Neue Dramaturgien - Eva-Maria Fahmüller - E-Book

Neue Dramaturgien E-Book

Eva-Maria Fahmüller

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Beschreibung

Welche neuen dramaturgischen Fragen entstehen in unserer globalisierten und digitalisierten Welt? Das Erzählen für Film und Fernsehen verändert sich im Kontext von vereinzelten und gleichzeitig digital vernetzten Lebenswelten. Doch eine dramaturgische Diskussion darüber findet erst in Ansätzen statt: Welche neuen Überlegungen können zu einem zeitgemäßen Umgang mit Geschichten beitragen? Reicht es noch aus, heutige Drehbücher auf 2500 Jahre alte Grundlagen aus aristotelischer Poetik und Mythologie aufzubauen? Neue Dramaturgien reflektiert den Stand der gängigen Handbücher und deckt Leerstellen auf. Doch vor allem erforscht das Buch zurzeit maßgebliche, bislang kaum beachtete Entwicklungen. Was bedeutet es, Geschichten world-driven zu erzählen? Welche Perspektiven entstehen im Umgang mit Figuren, mit Raum und Zeit, mit Genre und Stil? Nicht zuletzt geht es um Quality-Serien, die aktuelle Veränderungen widerspiegeln, und es geht um die Strahlkraft ihrer dramaturgischen Elemente. Denn diese prägen zunehmend die Wahrnehmung und das Verständnis des Erzählens insgesamt. Gerade in der aktuellen Umbruchsituation wird deutlich, dass Neue Dramaturgien immer auch Gesellschaftstheorien sind.

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Über die Autorin

Eva-Maria Fahmüller studierte Neuere Deutsche Literatur und Philosophie an der Philipps-Universität Marburg und der Freien Universität Berlin. Sie promovierte über postmoderne Strömungen in der deutschen Literatur um 1990.

Seit 2000 arbeitet sie als freie Dramaturgin für Film und Fernsehen. Sie ist außerdem als Dozentin tätig unter anderem an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf und der Master School Drehbuch, die sie 2009 als Inhaberin übernahm. Dort veranstaltet sie zahlreiche Aus- und Weiterbildungsangebote für Drehbuchautoren und Stoffentwickler wie das knapp viermonatige Vollzeit-Programm „Ausbildung zum Autor für Film & TV“ mit jeweils circa 20 Dozenten und Gästen.

Eva-Maria Fahmüller ist seit 2007 Vorstandsmitglied, seit 2016 Vorsitzende von VeDRA, dem Verband für Film- und Fernsehdramaturgie e.V. Sie ist Mitveranstalterin der Tagung FILMSTOFFENTWICKLUNG und verantwortet dort unter anderem die Gesprächsreihe „Neue Dramaturgien“.

AUS FREUDE AM DENKEN!

Schriften zu dramaturgischen und filmwissenschaftlichen Aspekten

Die Master School Drehbuch bietet seit 1995 Seminare und Lehrgänge in den Bereichen Drehbuchschreiben und Dramaturgie an.

Der stets angeregte Austausch unserer Dozentinnen und Dozenten über verschiedene dramaturgische und filmwissenschaftliche Aspekte war unsere Motivation, im Jahr 2015 die Master School Drehbuch EDITION zu gründen und Texte unterschiedlicher Länge zunächst als eBooks in digitaler Form zu publizieren. Seit Herbst 2017 sind einige dieser Schriften auch als Print-Version erhältlich.

Es ist unser Ziel, unseren Gedanken und Überlegungen in einem eigenen Verlag ein Forum zu bieten. Es macht uns Freude, tiefer in bestimmte dramaturgische und filmwissenschaftliche Themen einzusteigen.

Leserinnen und Lesern bieten unsere Texte einen kompakten und übersichtlichen Zugang. Einzelne dramaturgische und filmwissenschaftliche Aspekte werden intensiv und prägnant beleuchtet.

Mit Dank an Herbert Fustermanns, Hildegard und Hans Fustermanns,

Frauke Schmickl, Corinna Fischer-Elert, Roland Zag, Oliver Schütte

INHALT

Vorwort von André Georgi

Einblick

AKT

Rückblick auf die großen Einheitsstifter

Die Perspektive weitet sich

AKT

Mit Figuren zu einem neuen Blick auf Ambivalenz und Empathie

Ambivalenz

Empathie

Panorama

Gesellschaftlicher Bezug

Film- und Fernsehkritik Deutschland

Möglichkeiten der Dramaturgie

Mit Transmedia zu einem neuen Blick auf Raum und Zeit

Raum

Zeit

Panorama

Gesellschaftlicher Bezug

Film- und Fernsehkritik Deutschland

Möglichkeiten der Dramaturgie

Mit Erzählmustern zu einem neuen Blick auf Genre und Stil

Genre

Stil

Panorama

Gesellschaftlicher Bezug

Film- und Fernsehkritik Deutschland

Möglichkeiten der Dramaturgie

AKT

Der neue Blick auf Serien

Ausblick

Quellen

„O ihr Verfertiger allgemeiner Regeln, wie wenig versteht ihr die Kunst, und wie wenig besitzt ihr von dem Genie, das die Muster hervorgebracht hat, auf welche ihr sie bauet, und das sie übertreten kann, sooft es ihm beliebt!“ (G.E. Lessing)

Lessing, G.E.: Hamburgische Dramaturgie. Stuttgart 1999, S. 248 (Erster Band, 48. Stück).

VORWORT VON ANDRÉ GEORGI

Filmdramaturgie hat in Deutschland einen schweren Stand. Ihre Kritiker1 belächeln sie, weil sie mit den Plot- und Strukturmodellen, die die Filmdramaturgie bereitstellt, eine Art „Malen nach Zahlen“ verbinden – standardisierte Rezepte, die immer ähnliche Resultate hervorbringen. Filmdramaturgie, so das gängige Vorurteil, ist kreativitätstötend, einseitig rational und normativ. Sie ist nämlich – irgendwo zwischen Handwerk und Wissenschaft angesiedelt – immer empirisch und hinkt deshalb der tatsächlichen dramaturgischen Entwicklung, die – zumal im „Golden Age“ des TV – bisweilen rasant ist, notwendigerweise hinterher.

In diesem Vorurteil steckt ein kleines Körnchen Wahrheit, weil die Gurus der (boomenden und) kompetitiven amerikanischen Dramaturgieszene ihre aus einem großen Kanon an (Fernseh-)Filmen deduzierten Rezepte gerne mit einem Hang zum Normativen verbreiten.

Und in diesem Vorurteil steckt noch ein etwas größeres Körnchen Wahrheit, weil die Filmdramaturgie gerade dann, wenn sie sich bemüht, nicht einfach doktrinär zu setzen, wie Qualität zu erreichen sei, tatsächlich zutiefst empirisch und deshalb also jederzeit falsifizierbar ist: Jede neue Fernsehserie, jeder neue Film und – etwas evolutionärer gedacht – jede Entwicklung in mittleren Zeiträumen kann widerlegen, was zuvor dramaturgischer Standard war. Zum Beispiel wurde noch vor zehn Jahren zumindest für die Hauptfigur eine „Backstorywound“, ein Ghost oder ein Trauma gefordert, aus dem heraus die Figur zu verstehen sei. Inzwischen reagieren das Publikum und die Dramaturgie selbst häufig nur noch genervt, wenn der (Fernseh-)Film mal wieder am Glöckchen „Backstorywound“ der Figur klingelt. Was einst fast ein Dogma war, ist heute (fast) ein No-Go, ein leergelaufenes Schema, ein abgenutzter Trick. Filmdramaturgische Erkenntnisse überleben sich häufig genau deshalb, weil sie so gut waren und entsprechend häufig in der Stoffentwicklung umgesetzt wurden – bis ihre Qualität ins Gegenteil kippt.

Trotz dieses Fünkchens Wahrheit ist der antirationale und antinormative Affekt, den Filmdramaturgie häufig hervorruft, nicht plausibel. Wer mit Stoffentwicklung zu tun hat, arbeitet auf dem Boden dramaturgischer Standards – implizit oder explizit. Warum mir ein Stoff gefällt oder warum ich ihn in diese oder jene Richtung entwickle, hat – neben Fragen des persönlichen Geschmacks – mit dramaturgischen Entscheidungen zu tun, deren Grundlagen mir bewusst sein können oder eben nicht. Sehr viel besser aber ist es, Zugang zu den dramaturgischen Kriterien (und übrigens auch zu denen des eigenen Geschmacks) zu haben, nach denen ich entscheide. Andernfalls ist die Gefahr der (unbewussten) Wiederholung des Immergleichen wesentlich größer.

Einen noch schwereren Stand als die Filmdramaturgie selbst haben es in Deutschland die Filmdramaturginnen. Warum das so ist? Vielleicht ist den Sendern und/oder Produzenten eine Filmdramaturgin zu teuer. Vielleicht hat man den Eindruck, dass schon genug Leute und Meinungen am runden Tisch mit den Keksen sitzen. Und vielleicht denken auch viele von ihnen, sie wüssten aufgrund ihrer Ausbildung oder Praxis ohnehin, was Filmdramaturgen wissen. Denn das ist das heimliche Schicksal der Filmdramaturgie, mit dem sie leben muss: Alle denken, sie verstünden etwas davon. Tatsächlich artikulieren alle aber nur ihre Bauchgefühle, Geschmacksurteile, senderpolitische No-Gos, Budgetprobleme, Regiestile oder Besetzungsversprechen und halb verdauten Intuitionen – und verwechseln sie mit Dramaturgie.

Eva-Maria Fahmüller ist eine Dramaturgin, die wirklich etwas von ihrem Geschäft versteht – theoretisch und praktisch. Ihr Buch ist up to date, denn es löst sich vom Standard und zeigt die Richtungen auf, die in Zukunft relevant sein werden. Es hilft nicht nur den Filmdramaturginnen, ganz neue Diskussionen zu führen. Es hilft auch der Filmdramaturgie selbst, die auf dem Weg ist, sich von einer manchmal ominösen Ratgeberliteratur hin zur Wissenschaft zu bewegen und sich neu zu finden. Wenn Syd Fields Buch Screenplay 1979 das Inaugurationsdatum der eigentlichen Filmdramaturgie war, die nach großen Ansätzen zur Figurendramaturgie bei Linda Seger und den großen Plotstrukturmodellen der Heldenreise und der 3-Akt-Struktur einen ersten großen Höhepunkt in der 8-Sequenz-Methode von Frank Daniel und seinen Adepten erreicht hat, wird die Filmdramaturgie heute, um ihren 40. Geburtstag etwa, so langsam erwachsen.

Besonders stark hat sich in den letzten Jahren die Dramaturgie der Figur entwickelt. Dramaturgien des seriellen Erzählens und Dramaturgien des Erzählens in Hyperlink-Strukturen schließlich stehen vor dem Problem, dass das Material, das sie reflektierend auf den Begriff bringen wollen, in seiner schieren Masse quasi explodiert. Es ist äußerst schwierig, all das im Blick zu behalten und dramaturgisch zu erfassen, ohne bekannte Rezepte einfach nur wiederzukäuen.

Eva-Maria Fahmüller gibt uns einen Leitfaden an die Hand – komplex genug, um von den großen (und manchmal grandiosen) Universalisten Truby und McKee, mit denen die Post-Frank-Daniel’sche Phase der Filmdramaturgie zu Ende geht, nicht zerquetscht zu werden. Aber auch zukunftsweisend und pointiert genug, um der Filmdramaturgie einen Platz an all den runden Tischen mit den Keksen zu sichern, an denen Stoffentwicklungsprozesse ablaufen. Und schließlich praxisrelevant und anregend genug, um der Filmdramaturgie einen Platz an den eckigen Schreibtischen mit den Monitoren zu sichern, an dem wir – die Autorinnen und Autoren – nach dem suchen, was wir alle zu finden hoffen und fast nie erreichen: Eine Geschichte, so originell, dass sie die Filmdramaturgie wiederum zum Umdenken zwingt.

1 Im Folgenden wird abwechselnd die weibliche oder die männliche Form genannt. Gemeint sind dabei immer beide Geschlechter.

EINBLICK

Seit einigen Jahren ist bei Kreativen, Macherinnen, Vermarktern und Zuschauerinnen eine Umbruchsituation spürbar. Auf Tagungen und Festivals, in Blogs und Feuilletons wird darüber diskutiert, wie sich die Film- und Fernsehbranche den aktuellen Herausforderungen stellen kann. Dabei geht es um eine Sehnsucht nach innovativen deutschen Kinofilmen. Allgegenwärtig sind außerdem Themen rund um transmediale Welten, Pay-TV und sogenannte Quality- oder High-End-Serien.

Viele der neuen Aufgaben sind mit der Digitalisierung verknüpft. Doch nicht nur technische, sondern auch gesamtgesellschaftliche Veränderungen spielen bei der Suche nach zeitgemäßen Geschichten eine Rolle: Ein individuell gestalteter Medienkonsum, die wachsende Vielfalt und Gleichzeitigkeit von Ereignissen sowie die Suche nach Identität im Kontext von vereinzelten und gleichzeitig digital vernetzten Lebenswelten haben Einfluss auf Inhalte und Formen des Erzählens.

Einige Filme und Serien spiegeln die Umbruchsituation bereits. Die praktische Dramaturgie hat neue Perspektiven entdeckt. Damit hat sie allerdings die Theorie überholt. Denn eine Diskussion über die Hintergründe und Möglichkeiten dieses Wandels findet erst in Ansätzen statt. Die Zahl der Drehbuchratgeber wächst nach wie vor – doch beschreiben auch neue Handbücher meist altbekannte Überlegungen – von einer Hauptfigur, einem dem Want und Need vergleichbaren Antrieb und einem an das Drei-Akt-Modell oder die Heldenreise angelehnten Plot. Demgegenüber werden zeitgemäße Aspekte, die der aktuellen Entwicklung geschuldet sind, nur vereinzelt genannt.

Angesichts dessen scheint es geboten, den Stand der dramaturgischen Schriften zu reflektieren, Leerstellen aufzudecken und neue Ansätze auszuloten.

In Anlehnung an meine Gesprächsreihe „Neue Dramaturgien“ bei der Tagung FilmStoffEntwicklung2 werde ich in diesem Text die drei zurzeit maßgeblichen, aber in der Dramaturgie noch nicht intensiv genug betrachteten Veränderungen erörtern. Mehr als grob skizzieren lassen sich die aufgezeigten Gesichtspunkte in diesem Rahmen nicht. Allerdings arbeite ich jeweils eine Richtung heraus, in die weitergedacht werden könnte.

Um das große Feld der Dramaturgie zumindest ein Stück einzugrenzen, beziehe ich mich vor allem auf den deutschsprachigen Raum, das heißt auf das, was aus dramaturgischer Sicht hierzulande gelesen, diskutiert, entwickelt und produziert wird. Viele weitere Überlegungen zu den einzelnen Themen, genauso wie zu weiteren dramaturgischen Leerstellen sind möglich. Einen Anspruch auf Vollständigkeit kann es nicht geben.

Die wichtigsten Schritte:

1. AKT:

Eine eingeschränkte dramaturgische Perspektive ist entstanden durch die Einheitsdramaturgie der 90er Jahre, die sich vornehmlich auf Interpretationen der aristotelischen Poetik und die Heldenreise bezieht. Die Differenzierungen und Psychologisierungen der „New School“ brechen diese nur ansatzweise auf.

2. AKT:

Abweichende Aspekte werden von den gängigen Dramaturgien noch nicht ausreichend erfasst und bedürfen einer zeitgemäßen Betrachtung.

Die maßgeblichen Entwicklungen in drei Kapiteln sind zum Ersten: Figuren – Ambivalenz und Empathie, zum Zweiten: Transmedia – Raum und Zeit sowie zum Dritten: Erzählmuster – Genre und Stil.

Zum Verständnis der einzelnen Themen dienen mir Konzepte aus der Film- oder Literaturwissenschaft, der Semiotik, dem Bereich der Game Studies oder der filmischen Praxis. Daraus werden Überlegungen zum Weiterdenken abgeleitet. Jedes Kapitel beschreibt aber auch vorhandene Ansätze aus der Dramaturgie. Welche Modelle gibt es? Wie umfassend sind sie? Worauf können sie keine Antwort geben?

Unter dem Stichwort „Panorama“ gehe ich jeweils noch auf die gesellschaftliche Dimension des Themas ein, erlaube mir eine kurze, subjektive Kritik des deutschen Film- und Fernsehmarktes und benenne weitere dramaturgische Möglichkeiten.

3. AKT:

Zumindest bei der Entwicklung von Quality-Serien ist die Praxis der Dramaturgie weit voraus. Denn alle hier genannten theoretischen Aspekte finden ihre Entsprechung im zeitgemäßen seriellen Erzählen. Allerdings verliert der Serienboom in mancher Hinsicht bereits wieder an Innovationskraft. Ganz am Ende steht deshalb die Frage, inwieweit sich das Erzählen insgesamt verändert hat.

Meine Reflexionen münden in einen Gedanken: Es scheint aus vielerlei Gründen angebracht zu sein, Filmgeschichten gezielter zu nutzen, um die Imagination des Zuschauers anzuregen.

Des Weiteren hoffe ich auf mehr Vielfalt – bei dramaturgischen Überlegungen, aber auch im Kino und Fernsehen, bei Filmen und Serien. Der deutsche Markt braucht starke Visionen und starke Geschichten. Vielleicht inspiriert der ein oder andere neue Blickwinkel in diesem Text Dramaturginnen, Autoren und andere Stoffentwicklerinnen dazu, neue Ansätze in ihrer praktischen Arbeit zu bedenken, innovative Herangehensweisen zu finden oder gängige Erzählweisen konsequenter auszuschöpfen.

Es ist meine Überzeugung, dass wir bislang – trotz Plot Points, Beats und Steps, Desire, Dilemma und Human Factor – erst teilweise verstanden haben, welche Wirkung Filmgeschichten weshalb ausüben. Jede weitere Überlegung ist inspirierend. Es ist mein Ziel, die Leserinnen und Leser dieses Textes für weitere Ansatzpunkte in der Dramaturgie zu sensibilisieren.

Für mich bedeutet es die größte Freude, in einem Beruf zu arbeiten, der die Möglichkeit bietet, das eigene Wissen und Verständnis unentwegt zu erweitern. Die Suche nach neuen dramaturgischen Perspektiven und das Schreiben an diesem Text hat auch meine praktische Arbeit als Dramaturgin bereichert.

2 „FilmStoffEntwicklung – Tag der Dramaturgie“ wird alle zwei Jahre vom Verband für Film- und Fernsehdramaturgie e.V. (VeDRA) in Berlin veranstaltet.

1. AKT

Die neueren filmischen Entwicklungen scheinen vor allem die Vielfalt zu fördern: Auffällig ist die thematische wie ästhetische Bandbreite internationaler, modern erzählter Serien wie GAME OF THRONES, HOUSEOF CARDS oder DIE BRÜCKE; daneben existiert die interaktive Welt der Games mit Geschichten, die sich besonders für ein transmediales Storytelling eignen; im öffentlich-rechtlichen Fernsehen dominieren Krimiserien und TV-Movies; in der deutschen Kinoproduktion lässt sich eine Kluft feststellen zwischen publikumsstarken Kinokomödien wie FACK JU GÖHTE und WILLKOMMEN BEI DEN HARTMANNS sowie einer Fülle von kleinen Produktionen mit einer jeweils begrenzten Zielgruppe. Nur selten gibt es internationale Festivalgewinne wie bei TONI ERDMANN, der außerdem, mit knapp 900.000 Zuschauern, ein beachtenswerter Publikumserfolg ist. Die Erzählweisen, Nutzungsarten und Aufmachungen dieser Produktionen scheinen grundsätzlich nur noch wenig miteinander gemein zu haben.

Die Entwicklung von der Einheit zur Vielfalt spiegelt sich auch in der Dramaturgie. In einem chronologischen Abriss und in groben Zügen werde ich zu Beginn den Werdegang des dramaturgischen Verständnisses und dessen Rezeption in Deutschland seit den 90er Jahren nachvollziehen. Dabei wird deutlich, dass sich durch gängige, aber auch neuere dramaturgische Handbücher, so von John Truby und anderen, im Laufe der Zeit zwar unterschiedliche Herangehensweisen etabliert haben. Doch bleiben diese letztlich einer zentralen Perspektive verhaftet, bei der wesentliche dramaturgische Aspekte wie Empathie, Raumgestaltung oder Stil nur in Einzelfällen erwähnt werden.

RÜCKBLICK AUF DIE GROSSEN EINHEITSSTIFTER

Ende der 80er Jahre wächst in Europa und Deutschland das Bedürfnis, Drehbuchschreiben nicht mehr nur als Mischung aus Talenten und Erfahrungswerten zu verstehen, sondern auch als Handwerk. Erste Orientierung bieten amerikanische Handbücher, allen voran „Screenplay. The Foundations of Screenwriting“3 und andere Bücher von Syd Field. Damit etablieren sich auch im deutschsprachigen Raum dramaturgische Ideale mit dem Anspruch, ein Modell für alle Geschichten aufzuzeigen. Sie zeigen die Freude an dem Gedanken, dass es tradierte Grundprinzipien guten Erzählens gibt, die es zu ergründen und anzuwenden gilt. Robert McKee propagiert: „Wir brauchen eine Wiederentdeckung der grundlegenden Lehrsätze unserer Kunst, der Leitprinzipien, die Talente freisetzen.“4 Dahinter steht die Vorstellung, dass Erzählen in bestimmten Mustern universales menschliches Erleben spiegelt – oft zurückgeführt auch auf die Mythosstudien von Joseph Campbell und die spirituell ausgerichtete Psychologie von Carl Gustav Jung. So schreibt Robert McKee: „Die archetypische Story bringt eine universale menschliche Erfahrung ans Licht und findet dann einen einmaligen kulturspezifischen Ausdruck.“5 Noch über die individuelle Biografie hinaus meint „universal“ im Kontext einer solch „archetypischen Story“ oder Heldenreise zumeist eine hinter dem Wahrnehmbaren existierende, für alle gleichermaßen geltende Wahrheit. Nach Campbell ist diese in ganz unterschiedlichen tradierten Geschichten aus allen Kulturen und Zeiten (Mythen) zuverlässig zu erkennen.6 Für den auch in Deutschland viel gelesenen Filmdramaturgen Christopher Vogler entsteht der Eindruck, dass „die Reise des Helden tatsächlich irgendwo existiert – als ewige Wirklichkeit, als platonische Urform des Seienden, als göttlicher Entwurf.“7 Seinen Erfolg in der Stoffentwicklung bezieht nicht nur Voglers Modell aus dem Gedanken, dass die Zuschauerin dieselbe „ewige Wirklichkeit“ oder Wahrheit in sich trägt. Anders gesagt: Die Zuschauerin durchläuft auf dem Weg zur Entwicklung ihres Selbst dieselben Stadien wie der Held, der im Laufe der Reise seine anfängliche Charakterschwäche überwindet. Die Zuschauerin berühren deshalb Geschichten tief und nachhaltig, wenn deren Plot stark am Modell dieses sogenannten Monomythos orientiert ist und deren Figuren nach archetypischen Mustern entwickelt sind. Grundlage für zahlreiche Drehbuchmodelle bildet also ein mystisches Menschenbild, für das die Weiterentwicklung oder Reifung des sogenannten Selbst etwas dem Menschen a priori Gegebenes ist – nicht nur eine mögliche Interpretation oder Dramatisierung von zumeist episch erzählten Mythen oder eine weit verbreitete Sehnsucht oder ein häufiges, aber nicht notwendiges Streben. Eine weitere Begründung erfährt diese Prämisse nicht.

Die andere, etwas greifbarere Bezugsgröße, auf die sich viele Modelle beziehen, ist Aristoteles. Er schreibt in der „Poetik“8 über die griechische Tragödie, die sich auch aus den lokalen Mythen speist. Aristoteles definiert die Tragödie als geschlossene Handlung mit einem Helden, der sein Unwissen oder seine Charakterschwäche nicht überwindet, sondern gerade durch sie ins Unglück stürzt (im Gegensatz zur Heldenreise). Beim Zuschauer erregt dies Furcht und Mitleid und führt schließlich zu seiner Katharsis.9 Der Autor Gustav Freytag veröffentlicht 1863 mit „Die Technik des Dramas“ ein viel beachtetes Lehrbuch, in dem er die aristotelische Tradition als Ausgangspunkt der Theaterdramaturgie10 beschreibt. Er fasst das ideale Drama in eine pyramidale Form – von der Exposition ansteigend, nach einem Höhe- oder Mittelpunkt wieder fallend, hin zur Katastrophe. Eine solch bogenförmige Struktur findet sich auch in der Filmdramaturgie.11 In Anlehnung an die aristotelische Poetik geht es dabei außerdem um die Einheit der Handlung; alle Elemente haben eine Funktion für das Gesamte der Geschichte. Des Weiteren erzählt die Drei-Akt-Struktur eine Entwicklung des Protagonisten, die ebenfalls eine kathartische, zumindest emotionale Wirkung auf die Zuschauerinnen hat. Abgeleitet wird daraus eine aktive Hauptfigur mit einem konkreten Ziel, die die äußere Handlung gegen größtmögliche Widerstände und erschütternde Erlebnisse vorantreibt, verbunden mit ihrer inneren Entwicklung.

Unterschiede zur Dramentheorie des Theaters werden im Filmbereich selten diskutiert. Wie auch von Gustav Freytag benannt, spielt beispielsweise die Peripetie, der Umschwung der Handlung, in der Mitte der Geschichte traditionell eine noch signifikantere Rolle als der Midpoint eines Films.12 Auch ein heutiges dramaturgisches No-Go wie ein „Deus-ex-machina-Schluss“13 war üblich in der antiken Tragödie und im Sinne Aristoteles’. Insgesamt scheint der ständige Rückbezug auf Aristoteles eine sehr gut nutzbare, in Details aber mehr oder weniger ungenaue Interpretation zu sein.

Es lässt sich also festhalten: In den 90er Jahren ist der Rückbezug auf zwei große dramaturgische Einheitsstifter Usus – die Heldenreise und die aristotelische Poetik. In manchen Handbüchern wird gleich auf beide Bezug genommen; sie müssen nicht unverbunden nebeneinander betrachtet werden. Von Christopher Vogler wird eine elegante Querverbindung formuliert: „Selbstverständlich durchzieht das mythische Bewusstsein auch Aristoteles’ Idee des Dramas, denn viele Schauspiele, über die er schrieb, entsprangen unmittelbar den Mythen der Kultur, in der er lebte.“14

Im Laufe der Jahre etabliert sich damit eine dramaturgische Tradition, die in großen Teilen an eine standardisierte Interpretation altbewährter Formen angelehnt ist, sich dabei aber zumeist als undogmatisch erklärt.15 Sie bietet Orientierung, weil sie den Genius (oder die Begabung oder die Sehnsucht danach) mit dem Handwerk konfrontiert. Sie gibt dem bislang Ungeordneten eine Sprache, die als überaus schwierig und wertvoll behauptet wird, aber erfreulicherweise als Handwerk erlernbar ist: „Das bemitleidenswerte Individuum, das den inneren Drang verspürt, fürs Kino zu schreiben, braucht neben Talent noch eine ganze Menge mehr. Zum Glück handelt es sich dabei um Dinge, die erlernbar sind.“16

Viele dramaturgische Überlegungen, die in dieser Zeit wurzeln, beantworten die Frage „Wie erzählt man eine gute Geschichte?“ mit Rückbezug auf einen allem zugrunde liegenden Ursprung, einer Art menschlicher Essenz, die die dramatische Form bestimmt.

In diesem immer ähnlichen Gefüge gibt es trotzdem viel Raum für unterschiedliche Inhalte. Das zeigen im deutschen Kino so unterschiedliche Beispiele wie KNOCKIN’ ON HEAVENS DOOR, 7 ZWERGE – MÄNNERALLEIN IM WALD und VIER MINUTEN, die sich leicht im Sinne der Lehrbücher interpretieren und verstehen lassen. Darüber hinaus sind innerhalb des einen Musters auch zahlreiche formale Spielarten und Varianten möglich, ohne das Grundprinzip zu verletzen – vom ziellosen Protagonisten über den Ensemblefilm bis zur Zeitschleife wie in LOLA RENNT. Dort wird in drei aufeinanderfolgenden, dramatisch aufgebauten Episoden auf die jeweils selbe Zielfrage („Wird Lola es schaffen, in zwanzig Minuten 100.000 DM aufzutreiben?“) stets eine andere Antwort gegeben.17 Nicht nur dieses Beispiel zeigt: Das Einheitsprinzip bietet viel Platz für Originalität – einerseits.18

Andererseits tragen die Dramaturgien der 90er Jahre die Gefahr von Wiederholung und Abnutzung in sich. Zahlreiche dramaturgische Aspekte finden im Rahmen der gängigen einheitlichen Überlegungen zu wenig Raum, um die Möglichkeiten des Erzählens auszuweiten oder reichhaltiger zu gestalten. Oft vage oder oberflächlich behandelt wird der Bereich der Figurenentwicklung. Die psychologische Dimension einer Figur ist mit Vorgeschichtenverletzung, Need und innerer Entwicklung erst sehr grob erfasst. Hier haben sich neben anderen vor allem Überlegungen der Dramaturgin Linda Seger etabliert. Sie beschreibt ausführlich die Idee der Backstory einer Figur, die sich auch in anderen Handbüchern findet. Darüber hinaus führt sie zahlreiche Kategorien aus der Psychologie an wie Hinweise auf das Unbewusste, aber auch die Einteilung der Temperamente in melancholisch, sanguinisch, cholerisch, phlegmatisch sowie die Beschreibung abnormer Verhaltensweisen. Ihre Überlegungen fügen sich aber nicht zu einem Gesamtverständnis.19 Obwohl in verschiedenen Manualen vielfach, wenn auch vage davon die Rede ist, dass Figuren mehrdimensional20, interessant und ambivalent21 sein oder eine Persönlichkeit22 besitzen sollen – letztlich gleicht die Entwicklung vom Archetypus zu einer individuellen Figur oder die Gestaltung von der physischen, psychischen und soziologischen Dimension zu einem die Handlung bestimmenden Charakter noch einem weit verzweigten, kaum beschriebenen Weg in der Dramaturgie. In den gängigen Handbüchern der 90er Jahre werden außerdem nur wenig beleuchtet: die dramaturgischen Möglichkeiten, die durch die Beziehungen der Figuren untereinander entstehen, Fragen nach der Erzählperspektive und Informationsvergabe, genau wie nach Empathiebildung, Plot und Fabula, nach der Gestaltung der Welt der Geschichte; außerdem nach der stilistischen Ausprägung bestimmter Genres, der Definition des Begriffes „Thema“ – um nur einige der blinden Flecken zu benennen.

So führen die Dramaturgien aus den 90er Jahren durch das starke Fokussieren auf ein Einheitsmodell zu einem Standard, mit dem sie den deutschen Film- und Fernsehmarkt ausreichend und zum Teil auch trefflich bedienen. Gleichzeitig bieten sie eine trügerische Sicherheit. Denn sie machen es leicht, auszublenden, dass aus ihrer Perspektive bestimmte Elemente von Filmgeschichten nur oberflächlich betrachtet werden. Ich behaupte: Aufgrund des auch heute noch vielfach gültigen Bezugs auf die dramaturgischen Standards der 90er Jahre erzählen viele deutsche Filme von Figuren, die eher Funktionsträger des Plots als psychologisch ausgereifte Charaktere sind. Denn eine weitere Folge der Einheitsdramaturgie ist, dass sie oft als die eine und einzige Grundlage für jedwedes Storytelling verstanden wird. Eine Reform ist per se nicht notwendig bei einem Modell, das vermeintlich immer auf alle Geschichten anwendbar ist und die Ausnahme als alternative Form oder besondere Variante in die Regel miteinschließt. Es handelt sich um ein Modell, das seine eigene Weiterentwicklung behindert. Filme, die schwer oder nur zum Teil in diesem Rahmen verstanden werden können und trotzdem im Sinne ihrer Wirkungsabsicht erfolgreich sind, wie GEGEN DIE WAND, FUNNY GAMES oder MULHOLLAND DRIVE tauchen in den einschlägigen Dramaturgien erst gar nicht als Analysebeispiel auf.

DIE WICHTIGSTEN THESEN

Die Einheitsdramaturgien der 90er Jahre beschreiben mit Rückbezug auf überzeugend klingende Traditionsstifter wie „Mythologie“ und „Aristoteles“ erlernbare Techniken. Sie bieten Sicherheit und Orientierung für das Verständnis dramatischen Erzählens.Gleichzeitig bewirken die gängigen Modelle eine Beschränkung der dramaturgischen Perspektive. Plot-Strukturen stehen im Vordergrund; davon abweichende dramaturgische Aspekte finden wenig Beachtung, weil sie nicht direkt in das als universal verstandene Schema passen.

3 Field, Syd: Screenplay. The Foundations of Screenwriting. New York 1979.

4 McKee, Robert: Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens. Berlin 1997, S. 10.

5 Ebd.

6 Marietheres Wagner kritisiert, dass Joseph Campbell behauptet, er habe alle Arten von Mythen erfasst. Der Monomythos beziehe sich allerdings nur auf Entwicklungsgeschichten, so Wagner, und schließe Überlieferungen aus, die die Schicksalhaftigkeit des menschlichen Seins transportieren: Campbells Mythos-Begriff „steht aber in einem deutlichen Gegensatz zu jenen mythologischen Erzählungen, die eine Determiniertheit des Menschen beschreiben (und die einen erheblichen Teil eben der mythischen/mythologischen Erzählungen ausmachen).“ Wagner, Marietheres: Dramaturgie im Raum. Arena, Tempo und Wege. Ein Analysemodell zur Filmdramaturgie. Zürich 2015, S. 30f.

7 Vogler, Christopher: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Frankfurt/Main 1999, S. 10.

8 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Stuttgart 1994.

9 Je nach Übersetzung und Verständnis der „Poetik“, kann es statt um Furcht und Mitleid auch um Schauder und Jammer gehen und die Katharsis weniger moralischen Impetus haben.

10 Vgl. Freytag, Gustav: Die Technik des Dramas. Berlin 2003. Bewusst übergangen werden in diesem kurzen Anfangsteil alle Gegenströmungen, so auch Lessings Hamburger Dramaturgie und der später daraus abgeleitete Geniegedanke. Denn die benannten filmdramaturgischen Modelle von Syd Field, Christopher Vogler, Robert McKee und anderen, die sich in den 90er Jahren auch in Europa durchgesetzt haben, entstanden im Rahmen des amerikanischen Studiomodells. Sie sind deshalb vor allem durch die Suche nach ökonomischen Machbarkeiten und handwerklich fassbaren Kulturtechniken und Modellen geprägt. Marietheres Wagner fasst die Traditionen eines europäischen Gegenentwurfs für Kunst und Theater, insbesondere im 18. Jahrhundert mit seinen Auswirkungen bis in die heutige Zeit prägnant zusammen: