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Die Herausgeber, Guo Qiyong und Wen Yongning, und gleichermaßen die 15 Autoren des hier vorliegenden Bandes aus der Reihe Chinesische Perspektiven: Philosophie haben sich für den Weg des Fleißes, der Umsicht und der kreativen Grundlagenarbeit entschieden. Sie bilden chronologisch und thematisch die Strukturen des geistigen Raumes nach, in dem chinesische Philosophen zwischen 1949 und 2009 ihre Position reflektiert haben und als Wissenschaftler gereift sind. Das Buch entfaltet seine organische Matrix aus beschreibenden, methodologischen und explorativen Ansätzen, durch die Einzelthemen in größere Zusammenhänge eingeordnet und zugänglich gemacht werden. Dazu zählen auch die Selbstreflexion und Vergewisserung der eigenen Perspektiven chinesischer Philosophie. Dabei erschließt sich die material- und detailreich unterlegte Entwicklung in ihrer inneren Vielfalt und ihrem jeweiligen Einheitsanspruch. Die Herausgeber und Autoren bieten den Versuch einer orientierenden, philosophiegeschichtlichen Standard-Übersicht an. In dieser Meta-Studie verbinden sie systematische, chronologische, soziologische und hermeneutische Herangehensweisen zu einem abgestimmten Ganzen. Dieses interdisziplinäre Vorgehen erlaubt den Anschluss sowohl philosophischer Diskussionen als auch sozial- oder kulturwissenschaftlicher und empirischer Forschung. Als Gang durch sechs Jahrzehnte chinesischer Selbstreflexion legt das Werk zugleich Zeugnis für die Kraft und besondere Interessenlage der Philosophie ab.
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Seitenzahl: 1383
Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung: Ein Rückblick und eine Reflexion auf die letzten 60 Jahre Forschung zur chinesischen Philosophie
1. Zwei große und fünf kleine Zeitabschnitte
2. Die acht großen Gebiete, die in den letzten 30 Jahren einen Auf- und Niedergang erlebten
3. Die Veränderung des Forschungsparadigmas
4. Probleme und Perspektiven
1. Kapitel: Die Verschmelzung von Ost und West und die Etablierung der Chinesischen Philosophie als Forschungsdisziplin im frühen 20. Jahrhundert
1.1 Wang Guowei (王国维), Liang Qichao (梁启超) und die Forschungsdisziplin der Chinesischen Philosophiegeschichte
1.2 Der von der angloamerikanischen Philosophie beeinflusste Hu Shi (胡适) – Feng Youlans (冯友兰) Paradigma
1.3 Unter dem Einfluss des Marxismus: Das Paradigma Guo Moruo (郭沫若) – Hou Wailu (侯外庐)
2. Kapitel: Erste Ergebnisse in der Forschung zur chinesischen Philosophie (1949-1978)
2.1 Die Forschung zur chinesischen Philosophie und deren Methodologie unter der marxistischen Ideologie
2.2 Das Paradigma der „Zwei Antithesen“ in der chinesischen Philosophie und die damit verbundene Debatte
2.3 Erste Forschungsergebnisse in der Forschung zur chinesischen Philosophie
3. Kapitel: Die Veränderung der Forschung zur chinesischen Philosophie (1978-2009)
3.1 Die „Gedankenbefreiung“ und die Veränderung des Forschungsparadigmas
3.2 Die historische und die kategorische Forschung zur chinesischen Philosophie
3.3 Die Vorrangstellung der Chinesischen Philosophie und die Rekonstruktion ihres Forschungsparadigmas
4. Kapitel: Die Forschung zur chinesischen Philosophie vor der Qin-Dynastie
4.1 Die Forschung zum Konfuzianismus
4.2 Die Forschung zum Daoismus
4.3 Die Forschung zum Mohismus
4.4 Die Forschung zur Schule der Logik, zum Legalismus und zur Schule des Militärs
5. Kapitel: Die Forschung zur chinesischen Philosophie in der Qin-, Han-, Sui- und Tang-Dynastie
5.1 Das philosophische Denken in der Qin- und Han-Dynastie
5.2 Der Zeitgeist des Neodaoismus in der Wei- und Jin-Dynastie
5.3. Die Zusammentragung klassischer buddhistischer Texte und die Geschichte des chinesischen Buddhismus
5.4 Die chinesische Buddhismusforschung ab den 1990er-Jahren bis heute
5.5 Die Forschung zu den großen Schulen des chinesischen Buddhismus
5.6 Die Zusammentragung daoistischer Texte und die Geschichte des chinesischen Daoismus
5.7 Die Forschung zu den großen Schulen des Daoismus
5.8 Der Konfuzianismus und das Studium der Konfuzianischen Klassiker in der Sui- und Tang-Dynastie
6. Kapitel: Die Forschung zum Song-Ming-Neokonfuzianismus
6.1 Die Forschung zum Cheng-Zhu Neokonfuzianismus
6.2 Die Forschung zur Lu-Wang Lehre vom Wesen
6.3 Die Forschung zur Tradition der Lehre vom Qi und der frühen Aufklärung
7. Kapitel: Die Forschung zur Philosophie der frühen Neuzeit und der Moderne
7.1 Die Forschung zur Philosophie der frühen Neuzeit
7.2 Die Forschung zur Sinisierung der marxistischen Philosophie
7.3 Die Forschung zum modernen „neuen“ Konfuzianismus
7.4 Die Forschung zum Zeitgeist des Liberalismus
8. Kapitel: Die Forschung zu den Konfuzianischen Klassikern und zum Studium der Konfuzianischen Klassiker
8.1 Die Konfuzianischen Klassiker und das Studium der Konfuzianischen Klassiker als Grundpfeiler der chinesischen Kultur
8.2 Die Forschung zum 周易 Zhouyi („Buch der Wandlungen“) nach den 1950er-Jahren
8.3 Eine Übersicht über die Forschung zum Shijing 诗经 („Buch der Lieder“) und zum Shujing 书经 („Buch der Urkunden“) in den letzten Jahren
9. Kapitel: Die Forschung zur Philosophie der ethnischen Minderheiten Chinas
9.1 Das Aufkommen der Forschung zur Philosophie der ethnischen Minderheiten Chinas und die Debatte rund um das Thema
9.2 Spezifische Forschungen zur Philosophie der verschiedenen ethnischen Minderheiten in China
9.3 Die Forschung zur Philosophie der verschiedenen ethischen Minderheiten in China und spezifische Arbeiten aus diesem Bereich
9.4 Forschungstrends in der Forschung zur Philosophie der ethnischen Minderheiten Chinas
10. Kapitel: Die Forschung zur Naturphilosophie und Wissenschaft des Alten Chinas
10.1 Die Naturphilosophie des Alten Chinas und ihre Besonderheiten
10.2 Das philosophische Denken in der Wissenschaft und Technik des Alten Chinas
10.3 Das Verhältnis der Philosophie zur Wissenschaft und Technik im Alten China
10.4 Die Methoden und Schwierigkeiten in der Naturphilosophie sowie der Wissenschaft und Technik des Alten Chinas
11. Kapitel: Die Forschung zur Logik und Epistemologie des Alten Chinas
11.1 Die Forschung zur Geschichte der chinesischen Logik
11.2 Das Problembewusstsein in der Forschung zur chinesischen Logik
11.3 Der Entwicklungsprozess und die wichtigsten Fortschritte der Forschung zur Epistemologie des Alten Chinas
11.4 Die Forschung zum Forschungsparadigma der chinesischen Logik und der Epistemologie des Alten Chinas
12. Kapitel: Die Forschung zur sozialen und politischen Philosophie des Alten Chinas
12.1 Die drei Phasen in der Forschung zur politischen Philosophie des Alten Chinas
12.2 Die moderne Forschung zur politischen Philosophie des Alten Chinas
12.3 Die spezifische Forschung zur politischen Philosophie des Alten Chinas in den letzten Jahren
12.4 Ein methodologischer Rückblick und Ausblick auf die Forschung zur politischen Philosophie des Alten Chinas
12.5 Die Forschung zur Gesellschaft, Religion, Ethik und den Riten im alten China
13. Kapitel: Bambus- und Seidentextausgrabungen im Bereich der Forschung zur chinesischen Philosophiegeschichte
13.1 Die wichtigsten Bambus- und Seidentextausgrabungen der letzten 60 Jahre
13.2 Textausgrabungen und die Forschung zum Studium der Konfuzianischen Klassiker und Meister
E) Textausgrabungen und die Forschung zum Studium der Meister
Nachwort des Herausgebers
Chinesische Perspektiven: Philosophie
Impressum
Philosophisches Denken lädt ein. Es verbindet, möchte teilen und mitteilen. Zugleich handelt es vom Großen und Ganzen – im kleinsten Gedanken. Dabei steht dem Bemühen um den möglichst klar verstandenen Begriff, die möglichst einfach gedeutete Welt, zuweilen die Präsentation oder der Ausdruck im Wege. Bei historischen Werken machen unvertraute Namen und Daten weitere Mühe. So kommt es, dass Philosophie vielfach als schwierig und anstrengend – ja als aussichtslos erfahren wird. Für manchen liegt darin eine besondere Herausforderung, für andere gar Würde, zu oft aber wendet man sich ab.
Diese Erfahrung machen viele deutsche Leser bereits mit philosophischen Texten der uns nahen Kulturräume. Deutsche Philosophen haben einen schweren Stand, wenn sie nicht populär sein wollen, sondern seriös. Hinzu kommt die – schon von Kant beklagte – Neigung der Schulphilosophie, sich als eine Art gelehrte Menagerie geschickter „Vernunftkünstler“ zu verstehen, die sich, durch Jargon, Code oder Ritus, der Zudringlichkeit des gesunden Menschenverstandes entziehen, anstatt als eine „Lehre der Weisheit: – die Gesetzgeberin der Vernunft“1 zu wirken.
Noch unübersichtlicher erscheint die Lage, wenn es um Philosophie aus China geht, die in chinesischer Sprache verfasst ist. Diese Texte sind ebenfalls nicht leicht zu fassen. Leser müssen sich gewissermaßen als kongeniale Co-Autoren versuchen, um einen Zugang zu ihrer Bedeutung zu gewinnen. Denn viel zu selten kennt man die Sprache gut genug, viel zu wenige Quellen wurden bislang von Chinesisch lesenden Übersetzern in eine Darstellung gebracht, die philosophisch auf der Höhe der Zeit ist. Viel zu viele Zwischenschritte, perspektivische Verdrehungen, nicht vorhandenes kulturelles Vorwissen stehen zwischen Leser und Text. Dennoch kann es gelingen, wie namhafte Beispiele, etwa Karl Jaspers oder Albert Schweitzer2, bestätigen, dem philosophischen Denken in China sogar durch diesen Nebel auf die Spur zu kommen.
Wo fängt man da an? Noch immer zweifeln Gelehrte innerhalb und außerhalb Chinas, ob man überhaupt von chinesischer Philosophie reden könne.3 Sei es, weil das Chinesische die Philosophie als eine »westliche« Methodologie unter- oder überbiete, sei es, weil an Chinas Spitzenuniversitäten »westliche« und »chinesische« Philosophie unvermittelt neben einander gelehrt werden – während kein philosophisches Institut Europas oder Nordamerikas überhaupt ein Modell entwickelt hat, das beide Kulturwelten curricular in einem gemeinsamen Horizont des Philosophierens integriert.
Die Herausgeber, Guo Qiyong und Wen Yongning, und die 15 Autoren des hier vorliegenden Bandes Neue Ansätze der chinesischen Philosophie: Perspektiven der philosophischen Forschung von 1949 bis 2009 entscheiden sich für den Weg des Fleißes, der Umsicht und der kreativen Grundlagenarbeit. In 13 Kapiteln bilden sie chronologisch und thematisch die Strukturen des geistigen Raumes nach, in dem sich chinesische Philosophen zwischen 1949 und 2009 ihre Position reflektiert haben und als Wissenschaftler gereift sind. Das Buch entfaltet seine organische Matrix aus beschreibenden, methodologischen und explorativen Ansätzen, durch die Einzelthemen in größere Zusammenhänge eingeordnet und zugänglich gemacht werden. Dazu zählen auch die Selbstreflexion und Vergewisserung der eigenen Perspektiven chinesischer Philosophie. Dabei erschließt sich die material- und detailreich unterlegte Entwicklung in ihrer inneren Vielfalt und ihrem jeweiligen Einheitsanspruch.
Von entscheidender Bedeutung ist der kulturell hybride Charakter jeder Philosophie, der hier seinen Ausdruck findet. Er ermöglicht hermeneutische Zugänge und hebt sich von den hermetischen Ansätzen ab, die im Tenor von Identitätsgewissheit oder Offenbarung privilegiertes Spezialwissen für sich beanspruchen und zuweilen auch von den Ikonen der Exegese »der chinesischen Philosophie« vertreten werden.4 Die Herausgeber und Autoren dieses Buches dokumentieren nicht nur das durchgängige Motiv des kulturellen Austauschs und der über Traditionen hinaus denkenden Arbeit des Philosophierens im alten China. Bereits das erste Kapitel bezeugt die heute noch maßgeblichen „Verschmelzungs“-Prozesse der Philosophien aus »Ost und West« und betont die Charakteristik der heutigen Philosophie als einer Forschungsdisziplin, in der dieselben Spannungen zwischen philosophischer Arbeit und akademischer Organisation zu verzeichnen sind, die bis heute in Deutschland und China wirken.
Chinas Philosophie ist in Bewegung. Vor diesem Hintergrund wird die Dynamik verständlich, aus der die Phasen thematischer, methodischer und theoretischer Neu-Orientierung nach dem Trauma5 eines Jahrhunderts kultureller Umwälzungen gespeist wurden. Zwischen nachahmendem Lernen, das sich am (vermeintlich) besten internationalen Standard orientiert, bis zum Selbstbewusstsein emanzipierter Denker bildete sich die Grundlage für eine »Verwissenschaftlichung«, in der zunehmend der Einfluss US-amerikanischer Science-Ökonomie die Motive ganzheitlicher Wissenschaftsrezeption und auch das aufklärerische Vernunftnarrativ der (europäischen) Moderne überlagert. Die Ablösung des holistischen Wissenschaftsverständ-nisses in China durch das pragmatisch-technische 科学kexue hatte bereits um die 19. Jahrhundertwende eingesetzt.6
Nach der Etablierung der Chinesischen Philosophie als hybride Forschungsdisziplin im frühen 20. Jahrhundert (Kapitel 1) und einem Resümee erster Ergebnisse der Forschung zur chinesischen Philosophie bis 1978 (Kapitel 2) wendet sich der Gedankengang den Veränderungen dieser Forschung zu (Kapitel 3). Darauf folgen historische Abschnitte gemäß einer konventionellen Chronologie: Die Forschung zur chinesischen Philosophie vor der Qin-Dynastie (Kapitel 4); zur Qin-, Han-, Sui- und Tang-Dynastie (Kapitel 5), zum Song-Ming-Neokonfuzianismus (Kapitel 6); und zur Philosophie der frühen Neuzeit und der Moderne (Kapitel 7).
Der nächste Block behandelt philologisch-methodologisch angelegte Forschung zu fünf Bereichen: zu den Konfuzianischen Klassikern (Kapitel 8); zur Philosophie der Fünf Mächte伍雄武, (die als »ethnische Minderheiten« Chinas in diesem Kontext vielleicht etwas irreführend übersetzt werden) (Kapitel 9); zur Naturphilosophie und Wissenschaft (Kapitel 10); zur Logik und Epistemologie (Kapitel 11) sowie zur sozialen und politischen Philosophie (Kapitel 12) des Alten Chinas. Jedes dieser Kapitel kann für sich alleine stehen, auch wenn das Verständnis vom Kontext profitiert.
Der letzte inhaltliche Abschnitt vollendet den Bogen zur Philosophiegeschichte und ist der Material- und Quellenlage gewidmet mit ihrem Einfluss auf die Bildung von Theorien und Methoden (Kapitel 13). Noch immer – und über den hier betrachteten Zeitraum hinaus – fruchtbar sind die Ausgrabungsfunde von Texten auf Seide oder Bambus aus dem »goldenen Zeitalter« der 1970er- und 1990er-Jahre. Die entsprechende Befundlage bleibt also vorläufig und dynamisch, der Zeit, den Technologien und Interpretationsweisen im Wandel unterworfen.
Im Rahmen des derzeit Möglichen bieten die Herausgeber und Autoren den Versuch einer orientierenden philosophiegeschichtlichen Standard-Übersicht an. In dieser Meta-Studie verbinden sie systematische, chronologische, soziologische und hermeneutische Herangehensweisen zu einem abgestimmten Ganzen. Dieses interdisziplinäre Vorgehen erlaubt den Anschluss sowohl philosophischer Diskussionen als auch sozial- oder kulturwissenschaftlicher und empirischer Forschung. Als Gang durch sechs Jahrzehnte chinesischer Selbstreflexion legt das Werk zugleich Zeugnis für die Kraft und besondere Interessenlage der Philosophie ab.
Dieses Buch erweitert das Fenster nach China. Die Zusammenarbeit des ibidem-Verlages (Stuttgart und Hannover) mit Social Sciences Academic Press (Beijing) trägt immer reichere Früchte.7 Damit wächst nach und nach ein Fundus chinesischer Selbstreflektion in deutscher Sprache heran, der einem deutschsprachigen Publikum die Einblicke in das Schaffen chinesischer Denker ermöglicht, die der chinesischen Geistes- und Sozialgeschichte nachgehen.
Auch wenn die sprachliche Oberfläche es nicht immer leicht macht, liest, denkt und spürt der Leser sich durch die Form in die Inhalte hinein, öffnet sich eine neue, andere, teil-vertraute Welt, die uns alle angeht – heute mehr denn je. Das ist auch dem Übersetzer-Team zu verdanken. Li Daiwei und Maria Li Yasmin Mawunyo legen hier eine gut lesbare, unprätentiöse und ehrliche Übertragung ins Deutsche vor.
Aus der dargebotenen Fülle haben die folgenden drei Passagen mich besonders zum Nachdenken angeregt:
Sogar in den politisch besonders heiklen 1950er-Jahren (»100-Blumen-Bewegung«, »Großer Sprung«) kritisierten chinesische Philosophen die Gesinnung der Kommunistischen Partei als »einseitiges und engstirniges Verständnis von der Philosophie« (Kapitel 2.2), das dem Wert der Widersprüche zwischen Materialismus und Idealismus in der Philosophiegeschichte nicht gerecht werden konnte. Dies führte nach Ansicht des wohl bekanntesten Philosophen der VR China, Feng Youlan, dazu, dass die »Philosophiegeschichte, welche eigentlich inhaltsreich und lebendig ist, verächtlich und starr wurde«. Besonders die Debatten zwischen verschiedenen Strömungen innerhalb des materialistischen Lagers kamen nicht zur Geltung. Dies unterstreicht das Selbstbewusstsein der inneren Vielfalt und des programmatischen Einheitsanspruches der Philosophie als universales Projekt, an dem selbstverständlich »westliche« und »chinesische« Autoren gleichermaßen mitwirken (sollen).
Seit den späten 1970er-Jahren wurde Chinesische Philosophie als »moderner Forschungszweig, der nach dem Niedergang des traditionellen Klassikerstudiums und angelehnt an das moderne System der westlichen Forschung entstand«, eingeführt (Kapitel 3.1). Dieser Zeitraum fällt mit der zunehmenden Dominanz englischsprachiger Philosophie zusammen, besonders auch mit der Entstehung einer neopragmatistisch ausgerichteten Sinophilosophie. Aufschlussreich erscheint hier das Fehlen eines »geistigen Bandes« (Goethe, Faust I), was zur Fraktionierung der Wissenschaft(en) und Philosophie(n) beiträgt.
In seinem Kapitel über die Forschung zur sozialen und politischen Philosophie des Alten Chinas stellt Chen Qiaojian fest: »Mit dem gestiegenen Interesse am Studium der traditionellen politischen Philosophie in China ging ebenfalls ein Anstieg der Metareflexion einher.« (Kapitel 12.4). Damit liegen eigentlich gute Voraussetzungen für eine philosophische Auseinandersetzung deutscher und chinesischer Kollegen vor. Leider macht sich hier die randständige Rolle deutscher Philosophie bemerkbar.
In der Übersicht dieses Bandes wird die marginale Rolle bzw. das Fehlen einer Auseinandersetzung mit deutscher Hermeneutik (Gadamer), Ethik (Roetz), Sprach- (Wittgenstein) und kritischer Sozialphilosophie (Adorno) ersichtlich. Besonders fällt die relativ unbedeutende Rolle auf, die in dieser Darstellung Kant und Hegel zuteilwird – trotz einiger Werkübersetzungen in chinesischer Sprache. Hegel wird überhaupt nur einmal genannt, Marx mit 212 Bezügen zehnmal so oft wie Kant. International bekannte chinesische Philosophen unserer Tage wie Zhao Tingyang oder Bai Tongdong rezipieren deutsche Philosophen nicht aus Originaltexten, sondern verlassen sich auf Übersetzungen, in der Regel chinesische oder englische. Dabei stehen Ethik oder Moralphilosophie im Vordergrund, regelmäßig abgekoppelt von ihrer transzendentalen Methodologie oder Rücksicht auf die sprachphilosophisch-hermeneutische oder phänomenologische Wirkungsgeschichte.
Wenn es in der Einleitung (Abschnitt 3) heißt: »Noch ahmt die chinesische Philosophie leider die westliche Philosophie nach, überträgt deren Konzepte nahezu mechanisch auf sich und kopiert sie«, so spricht dieser Befund für sich – er trägt aber nur so weit, wie unter »Westen« die internationalen Hauptströmungen verstanden werden. Die Struktur der Unvollständigkeit dieses Buches verweist auf Desiderate. Gerade die Abwesenheit wesentlicher Entwicklungen der Vernunftaufklärung im Horizont dieser Rezeption legt ein offenes Feld für die Entwicklung von Zusammenarbeiten der deutsch-chinesischen philosophischen und philosophiegeschichtlichen Forschung frei.
Den geneigten Lesern wünsche ich das Erlebnis der »Lust auf mehr«, den Fachkollegen Anstöße, Einsichten und Ansichten, die ihr Forschungsinteresse motivieren. Soweit es die materiellen und technischen Voraussetzungen angeht, könnte die Philosophie eine Blüte sinologischer Forschung und philosophischer Zusammenarbeit inspirieren, die in alle Bereiche wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens ausstrahlt.
Dieses Wissen ist das Material, aus dem die Vernunft über alle Grenzen hinweg philosophische Freundschaft spinnen kann. Die unausgeschöpften Quellen säkular-vernünftiger Aufklärung sind frisch, stark und reich – tränken wir aus ihnen den Garten der menschlichen Zivilisation!
Berlin und Changsha, im August 2021
Ole Döring
1 Immanuel Kant 1800: Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen: III. „Begriff von der Philosophie überhaupt: Philosophie nach dem Schulbegriffe und nach dem Weltbegriffe betrachtet.“
2 Heiner Roetz (2013). „Die Aufklärung, Albert Schweitzer und Karl Jaspers. Zur vorübergehenden Entdeckung Chinas in den Zerreißkrisen der europäischen Zivilisation“. Mitteilungsblatt der Deutschen China-Gesellschaft 56: 88–98.
3 S. z.B. Rafael Suter (2015): „Sprachrelativismus und chinesische Philosophie. Vereinnahmung durch Verfremdung?“ In: Auf Augenhöhe. Festschrift zum 65. Geburtstag von Heiner Roetz. Herausgegeben von W Behr, L Di Giacinto, O Döring, C Moll-Murata; Bochumer Jahrbuch für Ostasienforschung (Herausgegeben von der Fakultät OAW der Ruhr-Universität Bochum), Band 38; Iudicium Verlag (München): 177–195; und Lee Ming-huei (2015). Kritische Bemerkungen zum Problem der Legitimität chinesischer Philosophie. In: Behr u.a. (2015): 103–114.
4 Vgl. Zum Beispiel die Diskussion zu Tu Wei-Ming in: Ole Döring (2015): »Cheng 誠 als das stimmige Ganze der Integrität. Ein Interpretationsvorschlag zur Ethik«. In: Behr u.a. (2015): 39–62.
5 Paul U. Unschuld 2016. Chinas Trauma, Chinas Stärke. Niedergang und Wiederaufstieg des Reichs der Mitte. Springer (Heidelberg). Heiner Roetz 2002. "Gibt es eine chinesische Philosophie?" in: Information Philosophie, 30. Jg., Heft 2, Mai 2002: 20–39.
6 Benjamin A. Elman (2005). On Their Own Terms. Science in China, 1550–1900. Harvard University Press Cambridge (London).
7 Dazu gehören bislang: Liu Liqun, Sein, Zeichen und Erkenntnis. Ein neuer Ansatz zum Kern der Philosophie (2018); Zhuo Xinping, Religion und Kultur in China. Verständnis – Entwicklung – politische Bedeutung (2019); Gu Junli und Yang Jiepu, Rückblick und Nachdenken. Zum 40. Jahrestag der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen China und Deutschland (2019); Zhu Ruixi, Liu Fusheng, Zhang Bangwei, Cai Chongbang, Wang Zengyu, Sozialgeschichte Chinas. Die Songzeit, Liao-, Westliche-Xia- und Jin-Dynastien (2020).
Ganz zu Beginn werden wir uns mit dem Terminus der Chinesischen Philosophie auseinandersetzen. Unter der Chinesischen Philosophie verstehen wir heute jene Forschungsdisziplin, die ehemals als die Geschichte der chinesischen Philosophie bezeichnet wurde. Der Begriff wird jedoch häufig fälschlicherweise mit dem gesamten Forschungsfeld der Philosophie in China bzw. dem sogenannten Hauptzweig der Philosophie in China in Verbindung gebracht. Wenn in diesem Buch von der Chinesischen Philosophie die Rede ist, ist jedoch in der Regel der sogenannte Sekundärzweig der Philosophie in China gemeint, welcher wiederum die ehemalige Forschungsdisziplin der Geschichte der chinesischen Philosophie darstellt. Allerdings nehmen wir eine Erweiterung vor: Wir wollen ganz besonders betonen, dass eine rationale Einstellung nicht ausreicht, um die Chinesische Philosophie zu verstehen. Diese besitzt mindestens zwei Ebenen: Die erste Ebene ist die Chinesische Philosophie im Sinne einer Bedeutungswelt. Diese Ebene zielt auf den Geisteszustand des Menschen und auf das Ideal einer ultimativen Bedeutung des menschlichen Lebens ab. Vor allem geht es dabei um allgemeine, aber auch um bestimmte, zentrale Glaubensvorstellungen und Werte der chinesischen Kultur, wie etwa der „Grenzen zwischen Himmel und Mensch“, dem „Ursprung des Lebens“ und weiteren Prinzipien wie dao 道, „dem Weg“, und li 理, „dem Grundprinzip“. Diese sind eins mit den spirituellen Überzeugungen und Grundwerten des chinesischen Volkes, sie sind lebendig und stets in Bewegung. Auch bei der Bewältigung des modernen Lebens besitzen sie sowohl bei den Menschen in China als auch weltweit nach wie vor eine positive Funktion.
Bei der zweiten Ebene handelt es sich um die akademische Ebene der Chinesischen Philosophie. Diese stellt jenes Wissensspektrum dar, das zu einer Forschungsdisziplin ernannt, in verschiedene Zeitabschnitte unterteilt und in verschiedenen Kategorien klassifiziert wurde, sodass sich diese jeweils einzeln akademisch untersuchen ließen. Dieses Wissensspektrum wurde zum Inhalt des Vergleichs mit der ausländischen Philosophie gemacht und wird daher als Äquivalent zu der Chinesischen Philosophie betrachtet, die von der ausländischen Sinologie untersucht wird. Jedoch weist die Chinesische Philosophie in China einige Unterschiede zu der im Ausland auf.
Im Folgenden soll etwas hervorgehoben werden, das ich als die drei „30 Jahre-Konzepte“ bezeichne: Wenn man sich mit der Entwicklung der Forschungsgeschichte in den letzten 60 Jahren auseinandersetzen will, dann ist es unvermeidlich, auch die 30 oder 40 Jahre davor zu beachten. Wenn wir diesen Zeitraum, der etwas mehr als ein Jahrhundert einschließt, als ein Ganzes betrachten, wird uns das Gesamtbild der modernen Wissenschaftsgeschichte im Lichte der Geschichte des Forschungsparadigmas der chinesischen Geisteswissenschaften bzw. der chinesischen Sozialwissenschaft, noch klarer erscheinen. Selbstverständlich werden wir uns dabei einen Schwerpunkt setzen, und zwar die letzten 60 Jahre seit dem Oktober 1949. Was man hierbei nicht vergessen darf, ist, dass die Geschichte der Wissenschaft ab der Gründung der Republik China 1912 bis 1949 als Grundlage für die Entwicklungen ab 1949 betrachtet werden muss. Bei der Forschung zur Entwicklung der Wissenschaft auf Festlandchina in diesen 60 Jahren liegt der Schwerpunkt wiederum in den „30 Jahren“ nach der Reform- und Öffnungspolitik ab 1978. Jedoch sind die ersten „30 Jahre“ in diesem Zeitabschnitt, nämlich die Geschichte der Wissenschaft von 1949 bis 1978, keineswegs ohne Bedeutung. Vielmehr gibt es zahlreiche Gründe, weshalb ausgerechnet die Probleme der darauffolgenden „30 Jahre“ uns zu tiefgehenden Diskussionen mit wahrhaft akademischem Wert führen können. Ein Teil der problematischen Themen darunter gründet auf Reflexionen der „30 Jahre“ vor der Reform- und Öffnungspolitik. Daher ist die Leistung der den 60 Jahren vorangehenden „30 Jahre“ keinesfalls ohne jeden Mehrwert.
Seit der Moderne führte die Tatsache, dass die Aufgabenfelder akademischer Arbeitsbereiche zunehmend feiner unterteilt und verschiedenen Disziplinen zugeteilt wurden, dazu, dass sich das Bewusstsein der einzelnen Disziplinen unaufhörlich verstärkte. Viele Disziplinen begannen, die eigene Vorrangstellung zu betonen sowie beispielsweise ihre Forschungsgegenstände und Methoden tiefgehender zu diskutieren. Die Unterschiede zwischen der Geschichte der chinesischen Philosophie, der Geschichte der chinesischen Wissenschaft1 und der chinesischen Geistesgeschichte begannen ebenfalls, Beobachtungs- und Forschungsgegenstand der Wissenschaftler zu werden. Allgemein gesagt fokussiert sich die Forschung zur Philosophiegeschichte auf philosophische Metaphysik sowie auf philosophische Welt-, Lebens- und Wertanschauungen als auch auf die Untersuchung der Fragen und der Methodik der Philosophie. Dabei legt sie besonderen Wert darauf, die intrinsische Logik der einzelnen Philosophiesysteme und die Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind sowie den allmählichen Prozess und die Entwicklung philosophischer Lehren zu analysieren. Die Forschung zur Geistesgeschichte fokussiert sich wiederum mehr auf die Interaktionen zwischen verschiedenen Faktoren der Sozialgeschichte, wie etwa ideologischen Vorstellungen und Politik, Wirtschaft, Kultur etc., d. h. auf den Einfluss, den historische Bedingungen auf beliebige Ideologievorstellungsformen haben und wie sich Ideologievorstellungen umgekehrt auf die Realität der Gesellschaft auswirken. Kurz gesagt fokussiert sie sich also auf die „historische Bedeutung des Ideologiewandels“.2Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass die Forschung zur chinesischen Philosophiegeschichte der letzten 100 Jahre von jeher eng mit der Forschung zur chinesischen Geistesgeschichte verknüpft ist und dass sich diese beiden oftmals gegenseitig überschneiden. Obwohl die Frage nach der Beziehung der Philosophiegeschi-chte zur Geistesgeschichte von Liang Qichao 梁启超 (1873-1929), Cai Shangsi 蔡尚思 (1905-2008) und weiteren Wissenschaftlern der 1980er-Jahre bereits fachlich diskutiert wurde, ist sie noch keinesfalls von Grund aufgelöst worden. Darüber hinaus sind die Grenzen zwischen der chinesischen Philosophiegeschichte und der chinesischen Geistesgeschichte verschwommen geblieben. Aufgrund dessen scheint es so, dass die Chinesische Philosophie- und Geistesgeschichte als Leitmotiv in der Diskussion die Entwicklung der Forschung zur chinesischen Philosophiegeschichte in den letzten 60 Jahren etwas umfassender widerspiegeln kann. Ein weiterer Aspekt ist, dass einige Wissenschaftler, unter dem Einfluss von Zeitströmungen wie der modernen Hermeneutik, die Forschung zur chinesischen Philosophiegeschichte sowie das Ansprechen und Beantworten philosophischer Fragen und deren enge Beziehung mit dem geschichtlich-kulturellen Hintergrund allesamt gleichzeitig hervorheben, um dafür zu plädieren, anhand der Methode, die Philosophiegeschichte und die Geistesgeschichte miteinander zu verbinden, eine korrelierende Forschung der chinesischen Philosophiegeschichte zu entwickeln.3
Da sich dieses Buches sich mit der Philosophie beschäftigt, liegt der Fokus natürlich mehr im Inhalt der Philosophie und der Forschung zur Philosophie. Der Inhalt der Philosophie ist in der Lage, den Zeitgeist gut widerzuspiegeln, während die philosophische Weisheit die Besonderheit eines Landes zu repräsentieren vermag.
Die Forschungsdisziplin der Chinesischen Philosophie bzw. der Chinesischen Philosophiegeschichte wurde im 20. Jahrhundert etabliert. Zu ihren Vorreitern zählen u.a. Chen Fuchen 陈黻宸 (1859-1917), Chen Hanzhang 陈汉章 (1864-1938), Ma Xulun 马叙伦 (1884-1970) und Xie Wuliang 谢无量 (1884-1964). Ihre Gründer sind u.a. Wang Guowei 王国维 (1877-1927), Liang Qichao und Cai Yuanpei 蔡元培 (1868-1940) sowie einige Philosophen, die vor allem von England und den USA beeinflusst wurden, wie z.B. Hu Shi 胡适 (1891-1962) und Feng Youlan 冯友兰 (1895-1990). Zu den Begründern der ursprünglichen Disziplin gehört außerdem Zhong Tai 钟泰 (1888-1979). Den Meilenstein im Prozess der erstmaligen Etablierung der Chinesischen Philosophiegeschichte stellt Feng Youlans zweibändiges Werk Zhongguo Zhexue Shi 中国哲学历史 („Geschichte der chinesischen Philosophie“) dar, welches 1935 durch die Commercial Press Peking herausgegeben wurde. Werke wie Feng Youlans Xin YuanDao新原道 („Eine neue Abhandlung der Natur des Dao“), das gegen Ende des Anti-Japanischen Kriegs herausgegeben wurde, waren die Weiterführung dieser Tradition und weisen darüber hinaus eine noch größere Weiterentwicklung auf als ihre Vorgänger. Die Werke von Persönlichkeiten wie Tang Yongtong 汤用彤 (1893-1964) und Zhang Dainian 张岱年 (1909-2004) aus der Zeit ab dem Ende der 1920er-Jahre bis zum Vorabend der Gründung des neuen Chinas dürfen ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden. Es existiert zudem eine weitere Reihe von Klassikern, zu der auch eine Schriftenreihe kreativer Werke über die chinesische Philosophie und chinesisches Denken gehört. Diese wurde von zwei Historikern der marxistischen Geistesgeschichte, nämlich Guo Moruo 郭沫若 (1892-1978) und Hou Wailu 侯外庐 (1903-1987), verfasst, die sich dabei von der Theorie des historischen Materialismus leiten ließen. Die Reihe wurde in den ersten 30 Jahren nach 1949 zu einer wichtigen Grundlage für die Chinesische Philosophie. Kurz zusammengefasst sind für die Forschung zur Chinesischen Philosophie bzw. zur Chinesischen Philosophiegeschichte vor 1949 hauptsächlich die zwei Paradigmen Hu-Feng (Hu Shi und Feng Youlan) und Guo-Hou (Gou Moruo und Hou Wailu) von Bedeutung.
Die 30 Jahre Forschung zur chinesischen Philosophie- und Geistesgeschichte vor der Reform- und Öffnungspolitik lassen sich in zwei kleinere Zeitabschnitte aufteilen: Die „17 Jahre“ von 1949 bis 1966 stellen den ersten Zeitabschnitt dar. Eine symbolische akademische Veranstaltung für diesen Zeitabschnitt stellt das Symposium der chinesischen Philosophiegeschichte an der Universität Peking im Januar 1957 dar. Dieses stand unter dem Einfluss der von Andrei Alexandrowitsch Schdanow festgelegten Definition der Philosophie, welche wiederum die philosophischen Antithesen Historischer Materialismus vs. Idealismus und das „Zwei Antithesen“-Konzept Dialektik vs. Metaphysik maßgeblich prägte.In diesem Symposium spiegelte sich klar und deutlich wider, wie sehr man versuchte, dogmatischen Strömungen in der Forschung zur chinesischen und ausländischen Philosophiegeschichte entgegenzuwirken und diese zu unterdrücken.
Die Zeit vor und nach der Anfangsphase der 1960er-Jahre ist wiederum von der Diskussion über die Philosophien Konfuzius 孔子 (551 v. Chr. bis 479 v. Chr.), Zhuangzi 庄子 (365-290 v. Chr.) und Wang Fuzhi 王夫之 (1619-1692) geprägt und steht damit symbolisch für das Wiederaufleben der Wissenschaft.
Die Jahre während der Kulturrevolution von 1966 bis 1977 stellen den zweiten Zeitabschnitt dar. Hier fing man an, den Legalismus und den Konfuzianismus zu kritisieren. Die Wissenschaft musste sich nach und nach der Macht der Politik unterordnen und fand sich bald in einem Chaos zwischen „Richtig“ und „Falsch“ wieder. Eine echte wissenschaftliche Forschung erwies sich in dieser linksradikalen Atmosphäre als unmöglich. Ein für diesen Zeitabschnitt relevantes Werk ist Zhongguo Sixiang Tongshi中国思通史 („Allgemeine Geistesgeschichte Chinas“), das Anfang der 1940er-Jahre bis Anfang der 1960er u.a. von Hou Wailu, Du Gouxiang 杜国庠 (1889-1961), Zhao Jibin 赵纪彬 (1905-1982), Qiu Hansheng 邱汉生 (1912-1992) zusammengetragen wurde. Das Werk stellt zweifellos die wichtigste Errungenschaft in der Geschichte der chinesischen Philosophie und der Forschung zur Geistesgeschichte in diesem Zeitraum dar und übte einen großen Einfluss aus, der bis heute anhält. 2008 wurde es vom Verlag People’s University Press (Renmin Chubanshe 人民出版社) revidiert und neu aufgelegt. In Zhongguo Sixiang Tongshi wird die Verbindung der Geistesgeschichte mit der Gesellschaftsgeschichte hervorgehoben:
„Basierend auf dem vereinten Kern der Geschichte und der Logik, haben u.a. die Intentionen, Entwicklungen und Besonderheiten der chinesischen Geistesgeschichte systematische Analysen und Diskussionen durchlaufen.“4
Des Weiteren wird das grundlegende Paradigma der chinesischen Philosophie- und Geistesgeschichte anhand des historischen und des dialektischen Materialismus untersucht. Dabei werden namhafte Werke der chinesischen Geistesgeschichte mit sehr starkem philosophiegeschichtlichem Charakter verwendet. Aus diesem Grund wurde das Werk auch zum ersten Teil der gekürzten Schriftenreihe Zhongguo Sixiang Shigang 中国思想史纲 („Überblick der Geistesgeschichte Chinas“, die Anfang der 1980er-Jahre unter dem Titel Zhongguo Zhexue Jianshi 中国思想通史 („Allgemeine Geistesgeschichte Chinas“) durch den Verlag China Youth Publishing House herausgegeben und 1963 veröffentlicht wurde. Andere Werke aus der Zeit der Geschichte der chinesischen Philosophie und des chinesischen Denkens wie z.B. das 1963 erschienene Zhongguo Gudai Sixiang Shi中国古代思想史 („Geistesgeschichte des Alten Chinas“) von Yang Rongguo 杨荣国 (1907-1978), konnten dieses Paradigma im Wesentlichen nicht übertreffen. Ein weiteres Werk, das Beachtung verdient, ist das 1952 im Ausland herausgegebene Zhongguo Sixiang Shi中国思想史 („Geistesgeschichte Chinas“) von Qian Mu 钱穆 (1895-1990). Die Besonderheit dieses Buches ist, dass es den Fokus darauflegt, die Geistesgeschichte des Alten Chinas im Hinblick auf die Unterschiede zwischen der chinesischen und der westlichen Geistesgeschichte zu analysieren. Dabei wird versucht,
„den Inhalt des chinesischen Denkens von dessen eigener Auffassung her zu verstehen sowie das eigene, klare Organisationssystem, welches dem chinesischen Denken angehört als auch dessen fortschreitende Veränderung.“5
Der Autor bezieht sich dabei auf das beschränkte, verwestlichte Verständnis der „Philosophie“ und ist der Ansicht, dass China eben nicht die „Philosophie“ im westlichen Sinne besitzt. Aus diesem Grund laute der Titel seines Buchs auch nicht „Philosophiegeschichte Chinas“, sondern „Geistesgeschichte Chinas“. Der Inhalt kommt jedoch vielmehr einer Philosophiegeschichte als einer Geistesgeschichte Chinas nahe. Die ersten drei Bücher der Schriftenreihe Zhongguo Zhexue Shi 中国哲学史 („Philosophiegeschichte Chinas“) mit dem Hauptautor Ren Jiyu 任继愈 (1916-2009) wurden 1963-1964 von der People’s University Press herausgegeben. 1979 wurde die Reihe dann durch das vierte Werk vervollständigt. Obwohl die Werke das Markenzeichen ihrer Zeit tragen, konstruieren sie dennoch eine vollständig aufgebaute allgemeine Philosophiegeschichte Chinas. Mit dem Marxismus als Leitfaden wird von einfachen, klaren Anhaltspunkten und Logiksystemen Gebrauch gemacht, was der Reihe große Bedeutung und Wert verleiht. Darüber hinaus wurden die Bücher als Lehrmaterial verwendet und fanden seit der Reform- und Öffnungspolitik breite Anwendung in den Unterrichtsräumen der Universitäten. Damit übte Zhongguo Zhexue Shi einen vergleichsweise großen Einfluss aus.
Nach den 1950er-Jahren zeigte sich unter dem Einfluss der Definition der „Philosophiegeschichte“ nach Schdanow in der chinesischen Geistesgeschichtsforschung eine klare Tendenz zum Dogmatismus. Während der Kulturrevolution veränderte sich das politische Umfeld: Der Legalismus und Konfuzianismus, Lin Biao 林彪 (1907-1971) und Konfuzius wurden kritisiert und die akademische Forschung politisiert. Letztere verlor dabei ihre elementarste Eigenschaft: Objektive Eigenständigkeit. So wurden die Philosophie- und die Geistesgeschichte nach und nach zur Geschichte eines Kampfes gegen die Konfuzianer und Legalisten und damit auch zur Geschichte der politischen Ideologie.
Zu den wichtigsten historischen Ereignissen aus der Anfangszeit der Reform- undÖffnungspolitikgehören u.a. die berühmte Konferenz über die ausländische Philosophiegeschichte 1978-1979 in Wuhu und Taiyuan sowie die Konferenz über den Neokonfuzianismus 1981 in Hangzhou.
Die Entwicklung der philosophischen Welt Chinas in den 30 Jahren nach der Reform- und Öffnungspolitik durchlief im Wesentlichen drei kleinere Zeitabschnitte (den dritten bis fünften Zeitabschnitt in den gesamten 60 Jahren) und hat es in vielen Aspekten geschafft, die Aufmerksamkeit der Forschungswelt auf sich zu ziehen.
Der dritte Zeitabschnitt verläuft von 1978-1990. Hier wurde die Forschungsdisziplin der Chinesischen Philosophie quasi wieder zum Leben erweckt: Erstens bestand die Haupttendenz in der Forschung zur chinesischen Philosophie damals und genauer gesagt, vor dem Hintergrund der Gedankenbefreiung, darin, sich vom dogmatischen Modell der „Zwei Lager“, nämlich Materialismus vs. Idealismus und Dialektik vs. Metaphysik, zu lösen. Das Modell geht auf den Einfluss Schdanows zurück. Des Weiteren wurde das Gedankenchaos kritisiert, welches durch die sogenannte „Verherrlichung des Legalismus und Kritik am Konfuzianismus“ aufgekommen war. Auch sagte man sich los von politischen Schlagworten wie „Klassenkampf“ und „Zwei-Linien-Kampf“. Den Ton für die Rekonstruierung und Dekodierung der Chinesischen Philosophie gaben dabei Marx’ Ansichten von der Philosophiegeschichte als eine „Einheit von Logik und Geschichte“ und Lenins Argumente in Philosophical Notebooks, welche sich auf Erstere beziehen, an. Man versuchte mit allen Mitteln, sich weg von der Politisierung und hin zu einem akademischen System zu bewegen, das unter dem Einfluss der epistemologischen Wendung in der philosophischen Welt stehen sollte. Wenn man sich das neue System ansieht, das dabei entstand und dabei vor allem dessen Methodik betrachtet, trifft man häufig auf Schlüsselbegriffe wie „Spirale Struktur“, „Kreislauf der Geschichte“, „Kategorien der Forschung“ und Aussagen wie „Die Geschichte der Philosophie ist die Geschichte des Wissens“. Obwohl es unvermeidlich war und auch nicht erstaunlich ist, dass sich nun Altes und Neues vermischten, gab es dennoch einige Werke, die diesbezüglich Aufmerksamkeit erregten. Eines dieser Werke ist Zhang Dainians Zhongguo Zhexue Dawang („Ein Überblick zur chinesischen Philosophie“), dessen Schwerpunkt in der Problemgeschichte liegt. Das Buch erschien zwar bereits 1957 durch die Commercial Press unter dem Namen Yutong 宇同, begann aber erst jetzt, breite Anwendung zu finden.
Zweitens besitzt dieser Zeitabschnitt einen weiteren wichtigen Hintergrund: Das „Chinesische Kulturfieber“. Die chinesische Wissenschaftswelt sah darin eine Gelegenheit, sich dem Ausland gegenüber zu öffnen und fand sich bald inmitten des Höhepunkts einer Diskussion über die Beziehung zwischen traditioneller Kultur und Modernisierung wieder, welche von chinesischen und ausländischen Wissenschaftlern gleichermaßen vorangetrieben wurde. Durch diese beiden Faktoren motiviert, begann sie nun, die Weisheit der chinesischen Philosophie aufs Neue eingehend zu untersuchen. Obwohl man sich dabei vor allem auf die Rationalität der Aufklärung konzentrierte und die Form der Untersuchung weitestgehend einer allgemeinen Diskussion oder einer groben Erläuterung glich, wurden in dieser Zeit dennoch einige innovative Aufsätze veröffentlicht, welche die kleinen Feinheiten und die distinktive Qualität der chinesischen Philosophie ans Licht brachten und erfrischend zu lesen waren.
Die oben genannten beiden Strömungen verliefen Seite an Seite, aber sie überkreuzten sich auch. Als stellvertretende Werke für die erste Strömung lassen sich Feng Qis 冯契 (1915-1995) Zhongguo Gudai Zhexue de Luoji Fazhan („Die Entwicklung der Logik in der altertümlichen Philosophie Chinas“, Shanghai: East China Normal University Press, 1992), dessen dreiteiliges Zhihui Shuo 智慧说 („Die Doktrin der Weisheit“), Zhongguo Zhexue Shi 中国哲学史 („Geschichte der chinesischen Philosophie“, Shanghai: The People’s Press, erster Band 1982, zweiter Band 1983) von Xiao Shafu 萧萐父 (1924-2008) und Li Jinquan 李锦全 (geb. 1926), sowie Xiaos andere Aufsätze als Beispiele nennen. Beispiele für die zweite Strömung sind wiederum Li Zehous 李泽厚 (geb. 1930) dreiteiliger Aufsatz über die altertümliche, die moderne und die aktuelle Geistesgeschichte als auch die Aufsätze von Tang Yijie 汤一介 (1927-2014) und Pang Pu 庞朴 (1928-2015).
Am Wichtigsten war es der chinesischen Geistesgeschichtsforschung in diesem Zeitraum, die Forschungsergebnisse von Philosophen wie Hou Wailu weiterzutragen und weiterzuentwickeln, wobei das philosophische Denken nach wie vor den Kerninhalt der Forschung darstellte. Hierfür beispielhafte Aufsätze sind z.B. He Zhaowus 何兆武 (geb. 1921) Zhongguo Sixiang FazhanShi („Die Entwicklungsgeschichte der chinesischen Geistesgeschichte“, Peking: China Youth Publishing House, 1980) und Zhang Qizhis 张岂之 (geb.1927) Zhongguo Sixiang Shi („Die chinesische Geistesgeschichte“, Xi’an: Northwest University Press, 1993).
Die erste Generation von Philosophen in diesem Zeitabschnitt, darunter Feng Youlan, Lü Cheng 吕澂 (1896-1989), Meng Wentong 蒙文通 (1894-1968), Zhang Dainian, Wang Ming 王明 (1904-1974), Zhu Qianzhi 朱谦之 (1899-1972), Yan Beiming 严北溟 (1907-1990), Fan Shoukang 范寿康 (1896-1983), Feng Qi, Ren Jiyu, Shi Jun 石峻 (1916-1999) und Yang Xiangkui 杨向奎 (1910-2000) waren zwar bereits in die Jahre gekommen, aber dennoch voller Dynamik. Sie alle stehen für die Verbreitung eines ganzheitlichen Verständnisses von der chinesischen Philosophie, für die kreative Veränderung des Konfuzianismus, des Buddhismus und des Daoismus sowie für die Förderung von Nachwuchsforschern. Auch die Philosophen der zweiten Generation, darunter Zhu Bokun 朱伯昆, (geb. 1923), Xiao Shafu, Tang Yijie, Pang Pu, Li Zehou, Li Jinquan, Zhang Liwen 张立文 (geb. 1935), Zhang Qizhi, Qing Xitai 卿稀泰 (geb. 1928), Yu Dunkang 余敦康 (geb. 1930), Mou Zhongjian 牟钟鉴 (geb. 1939), Du Jiwen 杜继文 (geb. 1930), Yang Zengwen 杨曾文 (geb. 1939), Fang Litian 方立天 (geb. 1933), Fang Keli 方克立 (geb. 1938), Liu Wenying 刘文英(1939-2005), Pan Fuen 潘富恩 (geb. 1933), Meng Peiyuan 蒙培元 (geb. 1938), Chen Junmin 陈俊民 (geb. 1939), Ge Rongjin 葛荣晋 (geb. 1935), Zhang Xiqin 张锡勤 (1939-2016) und Cui Dahua 崔大华 (1938-2013), brachten es in ihren jeweiligen Gebieten zu großen Entwicklungen und leisteten Beiträge, aus denen einige Forschungen auf hohem Niveau hervorgingen.
Selbstverständlich ist der Zeitraum, mit dem wir uns hier beschäftigen, keineswegs unveränderlich festgelegt: Die Buchreihe Zhongguo Zhexue Fazhan Shi („Entwicklungsgeschichte der chinesischen Philosophie“, Peking: People’s Publishing House) von Ren Jiyu bspw., dessen erste vier Bände in der frühen Qin- bis Wei-Jin-Dynastie (1983-1994) herausgegeben wurden, liegt zwischen dem oben genannten ersten und zweiten Zeitabschnitt. Die Forschung zur Geschichte des Buddhismus und des Daoismus in diesen drei Zeitabschnitten verdient außerdem besondere Beachtung, da hier ein enormer Fortschritt gemacht wurde. Zu diesem Thema hat Zhang Haiyan 张海燕 (geb. 1962) eine systematische und umfassende Einführung verfasst, auf die ich hier verweisen möchte.6
Der vierte Zeitabschnitt verläuft von 1991-2002. Im Gegensatz zum vorangehenden Zeitabschnitt, indem es das Hauptziel war, Ordnung ins Chaos zu bringen, war dieser geprägt von intensivem Studium und hohem akademischen Niveau. Die Methodologie diversifizierte sich, philosophische Interpretationen gerieten zunehmend unter den Einfluss der modernen westlichen Philosophie und chinesische Sinologen traten in einen ernstzunehmenden Dialog mit ihren ausländischen Kollegen. Die oben genannte zweite Generation von Philosophen zeigt großen Eifer und verfasste unermüdlich neue Werke. Gleichzeitig tauchte eine große Gruppe neuer Jungphilosophen auf. Zu diesen Philosophen der dritten Generation gehörten auch Chen Lai 陈来 (geb. 1952) und Yang Guorong 杨国荣 (geb. 1957). Die beiden machten bahnbrechende Beobachtungen und erlangten so eine große Bedeutung für die chinesische Philosophie. Chen, Tang und viele weitere Philosophen veröffentlichten zahllose Werke, wobei ihre Forschung zur Philosophie der frühen Qin-Dynastie bis hin zur modernen chinesischen Philosophie präzise und eindrücklich ist. Von ihrem Hintergrund und ihrer Ausbildung her betrachtet, sind die beiden aber eher in der westlichen Philosophie zuhause. Darüber hinaus gab es auch Forscher, die unzufrieden damit waren, dass die Geistesgeschichtsforschung und die Philosophiegeschichtsforschung unzufrieden als ein und dasselbe angesehen wurden und die mit allen Mitteln versuchten, sich vom Bild der chinesischen Geistesgeschichte als einer „allgemeinen Geschichte der Philosophie“ zu lösen. Inspiriert von den Gedanken einiger westlicher Historiker wie z.B. denen der Annalen-Schule, begannen sie stattdessen, die Idee von einer „einfachen Geistesgeschichte“ zu betonen. Ein Beispiel für diese Bewegung ist zweifellos Ge Zhaoguangs 葛兆光 (geb. 1950) Zhongguo Sixiang Shi („Geistesgeschichte Chinas“, Shanghai: Fudan University Press, 2001).
Der fünfte und letzte Zeitabschnitt stellt schließlich die Jahre 2001 bis heute dar. Vor dem Hintergrund des nationalen Kulturfiebers auf gesellschaftlicher Ebene und der modernen Interpretation der chinesischen Klassiker auf akademischer Ebene versuchte man, die Originalität der chinesischen Kultur und die Eigenständigkeit der Chinesischen Philosophie wiederherzustellen. Nach und nach befreite man sich so von den Fesseln der Sozialwissenschaft und philosophischen Methodik des Westens. Nicht nur wurde die akademische Welt in das Denken der Menschen integriert und umgekehrt, sondern es wurden auch viele Sichtweisen und Denkmuster, die seit der Vierte-Mai-Bewegung 1919 als bewährt und offensichtlich richtig galten, im Grunde jedoch falsch waren, erkannt und korrigiert. Diese Phase hält nach wie vor an. Im Vergleich zu den vorangehenden Zeitabschnitten war die Methodik hier noch vielseitiger, der Austausch zwischen der chinesischen und der ausländischen Forschung noch greifbarer und die Forschung an sich noch akkurater. Es kam zu vielen Ergebnissen und zu einem großen Aufkommen spezialisierter Forschungen. Die Forschungsteams vergrößerten sich fortlaufend und die Zahl neuer Forschungskräfte nahm immer mehr zu, was dazu führte, dass eine vierte Generation beeindruckender Wissenschaftler auf die Bühne trat. Verglichen mit den früheren Zeitabschnitten waren hier noch mehr Erfolge zu verordnen, wobei die Struktur und das System der Chinesischen Philosophie bemerkenswerte Fortschritte machten. Abgesehen von der Bildung dieser neuen Struktur formten sich zudem Organisationen zur Heranbildung von Forschungskräften (einschließlich Zentren und Instituten von Forschungszweigen wie der Forschung zum Yijing 易经 („Buch der Wandlungen“), zum Buddhismus und zum Daoismus), die eine innovative Möglichkeit für das Weitergeben der chinesischen Traditionen darstellten und daher eine wichtige Unterstützung für die Weiterentwicklung der chinesischen Wissenschaftswelt waren. So wurden z.B. die miteinander in Beziehungen stehenden Organisationen der Universität Peking, der Universität Wuhan, der Furan-Universität, der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften (CASS), der Renmin-Universität, der Sun-Yat-sen-Universität, der Universität Nanjing, der Pädagogischen Universität Ostchina, der Shandong-Universität, der Nankai-Universität, der Sichuan-Universität, der Pädagogischen Universität Peking, der Zentrale Nationalitäten-Universität, der Soochow-Universität, der Pädagogischen Universität Shaanxi, der Universität Nordwestchinas, der Zhejiang-Universität sowie dem Zhejiang-Provinz Institut der Sozialwissenschaften, der Xiamen-Universität, der Heilongjiang-Universität, der Pädagogischen Universität Shanghai, der Pädagogischen Universität Sichuan und der Universität Shenzhen zu den Hauptstützpunkten der Forschung zur Philosophie- und Geistesgeschichte Chinas. Momentan wird der Großteil der Forschungskräfte bereits u.a. von der Universität Peking, der Fudan-Universität sowie fünf Hauptstandorten der Forschung zur chinesischen Philosophie auf nationaler Ebene und mehr als 20 Forschungszentren für die Betreuung von Doktoranden in der Chinesischen Philosophie unterstützt. Darüber hinaus beteiligen sich bürgerliche und regionale Gesellschaften wie z.B. die Konferenz der Philosophiegeschichte Chinas, die chinesische Konfuzius-Konferenz, der internationale Konfuzianismus-Verband und die chinesische Konfuzius-Stiftung an zahlreichen und vielfältigen akademischen Aktivitäten. Konkret handelt es sich dabei um regelmäßige Versammlungen auf allen Ebenen und zu den verschiedensten Spezialgebieten.
Wir erleben derzeit eine tiefgreifende Entwicklung der Forschung zur inhaltlichen Organisation der klassischen Schriften des Konfuzianismus, Buddhismus und des Daoismus: Komplette Werke, Materialien und Chroniken wichtiger Philosophen aus allen Zeitperioden und Schulen werden Stück für Stück gesammelt und veröffentlicht. Darüber hinaus werden auch viele spezialisierte Werke und neue Thesen herausgegeben. Die Quantität als auch die Qualität der Forschungsergebnisse hat damit, im Vergleich zu früher, bahnbrechende Fortschritte gemacht. Wettbewerb, Diskussion und Austausch sind in der Forschung nun immer häufiger vorhanden und auch der Dialog zwischen chinesischen und ausländischen Philosophien sowie zwischen den einzelnen Religionen wird zunehmend stärker. Einige Forschungsergebnisse weisen ein sehr starkes Problembewusstsein sowie eine große Kenntnis von der eigenen Methodologie auf und konnten so bereits eine gute Interaktion zwischen China und dem Ausland als auch zwischen Chinas Vergangenheit und Gegenwart ermöglichen. Zudem sind die Fähigkeiten vieler Forscher, die mit Primärquellen arbeiten, stabil und handfest. Forscher wie diese nehmen die Forschungsergebnisse der früheren Geschichte in China und im Ausland ernst und kommen auf dieser Grundlage zu innovativen Einblicken sowie zu fundierten und detaillierten Analysen, was äußerst erfreulich ist. Darüber hinaus hat sich das Forschungsfeld der Chinesischen Philosophie erweitert und es ließen sich zahlreiche Erfolge in den Forschungen zu den geistigen Strömungen sämtlicher Zeitperioden, Schulen, Persönlichkeiten, Autoren und philosophischen Fragestellungen verzeichnen. Beispiele hierfür sind die Forschungsergebnisse von Mou Zongsan 牟宗三 (1909-1995), Tang Junyi 唐君毅 (1909-1978), Xu Fuguan 徐复观 (1904-1982), Wing-tsit Chan 陈荣捷 (1901-1994), Lao Siguang 劳思光 (1927-2012), Yu Yingshi 余英时 (geb. 1930), Fu Weixun 傅伟勋 (1933-1996), Chen Guying 陈鼓应 (geb. 1935), Du Weiming 杜维明 (geb. 1940), Cheng Zhongying 成中英 (geb. 1935), Liu Shuxian 刘述先 (1934-2016), und Roger Ames 安乐哲 (geb. 1947), welche allesamt einen großen Einfluss auf die Forschungsdisziplin der Chinesischen Philosophie ausübten.
Seit 1978 galten die 30 Jahre der Reform- und Öffnungspolitik als ein Zeitabschnitt großer Entwicklung in der Gesellschaft Chinas, in dem auch die philosophische Welt Festlandchinas die globale Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Die Menschen von damals sehen sich sogar als eine eigene Generation an. Ich denke, nun ist die Zeit gekommen, in der es möglich und auch erforderlich ist, die Erfolge, welche die philosophische Welt dieser Generation erreicht hat, in Buchform zusammenzufassen. Zhang Liwen, Chen Lai, Yang Guorong, und Guo Qiyong 郭齐勇 (geb. 1947) machten es vor, indem sie sich in ihrer Forschung auf diese 30 Jahre fokussierten und dabei sämtliche Hintergründe, Folgen und Nebenereignisse miteinbezogen. So konnten sie Zusammenfassungen und Reflexionen von Methoden, Mentalitäten, Ressourcen, Institutionen, Tendenzen, Erfolgen und Misserfolgen der Forschung zur chinesischen Philosophie ausarbeiteten.7
In jedem Zeitabschnitt der vergangenen 30 Jahre lassen sich zahlreiche Erfolge in der Forschung zu Persönlichkeiten der Philosophie und philosophischen Fragestellungen verzeichnen. Zu beliebten Themengebieten und berühmten Schulen zählen dabei u.a. die Beziehung zwischen der traditionellen und der modernen Philosophie Chinas, die konfuzianischen Klassiker und das Studium der konfuzianischen Klassiker, der Buddhismus, der philosophische und der religiöse Daoismus, der Song-Ming-Neokonfuzianismus, der moderne „neue Konfuzianismus“, die Forschung zu philosophischen Inhalten in Bambus- und Seidentextausgrabungen sowie die Forschung zur chinesischen Philosophie aus der Sicht der Forschung zur politischen Philosophie. Auf all diese Themen werden wir im Folgenden genauer eingehen.
A) Die traditionelle und die moderne Philosophie Chinas
Das chinesische Volk und die chinesische Kultur formten über die letzten tausend Jahre hinweg ihr eigenes spirituelles System. Dazu gehören Religion und Glauben, elementare Bedürfnisse, Denk- und Handlungsweisen, ethische Lebensordnungen, Wertvorstellungen und ästhetische Interessen. Obwohl es wahr ist, dass sich all diese Dinge ständig verändern, werden sie dennoch von einer „spirituellen Pulsader“ durchzogen, welche man als den erweiterbaren und doch stetigen Grund ansehen kann, der die chinesische Bevölkerung und ihre Kultur miteinander verschmelzen lässt.
Die traditionelle chinesische Philosophie war schon immer vielfältig und vielgestaltig. Der Konfuzianismus, der philosophische Daoismus, der Mohismus und die sogenannten „100“ Schulen, der religiöse Daoismus, der Buddhismus sowie alle Kulturen und Schulen aus allen sozialen Schichten in der Geschichte des chinesischen Volkes stellen allesamt kulturelle Ressourcen und Schätze dar und besitzen auch für uns heute große Bedeutung und Wert.
Die Zeit ab dem Ende der Qing-Dynastie bis zur Kulturrevolution wurde lange von dem in Festlandchina populären Standpunkt des „Kulturdeterminismus“ und der Selbstunterschätzung aus betrachtet. Dabei wurde das eigene Vaterland, China, als „befleckter Boden“ gesehen und die chinesische Tradition komplett abgelehnt. In den letzten 30 Jahren haben viele Forscher diese Interpretation nach und nach verworfen. Vielmehr begann man, die traditionellen philosophischen Ressourcen von einem objektiven Standpunkt aus zu verstehen und zu beurteilen und so den verborgenen Wert des chinesischen Chinas mithilfe einer verständnisvollen und nachsichtigen Haltung an die Oberfläche zu bringen. Zudem wurde die Bedeutung dieses Geistes erläutert und so miteinbezogen, sodass er bei der Formung des modernen Chinas eine gesunde und aktive Rolle spielen konnte. Äußerst viel Wert wurde auch daraufgelegt, den Wert der traditionellen chinesischen Philosophie für uns heute aufzuzeigen und diese mithilfe einer offenen Einstellung gegenüber deren Pluralität auf kreative Art und Weise zu verändern.
B) Die konfuzianischen Klassiker und die Forschung zum Studium der konfuzianischen Klassiker
Das Wiederaufleben der Forschung zu den Fünf bzw. den Dreizehn konfuzianischen Klassikern stellt das wichtigste akademische Ereignis in den letzten 30 Jahren der chinesischen Akademiegeschichte dar. Die konfuzianischen Klassiker sind die Wurzel der chinesischen Kultur und stellen die Auskristallisierung der Weisheit des chinesischen Volkes dar. Die konfuzianischen Klassiker und das Studium der konfuzianischen Klassiker sind daher der wichtigste Inhalt in der chinesischen Philosophie und wenn nicht sogar in allen klassischen Schriften Chinas.
Die Klassiker, zu welchen das Shujing书经 („Buch der Urkunden“), das Shijing诗经 („Buch der Lieder“), die „Drei Riten“(san li 三礼), nämlich das Liji礼记 („Buch der Riten“), das Zhou Li周礼 („Riten der Zhou“) und das Zhou Yi周易 („Buch der Wandlungen“)8, Chun Qiu春秋 („Frühlings- und Herbstannalen“) und die Kommentare zu Letzterem, nämlich das Zuo Zhuan左传 („Die Kommentare Zuos“), Gong Yang Zhuan公羊传 („Kommentare des Fürsten Yang“), Gu Liang Zhuan穀梁传 („Kommentare Gu Liangs“) sowie die „Vier Bücher“, nämlich Da Xue大学(„Das Große Lernen“), Zhong Yong 中庸 („Mitte und Maß“), Lunyu论语 („Gesammelte Worte des Konfuzius“) und Mengzi孟子 („Mengzi“ oder auch latinisiert „Menzius“) gehören, enthalten die gesamte Ontologie und Metaphysik der chinesischen Philosophie. Es handelt sich hierbei um die grundlegendsten Vorstellungen und Strukturen der Religion, Philosophie, Moral, Gesellschaft, Ethik und Politik sowie Geschichte des Alten Chinas und damit auch um die Seele und den Urquell der chinesischen Zivilisation. In den letzten 30 Jahren hat die Forschung zum „Buch der Wandlungen“, den „Drei Riten“ sowie zu den „Vier Büchern“ eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht. Zudem tauchten einige neue Spezialisten und spezialisierte Werke (v.a. Dissertationen), Forschungsinstitute und Publikationen (Gesammelte Werke) auf. Obwohl wir uns momentan noch in einer Art Vorbereitungsphase – insbesondere für die Vorbereitung der Forschungskräfte – befinden, stehen das Wiederaufleben der konfuzianischen Klassiker und des Studiums der konfuzianischen Klassiker kurz bevor.
C) Die Buddhismusforschung
Nicht nur die allgemeine philosophische Forschung inner- und außerhalb Chinas sowie die Kommunikation zwischen den Religionsstudien, welche Tag für Tag zunimmt, haben kontinuierlich an Tiefe gewonnen, sondern auch die Buddhismusforschung in Festlandchina. So wurde im Zuge der Kompilation alter buddhistischer Schriften und unter der Leitung von Ren Jiyu z.B. das Zhengbian正编 herausgegeben. Hierbei handelt es sich um den „Kanonischen Teil“ des enorm umfangreichen Werkes Zhonghua Dazangjing 中华大藏经 (Das chinesische Tripitaka Koreana), dessen Vervollständigung sich momentan noch im vollen Gange befindet. Die Forschung zur Geschichte des Buddhismus konnte bisher auch noch weitere außerordentliche Erfolge verzeichnen. Immer zahlreicher geworden sind dabei Werke zum geschichtlichen Überblick bzw. der Periodisierung des chinesischen Buddhismus und seinen wichtigsten Schulen wie Weishi 唯识 (Vijñānavāda), Tiantai 天台 (Tiantai zong, auch „Schule desLotos-Sutra“), Huayan 华严 (Avataṃsaka), Chan 禅 (Zen), Sanlun 三论 (Sanlun zong bzw. Mādhyamaka), und Jingtu 净土 (Amitabha-Buddhismus, auch „Schule des Reinen Landes“) sowie spezialisierte Werke und Kommentare zu wichtigen Denkern des Buddhismus. Forscher bemerken zudem, dass die Verwendung von Materialien wie den Dunhuang-Schriftrollen und neueren Ausgrabungen in Japan sowie der Kontakt mit Buddhismusforschern aus den westlichen Ländern, Indien und anderen Ländern Ostasiens ebenfalls immer weiter zunehmen. Die chinesische Forschung zur Geschichte des Buddhismus gewinnt außerdem immer mehr weltweite Beachtung, wobei der Buddhismus in Tibet sowie der Vajrayāna-Buddhismus zu neuen Interessenfeldern geworden sind. Neue Forschungsthemen sind u.a. die heiligen Schriften des Buddhismus sowie deren Interpretationsgeschichte, die Theorien zur Philosophie des Buddhismus und dessen Organisationssystem, der Vergleich der buddhistischen Lehren in China und Indien, der Prozess der Sinisierung des Buddhismus, die Lebensphilosophie und Ethik des Buddhismus als auch die Forschung zur Beziehung der buddhistischen Lehre zur chinesischen Kultur und der heutigen Lebenswelt.
D) Die Forschung zum philosophischen und zum religiösen Daoismus
Fallstudien und vergleichende Forschungen zu den alten Meistern des Daoismus, nämlich Laozi 老子( geb. um 6. Jh. v. Chr.), Zhuangzi 庄子 (365 v. Chr.-290 v. Chr.), Liezi 列子 (450 v. Chr.–375 v. Chr) und Wenzi 文子 sowie zur Jixia-Schule 稷下, zum Daoismus zur Zeit der Streitenden Reiche und dem Huang-Lao-Daoismus 黄老 in der Han-Dynastie, zu den Huainanzi淮南子 („Gesammelte Schreiben des Hofes Huainan“), den Mawangdui-Manuskripten 马王堆, zu denen das Huangdi Sijing黄帝四经 („Die Vier Klassiker des Gelben Kaisers“) gehört, und insbesondere Forschungen zur daoistischen Metaphysik, der daoistischen Naturphilosophie sowie zu den daoistischen Theorien der Selbstkultivierung und zur politischen Philosophie im Daoismus nehmen immer mehr an Tiefe zu und bringen so überaus zahlreiche Resultate. Seit die Forschung zur Kultur des philosophischen und des religiösen Daoismus Anfang der 1990er-Jahre zu einem brisanten Thema wurde, entfaltete sich die systematisierte Forschung zu den verschiedenen Strömungen des religiösen Daoismus, zu seiner gesamten Geschichte sowie zu seinen verschiedenen Phasen und zu seinen berühmtesten Persönlichkeiten Schritt für Schritt. Dabei wurde u.a. die Forschung zum Quanzhen-Daoismus 全真道 („Vollkommene Wirklichkeit“, auch „Schule der Goldenen Blüte“) zu einem besonderen Schwerpunkt in der Forschung zu den daoistischen Schulen. Die Forscher legten den Fokus dabei auf die Lehren des Daoismus und auf eine moderne Interpretation ihrer Anwendung. Zu den neuen Trends in der Daoismusforschung gehören interdisziplinäre Forschungsmethoden als auch deren praktische Anwendung: Bspw. bedienen sich Forscher nun Methoden aus der Kosmologie und der Lebensphilosophie, der Musik, der Medizin, der Wissenschaft und Technik, der Ernährungsforschung, Qigong, betriebswirtschaftlichen Studien, Politikwissenschaft, Ethik, Soziologie, Pädagogik, Psychologie, Literatur und weiteren Forschungsdisziplinen, um so die kulturellen Ressourcen des philosophischen und des religiösen Daoismus an die Oberfläche zu bringen. Weiter wird das Daozang道藏, der “Daoistische Kanon”, welcher derzeit von Spezialisten der Chinesischen Daoistischen Gesellschaft mit Satzzeichen versehen wird und kurz davor ist, vollendet zu werden, in naher Zukunft zu einem wichtigen Meilenstein für die Forschung zum philosophischen und zum religiösen Daoismus, sowie für deren Verbreitung werden.
E) Die Forschung zum Song-Ming-Neokonfuzianismus
Der Neokonfuzianismus der Song- und Ming-Dynastie spielt eine wichtige Rolle in der chinesischen Philosophie. Er ist der Grund dafür, dass der Neokonfuzianismus, welcher durch die langfristige Konfrontation und Verschmelzung der „Drei Lehren“, nämlich Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus, entstand, eine noch erhabenere spirituelle Gestalt annehmen und eine noch verfeinerte philosophische Lehre aufweisen konnte, als es bereits in der Han- und Tang-Dynastie der Fall war. Dies trifft v.a. auf die Metaphysik der chinesischen Philosophie zu, als auch auf ihre Theorien zu verschiedenen Geisteshaltungen und zur philosophischen Praxis. Darüber hinaus übte der Song-Ming-Neokonfuzianismus über die Zeiten hinweg einen bleibenden Einfluss auf die Geschichte des asiatischen Kontinents und auch auf die Weltgeschichte aus.
In den letzten 30 Jahren konnte man in der chinesischen Philosophieforschung eine versstärkte Diskussion zur Beziehung zwischen dem Song-Ming-Neokonfuzianismus und dem Neokonfuzianismus in der Song-, Yuan- und Ming-Dynastie sowie zur Beziehung zwischen der Forschung zur Song-Dynastie und der Han-Forschung (der Forschung zur Qing-Dynastie) beobachten. Dasselbe gilt auch für die Diskussion zu den Kategorien des Song-Ming-Neokonfuzianismus, seinen philosophischen Systemen, theoretischen Eigenschaften, akademischen Persönlichkeiten, Gemeinschaften, Fachgebieten und Schulen sowie zu den verschiedenen Überlieferungen seiner Schriften als auch zu seinen Entwicklungen und Veränderungen im Laufe der Geschichte. In der Geistesgeschichtsforschung wiederum ist es nicht nur die Beziehung des Song-Ming-Neokonfuzianismus zur Sozialpolitik und zu erziehungswissenschaftlichen Lehrmethoden, die immer mehr ins Blickfeld der Forscher rückt, sondern auch die Popularisierung des Neokonfuzianismus und dessen Beziehung zur Geschichte akademischer Institute und Organisation von Städten sowie zu verschiedenen soziopolitischen Aktionen einiger Intellektueller des Song-Ming-Neokonfuzianismus als auch das Aufkommen dieser neuen Philosophie während dem Übergang von der Ming- zur Qing-Dynastie. Da der kognitive Erfolg des Song-Ming-Neokonfuzianismus kompliziert und vielschichtig ist und der Song-Ming-Neokonfuzianismus als Forschungsobjekt immer wichtiger wird, schließt die Forschung auf diesem Gebiet auf der einen Seite auch dessen Beziehungen und Verbindungen zum Buddhismus und Daoismus, zur literarischen Forschung, zur Geschichte der konfuzianischen Klassiker, zur Wissenschaft, zum Handel sowie zu Gesellschaft, Politik und Gesetzeswelt mit ein.
Auf der anderen Seite werden zudem die Verbreitung des Song-Ming-Neokonfuzianismus in der Bevölkerung Nordkoreas, Japans, Vietnams und weiteren asiatischen Ländern und Regionen sowie die lokalen Schulen des Cheng-Zhu- und des Yangming-Neokonfuzianismus, als auch die Komplexität der späteren Schulen in der Forschung miteinbezogen. Dabei sind der Einfluss, den der Song-Ming-Neokonfuzianismus auf die asiatische Welt hatte sowie dessen verschiedene Richtungen und damaligen Verbindungen mit der intellektuellen Bewegung des „Westlichen Lernens“ in der späten Qing-Dynastie allesamt zu wichtigen Forschungsgegenständen und Inhalten geworden.
Eindeutig feststeht, dass die Modernität des Song-Ming-Neokonfuzianismus eine spezielle Untersuchung erfordert und v.a. die Forschung zum Song-Ming-Neokonfuzianismus in der Yuan-Dynastie noch verstärkt werden sollte.
F) Forschung zum modernen „neuen“ Konfuzianismus
Von 1983-1990 begannen Professor Tang Yijie und Professor Xiao Shafu mit der Zusammenstellung des Xiong Shili Quanji熊十力全集 („Vollständige Sammlung der Werke Xiong Shilis“). Sie riefen außerdem die akademische Konferenz zu Feng Youlan und Liang Shuming 梁漱溟 (1893-1988) ins Leben und luden Du Weiming und Cheng Zhonying ein, Vorträge in Festlandchina zu halten. Von 1986-1995 leiteten die beiden Professoren Fang Keli und Li Jinquan zudem eine Studiengruppe mit dem Namen „Forschung zu den Trends des modernen ‚neuen‘ Konfuzianismus“, an der sich über 30 Forscher beteiligten. Diese sammelten verschiedene Materialien, betrieben Kompilationsarbeit und führten Fallstudien sowie Untersuchungen zu bestimmten Spezialisten und speziellen Themen durch, was alles zu einer beachtlichen Summe von Forschungsergebnissen führte. Die Liste der Forschungsziele dieser Studiengruppe wurde nach und nach perfektioniert, bis daraus schließlich die „Buchreihe ausgewählter Themen zum modernen ‚neuen‘ Konfuzianismus“ entstand. Ausgewählt wurden diese Themen dabei von über 15 Persönlichkeiten dreier Generationen. Zur ersten Generation gehörten Liang Shuming, Zhang Junmai 张君劢 (1887-1969), Xiong Shili, Ma Yifu 马一浮 (1883-1967), Feng Youlan, He Lin 贺麟 (1902-1992), Qian Mu, und Fang Dongmei 方东美 (1899-1977), zur zweiten wiederum Tang Junyi, Mou Zongsan und Xu Fuguan und zur dritten Generation Yu Yingshi, Du Weiming, Liu Shuxian, und Cheng Zhongying.
Von 1988 bis heute haben Forschungsinstitute wie die Ehu Schule Taiwan, die Fa Zhu Konferenz Hongkong, die Chinesische Universität Hongkong, die Wuhan-Universität, die Shandong-Universität sowie Forschungsinstitute in den Provinzen Sichuan und Zhejiang als auch in Taiwan und Hongkong viele Male internationale Forschungskonferenzen zum modernen „neuen“ Konfuzianismus und seinen repräsentativen Persönlichkeiten abgehalten. Zudem wurden die Werke der oben genannten 15 Persönlichkeiten, wozu u.a. San Songtang Quanji 三松堂全集 („Gesammelte Werke San Songtangs“), Xiong Shili Quanji, Du Weiming Wenji 杜维明文集 („Gesammelte Werke Xiong Shilis und Du Weimings“) und Cheng Zhongying Wenji 成中英文集(„Gesammelte Werke Cheng Zhongyings“) gehören, als auch vollständige und noch nicht vollständige akademische Ergebnisse und Dissertationen immer zahlreicher. Dieses Forschungsgebiet existierte 30 Jahre zuvor noch nicht.
Im Zuge der Forschung zum Trend des modernen „neuen“ Konfuzianismus, seinen Persönlichkeiten, Theorien und Praktiken beschäftigte man sich wieder aktiv mit den Themen Kultur, Ideologie und Wissenschaft, wobei auch viele neue Fragen aufgeworfen wurden. So wurden der interkulturelle Vergleich, der Dialog und die Verschmelzung verschiedener Kulturen vorangetrieben, was wiederum zu den Diskussionsthemen „Dialog der Kulturen“ und „Globale Ethik“ beitrug. Forscher haben mittlerweile anerkannt, dass der Konfuzianismus, zumindest vom Aspekt seiner spirituellen Glaubenssätze und existentieller Erfahrungen aus betrachtet, auf jeden Fall Religiosität und Transzendenz besitzt. Der humanistische Geist im modernen „neuen“ Konfuzianismus lässt sich voll und ganz mit dem „Westlichen Lernen“ und der modernen Zivilisation vereinbaren und verlangt daher nach einer angemessenen und gesunden Entwicklung in den Bereichen Kultur und Religion sowie Wissenschaft, Technik und Natur.9
G) Die Forschung zu philosophischen Inhalten in Bambus- und Seidenwerkausgrabungen
Bei Wang Guowei findet sich die sogenannte „Doppelte Beweismethode“: Diese sieht die Gegenprüfung von ausgegrabenen und übertragenen Materialien vor.
Die Guodian-Bambustexte, welche 1990 in Jingmen in der Provinz Hubei ausgegraben wurden und die Shanghai bowuguan cang Chujian (上海博物馆藏的楚竹书, „Bambustexte aus dem Staat Chu in den Beständen des Shanghai Museums“) sind voll von philosophischen Inhalten, wobei v.a. die Texte zu Konfuzius’ 17 Schülern, dem Buch der Wandlungen, dem Konfuzianismus und dem Daoismus zur Zeit der Streitenden Reiche sowie zu den „100 Schulen“ für die Forschung äußerst wertvoll sind. Weitere Werke von großem akademischem Wert sind die Yinqueshan-Bambustexte aus der Han-Dynastie, welche 1970 in Linyi in der Provinz Shandong ausgegraben wurden, die Bambus- und Seidentexte aus den Han-Gräbern von Mawangdui, einer archäologischen Fundstätte in Changsha in der Provinz Hunan sowie die Bambustexte aus den Han-Gräbern von Bajiaolang, die in Dingzhou in der Provinz Hebei gefunden wurden. Diese neueren Bambus- und Seidenwerkausgrabungen stellen kostbare Ressourcen für die Entwicklung und Veränderung der Forschung zu allen Geschichtstheorien zur Zeit vor der Qin- und während der Han-Dynastie dar. Dies trifft auch für die Forschung zur Weltanschauung, Ethik und Denkweise der Chinesen in der damaligen Zeit zu. Wenn man die Forschung in den Bereichen Philologie, Archäologie, Geschichte sowie die Forschung zu Bambus- und Seidenwerkausgrabungen und weiteren Gebieten inner- und außerhalb Chinas miteinander vergleicht, lässt sich feststellen, dass philosophische Forscher den oben genannten neueren Materialien besondere Bedeutung beimaßen und auch eher neuere Methoden anwandten, um diese eingehend zu untersuchen. So konnten einige akademische Erfolge verzeichnet werden, welche wiederum die Forschung zu den chinesischen Klassikern und Denkern sehr bereicherten.
Weiter finden sich in den Qin-Bambustäfelchen aus Shuidi in Yunmeng, in den Tian-Xingguan-Bambustexte des Chu-Königreiches von Tian Xingguan sowie im Chu-Grab aus Jiudian und in den Zhang-Jiashan-Bambustexte der Han, welche alle in der Jiangling Provinz ausgegraben wurden als auch in den Baoshan-Bambustexten der Chu, welche in Jingmen gefunden wurden, viele Schriften, die mit dem damaligen Volksglauben sowie mit bürokratischen und rechtlichen Methoden der damaligen Zeit in Verbindung stehen. 2006 gruben Archäologen in Yunmeng in der Provinz Hubei erneut einen Bambustext der Han aus. Im Grunde genommen handelt es sich hierbei um ein Gesetzesdokument aus der damaligen Zeit, welches die Funde aus Shuidi und Zhang Jiashan bekräftigt und ergänzt. Außerdem waren dort Bücher enthalten, die dem Werk Shuo Yan („Garten von Geschichten“) ähneln. Letzteres ist eine Sammlung von Geschichten und Anekdoten aus der frühen Qin- bis zur Westlichen Han-Dynastie. China besitzt eine ausgeprägte Kulturtradition für Gesetze, die es wert ist, ernst genommen zu werden. Die vielen miteinander verwobenen Inhalte der Vorstellungen, Systeme und Volksgewohnheiten in der Geschichte Chinas sollten daher zu den wichtigsten Themen in der Forschung zur chinesischen Philosophiegeschichte gehören. Dies würde wiederum bedeuten, dass man der Entstehung von Wertsystemen und deren Verbindung zum alltäglichen Leben mehr Wert beimessen müsste.
2008-2009 wurden einige neu zusammengetragene Bambuswerkausgrabungen von der Qinghua-Universität, der Universität Peking und der Yuelu-Akademie der Hunan-Universität zeitlich eingeordnet. Man teilte die Schriften dabei in die folgenden drei Perioden ein: Zeit der Streitenden Reiche, Zeit der Qin-Dynastie und Zeit der Westlichen Han-Dynastie. Sie enthalten zahlreiche Materialien für die Forschung zu den chinesischen Klassikern (insbesondere Quellen, die dem Buch der Urkunden ähneln), zu Denkern der chinesischen Philosophie und zur chinesischen Philosophiegeschichte.
H) Die chinesische Philosophie aus der Sicht der Forschung zur politischen Philosophie
Die politischen Theorien zur Gesellschaft des altertümlichen Chinas sind stets untrennbar verbunden mit Theorien über die Natur und den Menschen. Die gegenwärtige philosophische Welt legt den Fokus dabei auf die Forschung zur politischen Philosophie in China und vor allem darauf, diese im Verhältnis zu politischen Philosophien und Gerechtigkeitstheorien des Westens zu analysieren und zu diskutieren. Der Dialog zwischen dem Marxismus, Liberalismus und dem Traditionalismus, die Veränderung der Gesellschaftsstruktur und die Rekonstruktion der Gesellschafts-ordnung, das Herausstechen der Politik und der Gesetzesfrage sowie die Herausforderung der heutigen Politikwissenschaft und Ethik haben den Forschungszweig der chinesischen Philosophie dazu angeregt, sich verstärkt darum zu bemühen, die klassische philosophische Politik Chinas zu bekannt zu machen und zu erläutern. Selbstverständlich dreht sich bei der politischen Philosophie des Westens dabei nicht alles um Probleme der Staatstätigkeit. Viel wichtiger sind Probleme der kulturellen Identifikation und die der sozialen Institutionen. Dabei stellt die Anerkennung der kulturellen Identität eines Volkes das größte Problem in der politischen Philosophie dar.
Die klassische politische Philosophie Chinas betont nicht nur moralische Werte oder die sogenannte „Argumentation“ (yili 义理), sondern auch öffentlich gültige Systeme sozialer und politischer Institutionen. Man könnte sagen, dass, obwohl institutionelle Systeme und damit verbundene Texte im strengeren Sinne nicht unter die Kategorie „Philosophie“ fallen, die Forschung in diesem Bereich dennoch einer der Hauptbestandteile der chinesischen Wissenschaften ist. Das liegt v.a. daran, dass mithilfe dieser Forschung zahlreiche historische Materialien und Dokumente aus der Zeit nach den konfuzianischen Klassikern belegt werden können. Die politischen Sichtweisen und institutionellen Bestrebungen der Philosophen im altertümlichen China sowie die Trends in der Forschung zur politischen Philosophie in den späteren Zeitperioden sind allesamt zu schwierigen Problemen für die moderne akademische Welt Chinas geworden. Besonders herausfordernde Themen sind dabei das Aufkommen, die Entwicklung und der Einfluss dieser Sichtweisen und Bestrebungen in der Ming- und Qing-Dynastie sowie in der Zeit der Republik China als auch die Unterschiede, Zusammenwirkungen und Überschneidungen zwischen grundlegenden Ideen der gegenwärtigen politischen Philosophie und der politischen Sichtweisen im Alten China.
Abgesehen von den oben genannten großen acht Forschungsgebieten ist auch die Forschung zur Philosophie- und Geistesgeschichte ganz Ostasiens (China, Vietnam, Korea und Japan) ein innovativer Gedankengang und ein Zweig, der bereits dabei ist, sich weiter zu entwickeln.