Neun Drachen - Michael Connelly - E-Book

Neun Drachen E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

Harry Boschs Partner Ignacio Ferras will gerade Feierabend machen und nach Hause zu seinen neugeborenen Zwillingen, als ein Anruf eingeht: Bosch und Ferras müssen einen Fall für das South Bureau übernehmen. Die beiden Detectives machen sich auf den Weg zu dem Liquor Store, dessen siebzig- jähriger Betreiber erschossen wurde. Ein gewöhnlicher Raubüberfall, stöhnt Ferras, eigentlich nicht die Kragenweite der Abteilung Special Homicide. Aber Bosch erkennt schnell, dass weit mehr dahintersteckt. Der Tote, Mr. Li, leistete Schutzgeldzahlungen an eine Triade, eine chinesische Geheimgesellschaft. Für Bosch, der zugeben muss, dass er mit rassistischen Vorurteilen aus Vietnam zurückgekehrt ist, eine völlig neue Herausforderung. Und dann verschwindet Tausende Kilometer und einen Ozean entfernt plötzlich Madeline, Boschs fünfzehnjährige Tochter, die seit der Scheidung mit ihrer Mutter in Hongkong lebt. Der Detective lässt alles stehen und liegen und steigt ins nächste Flugzeug. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Maddies Verschwinden und seinem Fall?

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Seitenzahl: 541

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Michael Connelly

Neun Drachen

Der vierzehnte Fall für Harry Bosch

Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Kampa

Für die ganze Mannschaft

vom Enterprise Boulevard

in Lebanon, Indiana.

 

Vielen, vielen Dank.

Teil 1Homicide Special

1

Harry Bosch schaute über den Gang in das Abteilseines Partners und beobachtete ihn bei seinem täglichen Ritual: die Kanten der Aktenstapel ausrichten, den Schreibkram aus der Mitte des Schreibtisches räumen und zum Schluss die ausgespülte Kaffeetasse in die Schreibtischschublade stellen. Bosch sah auf die Uhr. Es war erst zwanzig vor vier. Wie es schien, begann Ignacio Ferras mit seinem Ritual jeden Tag ein, zwei Minuten früher als am Tag zuvor. Es war erst Dienstag, der Tag nach dem verlängerten Labor-Day-Wochenende und der Anfang einer kurzen Woche, und schon wieder legte es Ferras auf einen frühen Dienstschluss an. Eingeleitet wurde das Ritual immer von einem Anruf von zu Hause. Dort wartete eine Ehefrau mit einem kleinen Kind und neugeborenen Zwillingen. Sie hatte die Uhr im Auge wie ein Süßwarenladenbesitzer die dicken Kids. Sie brauchte die Entlastung, und dafür brauchte sie ihren Mann zu Hause. Obwohl der Gang Bosch von seinem Partner trennte und die Arbeitsplätze im neuen Bereitschaftsraum mit einem Meter zwanzig hohen Schallschutzwänden voneinander abgeschottet waren, bekam er normalerweise beide Seiten dieser Anrufe mit. Sie begannen immer mit: »Wann kommst du nach Hause?«

Als an Ferras’ Arbeitsplatz alles seine Ordnung hatte, schaute er zu Bosch herüber.

»Ich mache mich dann mal auf den Weg, Harry. Bevor der Feierabendverkehr einsetzt. Es stehen noch verschiedene Rückrufe aus, aber die haben alle meine Handynummer. Deswegen extra hierzubleiben, brächte nichts.«

Ferras rieb sich beim Sprechen die linke Schulter. Auch das war Teil des Rituals. Damit erinnerte er Bosch unausgesprochen daran, dass er an dieser Stelle vor zwei Jahren eine Kugel abbekommen und sich den frühen Dienstschluss verdient hatte.

Bosch nickte bloß. Es ging eigentlich nicht darum, wann sein Partner Feierabend machte oder was er sich verdient hatte. Es ging um seine Einsatzbereitschaft für die Mission Mordaufklärung und ob sie zu spüren wäre, wenn sie endlich zu ihrem nächsten Einsatz gerufen würden.

Ferras hatte neun Monate Physiotherapie und Reha durchlaufen, bevor er sich zum Dienst zurückgemeldet hatte. Allerdings war er in dem Jahr, das seitdem vergangen war, seinen Aufgaben als Ermittler mit einem Widerstreben nachgekommen, für das Bosch zusehends weniger Verständnis aufbrachte. Er war nicht engagiert, und Bosch war es leid, auf ihn zu warten.

Er war es auch leid, auf ein neues Mordopfer zu warten. Es war vier Wochen her, dass sie den letzten Fall an Land gezogen hatten, und die spätsommerliche Hitzephase war schon ziemlich weit fortgeschritten. Bosch wusste: So sicher, wie die Santa-Ana-Winde die Bergpässe heruntergeweht kamen, käme auch ein neues Mordopfer.

Ferras stand auf und schloss seinen Schreibtisch ab. Gerade als er sein Sakko von der Stuhllehne nahm, sah Bosch Larry Gandle von seinem Büro am anderen Ende des Bereitschaftsraums auf sie zukommen. Als der Ranghöhere der beiden Partner hatte sich Bosch sein Abteil als Erster aussuchen dürfen, als die Robbery-Homicide Division einen Monat zuvor aus dem maroden Parker Center in das neue Police Administration Building umgezogen war. Die meisten 3er-Detectives hatten Abteile genommen, von denen man durch die Fenster auf die City Hall blicken konnte. Bosch hatte sich für das Gegenteil entschieden. Er hatte seinem Partner die Aussicht überlassen und das Abteil gewählt, von dem aus er mitbekam, was sich im Bereitschaftsraum tat. Jetzt sah er den Lieutenant auf sie zukommen, und ihm war sofort klar, dass sein Partner diesmal nicht früh nach Hause gehen würde.

Gandle hatte einen von einem Notizblock gerissenen Zettel in der Hand und etwas Federndes in seinem Schritt. Das verriet Bosch, dass das Warten ein Ende hatte. Ein Einsatz stand an. Ein neues Mordopfer. Bosch stemmte sich aus seinem Stuhl hoch.

»Bosch und Ferras, Sie sind dran«, sagte Gandle, als er sie erreichte. »Sie müssen mir fürs South Bureau einen Fall übernehmen.«

Bosch sah die Schultern seines Partners nach unten sacken. Ohne sich darum zu kümmern, griff er nach dem Zettel, den Gandle ihm entgegenhielt. Er schaute auf die Adresse, die darauf stand. South Normandie. Dort war er schon mal gewesen.

»Ein Getränkemarkt«, sagte Gandle. »Hinter dem Ladentisch liegt ein Mann, die Streife hält einen Zeugen fest. Das ist alles, was ich habe. Können Sie das übernehmen?«

»Können wir«, erwiderte Bosch, bevor sein Partner protestieren konnte.

Aber es nützte nichts.

»Lieutenant, wir sind hier bei Homicide Special.« Ferras drehte sich um und deutete auf den Keilerkopf über der Tür des Bereitschaftsraums. »Wieso sollen wir einen Überfall auf einen Liquor Store übernehmen? Sie wissen genau, das können nur irgendwelche Ghettokids gewesen sein, und so etwas haben die Jungs vom South Bureau noch vor Mitternacht unter Dach und Fach – oder zumindest wissen sie bis dahin den Namen des Täters.«

Damit hatte Ferras nicht ganz unrecht. Homicide Special war für die schwierigen und komplizierten Fälle zuständig. Es war eine Eliteeinheit, die sich mit dem unnachsichtigen Riecher eines Ebers, der im Dreck nach Trüffeln wühlt, die schwierigen Fälle vornahm. Ein Überfall auf einen Getränkemarkt im tiefsten Ghetto fiel da kaum darunter.

Mit einer Geste, die keinerlei Verständnis signalisierte, breitete Gandle, mit seiner Glatze und dem Dauerflunsch der Inbegriff des Schreibtischhengstes, die Hände aus.

»Ich habe doch bei der Besprechung letzte Woche allen gesagt: Wir müssen South diese Woche aushelfen. Sie haben zurzeit nur ein Rumpfteam zur Verfügung, weil alle anderen bis zum Vierzehnten auf Mordlehrgang sind. Drei Fälle haben sie übers Wochenende reinbekommen und einen heute Morgen. Damit ist das Rumpfteam ausgelastet. Deshalb sind jetzt Sie beide dran, und der Überfall gehört Ihnen. So einfach ist das. Noch Fragen? Die Streife wartet mit einem Zeugen.«

»Wir können los, Boss«, sagte Bosch, um die Diskussion zu beenden.

»Und Sie halten mich auf dem Laufenden, ja?«

Damit kehrte Gandle in sein Büro zurück. Bosch nahm sein Sakko von der Stuhllehne, schlüpfte hinein und öffnete die mittlere Schublade seines Schreibtisches. Dann zog er die lederne Notizblockhülle aus seiner Gesäßtasche und ersetzte den linierten Block darin durch einen neuen. Ein neuer Mord bekam immer einen neuen Block. Das war sein Ritual. Er sah kurz auf die Detective-Dienstmarke, die in die lederne Hülle geprägt war, und steckte sie in die Gesäßtasche zurück. Ihm war egal, was für ein Fall es war. Hauptsache, ein Fall. Es war wie mit allem anderen. Man kam nur aus der Übung und verlor den Biss. Das wollte Bosch nicht.

Ferras hatte die Hände an die Hüften gestemmt und schaute zu der Uhr an der Wand über den Anschlagtafeln hinauf.

»Scheiße«, zischte er. »Jedes Mal wir.«

»Was heißt hier ›Jedes Mal wir‹?«, entgegnete Bosch. »Wir haben schon einen Monat keinen Fall mehr bekommen.«

»Na ja, daran hatte ich mich eben gewöhnt.«

»Also, wenn du keine Morde machen willst, gibt es immer noch Autodiebstähle. Da kannst du jeden Tag Punkt fünf nach Hause gehen.«

»Klar, genau.«

»Dann lass uns mal gehen.«

Bosch verließ sein Abteil und ging in Richtung Tür. Ferras folgte ihm und holte sein Handy heraus, um seine Frau anzurufen und ihr die schlechte Nachricht zu überbringen. Auf dem Weg nach draußen hoben beide Männer die Hände und tätschelten den kurzen Rüssel des Ebers, damit er ihnen Glück brächte.

2

Bosch brauchte Ferras auf der Fahrt nach South L.A.keine Standpauke zu halten. Sein Schweigen war Standpauke genug. Sein junger Partner schien unter dem Druck dessen, was nicht gesagt wurde, immer weiter einzuknicken, und irgendwann konnte er einfach nicht mehr an sich halten.

»Das macht mich noch total wahnsinnig«, platzte es aus ihm heraus.

»Was?«, fragte Bosch.

»Die Zwillinge. Sie machen irrsinnig viel Arbeit, und dazu dieses ständige Geplärre. Der reinste Dominoeffekt. Einer wacht auf, und davon wird dann der andere wach. Und davon wacht dann auch der Große auf. Niemand kommt noch zum Schlafen, und meine Frau fängt langsam an …«

»Was?«

»Ich weiß auch nicht, sie dreht einfach allmählich durch. Ständig ruft sie mich an und will wissen, wann ich nach Hause komme. Also komme ich nach Hause und kriege prompt gleich als Erstes die Jungs aufgedrückt. Ich komme einfach nicht dazu, mal abzuschalten. Immer nur Arbeit, Kinder, Arbeit, Kinder, Arbeit, Kinder. Jeden Tag.«

»Nehmt euch doch ein Kindermädchen.«

»Ein Kindermädchen können wir uns nicht leisten. Jedenfalls nicht in der momentanen Situation. Überstunden bekommen wir ja auch keine mehr bezahlt.«

Bosch wusste nicht, was er sagen sollte. Seine Tochter Madeline war vor einem Monat dreizehn geworden und wohnte fast zehntausend Meilen von ihm entfernt. Er war nie direkt daran beteiligt gewesen, sie aufzuziehen. Er sah sie vier Wochen im Jahr – zwei davon in Hongkong und zwei in L.A. –, und damit hatte es sich. Wer war er also, einem Vollzeitvater mit drei kleinen Kindern, darunter Zwillinge, gute Ratschläge zu erteilen?

»Tja, was soll ich dazu sagen? Du weißt, du kannst voll auf meine Unterstützung zählen. Ich tue, was ich kann, wenn es irgendwie möglich ist. Aber …«

»Ich weiß, Harry. Ich weiß das durchaus zu schätzen. Es ist nur das erste Jahr mit den Zwillingen, verstehst du? Wenn sie ein bisschen älter werden, wird alles wesentlich leichter.«

»Schon, aber was ich damit eigentlich sagen will, ist, dass es vielleicht nicht nur an den Zwillingen liegt. Vielleicht liegt es auch an dir, Ignacio.«

»An mir? Was soll das jetzt wieder heißen?«

»Es soll heißen, dass es vielleicht an dir liegt. Vielleicht bist du zu früh zurückgekommen – hast du dir darüber schon mal Gedanken gemacht?«

Ferras zog einen Flunsch und antwortete nicht.

»Ich meine, so was soll vorkommen«, fuhr Bosch fort. »Es hat dich einmal erwischt, und schon fängst du an, dir Gedanken zu machen, ob der Blitz ein zweites Mal einschlagen könnte.«

»Also wirklich, Harry, was ist das jetzt wieder für ein Scheiß? Was das angeht, habe ich nun echt keine Probleme. Nicht die geringsten. Ich rede hier von chronischem Schlafmangel und dass ich total auf dem Zahnfleisch gehe und einfach nicht dazu komme, mich wieder zu berappeln, weil mir sofort meine Frau auf die Pelle rückt, kaum dass ich nach Hause komme, verstehst du?«

»Na ja, das musst du schließlich am besten wissen, Partner.«

»Genau, Partner. Das muss ich am besten wissen. Glaub mir, ich kann mir schon von ihr genügend anhören. Da brauchst jetzt nicht auch noch du mit so einer Scheiße anzukommen.«

Bosch nickte, und damit war genug gesagt. Er wusste, wann er aufhören musste.

Die Adresse, die Gandle ihnen gegeben hatte, war im Siebzigerblock der South Normandie Avenue. Nur ein paar Straßen weiter befand sich die berüchtigte Kreuzung von Florence und Normandie, wo von Fernsehhubschraubern einige der verstörendsten Bilder der Unruhen von 1992 aufgenommen und in alle Welt übertragen worden waren. Und diese Bilder schienen sich in den Köpfen vieler festgesetzt zu haben, wenn sie an Los Angeles dachten.

Aber Bosch merkte rasch, dass er die Gegend und den Getränkemarkt, zu dem sie unterwegs waren, von anderen Unruhen und aus einem anderen Grund kannte.

Fortune Liquors war bereits mit gelbem Tatort-Tape abgesperrt. Es hatte sich eine kleine Gruppe Schaulustiger gebildet, auch wenn in dieser Gegend ein Mord nichts Besonderes war. So etwas hatten die Leute hier schon zur Genüge zu sehen bekommen. Bosch hielt in einer Gruppe von drei Streifenwagen und stieg aus. Nachdem er seine Aktentasche aus dem Kofferraum geholt hatte, schloss er den Wagen ab und ging auf die Absperrung zu.

Bosch und Ferras nannten dem Streifenpolizisten mit dem Tatort-Logbuch Namen und Dienstnummer, dann duckten sie sich unter dem Band durch. Als sie auf den Eingang des Getränkemarkts zugingen, zog Bosch ein Streichholzbriefchen aus seiner rechten Jackentasche. Es war alt und abgenutzt. Auf dem Deckel stand Fortune Liqours, und darunter war die Adresse des kleinen gelben Baus vor ihnen angegeben. Er klappte das Heftchen mit dem Daumen auf. Es fehlte nur ein Streichholz, und auf der Innenseite des Deckels stand der Spruch, der in keinem dieser Briefchen fehlte:

Glücklich der Mann, der

Zuflucht in sich selbst findet.

Bosch trug das Streichholzbriefchen schon über zehn Jahre mit sich herum. Nicht so sehr wegen des Spruchs – auch wenn er ihn zutreffend fand –, sondern wegen des fehlenden Streichholzes und woran es ihn erinnerte.

»Was ist, Harry?«, fragte Ferras.

Bosch merkte, dass er kurz stehen geblieben war.

»Nichts. Es ist nur, dass ich schon mal in dem Laden war.«

»Wann? Dienstlich?«

»Gewissermaßen. Ist aber schon lange her. Lass uns reingehen.«

Bosch trat an seinem Partner vorbei durch die offene Tür des Getränkemarkts.

Drinnen standen mehrere Streifenpolizisten und ein Sergeant. Der Laden war lang und schmal, mit dem Grundriss eines Shotgun-Hauses, und nur vier Regalreihen breit. Bosch konnte den Mittelgang zwischen den Regalen hinunter zu einem Quergang und einer offenen Hintertür sehen, die auf einen kleinen Parkplatz hinausführte. Die Kühlvitrinen mit den kalten Getränken verliefen entlang der linken Seitenwand und dann quer an der Rückwand des Ladens. Die Spirituosen befanden sich im rechten Gang, und der Mittelgang war den Weinen vorbehalten, roter rechts, weißer links.

Im hinteren Teil des Ladens sah Bosch zwei weitere Streifenpolizisten stehen, und er vermutete, dass sie dort hinten in einem Lager oder Büro den Zeugen festhielten. Er stellte seine Aktentasche neben der Tür auf den Boden, zog zwei Paar Gummihandschuhe aus seiner Anzugjacke und reichte eines Ferras. Sie streiften sich die Handschuhe über.

Der Sergeant merkte, dass die beiden Detectives eingetroffen waren. Er löste sich von seinen Männern und kam auf sie zu.

»Ray Lucas«, sagte er statt eines Grußes. »Das Opfer liegt hinter dem Ladentisch. Sein Name ist John Li, ›L-I‹ geschrieben. Dürfte noch keine zwei Stunden her sein. Sieht nach einem Raubüberfall aus, bei dem der Täter keine Zeugen wollte. Viele von uns hier unten im Siebenundsiebzigsten kannten Mr. Li. Netter alter Mann.«

Lucas winkte Bosch und Ferras zum Ladentisch. Um nichts mit seinem Jackett zu berühren, hielt Bosch es eng an seinen Körper, als er sich hinter den Ladentisch zwängte. Dann ging er auf der kleinen Fläche dahinter wie ein Baseball-Catcher in die Hocke, um sich den Toten auf dem Fußboden genauer anzusehen. Ferras beugte sich wie ein Schiedsrichter über ihn.

Das Opfer war ein etwa siebzigjähriger Asiate. Er lag auf dem Rücken, und sein Blick war starr an die Decke gerichtet. Seine Lippen waren von den zusammengebissenen Zähnen zurückgezogen, es wirkte fast wie ein hämisches Grinsen. Auf Lippen, Wangen und Kinn des Toten war Blut, das er wahrscheinlich im Todeskampf ausgehustet hatte. Die Vorderseite seines Hemds war blutgetränkt, und Bosch konnte mindestens drei Einschusslöcher in seiner Brust erkennen. Das rechte Bein war am Knie angewinkelt und in einer unnatürlichen Stellung unter das andere Bein geknickt. Anscheinend war der alte Mann an der Stelle zusammengebrochen, an der er gestanden hatte, als ihn die tödlichen Schüsse getroffen hatten.

»Keine Hülsen, soweit wir gesehen haben«, berichtete Lucas. »Wahrscheinlich hat der Täter sie eingesammelt, und dann war er auch noch so schlau, die DVD aus der Anlage hinten zu nehmen.«

Bosch nickte. Die Kollegen von der Streife wollten immer helfen, aber das waren lauter Informationen, die Bosch noch nicht brauchte und die irreführend sein konnten.

»Außer er hatte einen Revolver. Dann hätte er keine Hülsen einsammeln müssen.«

»Schon klar«, meinte Lucas. »Bloß sind hier unten nicht allzu viele Revolver in Umlauf. Wer will bei einem Drive-by-Shooting schon mit nur sechs Kugeln in seiner Knarre erwischt werden.«

Lucas wollte Bosch zeigen, dass er wusste, was hier unten in South L.A. Sache war. Bosch war nur auf Besuch hier.

»Ich werde es mir merken«, sagte Bosch.

Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Opfer und blickte sich wortlos um. Er war sich ziemlich sicher, dass der Tote derselbe Mann war, dem er vor vielen Jahren in diesem Laden begegnet war. Er befand sich sogar an derselben Stelle wie damals, hinter dem Ladentisch. Und Bosch konnte ein Päckchen Zigaretten in seiner Hemdtasche stecken sehen.

Ihm fiel auf, dass die rechte Hand des Toten voll Blut war. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Es war eine ganz normale menschliche Reaktion, die Hände auf eine Verletzung zu legen, um sie zu schützen und die Heilung zu beschleunigen. Ein angeborener Instinkt. Entsprechend hatte wahrscheinlich auch der Inhaber des Getränkemarkts an seine Brust gefasst, als ihn der erste Schuss getroffen hatte. Der Abstand zwischen den Schusswunden, die ein Dreieck bildeten, betrug jeweils etwa zwölf Zentimeter. Bosch wusste, dass drei aus nächster Nähe rasch hintereinander abgefeuerte Schüsse normalerweise anders angeordnet waren. Daraus schloss er, dass zunächst nur ein Schuss auf das Opfer abgegeben worden war, und als der alte Mann daraufhin zu Boden ging, hatte sich der Täter wahrscheinlich über den Ladentisch gebeugt und zwei weitere Male auf ihn geschossen. Und das war der Grund für die Streuung.

Die Kugeln hatten die Brust des Opfers durchschlagen und Herz und Lunge massiv geschädigt. Das durch den Mund ausgetretene Blut war ein Zeichen dafür, dass der Tod nicht sofort eingetreten war. Das Opfer hatte noch zu atmen versucht. In all den Jahren als Mordermittler hatte Bosch zumindest eins gelernt. So etwas wie einen leichten Tod gab es nicht.

»Kein Kopfschuss«, sagte Bosch.

»Richtig«, stimmte Ferras zu. »Was bedeutet das?«

Bosch merkte, dass er laut nachgedacht hatte.

»Vielleicht gar nichts. Bei drei Schüssen in die Brust möchte man eigentlich meinen, der Täter wollte auf Nummer sicher gehen. Aber warum dann kein Kopfschuss?«

»Das ist ein gewisser Widerspruch.«

»Vielleicht.«

Erst jetzt wandte Bosch den Blick von der Leiche ab und schaute sich aus seinem niedrigen Blickwinkel um. Dabei stach ihm sofort die Pistole ins Auge, die in einem an der Unterseite des Ladentischs angebrachten Holster steckte. Dort wäre sie bei einem Überfall leicht zugänglich gewesen, aber sie war nicht einmal ein Stück hervorgezogen worden.

»Hier drunter steckt eine Pistole«, sagte Bosch. »Sieht nach einer Fünfundvierziger in einem Holster aus. Aber der alte Mann kam nicht mehr dazu, sie zu ziehen.«

»Wahrscheinlich ist der Täter reingekommen und hat den Alten erschossen, bevor er nach seiner Kanone greifen konnte«, vermutete Ferras. »Vielleicht war in dem Viertel hier sogar bekannt, dass der Alte eine Kanone unter dem Ladentisch hatte.«

Lucas machte mit dem Mund ein Geräusch, als wäre er anderer Meinung.

»Was ist, Sergeant?«, fragte Bosch.

»Die Pistole muss neu sein«, sagte Lucas. »In den fünf Jahren, die ich inzwischen hier bin, ist der Mann mindestens sechsmal überfallen worden. Soweit ich weiß, hat er nie zur Waffe gegriffen. Das ist das erste Mal, dass ich überhaupt etwas von einer Pistole höre.«

Bosch nickte. Das war eine hilfreiche Information. Er drehte den Kopf, um den Sergeant über seine Schulter hinweg zu fragen:

»Was können Sie mir über den Zeugen sagen?«

»Äh, sie ist eigentlich keine richtige Zeugin«, erwiderte Lucas. »Es ist Mrs. Li, die Frau des Opfers. Sie kam in den Laden, um ihm sein Essen zu bringen, und dann fand sie ihn. Sie ist im Hinterzimmer, aber Sie werden einen Dolmetscher brauchen. Wir haben bei der ACU angerufen und einen Chinesen angefordert.«

Bosch schaute noch einmal in das Gesicht des Toten, und als er sich danach aufrichtete, gaben beide Knie ein lautes Knacken von sich. Mit ACU hatte Lucas die Asian Crimes Unit gemeint. Sie war vor Kurzem in Asian Gang Unit umbenannt worden, um nicht den Eindruck zu erwecken, mit dieser Bezeichnung die asiatischen Mitbürger verunglimpfen zu wollen, weil der Name suggerierte, alle Asiaten seien kriminell. Aber alte Hasen wie Lucas nannten sie immer noch ACU. Ungeachtet des Namens oder der Abkürzung hätte jedoch die Entscheidung, einen zusätzlichen Ermittler egal welcher Art hinzuzuziehen, Bosch als Leiter der Ermittlungen überlassen bleiben sollen.

»Sprechen Sie Chinesisch, Sarge?«

»Nein, deshalb habe ich die ACU angerufen.«

»Woher wussten Sie dann, dass Sie einen Chinesen anfordern müssen und keinen Koreaner oder Vietnamesen?«

»Ich mache diesen Job jetzt schon sechsundzwanzig Jahre, Detective, und …«

»Und Sie erkennen einen Chinesen vom bloßen Ansehen.«

»Nein, was ich damit sagen will, ist, dass es mir zunehmend schwerer fällt, meine Schicht durchzustehen, ohne mich zwischendurch ein bisschen zu dopen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Deshalb komme ich einmal am Tag hier vorbei, um mir einen dieser Energy Drinks zu kaufen. Hält einen fünf Stunden auf Zack. Jedenfalls habe ich Mr. Li im Zug meiner Besuche hier etwas näher kennengelernt. Er hat mir erzählt, dass er und seine Frau aus China kommen, und deshalb weiß ich das.«

Bosch nickte und schämte sich ein wenig für seine Versuche, Lucas zu blamieren.

»Dann sollte ich vielleicht auch mal so einen Energy Drink probieren«, sagte er. »Hat Mrs. Li Sie verständigt?«

»Nein. Sie spricht, wie gesagt, kaum Englisch. Soviel ich von der Zentrale mitbekommen habe, hat Mrs. Li ihren Sohn angerufen, und er hat dann uns verständigt.«

Bosch kam hinter dem Ladentisch hervor. Ferras blieb dahinter und ging in die Hocke, um sich den gleichen Blick auf Leiche und Pistole zu verschaffen, den Bosch gerade gehabt hatte.

»Wo ist der Sohn?«, fragte Bosch.

»Schon unterwegs, aber er arbeitet oben im Valley«, antwortete Lucas. »Er müsste jeden Augenblick hier sein.«

Bosch deutete auf den Ladentisch.

»Weisen Sie Ihre Leute an, ihn erst mal nicht reinzulassen, wenn er ankommt.«

»Alles klar.«

»Und dass hier im Laden möglichst alles so bleibt, wie es war.«

Lucas schaltete sofort und schickte seine Leute aus dem Getränkemarkt. Als Ferras hinter dem Ladentisch fertig war, kam er zu Bosch, der am Eingang stand und zu der Überwachungskamera hinaufschaute, die in der Mitte des Ladens an der Decke angebracht war.

»Sieh dich doch mal hinten um«, sagte Bosch zu seinem Partner. »Ob der Kerl die DVD tatsächlich rausgenommen hat. Und wirf mal einen Blick zu unserer Zeugin rein.«

»Okay.«

»Ach, und sieh mal nach, wo der Thermostat ist, und dreh ihn etwas runter. Viel zu warm hier drinnen. Nicht, dass der Verwesungsprozess schon einsetzt.«

Ferras ging den Mittelgang hinunter. Bosch blickte sich um und versuchte, sich einen Gesamteindruck von dem Getränkemarkt zu verschaffen. Der Ladentisch war etwa dreieinhalb Meter lang. Die Kasse befand sich in der Mitte neben einer freien Fläche, auf der die Kunden ihre Einkäufe ablegen konnten. Sie war auf einer Seite von Gestellen mit Kaugummis und Süßigkeiten begrenzt. Auf der anderen Seite der Kasse fanden sich Produkte wie Energy Drinks, ein Plastikbehälter mit billigen Zigarren und ein Lottoschalter. Von der Decke hing ein Maschendrahtbehälter mit Zigarettenstangen.

Hinter dem Ladentisch waren Regale mit hochpreisigen Spirituosen, nach denen die Kunden fragen mussten. Bosch sah sechs Reihen Hennessy. Er wusste, der teure Cognac war bei Gangmitgliedern sehr beliebt, wenn sie es richtig krachen lassen wollten, und er war sich ziemlich sicher, dass Fortune Liquors auf dem Territorium der Hoover Street Criminals lag, einer Gang, die einmal zu den Crips gehört hatte, dann aber so mächtig geworden war, dass ihre Anführer beschlossen hatten, sich selbstständig zu machen.

Bosch fielen zwei Dinge auf, und er stellte sich näher an den Ladentisch.

Die Registrierkasse war verschoben worden, sodass da, wo sie gestanden hatte, ein Viereck aus Staub und Wollmäusen auf der Resopaloberfläche zu sehen war. Daraus schloss Bosch, dass sie der Mörder zu sich herumgedreht hatte, als er das Geld aus der Schublade nahm. Das war insofern wichtig, als es bedeutete, dass nicht Mr. Li die Kasse geöffnet und dem Räuber das Geld gegeben hatte, sondern dass er zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon tot gewesen war. Möglicherweise war Ferras’ Theorie, dass der Mörder hereingekommen war und sofort geschossen hatte, zutreffend. Und das wiederum konnte sich als wichtig erweisen, wenn dem Täter im Zuge eines Strafverfahrens eine Tötungsabsicht nachgewiesen werden sollte. Und noch wichtiger: Es verschaffte Bosch einen besseren Eindruck vom Tathergang und dem Tätertypus, nach dem sie suchen mussten.

Bosch holte seine Brille heraus, die er immer dann brauchte, wenn er etwas aus der Nähe betrachten wollte. Er setzte sie auf und beugte sich, ohne etwas zu berühren, über den Ladentisch, um die Tastatur der Registrierkasse zu untersuchen. Er entdeckte weder einen Knopf mit der Aufschrift Öffnen noch sonst einen Hinweis, wie sich die Kasse bedienen ließ. Bosch hatte keine Ahnung, wie er sie aufbekommen könnte. Er fragte sich, woher es der Täter gewusst hatte.

Er richtete sich wieder auf und schaute auf das Wandregal mit den Flaschen, das hinter dem Ladentisch angebracht war. Es enthielt fast ausschließlich Hennessy, damit Mr. Li den teuren Cognac sofort griffbereit hatte, wenn Hoover-Street-Mitglieder in den Laden kamen. Aber die Reihen waren lückenlos. Keine Flasche fehlte.

Bosch beugte sich erneut über den Ladentisch, und diesmal versuchte er, nach einer der Hennessy-Flaschen zu greifen. Er merkte, dass er ohne Weiteres an eine der Flaschen kommen und sie aus dem Regal nehmen könnte, wenn er sich mit der anderen Hand auf dem Ladentisch abstützte.

»Harry?«

Bosch richtete sich auf und drehte sich zu seinem Partner um.

»Der Sergeant hatte recht«, sagte Ferras. »Die Aufnahmen der Überwachungskamera werden auf DVD gespeichert. Aber es ist keine Disc im Rekorder. Entweder hat sie jemand verschwinden lassen, oder der Alte hat die Überwachungsvideos gar nicht auf DVD gespeichert. Vielleicht diente die Kamera nur zur Abschreckung.«

»Gibt es irgendwelche Back-up-DVDs?«

»Dort auf dem Ladentisch sind zwei, aber das Aufnahmegerät speichert alles immer nur auf der Festplatte, und wenn sie voll ist, fängt es wieder von vorn an und überspielt die alte Aufnahme. Als ich noch bei Raubüberfällen war, hatten wir ständig mit diesen Dingern zu tun. Sie reichen etwa einen Tag, und wenn sie voll sind, werden die alten Aufnahmen einfach überspielt. Wenn man also irgendwas nachsehen will, muss man es noch am selben Tag tun.«

»Okay, aber sieh zu, dass wir alle vorhandenen DVDs auf jeden Fall bekommen.«

Lucas kam wieder zur Tür herein.

»Die ACU ist hier«, sagte er. »Soll ich ihn reinschicken?«

Bosch sah Lucas eine Weile an, bevor er antwortete.

»Es heißt AGU«, entgegnete er schließlich. »Aber schicken Sie ihn nicht rein. Ich komme gleich raus.«

3

Bosch trat aus dem Laden in den Sonnenscheinhinaus. Obwohl der Tag zu Ende ging, war es noch warm. Die trockenen Santa-Ana-Winde strichen durch die Stadt. Feuer auf den Hügeln hatten eine Blässe aus Rauch in die Luft gelegt. Bosch spürte den Schweiß in seinem Nacken trocknen. Vor der Tür trat sofort ein Ermittler in Zivil auf ihn zu.

»Detective Bosch?«

»Ja, das bin ich.«

»Detective David Chu, AGU. Die Streife hat mich angefordert. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Chu war klein und schmächtig. Er hatte nicht den Anflug eines Akzents. Bosch duckte sich unter dem Absperrband durch und winkte Chu, ihm zu seinem Auto zu folgen. Er zog im Gehen sein Sakko aus, nahm das Streichholzheftchen heraus und steckte es in seine Hosentasche. Dann faltete er das Sakko mit dem Futter nach außen und legte es in eine saubere Schachtel, die er immer im Kofferraum seines Dienstwagens hatte.

»Ganz schön heiß da drinnen«, sagte er zu Chu.

Bosch öffnete den mittleren Knopf seines Hemds und steckte die Krawatte hinein. Er hatte vor, sich gleich an der Untersuchung des Tatorts zu beteiligen, und wollte nicht, dass sie ihm dabei im Weg wäre.

»Hier draußen ist es auch nicht viel kühler«, erwiderte Chu. »Der Sergeant von der Streife meinte, ich sollte warten, bis Sie nach draußen kommen.«

»Ja, entschuldigen Sie das bitte. Also, die Sache ist Folgende. Der alte Mann, dem der Laden schon seit Jahren gehört, liegt tot hinter dem Ladentisch. Mindestens drei Schüsse. Wahrscheinlich ein Raubüberfall. Seine Frau, die kein Englisch spricht, kam in den Laden und fand ihn. Sie rief ihren Sohn an, der darauf die Polizei verständigte. Wir müssen sie natürlich vernehmen, und dafür brauchen wir Sie. Möglicherweise benötigen wir auch beim Sohn Hilfe, wenn er herkommt. Das ist im Moment so ziemlich alles, was ich weiß.«

»Und es sind sicher Chinesen?«

»Ziemlich sicher. Der Sergeant, der Sie angefordert hat, kannte das Opfer, Mr. Li.«

»Wissen Sie, welchen Dialekt Mrs. Li spricht?«

Sie kehrten zur Absperrung zurück.

»Nein. Könnte es denn da Probleme geben?«

»Die fünf chinesischen Hauptdialekte beherrsche ich einigermaßen, Kantonesisch und Mandarin spreche ich fließend. Die beiden Letzteren sind hier in L.A. am weitesten verbreitet.«

Diesmal hielt Bosch Chu das Band hoch, damit er darunter durchgehen konnte.

»Welchen sprechen Sie?«

»Ich bin hier geboren, Detective. Aber meine Familie ist aus Hongkong, und wir haben zu Hause Mandarin gesprochen.«

»Tatsächlich? Ich habe eine Tochter, die mit ihrer Mutter in Hongkong lebt. Sie kann schon ganz gut Mandarin.«

»Ist doch wunderbar. Hoffentlich kann sie später mal Nutzen daraus ziehen.«

Sie betraten den Laden, und Bosch zeigte Chu kurz den Toten hinter dem Ladentisch, bevor er ihn nach hinten führte, wo sie von Ferras erwartet wurden. Als Erstes erklärte Chu Mrs. Li, wer er und die beiden Ermittler waren.

Die frisch verwitwete Frau schien unter Schock zu stehen. Soweit Bosch erkennen konnte, hatte sie bisher keine Träne über den Tod ihres Mannes vergossen. Sie schien sich in einem dissoziativen Zustand zu befinden, wie Bosch das schon gelegentlich beobachtet hatte. Vorn im Laden lag ihr Mann tot auf dem Boden. Und sie war hier hinten von lauter Fremden umgeben, deren Sprache sie nicht verstand. Bosch vermutete, dass sie auf das Eintreffen ihres Sohnes wartete. Dann würden die Tränen kommen.

Zunächst schlug Chu der alten Frau gegenüber einen freundlichen, in keiner Weise amtlichen Ton an. Bosch vermutete, dass sie Mandarin sprachen. Seine Tochter hatte ihm einmal erklärt, dass Mandarin mehr diesen Singsangcharakter hatte und weniger guttural war als Kantonesisch und einige der anderen Dialekte.

Nach ein paar Minuten wandte sich Chu von der Witwe ab und berichtete Bosch und Ferras, was er von ihr erfahren hatte.

»Ihr Mann blieb allein zurück, als sie nach Hause fuhr, um das Abendessen zu holen. Als sie zurückkam, dachte sie, der Laden wäre leer. Aber dann fand sie ihn hinter dem Ladentisch. Es war niemand im Geschäft, als sie hereinkam. Sie hat hinten geparkt und mit einem Schlüssel den Hintereingang aufgeschlossen.«

Bosch nickte.

»Wie lang war sie weg? Fragen Sie sie, wie spät es war, als sie den Laden verlassen hat.«

Chu gab die Frage an Mrs. Li weiter und wandte sich danach wieder Bosch zu.

»Sie fährt jeden Tag um halb drei von hier los, um das Abendessen zu holen. Dann kommt sie zurück.«

»Gibt es im Laden noch andere Angestellte?«

»Nein, das habe ich sie bereits gefragt. Nur sie und ihr Mann. Sie haben täglich von elf bis zehn geöffnet. Außer sonntags.«

Eine typische Immigrantenvita, dachte Bosch. Bis auf die Kugeln am Ende.

Bosch hörte aus dem vorderen Teil des Ladens Stimmen näher kommen und steckte den Kopf durch die Tür. Das Spurensicherungsteam vom SID war eingetroffen und machte sich an die Arbeit.

Er drehte sich wieder in den Lagerraum, wo Chu das Gespräch mit Mrs. Li fortführte.

»Chu«, unterbrach er den AGU-Detective.

Dieser blickte zu ihm auf.

»Fragen Sie sie, was mit dem Sohn war. War er zu Hause, als sie ihn anrief?«

»Das habe ich sie bereits gefragt. Sie haben einen zweiten Laden. Im Valley. Dort hat er gearbeitet. Die Familie wohnt in der Mitte zwischen den beiden Geschäften. Im Wilshire District.«

Bosch war inzwischen klar, dass Chu wusste, was er zu tun hatte. Er musste nicht erklärt bekommen, welche Fragen er stellen sollte.

»Gut, dann gehen wir jetzt wieder nach vorn. Kümmern Sie sich um Mrs. Li, und wenn ihr Sohn kommt, ist es wahrscheinlich das Beste, alle in die Stadt zu bringen. Ist das für Sie okay?«

»Ja, ja, sicher«, sagte Chu.

»Gut. Rühren Sie sich einfach, wenn Sie was brauchen.«

Bosch und Ferras verließen den Lagerraum und gingen nach vorn. Die Kollegen von der Spurensicherung kannte Bosch bereits. Außerdem war inzwischen ein Team aus der Rechtsmedizin eingetroffen, um die Stelle, an der das Opfer gestorben war, zu dokumentieren und die Leiche abzutransportieren.

An diesem Punkt beschlossen Bosch und Ferras, sich aufzuteilen. Bosch würde am Tatort bleiben. Als leitender Ermittler würde er die Sicherstellung der forensischen Beweise und den Abtransport der Leiche beaufsichtigen. Ferras würde losgehen und Klinken putzen. Der Getränkemarkt befand sich in einem Areal mit zahlreichen kleinen Geschäften. Ferras würde von Tür zu Tür gehen und fragen, ob jemand etwas gesehen oder gehört hatte, was mit dem Mord in Zusammenhang stehen könnte. Beiden Ermittlern war klar, dass dabei vermutlich nichts herauskäme, aber machen mussten sie es trotzdem. Die Beschreibung eines Autos oder einer verdächtigen Person wäre unter Umständen das Puzzleteilchen, das am Ende zur Lösung des Falls beitrüge. Es gehörte einfach zur Arbeit eines Mordermittlers.

»Ist es okay, wenn ich einen der Streifenpolizisten mitnehme?«, fragte Ferras. »Sie kennen sich hier in der Gegend aus.«

»Klar.«

Bosch glaubte, der wahre Grund, weshalb Ferras einen Streifenpolizisten dabeihaben wollte, war nicht, dass der mit der Umgebung vertraut war. Sein Partner glaubte, er bräuchte Unterstützung, wenn er in dieser Gegend von Tür zu Tür ging und Fragen stellte.

Zwei Minuten nachdem Ferras gegangen war, hörte Bosch vor dem Laden laute Stimmen und die Geräusche eines Tumults. Er ging nach draußen und sah, wie am gelben Absperrband zwei von Lucas’ Streifenpolizisten einen Mann mit Gewalt am Betreten des Ladens zu hindern versuchten. Der sich heftig zur Wehr setzende Mann war ein schmächtiger Asiate Mitte zwanzig in einem eng anliegenden T-Shirt. Rasch schritt Bosch auf die Rangelei zu.

»So, jetzt aber Schluss hier«, forderte er energisch, um erst gar keine Zweifel aufkommen zu lassen, wer hier das Sagen hatte.

»Lassen Sie den Mann los«, fügte er hinzu.

»Ich will meinen Vater sehen«, stieß der junge Mann hervor.

»Auf diese Tour werden Sie das aber nicht unbedingt erreichen.«

Bosch blieb bei der Gruppe stehen und nickte den zwei Streifenpolizisten zu.

»Um Mr. Li kümmere ich mich jetzt.«

Sie ließen Bosch mit dem Sohn des Toten allein.

»Wie lautet Ihr vollständiger Name, Mr. Li?«

»Robert Li. Ich möchte meinen Vater sehen.«

»Das kann ich durchaus verstehen. Wenn Sie das möchten, lasse ich Sie zu Ihrem Vater. Aber das geht erst, wenn der Tatort freigegeben ist. Ich leite die Ermittlungen, aber selbst ich kann im Augenblick nicht in die Nähe Ihres Vaters. Deshalb muss ich Sie bitten, sich erst einmal zu beruhigen. Nur wenn Sie sich wieder gefangen haben, bekommen Sie, was Sie wollen.«

Der junge Mann blickte zu Boden und nickte. Bosch berührte ihn an der Schulter.

»Okay, gut.«

»Wo ist meine Mutter?«

»Sie wird im Hinterzimmer gerade von einem anderen Ermittler vernommen.«

»Kann ich wenigstens sie sehen?«

»Selbstverständlich können Sie das. Ich bringe Sie gleich nach hinten. Aber erst muss ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Sind Sie damit einverstanden?«

»Sicher. Was wollen Sie wissen?«

»Zuallererst, mein Name ist Harry Bosch. Ich leite die Ermittlungen in diesem Fall. Ich werde herausfinden, wer Ihren Vater umgebracht hat: Das verspreche ich Ihnen.«

»Machen Sie keine Versprechungen, die Sie nicht zu halten beabsichtigen. Sie kannten ihn doch nicht mal. Es ist Ihnen vollkommen egal. Er ist für Sie doch nur irgendein … egal.«

»Irgendein was?«

»Ich sagte doch, egal.«

Bosch sah ihn eine Weile an, bevor er weitersprach.

»Wie alt sind Sie, Robert?«

»Sechsundzwanzig. Und jetzt würde ich gern meine Mutter sehen.«

Er wandte sich von Bosch ab und begann, auf den Eingang des Getränkemarkts zuzugehen, aber Bosch packte ihn am Arm. Der junge Mann war stark, aber in Boschs Griff steckte überraschende Kraft. Robert Li blieb stehen und blickte auf die Hand an seinem Arm hinab.

»Erst möchte ich Ihnen etwas zeigen, dann bringe ich Sie zu Ihrer Mutter.«

Bosch ließ Lis Arm los und holte das Streichholzheftchen aus seiner Tasche. Er reichte es Li, der es verständnislos ansah.

»Was soll damit sein? Diese Dinger haben wir lange an unsere Kunden verteilt, doch mit der Wirtschaftskrise konnten wir uns solche Werbeausgaben irgendwann nicht mehr leisten.«

Bosch nahm das Streichholzbriefchen wieder an sich und nickte.

»Ich habe es vor zwölf Jahren hier, in diesem Laden, von Ihrem Vaters bekommen«, sagte er. »Sie waren damals wahrscheinlich gerade mal vierzehn. In L.A. wäre es damals um ein Haar zu schweren Unruhen gekommen. Genau hier. An dieser Kreuzung.«

»Ich weiß. Sie haben den Laden geplündert und meinen Vater verprügelt. Er hätte ihn hier nicht wieder eröffnen sollen. Meine Mutter und ich, wir haben ihn zu überreden versucht, lieber oben im Valley einen Laden aufzumachen, aber er wollte nicht auf uns hören. Er wollte sich von niemandem vertreiben lassen, und jetzt sehen Sie, was dabei herausgekommen ist.«

Er deutete hilflos auf die Fassade des Getränkemarkts.

»Tja, ich war an dem Abend damals auch hier«, berichtete Bosch. »Vor zwölf Jahren. Es brachen Unruhen aus, aber sie verliefen sich rasch wieder im Sand. Genau hier. Es gab einen Toten.«

»Ein Cop. Ich weiß. Sie haben ihn einfach aus seinem Auto gezerrt.«

»Ich war mit ihm in diesem Auto, aber mich haben sie nicht erwischt. Und als ich es bis hierher geschafft hatte, war ich außer Gefahr. Ich brauchte dringend eine Zigarette und ging in den Laden Ihres Vaters. Er stand zwar hinterm Ladentisch, aber die Plünderer hatten nicht eine Packung Zigaretten zurückgelassen.«

Bosch hielt das Streichholzbriefchen hoch.

»Es gab jede Menge Streichhölzer, aber keine Zigaretten. Und dann fasste Ihr Vater in seine Tasche und holte seine eigenen heraus. Er hatte noch eine Zigarette übrig, und die hat er mir gegeben.«

Bosch nickte. Das war die ganze Geschichte. Das war alles.

»Ich kannte Ihren Vater nicht, Robert. Aber ich werde die Person finden, die ihn umgebracht hat. Das ist ein Versprechen, das ich halten werde.«

Robert Li nickte und blickte zu Boden.

»So«, sagte Bosch. »Und jetzt gehen wir zu Ihrer Mutter.«

4

Es dauerte fast bis Mitternacht, bis die Detectives denTatort freigaben und in den Bereitschaftsraum zurückkehrten. Bis dahin hatte es sich Bosch anders überlegt und beschlossen, die Angehörigen des Opfers nicht zu einer förmlichen Vernehmung ins PAB bringen zu lassen. Nachdem er sich mit ihnen darauf geeinigt hatten, dass sie am Mittwochmorgen zur Polizei kommen würden, ließ er sie nach Hause fahren, um dort zu trauern. Kurz nach ihrer Rückkehr in den Bereitschaftsraum schickte Bosch auch Ferras nach Hause, um die Wogen in seiner Familie zu glätten. Bosch blieb allein zurück, um das Beweismittelinventar zu erstellen und sich zum ersten Mal über den Fall Gedanken zu machen, ohne ständig gestört zu werden. Er wusste, am Mittwoch wartete einiges an Arbeit auf ihn: Am Vormittag die Gespräche mit den Angehörigen, und dann würden nach und nach die ersten Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchungen und möglicherweise auch der Obduktion eintrudeln.

Während bei Ferras’ Runde in den umliegenden Wohnungen und Geschäften erwartungsgemäß nichts herausgekommen war, hatte die erste Befragung der Angehörigen des Opfers zu einem möglichen Verdächtigen geführt. Am Samstagnachmittag, drei Tage vor seiner Ermordung, hatte Mr. Li einen jungen Mann zur Rede gestellt, der seiner Meinung nach regelmäßig Dinge aus dem Laden mitgehen ließ. Laut den von Detective Chu übersetzten Aussagen Mrs. Lis hatte der Jugendliche aufgebracht abgestritten, jemals etwas aus dem Laden gestohlen zu haben, und prompt die Rassismuskarte gezogen und behauptet, Mr. Li habe ihn nur beschuldigt, weil er schwarz sei. Das entbehrte nicht einer gewissen Absurdität, weil der Laden neunundneunzig Prozent seines Umsatzes mit Anwohnern machte, die schwarz waren. Jedenfalls rief Li nicht die Polizei, sondern erteilte dem Jugendlichen lediglich Hausverbot und verlangte von ihm, sich nie mehr in seinem Laden blicken zu lassen. Mrs. Li erzählte Chu, darauf sei der Junge gegangen, habe ihrem Mann aber noch hingeschleudert, dass er ihm das nächste Mal, wenn er in den Laden käme, die Rübe wegpusten würde. Daraufhin hatte Li seine Pistole unter dem Ladentisch hervorgeholt und auf den Jugendlichen gerichtet, um ihm zu verstehen zu geben, das solle er ruhig mal versuchen.

Das hieß, der Junge hatte von der Pistole gewusst, die Li unter dem Ladentisch aufbewahrte. Wenn er seine Drohung hätte wahrmachen wollen, hätte er in den Laden kommen und Li, ohne lange zu fackeln, erschießen müssen, bevor dieser seine Pistole ziehen konnte.

Bosch hatte vor, am nächsten Morgen mit Mrs. Li die Gang-Bücher durchzusehen, um festzustellen, ob sie den Jungen auf einem der Fotos wiedererkannte. Wenn er zu den Hoover Street Criminals gehörte, standen die Chancen gut, dass ein Bild von ihm in den Büchern war.

Aber Bosch glaubte nicht, dass es ein brauchbarer Anhaltspunkt war und der Junge als Verdächtiger infrage kam. Es gab am Tatort Verschiedenes, was nicht zu einem Mord aus Rache passte. Selbstverständlich würden sie dieser Spur nachgehen und mit dem Jungen reden, aber Bosch rechnete nicht damit, den Fall mit ihm als Täter zum Abschluss zu bringen. Das wäre zu einfach gewesen, und bei diesem Fall deutete einiges darauf hin, dass seine Lösung nicht ganz so simpel war.

Neben dem Büro des Captains war ein Besprechungszimmer mit einem langen Holztisch, das in den Mittagspausen vor allem als Aufenthaltsraum genutzt wurde. Ansonsten fanden dort gelegentlich Personalversammlungen oder Besprechungen zu Fällen statt, an denen mehrere Ermittlerteams beteiligt waren. Der Bereitschaftsraum war inzwischen leer, und Bosch hatte das Zimmer unter Beschlag genommen und mehrere Tatortfotos, frisch von der Spurensicherung, auf dem Konferenztisch ausgebreitet.

Er hatte die Fotos zu einem Mosaik aus sich überlappenden Bildern zusammengefügt, die als Ganzes betrachtet den gesamten Tatort abbildeten. Es erinnerte stark an die Fotoarbeiten des britischen Künstlers David Hockney, der eine Weile in Los Angeles gelebt und zahlreiche Fotokollagen von südkalifornischen Szenen geschaffen hatte. Bosch kannte die Fotomosaiken des Künstlers, weil Hockney in den Hügeln über dem Cahuenga Pass eine Weile sein Nachbar gewesen war. Obwohl Bosch Hockney nie persönlich kennengelernt hatte, fühlte er sich dem Künstler verbunden, weil er seine Tatortfotos immer schon zu einem Mosaik zusammengefügt hatte, das ihm ermöglichte, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und neue Details zu entdecken. Genauso verfuhr Hockney bei seiner Arbeit.

Als Bosch sich nun, an einem Becher schwarzem Kaffee nippend, die Fotos ansah, lenkten zunächst dieselben Dinge seine Aufmerksamkeit auf sich, die ihm schon am Tatort am stärksten in die Augen gefallen waren. Ganz besonders galt das für die Hennessy-Flaschen, die unangetastet hinter dem Ladentisch aufgereiht standen. Bosch bezweifelte, dass eine Gang hinter dem Mord steckte, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass ein Gang-Mitglied zwar das Geld, aber keine einzige Flasche Hennessy mitgenommen hätte. Der Cognac wäre eine Trophäe gewesen. Und er befand sich in Reichweite, vor allem dann, wenn sich der Täter über den Ladentisch gebeugt hatte oder sogar hinter ihn gegangen war, um die Patronenhülsen einzusammeln. Warum dann nicht auch den Hennessy mitnehmen?

Das ließ für Bosch nur einen Schluss zu: Sie hatten es mit einem Täter zu tun, den der Hennessy nicht interessiert hatte. Mit einem Täter, der keiner Gang angehörte.

Der nächste wichtige Punkt waren die Wunden des Opfers. Nach Boschs Ansicht kam schon allein ihretwegen der geheimnisvolle Ladendieb nicht als Tatverdächtiger infrage. Drei Schüsse in die Brust ließen keinen Zweifel daran, dass der Täter das Opfer hatte töten wollen. Aber er hatte ihm nicht ins Gesicht geschossen, und das sprach gegen die Annahme, dass es sich um einen Mord aus Wut oder Rache handelte.

Bosch hatte in Hunderten von Mordfällen ermittelt, bei denen vorwiegend Schusswaffen zum Einsatz gekommen waren, und er wusste, dass bei einem Schuss ins Gesicht einem Mord mit großer Wahrscheinlichkeit persönliche Motive zugrunde lagen und der Täter jemand war, der das Opfer kannte. Umgekehrt hieß das: Bei drei Schüssen in die Brust ging es nicht um etwas Persönliches, sondern um rein Geschäftliches. Bosch war sich sicher, dass der unbekannte Ladendieb nicht der Mörder war. Höchstwahrscheinlich hatte John Li seinen Mörder vorher nie gesehen. Es war jemand gewesen, der einfach in den Laden gekommen war und Li dreimal in die Brust geschossen hatte, dann in aller Ruhe die Registrierkasse ausgeräumt und die Patronenhülsen eingesammelt hatte und schließlich ins Hinterzimmer gegangen war, um die DVD aus dem Aufzeichnungsgerät der Überwachungskamera zu nehmen.

Bosch vermutete, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um ein Erstdelikt handelte, und nahm sich vor, am nächsten Morgen nach ähnlichen Straftaten im Großraum Los Angeles zu forschen.

Als er das Foto vom Gesicht des Opfers betrachtete, fiel ihm plötzlich etwas auf. Lis Kinn und Wangen waren blutverschmiert. Aber die Zähne waren sauber.

Bosch hielt das Foto näher an seine Augen und überlegte, was das bedeuten könnte. Bisher hatte er angenommen, dass Li das Blut, das sich auf seinem Gesicht befand, ausgehustet hatte; dass es mit seinen letzten stoßartigen Atemzügen aus seinen zerfetzten Lungenflügeln gekommen war. Aber wie sollte das gehen, ohne dass Blut auf seinen Zähnen zurückblieb?

Bosch legte das Foto an seinen Platz zurück und ließ den Blick über das Bildermosaik zur rechten Hand des Opfers wandern. Sie war an die Seite des Toten hinabgesunken. Von dem Blut auf Fingern und Daumen zog sich ein dünnes Rinnsal zur Handfläche hinab.

Boschs Blick wanderte wieder zum blutverschmierten Gesicht des Toten, und plötzlich wurde ihm klar, dass sich Li mit seiner blutigen Hand an den Mund gefasst hatte. Es war zu einer zweimaligen Übertragung gekommen. Li hatte mit der Hand seine Brust berührt, sodass Blut an seine Finger gekommen war, und dieses Blut von seiner Hand auf den Mund übertragen.

Die Frage war nun, warum. Waren diese Bewegungen eine Folge der letzten Todeszuckungen gewesen, oder hatte Li dies aus einem bestimmten Grund getan?

Bosch holte sein Handy heraus und rief die nur Ermittlern zugängliche Nummer der Rechtsmedizin an, die er in seinem Schnellwahlverzeichnis hatte. Während es anläutete, sah er auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach Mitternacht.

»Rechtsmedizin.«

»Ist Cassel noch da?«

Max Cassel war der Ermittler, der den Tatort im Fortune Liquors untersucht und die Leiche hatte abtransportieren lassen.

»Nein, er ist gerade … nein, halt, er ist noch hier.«

Bosch wurde zu Cassel durchgestellt, und der Rechtsmediziner nahm das Gespräch an.

»Ist mir völlig egal, wer Sie sind, ich bin schon zur Tür raus. Bin nur noch mal zurückgekommen, weil ich meinen Kaffeewärmer vergessen habe.«

Bosch wusste, dass Cassel draußen in Palmdale wohnte und mindestens eine Stunde zur Arbeit fahren musste. Kaffeebecher mit Warmhaltevorrichtungen, die man an den Zigarettenanzünder anschloss, waren für Pendler mit langen Fahrtzeiten ein Muss.

»Ich bin’s, Bosch. Haben Sie meinen Mann schon in einen Schub gepackt?«

»Nein, die sind alle besetzt. Er ist in Eisbox drei. Aber ich bin fertig mit ihm und fahre jetzt, Bosch.«

»Schon klar. Nur eine kurze Frage. Haben Sie in seinen Mund geschaut?«

»Was soll denn das für eine Frage sein: ob ich in seinen Mund geschaut habe? Klar habe ich in seinen Mund geschaut. Das ist mein Job.«

»Und war dort nichts? Nichts in Mund oder Rachen?«

»Doch, dort war was.«

Bosch durchzuckte ein Adrenalinstoß.

»Warum haben Sie mir davon nichts gesagt? Was hatte er im Mund?«

»Seine Zunge.«

Das Adrenalin versiegte, und bei Bosch war schlagartig die Luft raus. Cassel lachte leise. Bosch hatte geglaubt, er wäre auf eine neue Spur gestoßen.

»Sehr witzig. War denn auch Blut drin?«

»Ja, ein bisschen. Auf der Zunge und im Rachen. Steht alles in meinem Befund, den Sie morgen erhalten.«

»Aber drei Schüsse. Seine Lunge muss ausgesehen haben wie ein Schweizer Käse. Muss da nicht eine Menge Blut ausgetreten sein?«

»Nicht, wenn er schon tot war. Nicht, wenn der erste Schuss das Herz getroffen hat, sodass es zu schlagen aufgehört hat. Aber ich muss jetzt wirklich los, Bosch. Sie haben morgen um zwei einen Termin bei Laksmi. Dann können Sie das alles sie fragen.«

»Werde ich. Aber jetzt rede ich mit Ihnen. Ich glaube, wir haben etwas übersehen.«

»Wie bitte?«

Bosch blickte auf die Fotos, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Sein Blick wanderte von der Hand zum Gesicht.

»Ich glaube, er hat sich etwas in den Mund gesteckt.«

»Wer?«

»Das Opfer. Mr. Li.«

In der Stille, die daraufhin eintrat, überlegte Cassel wahrscheinlich, was er übersehen haben könnte.

»Also, wenn das wirklich so ist, habe ich jedenfalls nichts in seinem Mund gesehen. Und wenn er es hinuntergeschluckt hat, fällt es nicht unter meine Zuständigkeit. Dann ist es Laksmis Sache, und sie wird es morgen finden – wenn da wirklich etwas ist.«

»Könnten Sie ihr einen Vermerk machen, dass sie auch wirklich darauf achtet?«

»Bosch, ich möchte jetzt endlich nach Hause. Sagen Sie ihr das am besten selbst, wenn Sie morgen zum Tranchieren kommen.«

»Ich weiß, aber zur Sicherheit. Machen Sie einen Vermerk.«

»Na schön, wenn Sie unbedingt meinen, dann mache ich eben einen Vermerk. Aber Sie wissen schon, dass hier niemand mehr Überstunden bezahlt bekommt, Bosch.«

»Ja, weiß ich. Ist bei uns auch nicht anders. Danke, Max.«

Bosch beendete das Gespräch und beschloss, die Fotos vorerst beiseitezulegen. Ob seine Schlussfolgerung richtig war, würde die Obduktion zeigen, und bis dahin gab es nichts, was er tun konnte.

Er griff nach den zwei Beweismitteltüten mit den DVDs, die neben dem Aufnahmegerät der Überwachungskamera gelegen hatten. Jede befand sich in einer flachen Hülle, auf die mit Marker ein Datum gekritzelt war. Auf einer stand 1. September – das war genau eine Woche zuvor gewesen –, auf der anderen 27. August. Bosch ging mit den Discs zu der Anlage an der Rückwand des Besprechungszimmers und legte die vom 27. August in den DVD-Player ein.

Auf dem geteilten Bildschirm erschienen die Bilder zweier Kameras. Eine war auf den vorderen Teil des Getränkemarkts mit der Registrierkasse gerichtet, die andere zeigte den hinteren Teil des Geschäfts. Am oberen Bildschirmrand waren Uhrzeit und Datum eingeblendet. Die Vorgänge im Laden waren in Echtzeit aufgenommen. Bosch stellte fest, dass er sich, da der Laden von elf bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet war, zweiundzwanzig Stunden Videoaufnahmen ansehen müsste, wenn er nicht den Schnellvorlauf benutzte. Er sah wieder auf die Uhr. Er wusste, entweder konnte er die Nacht durcharbeiten und herauszufinden versuchen, warum John Li diese zwei DVDs aufgehoben hatte, oder er konnte nach Hause fahren und sich ein wenig ausruhen. Es ließ sich nie vorhersehen, was ein Fall mit sich brachte, und es schadete nie, gut ausgeruht zu sein. Dazu kam, dass nichts darauf hindeutete, dass die DVDs etwas mit dem Mord zu tun hatten. Die Disc, die sich zum Zeitpunkt der Tat im Aufnahmegerät befunden hatte, war verschwunden. Auf ihr war der Mord aufgezeichnet, aber sie war weg.

Was soll’s, dachte Bosch und beschloss, sich die erste Disc anzusehen. Vielleicht gelang es ihm, das Rätsel zu lösen. Er zog sich einen Stuhl heran, ließ sich damit vor dem Fernsehgerät nieder und stellte den Suchlauf auf das Vierfache der normalen Abspielgeschwindigkeit. Er schätzte, er bräuchte knapp drei Stunden, um die erste DVD durchlaufen zu lassen. Dann würde er nach Hause fahren, ein paar Stunden schlafen und am Morgen wie alle anderen wieder zum Dienst kommen.

»Hört sich doch gar nicht so schlecht an«, sagte er zu sich selbst.

5

Bosch wurde unsanft aus dem Schlaf gerissen, und alser die Augen öffnete, sah er Lieutenant Gandle auf sich herabstarren. Er brauchte einen Moment, um einen klaren Kopf zu bekommen und zu begreifen, wo er war.

»Lieutenant?«

»Was machen Sie in meinem Büro, Bosch?«

Bosch setzte sich auf der Couch auf.

»Ich … ich habe im Besprechungszimmer ein Video angesehen, und dann wurde es so spät, dass es sich nicht mehr gelohnt hat, nach Hause zu fahren. Wie spät ist es jetzt?«

»Fast sieben. Aber das ist trotzdem keine Erklärung dafür, wie Sie in mein Büro gekommen sind. Ich habe die Tür abgeschlossen, als ich gestern Abend nach Hause gefahren bin.«

»Tatsächlich?«

»Ja, tatsächlich.«

Bosch nickte und tat so, als müsste er erst einen klaren Kopf bekommen. Er war froh, dass er die Picks in seine Brieftasche zurückgesteckt hatte, nachdem er die Tür damit geöffnet hatte. Gandle hatte die einzige Couch in der Robbery-Homicide Division.

»Vielleicht war das Reinigungspersonal hier und hat abzuschließen vergessen«, versuchte er, sich herauszureden.

»Nein, die haben keinen Schlüssel. Nur damit das klar ist, Harry, ich habe nichts dagegen, wenn jemand auf meiner Couch schläft. Aber wenn die Tür abgeschlossen ist, hat das einen Grund. Es geht nicht an, dass jemand meine Tür öffnet, wenn ich sie abgesperrt habe.«

»Klar, Lieutenant, natürlich. Aber glauben Sie, wir könnten vielleicht für den Bereitschaftsraum eine Couch bekommen?«

»Mal sehen, ob sich da etwas machen lässt, aber darum geht es nicht.«

Bosch stand auf.

»Schon verstanden. Dann mache ich mich mal lieber wieder an die Arbeit.«

»Nicht so schnell. Was war so interessant an diesem Video, dass Sie deswegen die ganze Nacht hiergeblieben sind?«

Bosch schilderte dem Lieutenant kurz, was er entdeckt hatte, als er sich mitten in der Nacht fünf Stunden lang die zwei DVDs angesehen hatte, und dass ihnen John Li unbeabsichtigt etwas hatte zukommen lassen, was nach einem konkreten Anhaltspunkt aussah.

»Soll ich es Ihnen im Besprechungszimmer kurz vorspielen?«

»Warten wir lieber, bis Ihr Partner hier ist. Dann können wir es uns gemeinsam ansehen. Holen Sie sich erst mal einen Kaffee.«

Bosch verließ Gandles Büro und ging durch den Bereitschaftsraum, ein unpersönliches Labyrinth aus Abteilen und Schallschutzwänden. Es herrschte eine Stille wie in einem Versicherungsbüro; genau genommen war es so leise, dass Bosch manchmal Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren. Im Moment war der Raum noch leer, aber er würde sich rasch füllen. Gandle kam immer als Erster zum Dienst. Er wollte der Truppe mit gutem Beispiel vorangehen.

Bosch fuhr in die Cafeteria hinunter, die seit sieben geöffnet hatte, aber noch leer war, weil das Gros des Polizeipersonals noch im Parker Center arbeitete. Der Umzug in das neue Police Adminstration Building ging langsam voran. Zuerst ein paar Ermittlereinheiten, dann der Verwaltungsapparat und schließlich der Rest. Es war eine gleitende Übersiedlung, und die offizielle Einweihung würde frühestens in zwei Monaten stattfinden. Vorerst hieß das, dass es in der Cafeteria keine Schlangen gab, aber auch keine vollständige Speisekarte. Bosch holte sich ein Polizistenfrühstück: zwei Donuts und einen Kaffee. Außerdem nahm er für Ferras einen Kaffee mit. Die Donuts schlang er hastig hinunter, während er Milch und Zucker in die Tasse seines Partners gab, dann nahm er den Lift nach oben. Wie erwartet, saß sein Partner an seinem Schreibtisch, als er in den Bereitschaftsraum zurückkehrte. Bosch stellte ihm einen der Kaffeebecher hin und ging in sein Abteil.

»Danke, Harry«, sagte Ferras. »Hätte ich mir eigentlich denken können, dass du vor mir … Moment, diesen Anzug hattest du doch gestern schon an. Sag bloß, du hast die ganze Nacht durchgearbeitet.«

Bosch setzte sich.

»Ein paar Stunden habe ich auf der Couch des Lieutenants geschlafen. Wann kommen Mrs. Li und ihr Sohn her?«

»Ich habe sie um zehn einbestellt. Warum?«

»Ich glaube, ich bin auf was gestoßen, dem wir nachgehen sollten. Ich habe mir gestern Nacht die zwei anderen DVDs aus dem Laden angesehen.«

»Und?«

»Nimm deinen Kaffee mit, dann zeige ich es dir. Der Lieutenant möchte es sich auch ansehen.«

Zehn Minuten später stand Bosch mit der Fernbedienung vor der Videoanlage, Ferras und Gandle saßen am Ende des Konferenztischs. Er spielte die Disc mit der Aufschrift 1. September zu der fraglichen Stelle vor und hielt dann das Bild an.

»Also, der Täter hat die DVD aus dem Aufnahmegerät genommen, damit wir von dem, was gestern im Laden passiert ist, keine Videoaufzeichnung haben. Was wir aber haben, sind zwei andere DVDs, eine vom siebenundzwanzigsten August, die andere vom ersten September. Das hier ist die Diskette vom ersten September, also zufällig genau gestern vor einer Woche. So weit alles klar?«

»Ja«, sagte Gandle.

»Der Grund, warum Mr. Li die beiden Disketten aufgehoben hat, ist folgender: Er hat darauf zwei Ladendiebe aufgenommen. Das verbindende Element zwischen den beiden DVDs ist, dass an diesen beiden Tagen dieselben zwei Typen in den Laden gekommen sind; einer kommt an den Ladentisch und kauft Zigaretten, der andere geht den Gang mit den Spirituosen runter. Der Erste lenkt Li von seinem Partner und dem Überwachungsmonitor ab, den Li hinter dem Ladentisch stehen hat. Als Li dem Kerl am Ladentisch die Zigaretten gibt, lässt der andere zwei Flaschen Wodka in seiner Hose verschwinden und kommt mit einer dritten nach vorn, um sie zu bezahlen. Der Typ am Ladentisch holt seine Geldbörse raus, merkt, dass er vergessen hat, Geld einzustecken, und die beiden verlassen den Laden, ohne etwas gekauft zu haben. Diese Nummer ziehen sie an beiden Tagen ab, nur jeweils mit vertauschten Rollen. Und das ist meiner Meinung nach der Grund, warum Li die DVDs aufgehoben hat.«

»Du meinst, er wollte Beweise gegen sie sammeln?«, fragt Ferras.

»Gut möglich«, sagte Bosch. »Wenn er die zwei auf Video hatte, hätte er der Polizei etwas Konkretes an die Hand geben können.«

»Und das ist Ihr Anhaltspunkt?«, fragte Gandle. »Deswegen haben Sie die ganze Nacht gearbeitet? Ich habe die Berichte gelesen, aber ich glaube, mir gefällt der Junge, den Li mit der Pistole bedroht hat, besser.«

»Nein, das ist nicht der Anhaltspunkt«, knurrte Bosch unwirsch. »Es ist nur der Grund, weshalb Li die DVDs aus dem Aufnahmegerät genommen und aufgehoben hat. Er muss diese zwei Typen durchschaut haben, und deshalb hat er diese Aufnahmen nicht überspielt. Allerdings hat er auf der DVD vom ersten September zufällig auch noch das gefilmt.«

Bosch ließ die Aufnahme zurücklaufen. Beide Kameraeinstellungen auf dem geteilten Bildschirm zeigten, dass der Laden bis auf Li hinter dem Ladentisch leer war. Der Zeitangabe am oberen Bildschirmrand zufolge war es Dienstag, der 1. September, 15:03 Uhr.

Die Ladentür ging auf, und ein Kunde kam herein. Er winkte Li am Ladentisch beiläufig zu und ging in den hinteren Teil des Getränkemarkts. Trotz der körnigen Aufnahme war deutlich zu erkennen, dass der Kunde ein Asiate Anfang dreißig war. Die zweite Kamera zeigte, wie er zu einem der Kühlschränke ging und eine Dose Bier herausnahm. Damit ging er dann wieder nach vorn an den Ladentisch.

»Was macht der Kerl da?«, fragte Gandle.

»Schauen Sie einfach«, sagte Bosch.

Am Ladentisch sagte der Kunde etwas zu Li, worauf der alte Chinese zu dem Drahtgestell über ihm hochfasste und eine Stange Camel herausnahm. Er legte sie auf den Ladentisch und packte die Bierdose in eine kleine braune Papiertüte.

Der Kunde hatte eine beeindruckende Figur. Er war klein und gedrungen, hatte aber dicke Arme und breite Schultern. Er warf einen Geldschein auf den Ladentisch, und Li nahm ihn und öffnete die Kasse. Er legte den Schein in das letzte Fach der Schublade, zählte mehrere Scheine Wechselgeld ab und reichte sie dem Kunden. Dieser nahm sie und steckte sie ein. Dann klemmte er sich die Stange Zigaretten unter den Arm, griff nach dem Bier und deutete mit dem Zeigefinger seiner freien Hand wie mit einer Pistole auf Li. Er bewegte den Daumen, als drückte er ab, und verließ den Laden.

Bosch hielt die Aufnahme an.

»Was sollte das jetzt?«, fragte Gandle. »War das mit dem Finger eine Drohung? Haben Sie das gemeint?«

Ferras sagte zwar nichts, aber Bosch war sich ziemlich sicher, dass sein junger Partner bemerkt hatte, was Bosch ihm und Gandle hatte vorführen wollen. Er spulte die Aufnahme zurück und spielte sie noch einmal ab.

»Fällt dir irgendwas auf, Ignacio?«

Ferras machte einen Schritt nach vorn, um auf den Bildschirm deuten zu können.

»Zuallererst, der Typ ist Asiate. Er ist also nicht aus dem Viertel.«

Bosch nickte.

»Ich habe mir vierundzwanzig Stunden Videoaufnahmen angesehen. Der Kerl war außer Li und seiner Frau der einzige Asiate, der in den Laden gekommen ist. Was noch, Ignacio?«

»Das Wechselgeld«, sagte Ferras. »Er bekommt mehr heraus, als er Li gegeben hat.«

Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie Li die Scheine aus der Kasse nahm.

»Da, Li legt den Geldschein, den ihm der Typ gegeben hat, in die Schublade, und dann gibt er ihm Geld zurück, unter anderem auch den Schein, den er gerade bekommen hat. Der Typ kriegt also das Bier und die Zigaretten umsonst und dazu noch das ganze Geld.«

Bosch nickte. Ferras war gut.

»Wie viel hat er genau bekommen?«, fragte Gandle.

Das war eine gute Frage. Die Aufnahme war nämlich zu körnig, um den Wert der einzelnen Scheine erkennen zu können.

»Die Schublade hat vier Fächer«, sagte Bosch. »Jeweils einen für Einer, Fünfer, Zehner und Zwanziger. Ich habe mir die Aufnahme gestern Nacht in Zeitlupe angesehen. Li legt den Schein des Kunden in das vierte Fach. Eine Stange Zigaretten und ein Bier. Es müsste also das Fach für die Zwanziger sein. Vorausgesetzt, das ist richtig, gibt Li dem Kerl einen Einer, einen Fünfer, einen Zehner und elf Zwanziger. Beziehungsweise zehn Zwanziger, wenn man den Schein, den ihm der Kunde zuerst gegeben hat, nicht zählt.«

»Es ist eine Schutzgeldzahlung«, stellte Ferras fest.

»Zweihundertsechsunddreißig Dollar?« Gandle klang nicht sehr überzeugt. »Etwas eigenartiger Betrag für ein Schutzgeld. Aber man sieht, dass noch Geld in der Schublade ist. Demnach war es auf jeden Fall ein fester Betrag.«

»Genau genommen«, meinte Ferras, »waren es zweihundertsechzehn, wenn man den Zwanziger abzieht, den der Kunde Li ursprünglich gegeben hat.«

»Richtig«, sagte Bosch.

Eine Weile blickten die drei Männer wortlos die angehaltene Aufnahme auf dem Bildschirm an.

»Tja, Harry«, sagte Gandle schließlich. »Und was hat das nun Ihrer Meinung nach zu bedeuten?«

Bosch deutete auf die Zeitangabe am oberen Bildschirmrand.

»Diese Zahlung erfolgte genau eine Woche vor dem Mord. Dienstag vor einer Woche um fünfzehn Uhr. Diesen Dienstag um fünfzehn Uhr wird Mr. Li erschossen. Vielleicht hat er sich diese Woche zu zahlen geweigert.«