Neue Deutsche Gewalt - Philipp Woldin - E-Book

Neue Deutsche Gewalt E-Book

Philipp Woldin

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Beschreibung

Deutschland wird von Anschlägen erschüttert, mal ist ein Auto die Waffe, oft ein Messer. Auch auf Schulhöfen und Straßen steigt die Gewalt. Doch wie unsicher ist das Land wirklich – was ist Fakt, was Fiktion? Die beiden WELT-Journalisten Philipp Woldin und Alexander Dinger begeben sich mit ihrem Report auf die Spur der neuen Gewaltkriminalität.

Auf so manchem Schulhof tragen Jugendliche heute ein Messer, Rap-Videos und Social Media verklären Gewalttaten zum Lifestyle. Gewaltkriminalität in Deutschland wird jünger, brutaler, grenzenloser. In diesem Buch machen sich die Reporter Philipp Woldin und Alexander Dinger auf eine Deutschlandreise zur neuen Kriminalität und entlarven gängige Mythen der Sicherheitsdebatte. Ihr Fazit: Es braucht dringend ein radikales Umdenken in der Inneren Sicherheit – sonst drohen mörderische Verhältnisse im Land. Das Debattenbuch der Stunde.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Philipp Woldin und Alexander Dinger

NEUE DEUTSCHE GEWALT

WIE UNSICHER UNSER LAND WIRKLICH IST

Ein Report

C.H.Beck

Übersicht

Cover

INHALT

Textbeginn

INHALT

Titel

INHALT

VORWORT

KAPITEL 1: DIE SICHERHEITSDEBATTE

Wie gefährlich ist Deutschland? Eine Spurensuche

Messergewalt: Zwischen Hysterie und Realität

Migration und Kriminalität: Welche Rolle steigende Zuwanderung spielt

KAPITEL 2: DIE NEUE GEWALT – JUNG, GRENZENLOS, BRUTAL

Die neuen Täter

Vor aller Augen: Gewalt im öffentlichen Raum

Soziale Medien: Gewalt und ihre popkulturelle Verwertung

KAPITEL 3: EIN BLICK IN DEUTSCHLANDS ZUKUNFT? DIE GEWALTESKALATION IN SCHWEDEN

Die dunkle Seite Bullerbüs

Lehren aus dem Fall Schwedens

KAPITEL 4: GEWALT UND DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT

Die Opfer: 300 Familien und kein Ende der Gewalt

Die Schlüsselrolle der Schulen

Politische Reaktionen auf die Gewalt– und ihre Praxistauglichkeit

KAPITEL 5: EIN PLÄDOYER FÜR EINEN NEUEN UMGANG MIT DER GEWALT

Das deutsche Sicherheitssystem braucht ein Update

Welche Chancen in einer neuen Migrationspolitik liegen

Social Media: Kinder und Jugendliche müssen besser vor Digitaler Gewalt geschützt werden

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

Kapitel 1: Die Sicherheitsdebatte

Kapitel 2: Die neue Gewalt – jung, grenzenlos, brutal

Kapitel 3: Ein Blick in Deutschlands Zukunft? Die Gewalteskalation in Schweden

Kapitel 4: Gewalt und die Mehrheitsgesellschaft

Kapitel 5: Ein Plädoyer für einen neuen Umgang mit der Gewalt

LITERATURVERZEICHNIS

PERSONENREGISTER

Zum Buch

Vita

Impressum

VORWORT

Als wir im Winter 2023 die ersten Gedanken für dieses Buch sortierten, fiel uns auf, wie oft Menschen von einem neuen Gefühl auf Deutschlands Straßen sprachen. Die Stimmung sei rauer geworden, sagten sie – aggressiver, unberechenbarer. In der U-Bahn, im Park und in der Schule oder einfach beim Spazierengehen. Viele berichteten von Blicken, die als Provokation gemeint waren, von Pöbeleien, die schneller eskalierten. Es fühlte sich härter und gefährlicher an, sich im öffentlichen Raum zu bewegen.

Diese Verwandlung begegnete uns auch bei unserer Arbeit als Kriminalreporter: Ermittler erzählten, dass im Milieu mehr Schüsse fielen als früher. Die Täter feuerten aus fahrenden Autos oder mitten in einer Shisha-Bar. Viele dieser Kugeln sollten nicht mehr nur eine Warnung aussenden. Sie sollten töten.

Dann kamen die Anschläge, die Deutschland in den Jahren 2024 und 2025 erschütterten. Oft war ein Messer die Waffe, der Täter häufig ein Zuwanderer. Das Land diskutierte über Migration und Obergrenzen, über Sicherheitspakete und Messerverbotszonen. Und stellte sich die Frage: Wie sicher ist Deutschland noch?

Früher verharrte die Debatte über Gewalt in immer gleichen Mustern, ein polarisiertes Thema für die politischen Ränder. Doch wir haben bei unseren Recherchen festgestellt: Die Sicht auf Gewaltkriminalität und die Debatte über das Sicherheitsgefühl im Land hat sich in den letzten Monaten und Jahren verändert und ist zu einem Thema der Mehrheitsgesellschaft geworden. Nach der Vorstellung der jüngsten Kriminalstatistik Anfang April 2025 titelte die linksliberale Süddeutsche Zeitung: «In Deutschland nimmt die Gewalt zu». Bei der BILD lautete die Schlagzeile auf Seite 1 gewohnt lautsprecherisch: «Stoppt endlich diese Gewaltkriminalität».

Nun im Mai 2025, während wir die letzten Zeilen dieses Buches schreiben, sind es nicht mehr nur die Anzeichen einer Verwandlung. Es gibt eine Neue Deutsche Gewalt. Der Titel des Buchs lässt bewusst Raum offen zur Interpretation und soll zur Debatte anregen. Es gibt eine neue Gewalt, die in Deutschland stattfindet, vielleicht schon zum Land gehört.

In diesem Buch haben wir uns auf eine Reise zu den Wurzeln dieses Phänomens gemacht. Wir wollten verstehen: Warum nimmt die Gewalt in Deutschland zu, von wem geht sie aus? Und was muss sich im Land ändern?

Dafür haben wir unzählige Gespräche geführt, etwa mit Schutzpolizisten und LKA-Präsidenten, Gewerkschaftern, Lehrern und Sozialarbeitern, Betroffenen von Gewalt, Intensivtätern sowie Wissenschaftlern. Wir besuchten auch Kriminalprozesse, wälzten Akten und Studien und saßen bei Angehörigen von Gewaltopfern im Wohnzimmer. Allen danken wir für ihr Vertrauen und ihre Offenheit.

Unser Buch stützt sich auch auf unsere langjährige Arbeit als Kriminalreporter und frühere Recherchen. So reiste Philipp Woldin schon 2023 nach Schweden, um zu der eskalierenden Bandengewalt im Land zu recherchieren. Daraus entstand eine mehrseitige Zeitungsreportage. Auch über Kinder- und Jugendgewalt und die Überrepräsentation von ausländischen Tatverdächtigen in den Kriminalstatistiken berichten wir seit Jahren.

Aus unseren Recherchen gewannen wir den Eindruck eines tiefergehenden gesellschaftlichen Wandels, dem wir in diesem Buch nachgehen werden. In Kapitel 1 beantworten wir die Frage, die sich in der Sicherheitsdebatte alle stellen: Wie gefährlich ist dieses Land wirklich – was ist Fakt, was ist Fiktion? Manche der Antworten, die wir recherchiert haben, fallen überraschend aus. In Kapitel 2 nähern wir uns den neuen Tätern. Ob migrantische Banden im Stuttgarter Speckgürtel oder rechte Jugendgangs im Osten: Sie eint eine neue Verrohung und Brutalität, die häufig offen gefeiert wird. Die meist jungen Männer brüsten sich mit ihren Taten, mancherorts wird die Gewalt zum Lifestyle. Rap-Videos und Social-Media sind die Schaufenster – und auch der öffentliche Raum wird zu ihrer Bühne. Ein Blick nach Schweden, den wir im Kapitel 3 wagen, zeigt, welche Fehler Deutschland unbedingt vermeiden sollte, um nicht noch tiefer in einer Spirale aus Gewalt zu enden. Im Kapitel 4 lassen wir die Angehörigen von Gewalttaten zu Wort kommen und analysieren, welche Rezepte Schulen, Politik und die Justiz für den Gewaltanstieg finden – und ob sie wirken.

Wir wollen auch zeigen, wie es besser gehen könnte. Im letzten Kapitel werben wir für einen neuen Umgang mit Gewaltkriminalität. Mit streitbaren Thesen, die eine Debatte eröffnen sollen – zu Migration, der Rolle von sozialen Medien und mit einem Plädoyer für eine Reform der Sicherheitsbehörden.

Neue Deutsche Gewalt. Ist das ein Phänomen, das jetzt ein Teil von Deutschland ist? An das wir uns gewöhnen, gegen das wir uns besser wappnen müssen? Es ist Zeit, darauf Antworten zu finden.

KAPITEL 1

DIE SICHERHEITSDEBATTE

Wie gefährlich ist Deutschland? Eine Spurensuche

Zugespitzte politische Debatten hat es in Deutschland immer gegeben. Aber was wir heute erleben, geht an die Substanz: Man ist sich nicht einmal mehr über die Realität einig, über die man kontrovers spricht. Die einen schlagen Alarm wegen permanenter Krisen der inneren Sicherheit, der Wirtschaft und der Migration – die anderen streiten ab, dass es solche Probleme überhaupt gibt. Als lebten die Lautsprecher beider Lager nicht mehr im selben Land.

Schmetterlinge umkreisen seinen Kopf, als Jan Böhmermann davon spricht, wie sicher Deutschland doch sei. Am 11. September 2024 lädt der ZDF-Entertainer ein Video hoch. Er betextet es mit: «Ekelhaft, ekelhaft, ekelhaft! Man kann sich nur entschuldigen…» Natürlich ist der Auftritt gewohnt ironisch gebrochen, der Schmetterlingsfilter um seinen Kopf, der Tennislehrer-Look mit weißem Pulli über den Schultern. Aber es ist ihm schon ernst. Jetzt kommt sein Beitrag zur Abschottungsdebatte, die damals die Schlagzeilen dominiert.[1]

Migration und Sicherheit, in der deutschen Debatte des Jahres 2024 werden diese beiden Themen oftmals miteinander vermischt. Wir versuchen in diesem Buch zu ergründen, welche Wechselwirkungen hier wirklich vorherrschen. Böhmermann wettert in seinem Video gegen die geplanten Grenzkontrollen, die die Ampel zu dieser Zeit diskutiert. Später wird Deutschland erstmals wieder flächendeckend seine Binnengrenzen bestreifen, von Flensburg bis ins niederbayerische Pocking. Europäische Nachbarstaaten wie Polen und Österreich protestieren dagegen, Kritiker warnen vor einer Zerstörung des «Schengen-Raums», einer der Säulen der europäischen Idee.

So die Lage damals. Dabei, so Böhmermann, brauche man diese Kontrollen doch gar nicht. «Muss ich Fakten liefern? Okay, liefere ich Fakten», sagt er. «Die Zahl der Gewalttaten geht in Deutschland seit Jahren zurück. Deutschland und Europa sind so sicher wie nie.» Sein Hauptargument: 1993 habe es in Deutschland 1299 Morde gegeben. 2023 seien es nur noch 214 gewesen. Die Zahl der «AusländerInnen» sei aber doppelt so hoch wie 1993. 7 Millionen zu 14 Millionen. Für Böhmermann ist die Sache klar: «Unser Land ist so sicher wie nie.»

Am selben Tag steht die Fraktionschefin der AfD (Alternative für Deutschland), Alice Weidel, am Rednerpult des Bundestages, blauer Blazer mit Einstecktuch, die obligatorische Perlenkette. Die Zuschauerreihen sind voll besetzt, die Generaldebatte ist traditionell die Großabrechnung der Opposition mit der Regierung. Zehn Tage sind nach den triumphalen Wahlerfolgen ihrer Partei in Sachsen und Thüringen verstrichen, die AfD kann vor Kraft kaum laufen. Und natürlich sieht Weidel die Lage gänzlich anders als Böhmermann. Sie beginnt ihre Rede in getragenem Tonfall, aber was sie sagt, klingt gewohnt scharf: «Fast drei Wochen sind verstrichen seit dem grauenhaften Messer-Terroranschlag eines abgelehnten syrischen Asylbewerbers in Solingen.»[2]

Weidel hatte vor Jahren den Kampfbegriff Messermänner geprägt und ihn immer wieder benutzt, etwa in der Debatte zum Etatentwurf 2018 im Bundestag. Sie sagte damals: «Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern.»[3] Die pauschale Abwertung von Frauen mit Kopftuch brachte Weidel einen Ordnungsruf des Bundestagspräsidenten ein.[4] Sechs Jahre später wählt sie ihre Worte in der Generaldebatte bedachter. Sie listet vermeintliche Fakten auf: «Jeden Tag finden Messerattacken durch illegale Migranten statt.» An den damaligen Kanzler Olaf Scholz (SPD) und die Regierungsbank gewandt ruft sie mit schneidender Stimme: Die Bürger hätten begriffen, Ampel-Politik bedeute «Massenmigration» und «Verlust der Inneren Sicherheit».

Böhmermann und Weidel. Es gibt kein Problem vs. Deutschland steht vor dem Abgrund. Zwischen diesen beiden Extremen bewegt sich die Debatte über Deutschlands Sicherheitslage häufig. Die weltanschaulichen Lager arbeiten mit sorgfältig ausgewählten Statements für die eigene Blase, nicht selten vermengt mit Unschärfen, Weglassungen und Halb-Wahrheiten.

Für die einen ist es das sicherste Deutschland aller Zeiten, für die anderen eine Republik, die in Gewalt versinkt. Die einen argumentieren mit gefühlter Sicherheit, die anderen mit genau den Zahlen aus der Statistik, die ihre Sicht zu bestätigen scheinen. Beide haben Realitätsbrocken in der Hand, mit denen sie einander bewerfen – aber immer nur die Brocken, die ihnen gefallen. Ein idiotisches Spiel. Man kann es lange spielen. Man kann damit Stimmung machen. Aber ein realistisches Lagebild zeichnen oder gar ein Land regieren kann man so nicht.

Die Diskussion über die Situation auf Deutschlands Straßen wird zunehmend intensiv geführt. Auch, weil die Sorge um Sicherheit tief in die Mehrheitsgesellschaft vorgedrungen ist. Schon bei den Europawahlen 2024 gab eine Mehrheit der Wähler in Nachwahlbefragungen an, dass ansteigende Kriminalitätsraten und fehlendes Sicherheitsgefühl ihre Wahlentscheidung entscheidend beeinflusst habe.[5]

Bei den Landtagswahlen in Sachsen 2024 lag die Sorge vor Kriminalität und um die Innere Sicherheit auf Platz 3 hinter Sozialer Sicherheit und Zuwanderung, im benachbarten Thüringen auf dem Spitzenrang.[6] Für die Wähler der Hamburgischen Bürgerschaft im Frühjahr 2025 lag Innere Sicherheit auf Platz 2 der wahlentscheidenden Themen, direkt hinter günstigem Wohnraum.[7]

Und auch der Bundestagswahlkampf 2025 wurde nach den Anschlägen in Magdeburg, Aschaffenburg und München von einer Debatte über den Zusammenhang von Migration und Sicherheit dominiert.

Wie sicher ist Deutschland? Diese Frage stellt sich im Alltag vieler Menschen drängender als noch vor einigen Jahren. Nachts mit der S-Bahn fahren oder doch lieber ein Taxi rufen? Wie gewohnt das örtliche Volksfest besuchen oder nach all den Anschlägen mit liebgewonnenen Traditionen brechen? Als junge Frau noch die alte Joggingstrecke durch den Park nehmen oder doch einen Heimtrainer anschaffen? Die Antworten auf diese Fragen haben Konsequenzen – für das Leben jedes einzelnen Bürgers, aber auch für uns als liberale, offene Gesellschaft. Trotzdem wird dieses (Unsicherheits-)Gefühl in der Gesellschaft bislang nur wenig substanziell thematisiert. Vielleicht, weil bei der aufgeheizten Debatte um Kriminalität und deren Ursachen überall Fallstricke zu lauern scheinen – und viele Menschen lieber gar nichts sagen, statt etwas Falsches. Dabei gibt es allen Grund für eine ehrliche Debatte, entlang der Fakten.

Die 1299 Mordtaten, auf die Satiriker Böhmermann in seinem Video anspielt, fanden statt. Die Zahl findet sich tief vergraben in der Polizeilichen Kriminalstatistik von 1993.[8] Dort addierten die Kriminalisten allerdings Morde und versuchte Morde zusammen, so ergibt sich der hohe Wert. «Nur» in etwa der Hälfte der Fälle kam laut Statistik tatsächlich ein Mensch zu Tode.

Und es gibt eine weitere Besonderheit des Jahres 1993: Die Zahl beinhaltet auch «alte» DDR-Mordtaten (etwa «Grenzzwischenfälle»). Diese gehen auf die Ermittlungen einer Berliner Polizeieinheit zurück, die nach der Wende ihre Arbeit aufnahm und Straftaten in der früheren DDR untersuchte. Erste Fälle wurden im Jahr 1993 in die nun bundesweite Kriminalstatistik integriert. So entsteht ein sehr hoher Wert, der wenig mit der tatsächlichen Kriminalitätslage des Jahres zu tun hat. Trotzdem vergleicht Böhmermann diese in seinem Video mit 214 Morden aus 2023 und vergisst obendrein zu erwähnen, dass es in diesem Jahr zusätzlich noch 490 Mordversuche gab. Böhmermann jongliert in seinem Grenzvideo also mit Äpfeln und Birnen, um seinen Punkt zu machen. Ein leider geradezu typisches Vorgehen in der deutschen Sicherheitsdebatte, in der gerne Statistiken und Zahlen ohne Kontext und wenig präzise für die eigene Argumentation verwendet werden.

Erst 1999 ebbte der «Nachmelde-Effekt» aus DDR-Zeiten ab, die Kriminalstatistik verzeichnet um die Jahrtausendwende 454 vollendete Morde. Diese Zahl kann man sinnvoll mit der aktuellen Kriminalitätslage vergleichen. Mit dem Ergebnis: Doppelt so viele Morde wie heute, aber nicht in etwa sechs Mal so viel, wie Böhmermann suggeriert.

Oder leben wir doch eher in einem Land am Abgrund? 2024 stieg die Gewaltkriminalität auf den höchsten Wert seit 2007. Nach jahrelangen Rückgängen wird wieder enthemmter geraubt, geprügelt und zugestochen. Die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel sprach im Bundestag von den täglichen Messerattacken durch «illegale Migranten», und eines stimmt: Deutschland hatte in jenen Wochen und Monaten 2024 ein Problem mit Messerangriffen, das immer noch besteht.

29.041 Messerangriffe meldete das Bundeskriminalamt für 2024 bundesweit, das wären durchschnittlich 79 pro Tag.[9] Die tatsächliche Zahl an Vorfällen mit Messern könnte noch darüber liegen. Denn das Bundeskriminalamt listet nur Messer-Taten im Zusammenhang mit Gewaltkriminalität sowie Bedrohung und Nötigung auf. Entdecken Polizisten bei einer Kontrolle ein Messer, wandert der Fall nicht in die Statistik.

Doch wer sticht zu? Einzelne Bundesländer widmen sich dem Messer-Phänomen schon länger, ihre Auswertungen geben detaillierter Aufschluss. Dort sind die Tatverdächtigen bei Messerdelikten in etwa der Hälfte der Fälle Ausländer. In Schleswig-Holstein etwa liegt der Wert bei 43,1[10], in Baden-Württemberg waren 56,9 Prozent der Messerangreifer im Jahr 2024 keine Deutschen[11]. Nordrhein-Westfalen ermittelte in einem speziellen Messer-Lagebild eine Quote von 45 Prozent ausländischen Tatverdächtigen.[12]

Eine einheitliche, bundesweite Auswertung zu den Nationalitäten von Tätern, die zustechen, liegt allerdings bisher nicht vor – hier herrscht weiterhin eine Datenlücke. «Messerangriffe» werden in der bundesweiten Polizeilichen Kriminalstatistik als «Phänomen» erfasst. Das heißt als Information zu einem Delikt, nicht als einzelne Kategorie wie Raub oder Körperverletzung. «Aussagen zu Tatverdächtigen sind auf der Basis nicht möglich», sagte ein BKA-Sprecher auf Anfrage. Er nennt als Beispiel eine Körperverletzung, bei der ein Messer eine Rolle spielt. Neben dem Tatverdächtigen mit dem Messer könnten eben «auch unbewaffnete Tatverdächtige» an der Körperverletzung beteiligt sein. Es ist also kompliziert.

Und damit ist auch klar: Es gibt ein Problem – aber wer es genau verursacht, ist unklar. Ob ein Angreifer mit Messer in Damaskus, Dubrovnik oder Duisburg aufwuchs; ob er über die Balkan-Route vor politischer Verfolgung flüchtete oder auf der Suche nach einer besseren wirtschaftlichen Zukunft nach Europa migrierte; ob er seine Abschiebung fürchtet oder hier geboren ist – dazu ist keine belastbare Aussage möglich. Zumindest keine so eindeutige, wie Alice Weidel in ihrer Bundestagsrede im Herbst 2024 glauben macht.

Das sicherste Deutschland aller Zeiten oder doch eine Erosion der Inneren Sicherheit? Oft eine Frage des Blickwinkels. Die beiden Beispiele zeigen: Die deutsche Gewaltdebatte changiert zwischen schwarz und weiß, Grautöne fehlen sehr häufig.

Gewalt in Deutschland existiert in den verschiedensten Formen. Viel davon passiert hinter verschlossenen Türen, im intimen Raum der eigenen Wohnung und des Familienumfelds. Besonders für Frauen ist ihr Zuhause vielfach ein gefährlicher Ort. Das im November 2024 veröffentlichte Lagebild des Bundeskriminalamts zu gegen Frauen gerichtete Straftaten liest sich alarmierend[13]: Häusliche Gewalt trifft in drei von vier Fällen Frauen und Mädchen. 155 von ihnen wurden von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Diese Entwicklung hält seit Jahren an: Die Journalistinnen Laura Backes und Margherita Bettoni berichteten schon in ihrem Buch Alle drei Tage aus dem Jahr 2021 eindrucksvoll über das Ausmaß dieser Gewalt.[14]

Das gesellschaftliche Sprechen über Gewalt allerdings prägten 2024 und 2025 monströse, breit-diskutierte Gewalttaten im öffentlichen Raum. Beispielhaft dafür steht etwa der islamistische Anschlag auf einem Stadtfest in Solingen im August 2024. Hier stellten sich zurecht bohrende Fragen: Wieso lebte der mutmaßliche Täter, ein abgelehnter Asylbewerber aus Syrien, noch immer im Land? Warum konnte sich Issa al Hassan seiner Überstellung nach Bulgarien entziehen – und wieso blieben die deutschen Behörden nicht hartnäckig, als der erste Kontaktversuch in einer Asylunterkunft scheiterte? Die Antworten auf diese Fragen legten schmerzhafte Leerstellen in der deutschen Asylpolitik offen. Schnelle Besserung ist nicht in Sicht.

Nach Solingen kam Magdeburg, nach Magdeburg kam Aschaffenburg, nach Aschaffenburg kam München, nach München kam Mannheim. Oftmals setzten unter dem Eindruck dieser Taten kurze, hitzige Debatten ein, geführt auf den weltanschaulichen Folien der jeweiligen Lager. Die Politik musste liefern, sie beschloss: Sicherheitspakte, Messerverbote, Verschärfungen im Asylrecht. Die Versuche wirkten zunehmend aktionistisch und hilflos.

Zudem kam nach der ungewöhnlichen Häufung von Anschlägen vor den Wahlen die Frage auf, ob Russland gezielt psychisch labile Einzeltäter beeinflusst oder sogar rekrutiert haben könnte, um das Land im Sinne einer hybriden Kriegführung zu destabilisieren. Die deutschen Sicherheitsbehörden starteten dazu Untersuchungen und überprüften die Hypothese einer gesteuerten Blitzradikalisierung. Doch bis zum Redaktionsschluss dieses Buches gab es für diese Theorie keine belastbaren Hinweise.

Besonders die Tat in Solingen traf im Sommer 2024 einen gesellschaftlichen Schmerzpunkt. Die neue deutsche Unsicherheit war spätestens jetzt in der deutschen Mehrheitsgesellschaft angekommen – und führte zu mitunter schrillen Tönen. Nach dem Anschlag fragte eine große Boulevard-Zeitung jeden Tag prominent im Blatt: «Politiker, was habt ihr heute für unsere Sicherheit getan?»[15] Ein Software-Entwickler programmierte eine Webseite, die polizeilich protokollierte Angriffe mit Stichwaffen aus den Meldungen der Pressestellen der Polizei destillierte und auf einer Deutschlandkarte visualisierte. Die Seite messerinzidenz.de ging im Juli 2024 live, der Betreiber sprach von zeitweise mehr als einer Million Klicks pro Woche.[16] Deutschland war Messerland – oder glaubte es zumindest zu sein.

Von Sein und Schein war schon weiter vorne die Rede. Viele Forscher, die die Wellenbewegungen der Kriminalstatistiken seit Jahrzehnten kennen, zweifeln noch, ob der aktuelle Gewaltanstieg nur einen Ausreißer darstellt oder ob Deutschland wirklich gewalttätiger geworden ist. 312 von 100.000 Einwohnern wurden im Jahr 2024 Opfer eines Gewaltverbrechens.[17] Statistisch gesehen ist so ein Vorfall also immer noch eine Anomalie. Trotz brutaler Taten wie Bad Oeynhausen, Solingen und Mannheim, Magdeburg sowie Aschaffenburg lässt sich eine Erkenntnis aus den Daten gewinnen, die viele überraschen dürfte: Deutschland ist heute immer noch ein sicheres Land. Sicherer als noch in großen Teilen der 1990er-Jahre etwa.

Ein kleines Gedankenexperiment für Sie, liebe Leserin, lieber Leser. Decken sich die objektiven Daten von damals mit Ihrem eigenen Sicherheitsgefühl?

Erstens: Als Gerhard Schröder und Joschka Fischer antraten, um 1998 mit der rot-grünen Koalition ein neues politisches Projekt zu verwirklichen, war die Gefahr, ausgeraubt zu werden, deutlich höher als heute. Zweitens: Im «Sommermärchen»-Jahr 2006 vermerkte die Statistik rund 6,3 Millionen Straftaten,[18] 2024 waren es lediglich 5,8 Millionen[19] – trotz einer großen Migrationsbewegung seit 2015 und etwa zwei Millionen mehr Einwohnern.[20] Drittens: Als Angela Merkel 2018 ihre damals vierte Amtszeit antrat, mussten sich die deutschen Bürger statistisch gesehen noch eher fürchten, Opfer eines Mordes zu werden als im Jahr 2024.[21]

Wieso also glauben viele, Deutschland versinke in den vergangenen Jahren in Gewalt? Die Wissenschaft kennt das Phänomen, dass Menschen die Kriminalität um sich herum tendenziell überschätzen. Im dritten periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung heißt es etwa: Es kann festgestellt werden, dass das «(Un-)Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger einerseits und die ‹objektive› Kriminalitätslage und -entwicklung andererseits oft nicht parallel verlaufen.»[22] Forscher des Zentrums für kriminologische Forschung Sachsen beleuchteten in einer langfristig anlegten Untersuchung die «Kriminalitätsfurcht». Auch hier bestätigt sich: Trotz des Rückgangs der Kriminalität zwischen 2018 und 2022 gaben die Befragten ein anderes Gefühl wieder: 88.52 Prozent gaben entgegen der tatsächlichen Entwicklung an, «dass sie eine Zunahme der Kriminalität insgesamt wahrgenommen hätten», notierten die Forscher.[23]

Deutschland versinkt also nicht in Gewalt, allen Unkenrufen zum Trotz. In früheren Jahrzehnten passierten mehr Morde und es war etwa wahrscheinlicher, auf der Straße ausgeraubt zu werden als heute. Jahrelang kannte die Gewaltkriminalität nur eine Richtung. Sie sank. Doch spätestens seit dem Ende der Coronapandemie erkennen Kriminalisten und Forscher eine Tendenz, die für eine wissenschaftlich fundierte Langzeitentwicklung noch recht frisch ist, aber dennoch zunehmend Grund zur Sorge bereitet.

In Deutschland hat in den vergangenen Jahren eine Verrohung stattgefunden. Die Gewaltkriminalität[24] insgesamt, eine Kategorie, zu der neben tödlichen Angriffen auch Delikte wie Körperverletzungen, Raub und Vergewaltigung zählen, stieg zwischen 2019 und 2024 um 20 Prozent an.[25] Sie liegt damit auf dem Höchststand seit 2007.

Die neue deutsche Unsicherheit, der sich an vielen Stellen im Land nachspüren lässt, hat also einen realen Kern. Im April 2025 stellten die damals noch amtierende Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Chef des Bundeskriminalamts (BKA) Holger Münch die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) vor, den jährlichen «Arbeitsnachweis» der Polizei. Diese Daten zu Tatverdächtigen, Opfern und Delikten haben ihre bekannten Schwächen. Ein Tatverdächtiger etwa, den die Polizei ermittelt hat, ist noch kein verurteilter Täter vor einem Gericht – ihre Ergebnisse dürfen deshalb nicht überinterpretiert werden.[26] Dennoch bleibt die PKS, ergänzt durch Studien über das Dunkelfeld, die aussagekräftigste Annäherung an die Gewaltwirklichkeit der Republik.

«Die Polizei registriert pro Tag rund 600 Gewaltdelikte», erklärte Bundesinnenministerin Faeser, als sie auf dem Podium der Bundespressekonferenz den neuen Höchststand der Gewaltkriminalität seit 2007 verkündete. «Diese Taten prägen das Sicherheitsgefühl der Menschen besonders», sagte Faeser.[27] Zwei Trends stachen dabei besonders hervor: der ungebremste Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität und der hohe Anteil von Ausländern an den Tatverdächtigen, besonders einzelner Nationalitäten. «Über ein Drittel der Tatverdächtigen besitzt keine deutsche Staatsangehörigkeit», erklärte die Bundesinnenministerin beim Blick auf alle Straftaten.

«Besonders auffällig sind für mich die Gewaltanstiege bei Jugendlichen und besonders bei Kindern», sagte BKA-Präsident Holger Münch. Dabei spielten zunehmende psychische Belastungen besonders seit der Coronapandemie eine Rolle, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung zwischen Krise und Inflation. «Wir sehen auch, dass sich gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen zu einem Faktor entwickeln. Die Zahl derer steigt, die einem Satz wie diesem zustimmen: ‹Ein richtiger Mann ist bereit, zuzuschlagen›», sagte Münch.[28]

Wer über Gewalt in Deutschland spricht, muss sich auf Graustufen einlassen. In Feldern wie Mord und Totschlag war es in Deutschland früher gefährlicher. Aber spätestens seit Ende der Pandemie gibt es besorgniserregende Trends, die den Sicherheitsbehörden Kopfzerbrechen bereiten. Ist das Glas also halb leer oder halb voll? Statistiken allein reichen nicht aus, um zu einer fundierten Einschätzung der Sicherheitslage zu kommen. Die Zahlen sagen einiges, aber relativieren wieder anderes. Deshalb begeben wir uns in diesem Buch auch immer wieder auf eine Reise durch Deutschland, auf die Spur der Gewalt.

Etwa in den Westen Deutschlands. Es ist eine laue Sommernacht im Kurpark von Bad Oeynhausen (NRW), ein Abiturjahrgang feiert Mitte Juni 2024 das Ende seiner Schullaufbahn. Schluss mit Formelsammlungen, Tafelabfragen und Gedichtanalyse, der erste Tag des Aufbruchs ins eigene Leben soll gefeiert werden.

Philipos Tsanis, 20 Jahre alt, deutsch-polnisch-griechische Wurzeln, ist an diesem Abend eigentlich nur ein Nebendarsteller. Es ist der Abiball seiner Schwester. Der junge Mann hat sich rausgeputzt: Bilder zeigen ihn im weißen Hemd mit schwarzer Krawatte, um den Hals eine Kette mit silbernem Kreuz, die Haarsträhnen fallen ihm sanft ins Gesicht. Er liebt Musik, unter dem Namen «Swagboipi» produziert und rappt Philipos mit melancholischer Stimme, Tausende streamen die Lieder. Kürzlich ist er in eine eigene Wohnung gezogen, dort stehen noch ungeöffnete Kartons, die Waschmaschine ist nicht angeschlossen. Bald will er eine Ausbildung als Hotelfachmann beginnen. Eine Zeit der neuen Anfänge, auch für ihn.

Gegen 1.20 Uhr verlassen der 20-Jährige und zwei seiner Freunde den «Kaiserpalais» und setzen sich direkt davor auf Holzbänke im Freien. Dort treffen sie auf eine andere Gruppe junger Männer, mindestens sechs an der Zahl. Einer ist Mwafak A., ein damals 18-Jähriger, der aus Syrien stammt und mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Er ist zu diesem Zeitpunkt bereits wegen Gewalt-, Eigentums- und Betäubungsmittel-Delikten polizeibekannt.

Was dann passiert, löst bundesweit Entsetzen aus. Der erste vertrauliche Polizeibericht, der den Autoren dieses Buches vorliegt, fasst die rohe Brutalität des Angriffs in nüchterne Worte[29]: Der Haupttatverdächtige habe sich «plötzlich frontal» auf Philipos gestürzt, so dass dieser nach «hinten umfiel» und mit dem Hinterkopf auf den festen Untergrund aufschlägt. «Der nunmehr über dem Geschädigten sich befindende Tatverdächtige schlägt mehrfach mit der Faust gegen den Kopf.» Auch seine Begleiter können ihn nicht stoppen. Erst nach «vielfachen weiteren Faustschlägen gegen den Kopf» habe der Tatverdächtige von dem am Boden liegenden Geschädigten abgelassen. Der 20-Jährige Philipos erleidet zwei voneinander unabhängige Schädelbrüche und eine Hirnblutung. Nach Angaben der behandelnden Ärzte sei «mit dem Ableben» zu rechnen, notieren die Beamten. Philipos Tsanis erliegt zwei Tage später seinen Kopfverletzungen. «Er wurde umgebracht, knallhart. Da hat sich keiner Gedanken gemacht!», sagt seine Mutter Joanna S. später unter Tränen dem Sender RTL.[30] Sein Tod sendet Schockwellen durch die Republik. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) wünschte sich noch vor dem Prozessstart «eine harte, eine gerechte Strafe».[31] Es gebe keine Umstände, die eine solche Gewalttat rechtfertigen könnten, sagte er bei seiner Rede im Landtag. Gleichzeitig sei jeder Versuch, Philipos schrecklichen Tod für politische Zwecke zu missbrauchen, unerträglich. Die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach in einer ersten Reaktion von «nicht gelungener sozialer Integration» des Täters.[32] Manche deuteten den Satz als Appell an die Mehrheitsgesellschaft – und deren vermeintliche Mitverantwortung. Das brachte ihr massiven Gegenwind ein: Der damalige CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann etwa hielt Faeser eine «Täter-Opfer-Umkehr» vor.

Die Staatsanwaltschaft warf Mwafak A. in ihrer Anklageschrift Totschlag vor – ein Delikt, bei dem die Tatverdächtigen laut PKS 2024 in fast der Hälfte der Fälle Ausländer sind. Das folgt dem grundsätzlichen Trend: Ausländische Tatverdächtige sind in der Kriminalstatistik deutlich überrepräsentiert.[33]

In dem Fall Bad Oeynhausen bündeln sich mehrere Erkenntnisse. Eine zentrale davon lautet: Deutschland hat ein Gewaltproblem bei jungen, oft abgehängten Männern ohne große schulische Bildung und Einkommen. Manche haben einen deutschen Pass, andere wie Mwafak A., der am Abend der Abitur-Feier mit Freunden wie im Rausch geprügelt haben soll, sind im Ausland geboren. Neu ist auch die Gewalt, das Gegen-den-Kopf-treten-und-schlagen, bis der andere sich nicht mehr rührt. Ein vormals geltender Ehrenkodex, wonach man nicht auf jemanden eintritt, der am Boden liegt – er zählt scheinbar nicht mehr.

2016 kam Mwafak A. mit seiner Familie aus Syrien in die Stadt Pforzheim, zuerst lebten sie in einer kleinen Asylunterkunft, später in einer 3-Zimmer-Wohnung. Die Familie siedelte dann nach Bad Oeynhausen, die genauen Hintergründe für den Umzug sind unklar. Mwafak A. musste sein freiwilliges soziales Jahr in einem Krankenhaus und den geplanten Hauptschulabschluss in Pforzheim abbrechen.[34] Vor dem verhängnisvollen Sommerabend ermittelte die Polizei immer wieder gegen den 18-jährigen Syrer. Nur einmal verurteilte das Amtsgericht Bad Oeynhausen ihn wegen schweren Diebstahls zu 60 Stunden gemeinnütziger Arbeit.

Doch die Vorwürfe rund um die Abiturfeier im Kurpark sind von anderem Kaliber. Mitte Dezember 2024 begann das Verfahren gegen Mwafak A. und zwei deutsche Mitangeklagte vor dem Landgericht Bielefeld, Nick R. und Ferdinand D. Sie sollen einen Freund von Philipos verletzt haben. Der Prozess brachte neue Details ans Licht, die den Tathergang nicht mehr so eindeutig erscheinen lassen – zunächst zumindest. An der entscheidenden Stelle, nämlich bei der Frage, wer Philipos T. die tödlichen Schläge verpasste, blieben die Zeugenaussagen unscharf, drucksten die Tatverdächtigen herum und widersprachen sich selbst. Als ein Zeuge sich wieder einmal nicht richtig erinnern wollte und davon sprach, «dass er das in seinem Kopf gerade nicht mehr richtig zusammenbekäme», platzte Richter Carsten Glashörster der Kragen. «Da scheiß’ ich drauf!», schmetterte der sonst ruhige Richter dem jugendlichen Zeugen entgegen.[35]

Doch dann tauchten gegen Ende des Verfahrens zwei Videos auf, kurze Smartphone-Clips der Tat, die Mwafak A. schwer belasteten. Ein Zeuge erklärte während seiner Aussage fast beiläufig, dass einige Herumstehende an dem Abend ihr Handy gezückt und die Tat gefilmt hätten. Die Polizei fand die Videos dann auf einem schon konfiszierten Smartphone.

Als die Videos Anfang April 2025 im Gerichtssaal vorgespielt werden, verlässt der Vater von Philipos den Saal.[36] Die Aufnahmen zeigen zwei Männer, die sich prügeln, umringt von johlenden Zuschauern. Auf den hektischen Bildern zu sehen sind der Mitangeklagte Ferdinand D. und ein Bekannter von Philipos, Max A. Entscheidender ist, was am Bildrand passiert: Eine zurückweichende Person wird von einem Mann mit einer orangenen Jacke verfolgt – laut Zeugen soll Mwafak A. an diesem Abend solch ein knalliges Kleidungsstück getragen haben. Später im Video liegt Philipos regungslos am Boden, der Mann in der orangenen Jacke beugt sich über ihn. Im zweiten Video sieht man den Angeklagten, wie er eine schwarze Umhängetasche trägt. Es ist die Tasche, die Philipos gehört.

Anfang Mai 2025 verurteilt das Landgerichts Bielefeld Mwafak A. wegen versuchten Totschlags, Diebstahls und gefährlicher Körperverletzung zu neun Jahren Haft.[37]

Die willkürliche und rohe Gewalt dieser Tat wühlte auf und beeinträchtigte das allgemeine Sicherheitsgefühl vieler Menschen. Darum ist es nicht gut bestellt, das zeigen auch «Dunkelfeld»-Studien zu Taten, die nicht angezeigt werden: In der jüngsten Erhebung im Auftrag des Landeskriminalamts Niedersachsen etwa gab jeder Dritte an, im vergangenen Jahr Opfer mindestens einer Straftat geworden zu sein. Diese sogenannte «Opferwerdungsrate» stieg seit 2020 wieder deutlich.[38] Ähnliches gilt für eine andere bundesweite Größe, die Kriminalisten seit 2000 erheben: die sogenannte Opfergefährdungszahl. Alle Opfer, die die Polizei registriert hat, werden ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung gesetzt. So ergibt sich eine (statistische) Wahrscheinlichkeit jedes Einzelnen, Opfer einer Straftat zu werden. 312 von 100.000 Einwohnern wurden 2024 Opfer einer Gewalttat, im Jahr 2023 waren es 302. Das sind die höchsten Werte seit 2009.[39] Sollte sich dieser noch frische Trend weiter verfestigen, kommen stürmische Zeiten auf das Land zu –auch, weil sich die mediale Öffentlichkeit im Vergleich zu früheren Jahrzehnten völlig gewandelt hat. Die Gewalt- und Terrorschnipsel, die nach jedem Anschlag, nach jeder Messerattacke die sozialen Medien fluten, dürften ihre Wirkung auf das Sicherheitsgefühl vieler Menschen nicht verfehlen.

Der Messerangriff eines Islamisten auf dem Mannheimer Marktplatz im Mai 2024 etwa war zufällig in einem Livestream des Islam-Kritikers Michael Stürzenberger zu sehen, dem der Anschlag eigentlich galt. Die brutalen Hiebe mit dem Messer, die den Polizist Rouven Laur töteten, wurden tausendfach geteilt und verbreitet. Auch Chatgruppen wie WhatsApp und Telegram wirken in der Gewaltdebatte wie ein riesiges Megafon: Sie holen eine brutale Tat irgendwo in der Republik ganz nah an die eigene Lebenswirklichkeit heran und brennen die Bilder der Gewalt im emotionalen Gedächtnis ein.

Gleichzeitig sind die sozialen Medien auch eine Bühne, besonders für junge Täter: Gewalt und deren Vermarktung bringt Aufmerksamkeit und Klicks und festigt den eigenen Ruf als harter Kerl. Messengerdienste wie Telegram und das Darknet mit seinen Plattformen für illegale Geschäfte machen es dabei so leicht wie nie, an Drogen und Waffen zu kommen und den vermeintlichen Vorbildern aus den Rap-Videos nachzueifern.

Auch einzelne extreme Taten, häufig flankiert von schwer zu vergessenden Bildern, verfehlen ihre Wirkung nicht. Die gesellschaftliche Be- und Verarbeitung von Gewalt prägt die Wahrnehmung, weniger amtliche Statistiken. Oder wie es ZDF-Talkmaster Markus Lanz formulieren würde: «Das macht etwas mit den Leuten.» Und manche ziehen daraus ihre eigenen Schlüsse.

Anruf bei Dominik Lansen, er führt eine Kampfsportschule im Kölner Westen.[40] Spezialisiert sind Lansen und seine Trainer auf Krav Maga, das israelische Selbstverteidigungssystem, das ursprünglich für Soldatinnen und Soldaten der Armee entwickelt wurde. Der Kern: Abwehr von Angriffen jeder Art.

«Die ersten sechs Wochen dieses Jahres waren sehr intensiv», erinnert sich Lansen im Frühjahr 2025 an die Zeit nach den Anschlägen in Magdeburg, Aschaffenburg und München. «Wir wurden von neuen Kunden regelrecht überrannt.» Seit den sexualisierten Übergriffen rund um die Kölner Silvesternacht 2015 habe er nicht mehr so einen Ansturm erlebt. Lansen führt mit jedem Kunden ein Gespräch, er will die Motivation der Menschen verstehen. «Viele sagen: Ich wollte schon immer mal Selbstverteidigung ausprobieren. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt.» Etwa die Hälfte der Neuankömmlinge sind Erwachsene, die andere Gruppe Jugendliche und Kinder. Lansens Eindruck: «Früher waren manche Szenarien, die wir trainieren, für die Teilnehmer ziemlich abstrakt, weit entfernt von der eigenen Lebensrealität. Heute hören alle genauer zu – gerade beim Thema Messer.»

Ein halbes Jahr vor dem Telefonat besuchten die Reporter dieses Buches das Kampfsportzentrum in einem Kölner Industriegebiet schon einmal.[41] Das Messerattentat von Solingen lag damals im heißen Sommer 2024 eine knappe Woche zurück. An diesem schwülen Abend helfen Eltern ihren Kindern beim Umziehen, an den Wänden baumeln Trainingshandschuhe, auf dem glänzenden Mattenboden liegen Messerattrapen aus Schaumstoff bereit. Dominik Lansen hat sich für diesen Abend einen Trainings-Schwerpunkt ausgesucht, der in jenen Tagen allgegenwärtig erscheint: der Messerangriff.