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In diesem Band werden zunächst Klinik, Ätiologie und ein somatisch-neuropsychologisches Störungsmodell des idiopathischen Parkinson-Syndroms erläutert. Neben der Parkinson-Demenz und den vielfältigen anderen kognitiven Besonderheiten werden zudem parkinson-typische psychische Beschwerden und Störungen wie Depression, Angst und Impulskontrollstörungen thematisiert. Auch auf die krankheitsspezifischen Belastungen und die Beeinträchtigung der Lebensqualität sowie die Fahrtauglichkeit der Betroffenen wird eingegangen. Ausführlich wird das adäquate Vorgehen bei den unterschiedlichen neuropsychologisch-diagnostischen Fragestellungen geschildert. Für die neuropsychologische Therapie werden restitutive Ansätze, kombinierte Trainings kognitiver und motorischer Funktionen, Verfahren mit Alltagstransfer und heimbasierte Ansätze sowie bewältigungsorientierte Zugänge beschrieben. Hinweise zum Vorgehen bei spezifischen Indikationen (verschiedene Krankheitsphasen, behaviorale Medikamentennebenwirkungen etc.) und zum Umgang mit Angehörigen runden den praxisorientierten Band ab.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Bernd Leplow
Hubert Ringendahl
Neuropsychologie des idiopathischen Parkinson-Syndroms
Fortschritte der Neuropsychologie
Band 24
Neuropsychologie des idiopathischen Parkinson-Syndroms
Prof. Dr. Bernd Leplow, Dr. Hubert Ringendahl
Die Reihe wird herausgegeben von:
Dr. Angelika Thöne-Otto, Prof. Dr. Siegfried Gauggel, Prof. Dr. Dr. Hans-Otto Karnath, Dr. Hendrik Niemann, Prof. Dr. Boris Suchan
Die Reihe wurde begründet von:
Dr. Angelika Thöne-Otto, Prof. Dr. Herta Flor, Prof. Dr. Siegfried Gauggel, Prof. Dr. Stefan Lautenbacher, Dr. Hendrik Niemann
Prof. Dr. Bernd Leplow, geb. 1953. 1975 – 1981 Studium der Psychologie in Hamburg. 1988 Promotion, 1994 Habilitation. 1999 – 2018 Professor für Klinische Psychologie & Psychotherapie mit Biologischer Psychologie und Neuropsychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU). Seit 2018 Seniorprofessor an der MLU in Halle und derzeit Mitglied des Direktoriums im interdisziplinären wissenschaftlichen Zentrum Medizin-Ethik-Recht (MER) der MLU.
Dr. phil. Hubert Ringendahl, geb. 1953. 1974 – 1980 Studium der Psychologie in Heidelberg. 1992 Promotion. 1980 – 2018 Tätigkeit als Klinischer Neuropsychologe, zuletzt im Universitätsklinikum Wuppertal. 1987 – 2011 Dozent für Neuropsychologische Diagnostik an der Bergischen Universität Wuppertal. Seit 2018 freiberuflicher Neuropsychologischer Gutachter im Ruhestand.
Bernd Leplow: Gewidmet den vielen, nicht verzagenden Parkinson-Betroffenen.
Hubert Ringendahl: Gewidmet meinem begeisternden Lehrer, Prof. Dr. med. Johannes Jörg.
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Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
Format: EPUB
1. Auflage 2022
© 2022 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2747-8; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2747-9)
ISBN 978-3-8017-2747-5
https://doi.org/10.1026/02747-000
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Vorwort und Danksagung
1 Beschreibung der Parkinson-Erkrankungen
1.1 Das Idiopathische Parkinson-Syndrom (IPS) und die medizinischen Differenzialdiagnosen
1.1.1 Motorische Kardinal- und Spätsymptome
1.1.2 Nichtmotorische Symptome und Zeichen der Prodromalphase
1.1.3 Psychische Störungen und emotionale Beschwerden
1.1.4 Kognitive Störungen
1.1.5 Medizinische Differenzialdiagnosen
1.1.6 Medizinische Behandlungen
1.1.6.1 Pharmakologische Therapien
1.1.6.2 Operative Verfahren
1.2 Epidemiologische Daten
1.3 Verlauf und Prognose des Idiopathischen Parkinson-Syndroms
2 Ätiologie
3 Verhaltensneurobiologisches Störungsmodell
3.1 Prädisponierende Faktoren
3.2 Manifestationsphase
3.3 Auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen
3.4 Modulierende Faktoren
4 Diagnostik
4.1 Allgemeine Hinweise zur neuropsychologischen Diagnostik des Idiopathischen Parkinson-Syndroms
4.2 Neuropsychologische Screening-Verfahren
4.2.1 Montreal Cognitive Assessment (MoCA)
4.2.2 Parkinson Neuropsychometric Dementia Assessment (PANDA)
4.2.3 Mattis Dementia Rating Scale (MDRS/DRS)/Dementia Rating Scale 2 (DRS-2)
4.2.4 Frontal Assessment Battery (FAB)
4.2.5 CERAD-NP
4.3 Kognitiver Abbau und Alltagsbeeinträchtigung
4.4 Domänenspezifische Leistungsprüfungen mit praktischen Empfehlungen
4.5 Neuropsychologische Diagnostik der Parkinson-Demenz und ihrer Vorstadien
4.6 Diagnostik von Veränderungen
4.7 Besondere diagnostische Fragestellungen
4.7.1 Fahreignung
4.7.2 Tiefe Hirnstimulation
4.8 Diagnostik der emotionalen, behavioralen und sozialen Funktionsebenen
4.8.1 Depression
4.8.2 Angst
4.8.3 Impulskontrollstörungen (IKS)
4.8.4 Lebensqualität
4.8.5 Krankheitsbedingte Belastungen
5 Behandlung
5.1 Neuropsychologische Therapie
5.1.1 Neuropsychologische Trainingsansätze
5.1.2 Kombinierte Trainings kognitiver und motorischer Funktionen
5.1.3 Verfahren mit Alltagstransfer und heimbasierte Ansätze
5.1.4 Bewältigungsorientierte Zugänge
5.1.5 Spezifische Indikationen
5.1.5.1 Frühe und mittlere Krankheitsphasen
5.1.5.2 Späte Krankheitsphasen
5.1.5.3 Behaviorale Medikamentennebenwirkungen
5.1.5.4 Tiefe Hirnstimulation
5.1.5.5 Angehörige
5.1.5.6 Zusammenfassung
5.2 Weitere Therapien und Versorgungsmaßnamen
6 Fallbeispiel
6.1 Neuropsychologische Diagnostik
6.2 Beurteilung und Fazit
6.3 Neuropsychologische Therapie
7 Literatur
8 Glossar
Karten
Flussdiagramm der neuropsychologischen
An alles gedacht?
Besonderheiten, die bei der neuropsychologischen Diagnostik des IPS beachtet werden müssen
Verdacht auf atypisches Syndrom gerechtfertigt?
Hinweise zu den Karten
„Vor der Therapie die Diagnostik!“ Dieser Grundsatz gilt natürlich auch für (neuro)psychologische Interventionen. Insbesondere beim Parkinson-Syndrom findet sich eine oft verblüffende Vielfalt defizitärer und erhaltener Funktionen. Nicht selten löst sich ein kognitives Defizit bei veränderten situativen Rahmenbedingungen wieder auf. Manchmal kann es hervorragend kompensiert werden und häufig helfen externale Cues, um eine blockierte Funktion wieder in Gang zu setzen. Die Autoren dieses Bandes haben sich jeweils Jahrzehnte der Berufstätigkeit mit den vielfältigen Problemen rund um die Parkinson-Symptomatik beschäftigt und doch nie die Faszination der diagnostischen und interventionellen Herausforderungen verloren.
So möchten wir auch die Leserinnen und Leser ermutigen, sich diesen Fragen anzunehmen. Wichtig ist es uns dabei, dass immer auch die verbliebenen Kompetenzen diagnostisch abgebildet werden. Denn nicht alles, was nach einer Gedächtnisstörung aussieht, ist auch eine und nicht selten lässt sich die nach dem Ergebnis eines Screening-Verfahrens oder nach klinischem Eindruck zu vermutende „Demenz“ auf eine ihrer Vorstadien oder ein spezifisches Muster kognitiver Teilleistungsstörungen zurückführen. Es geht also immer um die Gesamtbefundung, die den emotionalen Status und die psychosoziale Situation ebenso beinhaltet wie die Diagnostik psychischer Störungen und Beschwerden.
In diesem Zusammenhang gilt unser besonderer Dank den Betroffenen, denen wir in unserer klinischen Arbeit und auf den jährlichen Fachtagungen des Psychologischen Beirates der Deutschen Parkinson Vereinigung (dPV) begegnet sind. Von ihnen haben wir viele Anregungen für dieses Buch erhalten und erfahren, wie bewundernswert der Umgang mit dieser Erkrankung sein kann. Auch möchten wir uns bei den früheren und jetzigen Mitgliedern des Beirats für die teilweise jahrzehntelange und immer äußerst konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Wir danken auch der dPV mit ihren Mitgliedern, Regionalgruppenleitern und verschiedenen Vorständen sowie den Chefärztinnen und Chefärzten der Parkinsons-Fachkliniken für die stets ermutigende Zusammenarbeit.
|2|Bezüglich der Schreibweise verwenden wir in allen Fällen, in denen die betreffenden Personen direkt angesprochen werden, die männliche und weibliche Form. Dort, wo die entsprechende Bezeichnung als Appellativ gebraucht wird, gilt der jeweils geschlechtsneutral zu verstehende Begriff.
Strande, Wuppertal und Halle, März 2022
Bernd Leplow und
Hubert Ringendahl
Beim „Parkinson-Syndrom“ handelt es sich um eine neurodegenerative Erkrankung, die neben verschiedenen motorischen Symptomen auch vegetative Symptome, psychische Störungen und neurokognitive Minderleistungen umfasst. Unter einem Parkinson-Syndrom lässt sich u. a. das Idiopathische Parkinson-Syndrom (IPS)1 subsumieren, bei dem sich keine spezifische Ursache finden lässt.
Daneben können im Rahmen einer Parkinsonkrankheit folgende „atypische Syndrome“ vorliegen:
Multisystematrophie (MSA),
Progressive Supranukleäre Blickparese (PSP),
Corticobasale Degeneration (CBD),
Demenz mit Lewy-Körpern (DLB),
Sekundäre und Pseudo-Parkinson-Syndrome.
Auf diese Störungsbilder werden wir in einem eigenen Band in dieser Reihe eingehen (Ringendahl, Gandor & Leplow, in Vorbereitung). Im vorliegenden Buch wird zunächst nur das IPS beschrieben.
Typisch für das IPS ist die positive Wirkung externaler Auslöser. Diese „Cues“ können Bewegungsblockaden aufheben, motorische Abläufe starten oder takten, konzentrative und mnestische Funktionen verbessern sowie Antriebsstörungen auflösen und damit das zum Autoregulationsdefizit der Apathie führende depressionsähnliche Syndrom mildern.
|4|Das IPS ist durch vier Kardinalsymptome charakterisiert. Dieses ist zum einen der 4 – 6 Hertz starke Ruhetremor. Typisch ist für diese Tremorart, dass sie bei jeder Form von emotionaler Aktivierung zunimmt und auf diese Weise stets den inneren Erregungszustand des Betroffenen anzeigt. Der Tremor beginnt fast immer an den Fingern einer Hand in Form von „Pillendreher“-Bewegungen. Von dieser „distalen“ Lokalisation kann sich der Tremor nach einigen Jahren von der anderen Extremität derselben Seite auf alle Gliedmaßen ausdehnen und nach „proximal“ zum Körperstamm hin fortschreiten.
Das zweite Kardinalsymptom des IPS besteht in einer Hypokinese, die auf einer Verminderung der Bewegungsamplituden beruhenden Unterbeweglichkeit zurückgeht und des Öfteren nicht ganz zutreffend als „Akinese“ und bei mentalen Abläufen als „Bradykinese“ („Verlangsamung“) bezeichnet wird. Dieses „Minus-Symptom“ wirkt sich auch auf die Motorik der Mimik (auch „Hypomimie“, „Amimie“ oder „Maskengesicht“ genannt) und Sprechmuskulatur aus, wodurch das Sprechen leise, monoton, unmoduliert und vernuschelt klingt und der Gesichtsausdruck starr und teilnahmslos wirkt. Die Dysarthrophonien (Sprechstörungen) entstehen über die Störungen der für die Exekution der Sprechakte und Phonation zuständigen zentralen Systeme. Diskrete Veränderungen dieser Funktion zeigen sich schon sehr früh; markant ausgeprägt sind sie aber erst in den späteren Stadien. Des Weiteren kommt es durch die Hypokinese zu einer reduzierten Blinkfrequenz und einem vermehrten Speichelfluss, der auf einer reduzierten Fähigkeit beruht, den Speichel abzuschlucken.
Tabelle 1: Motorische Kardinal- und Spätsymptome
Kardinalsymptome
Spätsymptome
Ruhetremor
vermehrte Sturzneigung in Form der Pro-/Retro-/Lateropulsion
Hypokinese
Rigor
Freezing
Haltungsinstabilität
Dys-/Hyperkinesien
on-off Symptome
Sprechstörungen
Das dritte Symptom, der Rigor, ist eine Muskeltonusstörung, die vom Patienten zunächst als schmerzhafte Steifigkeit empfunden wird. Sie zeigt sich besonders bei passiver Bewegung der Extremität. Dieser „wächserne Widerstand“ tritt vor allem in den proximalen Bereichen der oberen Extremitäten auf. Viertens äußert sich die Haltungsinstabilität in Stand- und Gangunsicherheit. Sie lässt sich neurologisch über die Störungen der reflektorischen Ausgleichsbewegungen erfassen.
|5|Die Kardinalsymptome können von Fall zu Fall in unterschiedlich stark ausgeprägten Symptomkombinationen vorliegen. Auf diese Weise entsteht entweder ein „tremordominanter“, „akinetisch-rigider“ oder „Äquivalenztyp“. Ein zunehmend gebeugter Gang, ein kleinschrittiges („trippelndes“) sich Vorwärtsbewegen und Veränderungen der Sprechfunktionen sind zumindest in abgeschwächter Form jedoch für die meisten Erscheinungsformen des IPS typisch.
Im späteren Verlauf kommt es zu einer vermehrten Sturzneigung. Diese äußert sich in einem stolpernd, sich beschleunigenden Vorwärts-, Seitwärts- oder Rückwärtsstürzen (Pro-, Latero- oder Retropulsionen). Da dieses willentlich nur schwer zu stoppen ist, sind die Bewegungsanomalien mit großer Angst verbunden und führen regelhaft zu Sicherheits- und Vermeidungsverhalten.
Plötzliche, dosisunabhängige Bewegungsblockaden, „freezing“ („Einfrieren“) genannt, stellen ebenfalls hohe Anforderungen an die Anpassungsleistungen der Betroffenen. Sie entstehen typischerweise zu Beginn eines Bewegungsversuches, bei wahrgenommenen optischen Barrieren (z. B. Türdurchgänge, Veränderungen der Lauffläche etc.) und einer Vielzahl emotionaler Auslöser. Demgegenüber kann eine plötzlich auftretende unerwartete gute Beweglichkeit („paradoxe Kinesie“) entstehen, wenn durch die Art der (psychischen) Belastung (z. B. sehr starke Angst) oder sehr salienter, zum Beispiel visueller Stimuli, vorrangig nicht-dopaminerge Transmitter in einem sehr starken Ausmaß aktiviert werden. Allerdings kann die Beweglichkeit durch plötzlich auftretende Angst auch „einfrieren“.
In den späteren Stadien führen die „Spätdyskinesien“ zu ausgeprägten Gefühlen des Kontrollverlustes. Die tänzelnden Überschussbewegungen können im Prinzip alle Körperteile betreffen. Ebenso gravierend sind die Hilflosigkeitsgefühle durch die als „on-off“ Zustände bezeichneten Symptomfluktuationen. Dabei wechseln die Phasen guter Medikamentenwirkung („on“) mit solchen vollständiger Bewegungsunfähigkeit („off“). Die on-off- Zustände entstehen, weil die dopaminerge Ersatzmedikation aufgrund der fortschreitenden Neurodegeneration nicht mehr eine gleichmäßige Versorgung über den Tag hinweg gewährleisten kann.
Insgesamt führen diese Defizite der motorischen Kontrolle zu erheblichen Beeinträchtigungen der Alltagsfunktionen. Da vor allem die zentralen Steuerungszentren der Motorik betroffen sind, kommt es insbesondere bei Beginn und Beendigung einer Handlung zu Beeinträchtigung der motorischen Abläufe. Die Patienten benötigen zudem für alles deutlich mehr Zeit als zuvor. Ferner können sie nur schlecht mehrere Handlungen gleichzeitig durchführen, zwischen zwei Aufgaben hin- und herschalten, Handlungsprogramme im Voraus planen, auf visuelles Feedback oder die Hilfe externer Stimuli verzichten und einmal gestartete motorische Programme korrigieren. Die Schwierigkeiten betreffen auch eigentlich automatisierte Abläufe, |6|da die für diese Prozesse erforderlichen Handlungsregeln vom geschädigten System nicht mehr internal, also selbsttätig, generiert werden können. Das erklärt die starke Außenreizabhängigkeit sowohl bei der Initiierung der Motorik als auch bei deren Hemmung. Dieses gilt entsprechend auch für emotionale und kognitive Symptome.
Dem IPS liegt vorrangig eine Degeneration des dopaminergen Systems zugrunde. Allerdings handelt es sich um eine komplexe Systemerkrankung mit einer Vielzahl motorischer, vegetativer und psychischer Störungsebenen, die auf entsprechend vielfältigen Degenerationsprozessen und Fehlfunktionen unterschiedlicher Transmitter- und neuronaler Projektionssysteme basiert. Dieses betrifft unter anderem noradrenerge, serotononerge und cholinerge Neurone. In der Folge kommt es zudem zu Fehlfunktionen in den GABAergen und glutamatergen Systemen sowie in der Substanz P-, Enkephalin- und Dynorphin-basierten Neurotransmission. Vermutlich steht die von Patient zu Patient unterschiedliche Beteiligung der einzelnen Transmitter im Zusammenhang mit den verschiedenen Symptomvarianten der Parkinsonerkrankungen.
Merke
Das IPS ist keine reine Dopaminmangelerkrankung!
Die vor dem erstmaligen Auftreten der motorischen Symptome bestehende „Prodromalphase“ ist vor allem durch die in der Tab. 2 gelisteten vegetativen Symptome und Zeichen sowie einige psychische Beschwerdebilder gekennzeichnet. Als Dauer wird diese Phase zumeist bis zu sieben Jahre vor der Diagnose des IPS angegeben. In der davorliegenden präklinischen Phase sind keine spezifischen Symptome erkennbar. Da die dopaminerge Degeneration aber schon ein bis zwei Jahrzehnte vor der motorischen Phase beginnt, lassen sich auf der kognitiven und emotionalen Ebene durchaus subklinische Auffälligkeiten („Zeichen“) finden, die in ihrem Muster den Beschwerden und Störungen der späteren Parkinson-Patienten entsprechen (s. u., „Verlauf“ und „Ätiologie“).
Ein sehr auffälliges vegetatives Symptom sind die vorwiegend im Gesicht auftretenden Talgablagerungen. Diese führen zusammen mit der bereits genannten Amimie zu einer deutlichen ästhetischen Beeinträchtigung. Zusätzlich ist vielfach die Temperaturregulation gestört. Sichtbar wird das an einem oft heftigen Schwitzen.
|7|Des Weiteren können neurodegenerativ bedingte Herz-Kreislauf-Probleme auftreten, die auch die sympathische Innervation des Herzens umfasst. Im weiteren Verlauf zeigt sich diese in einer gestörten Kreislaufregulation mit vermehrten Schwindelanfällen.
Tabelle 2: Mögliche Prodromalzeichen und psychische Syndrome des IPS
Zeichen der Prodromalphase
psychische Syndrome im IPS-Vollbild
Riechstörung
komorbide psychische Störungen
Darmentleerungsstörungen
sekundäre & subsyndromale Störungen
Schlafstörungen
Anpassungsstörungen
Schmerzen & Verspannungen
Apathie & Fatigue
Affektive Veränderungen
Tagesmüdigkeit & Einschlafattacken
Angststörungen
Schlafstörungen
Sozialer Rückzug
Impulskontrollstörungen
Reizbarkeit & Unruhe
Sexuelle Funktionsstörungen
Dysexekutive Syndrome
Kognitive Teilleistungsstörungen
Störungen der visuellen Perzeption
Mild Cognitive Impairment (MCI)
Parkinson-Demenz (PDD)
Magenentleerungs- und Verdauungsprobleme, unspezifische Oberbauchbeschwerden sowie die Verstopfung und das Völlegefühl gehören zu den zentralen Symptomen der Prodromalphase. In den späteren Stadien führen die Motilitätsstörungen des Magen-Darmtraktes zu Beeinträchtigungen der Nahrungsaufnahme, Übelkeit, Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust. Dabei scheinen die Darmentleerungsstörungen nicht nur ein unspezifisches Frühsymptom zu sein, sondern weisen auch auf einen Faktor mit ätiologischer Bedeutung hin. So ist das „Mikrobiom“, also die bakterielle Besiedelung der Darmschleimhaut, bei Parkinson-Patienten in systematischer Weise gestört (s. Kap. 2).
Des Weiteren treten Störungen des Urogenitalbereiches auf. Die Beschwerden zeigen sich vorrangig in einem erhöhten Harndrang und Inkontinenz – was ein wichtiger Grund für die Vermeidung intimer Handlungen ist.
Schmerzen und Verspannungen im Schulter- und Rückenbereich sowie unspezifische Muskelschmerzen sind ebenfalls ein häufiger Anlass für einen ersten Arztkontakt, der nicht selten über den Orthopäden erfolgt. Im weiteren Verlauf klagen bis zu 80 % der IPS-Patienten über Schmerzsymptome (v. a. rigorbedingte Rückenschmerzen).
|8|Weitere, bereits in der prodromalen Phase auftretende typische Zeichen sind Riech- und Schlafstörungen. Neben der Erhöhung der Riechschwelle kündigen Schlafstörungen, oft verbunden mit Schweißausbrüchen und Albträumen sowie Ein- und Durchschlafstörungen, häufig die spätere Diagnose an. In vielen Fällen bildet sich eine durch heftige Unruhe und manchmal schlagenden Extremitätenbewegungen gekennzeichnete „REM-Schlaf bezogene Verhaltensstörung“ (RBD), die nach einiger Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit in ein IPS übergeht.
Wegen der – unter anderem – dopaminergen Veränderungen der Retina finden sich auch früh Störungen visuell-perzeptiver Basisleistungen (z. B. Sehschärfe, Kontrastempfindlichkeit, Hell-/Dunkeladaptation).
Für Psychotherapeuten sind insbesondere die große Zahl emotionaler Beschwerden und die häufig subsyndromalen Ausprägungen psychischer Störungen von Bedeutung (Leplow, 2018; Leplow & Latzko, 2017). Diese finden sich einige Jahre vor der Diagnose eines IPS. Sie zeigen sich neben den Schlafstörungen vor allem in depressiven Verstimmungen, sozialem Rückzug, Irritabilität und Reizbarkeit. Da dieses gerade im mittleren Lebensalter oft mit einem „Burn-out“ oder ähnlichen psychischen Syndromen verwechselt wird, sollte immer auch nach Riech-, Verdauungs- und Schlafstörungen der letzten Jahre gefragt und gegebenenfalls eine neurologische Untersuchung veranlasst werden.
Merke
„Burn-out“-Zustände des mittleren Lebensalters müssen immer im Hinblick auf weitere unspezifische Vorläuferzeichen neurodegenerativer Erkrankungen hin untersucht werden!
Von besonderer Bedeutung sind die dysexekutiven Syndrome. Entsprechende erste Hinweise ergeben sich zumeist über ein gezieltes klinisches Interview bezüglich des Alltagsverhaltens (s. Kap. 4.3), welches besonders bei der Planung komplexer Tagesabläufe auffällig wird.
Bei bis zu 70 % der IPS-Patienten liegt mindestens eine psychische Störung vor. Davon wird mit 25 bis 60 Prozent am häufigsten eine Depression angegeben. Nur in Ausnahmefällen wird dabei die Art der Depression unterschieden. Diese Differenzierung ist jedoch nicht nur klinisch zur Vermeidung falsch-positiver Diagnosen, sondern auch für die Behandlung der Patienten von großer Bedeutung. So gibt es mindestens fünf Depressionssyndrome und weitere depressionsähnliche Störungen:
|9|Dazu gehören die meistens komorbid bereits angelegten und durch die Umstände der Diagnosestellung und Behandlungsnotwendigkeiten erneut ausgelösten oder exazerbierten Affektiven Störungen in Form einer Majoren Depression oder Dysthymen Störung, die im Unterschied zur sekundären Depression international auch als primäre Depressionen bezeichnet werden. Wesentlich häufiger und für den Umgang mit Parkinson-Patienten wichtiger sind jedoch die sekundären und subsyndromalen Depressionen.
Die sekundäre Depression entsteht als unmittelbare Folge der Neurodegeneration und zeigt sich häufig bereits in der Prodromalphase viele Jahre vor der Diagnose eines IPS. Typischerweise schwanken Intensität und Erscheinungsbild mit dem medizinischen Krankheitsverlauf und dessen pharmakologischer Behandlung. Ist der Transmitterhaushalt stabilisiert, bessert sich auch die Depression und umgekehrt. Es kann zudem anamnestisch plausibel gemacht werden, dass die Depression ohne diese Form der Neurodegeneration nicht aufgetreten wäre. Vor allem für die sekundäre Depression gilt, dass die depressionstypischen Attributionsmuster häufig nicht vorkommen. Die IPS-Patienten sind verzweifelt, entmutigt, verzagt und hadern gelegentlich mit dem Schicksal, aber sie neigen nicht so sehr zu den dichotomen und absolutistischen Denkstilen der Patienten mit einer Major Depression oder Dysthymie. Sie sind nicht per se mit Schuldgefühlen und einem negativen Bild von sich selbst, der Vergangenheit und der Zukunft beladen. Darüber hinaus ist die Suizidalität bei Parkinson-Patienten geringer als in der nicht erkrankten Bevölkerung. Zurzeit wäre hier die ICD-10 Kategorie „Organische depressive Störung“ F 06.32 zu vergeben. Diese entspricht der DSM-5-Kategorie „Depressive Störung aufgrund eines Anderen Medizinischen Krankheitsfaktors“
Merke
Bei Patienten mit einer affektiven Störung (i. S. e. Primäreren Depression) steht das Erleben des Verstärkerverlustes im Vordergrund, Parkinson-Patienten dagegen leiden unter dem tatsächlichen Verlust von Verstärkern!
Bei der subsyndromalen Depression spricht oberflächlich gesehen Vieles für eine Primäre Depression, bei genauer, vor allem an den DSM-Kriterien orientierter klinischer Interviewführung zeigt sich jedoch, dass die vollständigen zeitlichen und inhaltlichen Kriterien hier nicht erfüllt sind. Das sind die Patienten, die in den einschlägigen Depressionsskalen zwar mittelgradig auffällige Werte aufweisen, im klinischen Interview jedoch als nicht depressiv klassifiziert werden können. International gibt es einige Versuche, diese Art der IPS-typischen Depression an BDI-Items und den Zeitkriterien zu objektivieren (z. B. Reiff et al., 2011), allerdings sind diese derart kompliziert, dass wir sie hier nicht empfehlen. Unseres Erachtens reicht es, diesen immerhin bei ca. |10|25 % der IPS-Patienten auftretenden Depressionstyp mit der ICD-10 Kodierung F32.8, „Sonstige depressive Episoden“ oder „34.8“, „sonstige anhaltende affektive Störung“ zu charakterisieren, welcher der DSM-5-Kategorie „Andere näher bezeichnete depressive Störung“ entspricht.
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