht der untergehenden Sonne. Ich stellte meinen Golf auf den Parkplatz unter der Kastanie. An solche Bilder mußte Anna gedacht haben. Auf die Entfernung war meine Polaroid leider etwas überfordert. Ein weißer BMW ließ den Motor an. Da hatte ich mein Bild.

Ich schob den Schalter zurück, und die Kamera sprang auf. Ich drückte ab. Keine Minute zu früh. Die Hand mit den blauweißen Punkten bewegte sich in Sekundenschnelle, gab frei, was sie festgehalten hatte. Der BMW fuhr los.

Ich legte den Kopf in den Nacken. Drei knallrote Luftballons stiegen über dem Parkplatz in den Himmel. Rote Bälle, die über den Hafen segelten und langsam kleiner wurden.

Das Bild kam herausgerattert. Ich wartete auf die Farben. Eine Frauenhand in einem blauweißen Handschuh lag in einem offenen Autofenster. Dünne Schnüre liefen um die Hand. An ihren Enden schwebten drei rote Luftballons. Ein schönes Bild.

Ich sah auf meine Hände, die das Foto hielten. Auf die Sommersprossen über dem Handrücken, die Adern, die unter der Haut lagen. Das war doch verrückt. Handschuhe. Wer trug heute noch blauweiß-gepunktete Handschuhe?

4

Ihre Hände lagen locker auf dem Lenkrad. Kleine, kräftige Frauenhände, in Handschuhe verpackt. Blau mit weißen Punkten. Sie verstärkte den Druck und drehte das Rad zur Seite. Der Wagen bog um die Ecke. Ein rotweißes Schild. Durchfahrt nur für Anlieger. Sie bremste ab, rollte über graurosa Steine weiter. Zu beiden Seiten Einfamilienhäuser. Davor Zweitwagen mit Kindersitzen und Aufklebern: Baby an Bord. Eine junge Frau stand mit einem Eimer in einem offenen Fenster. Zwei Mädchen hielten ein Gummiseil zwischen ihren Beinen. Ein drittes sprang hoch und preßte das Seil mit beiden Füßen zu Boden.

Die Frau mit dem blonden Pagenkopf nahm die rechte Hand vom Lenkrad. Die Finger mit den weißen Punkten fanden den Verschluß der Tasche auf dem Beifahrersitz, ließen ihn aufschnappen und tauchten in das Innere. Das Metall schnappte wieder zu. Sie sah auf das gefaltete Stück Zeitung zwischen ihren Fingern. Auf die schwarze Schrift am Rand. Ihr Blick streifte die Nummern neben den Haustüren.

Das Haus lag am Ende einer Zeile zweistöckiger Reihenhäuser. Gegenüber war ein Spielplatz. Ein kleiner Junge hing in den Seilen eines Klettergerüsts. Sie parkte ihren Wagen hinter einem roten Kombi, warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, strich den weißen Kragen auf der Kostümjacke glatt und griff nach ihrer Handtasche.

Die Tür ging auf. Ein Mann in einem hellen Trenchcoat kam aus dem Haus gestürmt. Sie trat zur Seite. Der Mann drehte sich um: »Wo bleibst du denn?« herrschte er eine Frau an, die im gleichen hellen Trenchcoat wie er den Eingang herunterkam. »Ich komm' ja schon«, entschuldigte sie sich mit roten Wangen.

»Kommen Sie auch wegen dem Haus?«

Der alte Mann sah sie aus zusammengekniffenen Augen an.

»Sie sind die fünfzehnte heute«, fuhr er fort, ohne ihre Antwort abzuwarten.

»Ist das Haus noch zu haben?« Sie fühlte seinen kurzsichtigen Blick auf ihrem Kostümrock, dem Revers, im Gesicht.

»Zu haben ist es schon.« Er blinzelte ihr entgegen. »Aber nicht für jeden. Heute kann ich mir meine Mieter aussuchen.« Er meckerte los, als ob er einen guten Witz gemacht hätte. »Und an Frauen allein vermiete ich nicht.«

Sein faltiger Hals reckte sich aus dem karierten Hemd.

»Da haben Sie recht. In so ein schönes Haus gehört eine Familie mit Kindern«, schmeichelte sie ihm.

»Ich vermiete nur an ordentliche Familien.« Zur Bestätigung nickte er mit dem Kopf. »Wie viele Kinder haben Sie?«

»Zwei, einen Jungen und ein Mädchen. Wollen Sie mal sehen?« Sie zog zwei Fotos aus der Kostümjacke und reichte ihm eins.

»Na, dann kommen Sie rein.« Er griff nach dem Foto. »Wie heißen Sie überhaupt?«

»Kuhlmann, Vera Kuhlmann«, stellte sie sich vor.

»Das ist das Wohnzimmer«, sagte er. »Mit der Durchreiche in die Küche. Sehen Sie sich nur um.« Er ging zum Fenster und stellte sich ins Licht. Eine zusammengeklappte Brille vor den Augen, betrachtete er die Fotos.

Die Tapeten waren vergilbt, der Teppichboden voller Flecken. Die Fenster waren schön groß, und die Terrasse ging nach Süden. Im Garten stand eine Schaukel. Die Blumen auf dem Rasen waren verblüht. Welk hingen die gelben und blauen Blätter an den Stengeln.

»Kann ich mir die obere Etage ansehen?«

»Gehen Sie nur. Wenn Sie Fragen haben, ich bin hier unten.«

Ein großes, helles Zimmer mit Balkon und drei kleine. Vera stieg die Treppe wieder nach unten.

»Na, was sagen Sie?«

Der alte Mann blinzelte sie an.

»Das Haus gefällt mir. Ich würde es gern mieten.«

»Alle wollen es mieten.« Er meckerte los. »Auch die alten wären gern wohnen geblieben. Zehn Jahre haben die hier gewohnt.« Wie eine Schildkröte wackelte er mit dem Kopf. »Die haben die Miete nicht mehr zahlen können. Da mußte ich sie raussetzen.«

»Ich kann zahlen«, sagte sie. »Geld ist kein Problem.« Sie zog mit einer Hand den rechten Handschuh stramm.

»Und Ihr Mann?« fragte er. »Wo ist der?«

»Auf Montage. Das ist er.« Sie reichte ihm ein Foto.

Er starrte mit dem rechten Auge durch das Gestell der zusammengeklappten Brille.

»Ist das auch ein Deutscher?« fragte er mißtrauisch. »Eseltreiber kommen mir hier nicht rein.«

»Aber ja«, versicherte sie.

»Und warum ist er nicht hier?«

»Er ist auf Montage. In Dubai.«

»Verdient er da auch was?« Der Alte lauerte auf ihre Antwort.

»Geld ist kein Problem«, wiederholte sie und öffnete die Handtasche.

Der Blick des Alten hing an der Rolle blauer Scheine in ihren Händen.

»Was kostet das Haus pro Monat?«

»Zweitausend«, sagte er und blickte ihr ins Gesicht. In der Anzeige hatte eintausendfünfhundert gestanden.

Sie zählte zwanzig Scheine ab und hielt sie dem Alten vor das faltige Gesicht.

»Wenn wir den Mietvertrag jetzt gleich machen, lasse ich Ihnen das da. Für den laufenden Monat.«

Er sah auf die Scheine und wiegte den Kopf.

»Ein Mann in der Ferne. Was ist, wenn er kein Geld schickt?«

»Ich verdiene mit.«

Sie machte noch einmal die Tasche auf und zählte zwanzig Scheine ab. Ein dicker Packen blauer Scheine steckte zwischen den Fingern mit den weißen Punkten.

Der Alte streckte die Hand nach dem Geld aus.

Sie wich der knochigen Hand aus.

»Das Geld gehört Ihnen, sobald wir den Mietvertrag unterschrieben haben.«

5

Die Sonne stand hinter den Hochhäusern. Vera parkte auf dem freien Platz neben einem Haufen von Glasscherben. Vor dem Eingang fuhr ein Junge mit rotem Sturzhelm auf einem Mountainbike die Treppen hinunter. Sie stellte sich vor die silbernen Metallwände des Aufzugs. ›Claudia, ich liebe dich‹, hatte jemand quer auf die linke Wand gemalt. Ein heller Gong ertönte. Die Türen gingen auf.

Sie drückte auf den Knopf. Mit einem Ruck fuhr der Fahrstuhl an. Es roch wie immer. Nach einer Mischung aus Schweiß und Urin.

Hilde machte die Tür auf.

»Alles in Ordnung?«

Die weißhaarige Frau im Wollkleid nickte.

»Mama, Mama.« Andreas stürmte ihr aus dem Kinderzimmer entgegen. Katrin kam mit dem Puppenwagen nach.

»Alle mitkommen. Ich habe euch was mitgebracht.«

»Das ist für Andreas.«

Sie zog ein großes buntes Buch aus der Tüte.

»Boh, Dino-Bilder. Spitze, Mama.«

Andreas setzte sich auf den Boden und begann zu blättern.

»Du sollst die Kinder nicht so verwöhnen.«

Hildes Worte klangen vorwurfsvoll.

»Das ist für Katrin.«

Sie holte ein Springseil aus der Tüte.

»Guck mal, was ich schon kann, Mama.«

Kati stellte sich ans Fenster und sprang mit überkreuzten Füßen. Ein paar Blätter der Birkenfeige fielen auf den Boden. Der Topf blieb stehen.

»Nicht hier.« Hilde schob Katrin zur Diele hinaus. »Da kannst du springen.«

»Und das habe ich uns mitgebracht.«

Sie legte ein gelbes Papier auf den Tisch.

Hilde rückte ihren Stuhl heran.

»Was ist das?«

Sie nahm das Papier in die Hand.

»Na, was sagst du jetzt?«

»Ein Mietvertrag«, staunte Hilde.

»Wir haben es endlich geschafft. Die Schulden sind abbezahlt, und wir kriegen ein anständiges Zuhause.«

In Hildes Augen schimmerte es verdächtig.

»Das ist doch kein Grund zum Weinen.«

Sie zog die Handschuhe aus und strich Hilde mit den bloßen Händen über den Nacken. »Wenn ich dich nicht hätte, säh' es anders aus.«

Hilde zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und schneuzte sich.

»Es ist ein richtiges Haus, im Grünen, mit einem Garten, einem großen Wohnzimmer, einer Terrasse. Und du hast ein schönes Zimmer nach Süden mit eigenem Balkon.«

Hilde sagte kein Wort. Die Tränen liefen ihr die Wangen herunter. Erneut trompetete sie in ihr Taschentuch.

»Oder willst du nicht mitkommen? Willst du lieber hierbleiben?«

Hilde schüttelte den Kopf.

»Es kommt so plötzlich. Das ist alles. Wie hast du es gefunden?«

»Durch die Zeitung. Er wollte nur an eine Familie vermieten.«

»Was hast du ihm erzählt?«

»Dasselbe wie den anderen.«

»Es ist nicht recht zu lügen.«

»Sollte ich ihm vielleicht die Wahrheit sagen? Dann hätten wir die Wohnung nie gekriegt.«

Hilde seufzte.

»Nichts als Lügen, Vera. Wie lange willst du den Kindern diese Lügenmärchen erzählen?«

»Solange sie einen Vater brauchen. So lange bekommen sie einen. Den besten, den es je gab.«

6

»Mama, kannst du heute nicht hierbleiben?« Andreas bettelte sie mit seinen blauen Augen an. »Nur heute. Ausnahmsweise.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das geht nicht. Auch die Kranken wollen, daß ich bei ihnen bin.«

»Nur heute.« Andreas gab nicht auf.

»Und wer soll den Männern die Betten machen und aufpassen, daß sie nicht noch kränker werden, den Arzt rufen, wenn sie Schmerzen haben?«

Hilde griff ein.

»Eure Mama muß arbeiten gehen. Hört auf mit dem Quengeln.«

»Liest du uns noch einen Brief von Papa vor, eh du gehst?«

»Sie hat euch jeden einzelnen mindestens schon zehnmal vorgelesen«, schimpfte Hilde. »Muß das denn heute wieder sein?«

»Ist schon gut, Hilde.«

Sie ging zur Anrichte und zog eine Schublade heraus.

»Also ich höre mir das nicht schon wieder an.«

Hilde ging in die Küche und warf die Tür hinter sich zu.

»Na, dann kommt her.«

Sie setzte sich auf die Couch, und die beiden kamen zu ihr.

»Zuerst den Umschlag. Den Umschlag.«

Sie legte die dünnen Papierseiten in den Schoß und hielt den Umschlag hoch.

»Wer will ihn haben?«

»Heute bin ich dran«, rief Katrin und stieg auf das Sofa.

»Stimmt gar nicht«, schrie Andreas. »Das ist mein Umschlag.«

»Kati ist heute dran.«

Sie legte den Umschlag in Katis kleine Hände.

»Schön vorsichtig.«

Kati legte den Daumen auf eine Briefmarke.

»Ein Tiger«, sagte sie ehrfürchtig.

»Da, wo Papi ist, gibt es Tiger.«

»Und Schlangen und Hornissen und Fische und Affen und Kamele«, gab Andreas an. »Nicht nur Tiger.«

»So, jetzt legen wir den Umschlag auf den Tisch«, sagte sie. »Und jetzt?«

»Jetzt mußt du lesen«, gab Kati das Kommando und steckte den Daumen in den Mund.

Andreas legte seinen Kopf auf ihren Arm.

»Lesen, Mama«, sagte er.

Sie faltete die dichtbeschriebenen Blätter auseinander.

»Liebe Kati, lieber Andreas, meine liebe Frau«, begann sie.

»Alles lesen«, forderte Andreas.

»Noch mal ganz von vorn.«

»Dubai, den achtzehnten April. Liebe Kati, lieber Andreas, meine liebe Frau. Heute habe ich am Flughafen eine deutsche Zeitung gefunden. Da mußte ich an Euch denken. Wie schön es wäre, wenn wir jetzt alle zusammensein könnten …«

7

Vor der Tür bastelten zwei Jungen in zerschnittenen Jeans und Bomberjacken an einem Mofa. Der Motor heulte auf. Vera stieg ins Auto. Erst frisierten sie ihre Mofas, dann klauten sie die ersten Motorräder und Autos. Es wurde Zeit, daß Katrin und Andreas von hier wegkamen. Je eher, desto besser.

Sie umkurvte die Schlaglöcher und fuhr vom Parkplatz. Die hohen Wohntürme mit den winzigen Balkons, die wie Waben in der Luft hingen, verschwanden in ihrem Spiegel.

Sie hielt vor einem Kiosk. Als sie den Kasten Mineralwasser zum Wagen trug, riß in dem Haus neben der Bude ein Mann mit Halbglatze die Ladentür auf. Ein Schuh flog durch die Luft und knallte auf das Pflaster. Die Tür schlug wieder zu.

Eine junge Frau in einem kurzen Rock mit langen dunklen Haaren drehte sich auf dem Bürgersteig um und hinkte mit nur einem Schuh am Fuß zurück. Die junge Frau in der Jeansjacke bückte sich, hob den pinkfarbenen Schuh vom Pflaster und zielte. In die Mitte der Goldschrift, die auf das Glas montiert war. ›SALON JÜRGEN. IHR COIFFEUR.‹ Der Schuh flog los. Kurz vor der Tür fiel er zu Boden.

»Mist.« Sie stieg aus ihrem Schuh. Den Absatz in der Hand, hob sie den Arm und holte weit aus. Peng. Ein Treffer. Die Scheibe vibrierte.

Sie lief zur Tür, sammelte die pinkfarbenen Schuhe ein, streifte sie über die Füße mit den schwarzen Nylonstrümpfen.

»Wichser.« Sie knickte mit einem Fuß um, zog den Schuh vom Fuß und sah ihn sich an. Mit einem rosa Schuh in der Hand humpelte sie über das Pflaster.

Vera fuhr im Schrittempo neben dem Bordstein.

»Brauchen Sie Hilfe?«

Sie strich die Haare aus dem Gesicht. An den Fingern saßen silberne Ringe.

»Danke. Ich bin okay.«

Wache graue Augen in einem blassen Gesicht.

»Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?« fragte Vera.

»Stadtmitte?«

Vera nickte. »Steigen Sie ein.«

Die junge Frau ließ sich neben ihr in die Polster fallen.

Sie stellte eine Basttasche auf den Boden und beguckte sich den rosa Schuh.

»Der ist hin. So ein Wichser.«

Mit zwei Fingern bewegte sie den Absatz vor und zurück.

»Mein gutes Paar hat er total plattgemacht. Mit 'nem Rasiermesser. Die hätte ich gar nicht mit zur Arbeit nehmen sollen.«

Sie warf den Schuh auf den Boden.

»Typen gibt's. So was von durchgeknallt.«

Das Licht fiel in ihre toupierten schwarzen Haare.

»Das kann man kaum glauben.«

Sie beugte sich zu der Strohtasche. Mit einem kleinen Fläschchen in der Hand tauchte sie wieder auf. Sie schraubte den Verschluß ab, hielt es an ein Nasenloch und sog die Luft ein. »Ist das toll …« Sie machte die Augen zu. »Maiglöckchen. Wollen Sie auch mal?«

»Nein, danke«, sagte Vera.

Im Heck des Wagens vor ihr saß eine Dogge und sah gelangweilt nach draußen.

»Können Sie sich das vorstellen?« Die junge Frau drehte Vera den Kopf zu. »Da kriegt so ein Typ ein Baby. Seine Frau, meine ich.« Sie schraubte die kleine Flasche wieder zu. »Und lädt uns ein, einen mit ihm zu heben nach Feierabend. Und wir tun ihm den Gefallen.«

Eine Maiglöckchenwolke zog zu Vera herüber.

»Alles ganz super und toll. Er karrt ein paar Flaschen Sekt an. Billigste Sorte, aber immerhin.«

Vera machte das Fenster einen Spalt auf.

»Und dann geh' ich zum Klo. Und was sage ich Ihnen?«

Vera trat auf die Bremse. Die Ampel war rot.

»Wie ich zurückkomme, sind alle weg. Ich bin die einzige, die noch da ist. Da hätte ich eigentlich schon wissen müssen, was kommt.«

Eine Frau schob einen Zwillingswagen über den Zebrastreifen.

»Fällt der über mich her und sagt, daß er mich heiraten will und alles. Und seine Frau hat gestern entbunden …«

Die Ampel war grün. Vera fuhr los.

»Wie finden Sie das?«

Sie sah auf die Hand mit den blauweißen Punkten, die den Knüppel der Gangschaltung nach vorn drückte.

»Ich hab' ihm gesagt, das läuft nicht, und da dreht er durch.«

Sie zog mit der rechten Hand an der Rockkante. Einen Moment lang bedeckte der Jeansstoff zur Hälfte das Loch im schwarzen Nylon. Sie ließ die Rockkante los. Der Stoff glitt wieder zurück.

»Schreit rum, ich wär' entlassen und soll abhaun. Als ob ich Bock darauf hätte, in seinem Laden zu bleiben nach dem Tanz.«

Sie betrachtete die breiten Laufmaschen, die sich über ihr spitzes Knie nach unten fraßen.

»Sowieso 'n Scheißjob, Friseuse, den ganzen Tag stehen.«

Vera bremste vor einem gelben Wagen. Am Ende des langen Schwenkarms hing eine Gondel. Ein Mann mit einer Elektroschere stutzte die Bäume.

»Wie der sich das denkt? Ich soll bei ihm arbeiten und in der Mittagspause mit ihm bumsen oder wie?«

Sie schraubte das Fläschchen auf, kippte ein paar Tropfen in ihre Hand.

»So ähnlich wird er sich das gedacht haben«, vermutete Vera.

»Wissen Sie, daß ich noch keinen Chef hatte, der mich nicht angegrabscht hat? Echt wahr. Manchmal frag' ich mich, warum ich nicht gleich auf den Strich gehe.«

Sie verrieb das Parfüm in ihrem Nacken.

»Ist natürlich Quatsch. Aber so Gedanken kommen einem schon mal.«

Vera drehte das Fenster weiter auf. Der Fahrtwind zog die Duftwolke nach draußen. Sie fuhren über die Kreuzung am Wall.

»Da hinten ist die Reinoldikirche«, sagte sie. »Soll ich Sie da rauslassen?«

Die Frau neben Vera schnupperte an ihren Händen.

»Es gibt viel zu wenig nette Typen. Hab' ich recht?«

Vera hielt auf einer freien Spur am Taxistand.

»Und wenn man einen hat, muß man ihn festhalten. Stimmt's?«

»Wir sind da.«

»Ist schon gut. Ich hab' verstanden. Sie wollen nicht mit mir reden.«

Sie sammelte den Schuh und die Strohtasche vom Boden.

»Sind sich wohl zu fein dazu.« Die Spitze des rosa Schuhs zeigte auf das Lenkrad. »Mit Ihren komischen Handschuhen da. Trotzdem, danke fürs Mitnehmen.«

Die Tür knallte zu.

8

Vera schloß den Kofferraum ab. Sie hängte die Handtasche über die Schulter, faßte den Kasten Mineralwasser mit beiden Händen und überquerte die Straße. Die Frau in der Zeitungsbude schob neugierig den Kopf aus der Verkaufslade.

»Guten Tag«, grüßte Vera freundlich.

Der Kopf der Frau verschwand. Die Lade fiel krachend zu.

Vera schleppte den Kasten mit dem Wasser ein paar Meter die Straße hoch. Aus einem offenen Fenster schallten Stimmen. Im Halbkreis um Holztische gruppiert, saßen Männer unterschiedlichen Alters. Der Mann, der vor ihnen stand, sah Vera und hob die Hand zum Gruß.

Vor einem grauen Mietshaus bog sie in eine Toreinfahrt und lief in den Hof. Auf einem Stück verwilderter Wiese standen grüne Wäschestangen und rosteten vor sich hin. In einer Ecke sprossen Brennesseln.

Vera setzte den Kasten ab und sah an der Backsteinfassade hoch. Durch einen Fensterspalt wehte eine weiße Gardine. Sie schloß die Tür auf, trug den Kasten die grauweiß gesprenkelten Treppen nach oben.

Sie sperrte die Wohnungstür auf, hob die Kiste mit den Flaschen vom Boden. Mit dem Fuß schob sie die Tür hinter sich zu.

Auf dem Tisch in der Teeküche lag ein Zettel.

»Irma ist morgen beim Arzt. Bis dann. Angelika.«

Durch die Diele hallte das Klingeln eines Telefons.

Das rote Telefon schellte. Drä, drä, drä.Das schwarze gesellte sich dazu. Ring, ring, ring.

Vera lief zu dem antiken Sekretär am Fenster. Das Klingeln hörte auf. Mit einem Knacken sprang erst der eine, dann der andere Anrufbeantworter an.

Aus einem Seitenfach des Sekretärs zog Vera eine mit Samt bezogene Schachtel. Ihre blauweißen Handschuhfinger liefen über das Register der dichtgedrängten Karteikarten. Beim Buchstaben K wurde sie langsamer, zog eine Karte heraus, ließ sie fallen, zog eine andere. Schließlich fand sie, was sie suchte, und schloß das Fach wieder ab. Mit der Karte in der Hand lief sie in die Teeküche zurück.

Vera legte die Karte auf den Küchentisch und griff eine Flasche Mineralwasser aus dem hellbraunen Kasten. Sie las, was vorn auf der Karte stand, goß sich ein Glas mit Mineralwasser voll, drehte die Karte herum, las weiter. Sie legte sie zurück auf den Tisch. Dann nahm sie ein Röhrchen aus der Handtasche, zog den Plastikstopfen heraus, warf die Tablette in das Glas. Luftblasen stiegen auf. Mit einem Löffel rührte sie um. Der weiße Fleck löste sich auf. Ohne abzusetzen, stürzte sie das Glas herunter.

Nebenan ging es wieder los. Drä, drä, drä.

Vera packte sich Glas und Flasche. Durch ein dunkelblau gekacheltes Badezimmer ging sie in einen Ankleideraum. Die Wände waren mit Einbauschränken verkleidet. In einer Ecke stand ein hoher Spiegel.

Mit einem Schlüssel öffnete sie den doppeltürigen Schrank. Sie zog die Handschuhe von den Fingern und legte sie sorgfältig in eine Schublade. Dann zog sie den Rock aus, die Bluse, hängte Kostüm und Bluse auf Kleiderbügel, stieg aus der Strumpfhose und entledigte sich der Unterwäsche. Als letztes nahm sie ein Gliederarmband ab und legte es in einen Schmuckkasten.

Sie griff ein weiches Stück Leder, faltete es auseinander, legte es um die Taille, zog die Luft ein und drückte einen Haken nach dem anderen in die Ösen. Das Leder spannte sich um ihren Körper, glänzte schwarz. Sie befestigte die schwarzen Strümpfe an den Strumpfhaltern und schlüpfte in ein paar hochhackige rote Pumps mit Plateausohle und Stilettoabsatz aus silbernem Stahl.

Sie prüfte den Sitz des Mieders vor dem großen Spiegel, drehte sich zur Seite. Die Silhouette stimmte. Das helle Fleisch ihrer Pobacken blähte sich unter dem Mieder, der Busen lag hochgeschnürt und prall über den Viertelkörbchen.

Vera setzte sich vor den Spiegel, schminkte sich. Schatten um die Augen, Schatten über die Backenknochen, hart konturierte blutrote Lippen. Mit Gel strich sie sich die Haare an den Seiten streng nach hinten.

Steif lief sie zur Teeküche. Sie sah auf die Uhr. Halb neun. Sie nahm die Karte vom Tisch, überflog sie noch einmal.

Kurt, 45, Staatsanwalt, verheiratet, Töchter studieren (Medizin/Jura), geschlossene Schuhe, Strümpfe, Peitsche, Natursekt.

Sie stellte die Karte zurück in den Karteikasten, verschloß den Sekretär. Natursekt war kein Problem. Sie mußte nur genug trinken. Das war alles. Sie lief in das Ankleidezimmer zurück, setzte sich vor den Schminkspiegel. Sie goß ein Glas Mineralwasser ein, trank in kleinen Schlucken. Sie zog die Schublade auf, nahm ein Sortiment schwarzer Fingernägel heraus. Einen nach dem anderen schob sie ins Nagelbett, drückte ihn fest. Sie goß sich ein zweites Glas Mineralwasser ein, umfaßte es mit ihren schwarzen Krallen und führte es zum Mund. Am einfachsten war Bier. Das trieb am schnellsten. Für Mineralwasser mußte man sich mehr Zeit lassen.