Neurosensitivität - Hans-Günter Lindner - E-Book

Neurosensitivität E-Book

Hans-Günter Lindner

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Beschreibung

Bin ich anders? Empfinde ich intensiver oder sensitiver als andere Menschen? Hans-Günter Lindner begibt sich auf eine Reise zu hochsensitiven Menschen, die ihre Erfahrungen mit erhöhter Neurosensitivität schildern. Fotografische Porträts offenbaren begleitend die zahlreichen Facetten der Koautoren. Sein Weg wird ungewollt zu seiner eigenen „Reise ins Ich“, als er das „Himmelsgesicht“ trifft. Daher erforscht er seine Neurosensitivität, seine Werte und seine Empathie, um ein konkretes Beispiel im Umgang mit hoher Neurosensitivität zu zeigen.

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 INHALT

MOTIVATION

Bin ich anders?

Erwachen im Lockdown

Als Reisebegleiter zum Ich

Was mir nicht klar war

NEUROSENSITIVITÄT

Meine Vision

Was bedeutet Neurosensitivität?

Was bedeutet eine erhöhte Wahrnehmung?

Seele und unkonventionelle Wahrnehmungen

Zwei Seiten einer Medaille

WERTE

Die alten Wertbegriffe

Eine neue Definition der Werte

Die Werte auf der Reise

DIE REISE

Der geistige Beginn

Der Start

Der erste Schock

Dirk Bandemer

Caroline Rüesch

Silvia Ammann

Beatrice Bialdyga

Simone Scheuner

Franziska Erne

Sacha Furrer Zoller

René Zoller

Miriam Tschubel

Alison Bailey

Dierk Osterloh

Camilla Bauer

Jana Mickel

Lisa Henrike Heier

Maria Wallet

Glenda Obermuller

Saki Stoumpopoulos

Irène Wyss-Gerber

Donatus Minio

Mein Abstieg von der Höhe

MEINE REISE INS ICH

Alleine mit mir

Die Entdeckung meiner Neurosensitivität

Die Entdeckung meiner Werte

Die Entdeckung meiner Empathie

DIE REISE GEHT WEITER

Der späte Traum

Von Ende und Anfang

DANKSAGUNG

LISTE DER AUTOR:INNEN

QUELLENVERZEICHNIS

 MOTIVATION

HANS-GÜNTER LINDNER

BIN ICH ANDERS?

Irgendetwas war anders. Schon immer. Ich sah durch die Dinge hindurch. Weit im Voraus. Jede Sekunde wusste ich, was ich fühlte und dachte. Ich konnte es immer wieder abrufen, oder es kam, ohne dass ich es wollte. Meine gesamte Umgebung war immer präsent. Es war völlig normal und immer da. Für mich, nicht für die anderen. Das spürte ich. Ich fühlte mich nicht ausgegrenzt, aber manchmal ungerecht behandelt oder unverstanden.

Noch heute hallen Sätze in meinem Kopf, die ich schon in der Kindheit zu hören bekam: „Denk nicht so viel nach“ oder „Nimm nicht alles so ernst“. Mein „Das sieht man doch“ wurde zur Provokation für andere – vor allem für meine Lehrer. Irgendwann sagte ich es nicht mehr laut. Ich ging meinen Weg und lernte damit umzugehen. Ich schrieb meine Visionen auf und suchte mir Zeugen zur Bestätigung. Meine Hellsichtigkeit hielt ich nach meiner Dissertation verborgen und passte meine Äußerungen an die Zeitskala meiner Zuhörer an. Aber es brach immer wieder durch.

Im Laufe des Berufslebens hatte ich immer Überdurchschnittliches geliefert. Mein Denken ist eher exponentiell, ganzheitlich und nicht binär. Deshalb können andere meine angeblichen „Gedankensprünge“ nicht verstehen, dabei sind diese für mich nur ein einfacher Gedankenstrom. Ein Headhunter brachte es auf den Punkt: „Wenn Sie so weitermachen, kann ich sie nicht mehr vermitteln.“

Noch heute werde ich gefragt, warum ich so viele Dinge mache. Dabei mache ich immer nur das eine: Ich mache mir Bilder von Menschen. Es war so in der Kybernetik, im Marketing, der Mikrosimulation, der DNASynthese, der Künstlichen Intelligenz, der Führungskräfteentwicklung, als Forscher, Unternehmensgründer, Fotograf und Kampfkünstler, als Unternehmensberater oder als Professor für Informatik und Betriebswirtschaftslehre. Es mündete schließlich alles in Methoden zu Menschenbildern – oder wie ich es heute nenne – „human value design“.

ERWACHEN IM LOCKDOWN

Im März 2020 las ich einen Artikel über Hochsensible. Ich war im Lockdown in Georgien. Da ich mit meiner Mutter über WhatsApp wieder einmal über dieses Thema sprach, suchte ich nach einem Test im Web, der mir schnell valide Ergebnisse lieferte. So stieß ich auf Patrice Wyrsch und erhielt per Mail das Ergebnis „Vantage-sensitiv“. Kurz danach schickte er mir ein langes Mail. Ich beantwortete brav alle noch so detaillierten persönlichen Fragen. Eine Woche später führten wir im Anschluss ein Online-Meeting durch.

Es wurde mir klar, was ich schon lange wissen musste. Ich hatte es ja spätestens während meiner Dissertation selbst herausgefunden. Schon damals konnten eine Kollegin und ich alle Handlungen unserer Kollegen und unseres Doktorvaters voraussagen. Die Zukunft hatten wir schon hinter uns gelassen. Durch sie erfuhr ich von anderen Wahrnehmungen, die ich selbst vorerst als Zufall betrachtete. Aber dass diese ungewöhnliche Art der Wahrnehmung nach dreißig Jahren endlich thematisiert werden durfte, war anscheinend eine Frage der gesellschaftlichen Entwicklung.

Hoch- und Neurosensitivität waren plötzlich aktuelle Themen. Wissenschaftlich war und ist das Eis dünn. Die Diskussionen sind nach wie vor brandaktuell, und auf Rückfragen bei Wissenschaftlern auf diesem Gebiet erhalte ich bis heute keine befriedigenden Antworten – teilweise Ablehnung, weil es keine allgemein anerkannte Theorie gibt. Zudem ist fachübergreifendes Wissen nötig, und selbst einfache Begriffe wie beispielsweise „Modell“ werden unterschiedlich interpretiert oder nicht verstanden.

Wenn es also „klassisch wissenschaftlich“ keine für mich ausreichende Antwort gab, dann wollte ich mich den Phänomenen, die ich ja selbst durchlebte, doch wenigstens induktiv (vom Individuum zum Allgemeinen) nähern. Die Diskussion, ob dies wissenschaftlich sei, währt schon lange und soll hier nicht weiter vertieft werden, denn es führt nicht zur Klärung der persönlich bewiesenen Sachverhalte. Selbst wenn immer wieder behauptet wird, dass das Subjektive nicht bewiesen werden kann, ist dies für mich falsch. Einerseits leben wir im Zeitalter der Selbstvermessung und andererseits konnte ich in vielen Fällen Phänomene erklären und nachweisen, ohne dass ich anderen etwas suggerierte, geschweige denn von den Ereignissen erzählte, sondern einfach die Fakten wie in einer kriminalistischen Fallanalyse zusammentrug.

Es bildete sich eine Gruppe von Hochsensitiven rund um Patrice Wyrsch, mit denen ich mich austauschen konnte. Ich empfahl ihm, direkt nach seinem ersten Seminar ein Buch zu schreiben. Ein Grund dafür war mein Gespür, dass damit das Thema manifestiert wird. Der Erfolg stellte sich, wie vorausgesehen, alsbald ein. Der andere Grund war, dass ich erst dann mit diesem Buch starten konnte, das ich damals schon sah. Ich wollte die Erfahrungen, die wir in der Gruppe teilten, nicht einfach anonym verpuffen lassen. Schließlich fand ich noch viele weitere Personen, die zu diesem Buch beitragen wollten, jedoch musste ich die Anzahl der Teilnehmer aufgrund der Seitenzahl im Buch beschränken.

Mit der Reise ins Ich sollte es einen Weg geben, anderen authentisch zu erklären, wie sich erhöhte Neurosensitivität offenbart und dass es nicht so selten ist. Ich sah das Buch klar vor Augen und besprach es mit meinem Verleger. Den Untertitel gab er mir mit: „Vorher die Reise in die weite Welt – nach Georgien – und jetzt die Reise ins Ich.“ Und so hielt ich es schon im Geiste in der Hand. Was ich dabei jedoch erlebte, konnte oder wollte ich damals noch nicht sehen. Und das war auch gut so, sonst hätte ich die Reise nicht angetreten.

ALS REISEBEGLEITER ZUM ICH

Meine Rolle in diesem Buch ist die eines Reiseleiters, auf der Suche nach dem Selbst der anderen. Auf meiner Reise erzähle ich von den Begegnungen mit Menschen, die endlich auch frei über ihre höhere Wahrnehmung sprechen und schreiben wollen. Für manche sollte es eine Möglichkeit sein, sich die Last ihrer Erfahrungen von der Seele zu schreiben. Den erweiterten Zugang wollte ich durch meine Fotografie erreichen, denn nur Lesen reicht nicht, wenn wir mehr wahrnehmen wollen. Die Fotografien sollten der Selbstreflexion dienen – später attestierte man mir, dass ich Bilder der Seele machte.

Mein Plan war, dass ich nicht der Aufklärer bin, der induktiv eine Theorie aus den beobachteten Phänomenen erdenkt, sondern nur ein Wanderer, Beobachter, Entdecker und Zeitzeuge. Dabei wollte ich keinesfalls im Mittelpunkt stehen, sondern die Menschen mit höheren Fertigkeiten der Wahrnehmung präsentieren. Dass ich mich dadurch auch preisgebe, war mir klar. Der Wunsch zu lernen, führt mich gerne an meine Grenzen.

Damit die Reise geordnet verlaufen konnte, definierte ich im November 2020 sieben Leitlinien für wertorientierte Kommunikation:

Jede Interaktion ist wertorientiert, aber nicht wertend.

Es ist wie es ist (Schilderungen im Text erfolgen ohne Kommentierung oder Wertung).

Willentliche Beeinflussung soll vermieden werden (Jedoch beeinflussen sich alle durch die Gespräche und den Austausch ganz „natürlich“).

Jeder Teilnehmer bestimmt die eigenen Inhalte, die sich durch den Austausch mit anderen bis zur Abgabe an den Verlag wandeln dürfen.

Das Buch entsteht aus der Gemeinschaft, d. h. jeder darf die Texte anderer lesen (man darf auch ein Pseudonym beim Schreiben benutzen), meine Texte und auch diese Leitlinien dürfen jederzeit hinterfragt werden, Anmerkungen sind erwünscht.

Offenheit ist normal („Open Book Policy“).

Es soll Freude bereiten.

WAS MIR NICHT KLAR WAR

Auf meinem Lebensweg traf ich viele, die mir bescheinigten, dass ich in nur kurzen Gesprächen die Menschen intensiv analysiere. Als Professor konnte ich sehr schnell die Gedanken anderer lesen. Traumata erkannte ich im Vorübergehen. Ich tat das zuerst als Spinnerei ab. Als mich dann die entsprechenden Studierenden aufsuchten, die auch von Psychologen begleitet wurden, berichteten mir diese Schüler von der Korrektheit meiner Analyse und der Wirksamkeit meiner Gespräche. Geschäftspartner empfahlen mich als Entwicklungshelfer in abgelegene Gebiete der Welt mit den Worten „Weil du es kannst“. „Na, wenn ihr meint“, antwortete ich und ging meinen Weg.

In Georgien konnte ich mit 20 georgischen Autor:innen und 10.000 Fotos in neun Monaten das Buch „Werte Georgiens“ in drei Sprachen finalisieren. Ich wollte das absolut Machbare einer Teamleistung realisieren. Zwar deckte ich mit meinem Freund und Fotografen Zurab Tsertsvadze nahezu alle Bereiche der Fotografie ab, aber der Fokus ging immer mehr hin zu großformatigen Landschaftsaufnahmen und Porträts. Als ich in meinen Fotosessions mit Menschen das Feedback bekam, dass ich hier nicht nur fotografieren würde, sondern auch eine Persönlichkeitsentwicklung vornehme, wurde mir klar, dass ich meine Zeit als Führungskräfteentwickler und Menschenbegleiter in Form eines Professors mit der Fotografie verband. Ich entwickelte ein Konzept für Wertorientierte Fotografie und erforschte immer tiefer Werte in der Betriebswirtschaftslehre, damit diese auch in der Praxis konkret entwickelt, kommuniziert und die entsprechenden Maßnahmen umgesetzt werden können.

Mit dem Thema Neurosensitivität bekam dieser Ansatz zusätzlichen Schwung, da für mich Werte das Ergebnis persönlicher Wahrnehmungen sind. Die Diskussionen mit den Porträtierten führten zum gegenseitigen Austausch untereinander und zu erhöhter Selbstreflexion. Durch die Kombination meiner Art der Gesprächsführung mit der gemeinsamen Entwicklung der Bilder stieß ich neue Welten auf. Dabei wirkte ich nie prägend auf die anderen ein und bereitete mich auf kein Gespräch vor, um erwartungsfrei zu sein. Mehrere Therapeuten und Coaches bescheinigten mir eine neue spielerische Methode zur Transformation. Dass ich dadurch eine neue Methode geschaffen hatte, wurde mir erst allmählich klar, als immer mehr Menschen diesbezüglich auf mich zukamen. Die schöpferische, künstlerische Art vereinte sich mit dem klaren Kalkül wissenschaftlicher Herangehensweise auf der Reise ins Ich.

 NEUROSENSITIVITÄT

DR. PATRICE WYRSCH

MEINE VISION

„Unsere Vision ist die allgemeine Anerkennung, dass Menschen über unterschiedliche Wahrnehmungsebenen verfügen“, schreibe ich, Patrice Wyrsch, auf meiner Website ganz oben. Diese Vision entwickelte ich während meines Doktorats an der Universität Bern, das ich im Mai 2020 abschloss. Kurz darauf gründete ich die Neurosensitivity Services GmbH mit dem Ziel, meine Vision zu realisieren. Seither bildete sich ein kompetentes und zuverlässiges Netzwerk, das mich effektiv bei der Umsetzung unterstützt. Meine Vision wurde zu unserer Vision.

Wir erkannten, dass wissenschaftliche Studien zwar Indizien lieferten, aber dies erst der Anfang ist. Deshalb bauten wir ein Netzwerk auf, das einen Erfahrungsaustausch ermöglicht und sich daraus Lösungen für den Alltag entwickeln lassen. Wir arbeiten wissenschaftlich-orientiert und forschen anwendungsorientiert. Dabei kennen wir ganz klar die Grenzen zwischen klassischer wissenschaftlicher Analyse mit deduktivem Ansatz (Vom Allgemeinen zum Individuellen) und dem induktiven Ansatz (Vom Ich zum Allgemeinen). In Zeiten der Selbstvermessung und Individualisierung entfalten sich zunehmend Möglichkeiten, Effekte der Wahrnehmung persönlich valider zu messen. Unser Ziel und unser Wirken kombinieren beide Ansätze zum Wohle aller Beteiligten.

WAS BEDEUTET NEUROSENSITIVITÄT?

Neurosensitivität basiert auf der Hypothese, dass genetische, psychologische und physiologische Faktoren direkt und interaktiv die neurobiologische Wahrnehmungsfähigkeit beeinflussen und dies ein zentraler Mechanismus ist. Untersuchungen zeigen auf einer eindimensionalen Skala eine flache Normalverteilung von niedrig bis hochsensitiv. Es gibt mit ca. 40 Prozent eine mittelsensitive Mehrheit von durchschnittlich Wahrnehmenden, mit ca. 30 Prozent eine Minderheit von verringert Wahrnehmenden und eine andere, hochsensitive Minderheit von erhöht Wahrnehmenden mit 30 Prozent.1 Diese letzte Gruppe von Hochsensitiven bzw. erhöht Neurosensitiven zeigt beispielsweise eine erhöhte Aktivität der Insula; einem Hirnareal, das mit generellem Bewusstsein einhergeht. In einem Experiment konnte gezeigt werden, dass erhöht Neurosensitive bei einer visuellen Wahrnehmungsaufgabe besser abschnitten.2 Auch die Größe der linken Amygdala deutet auf eine bessere Voraussetzung für Hochsensitivität hin.3 All diese Forschungsergebnisse zeigen auf, dass Menschen über unterschiedliche Wahrnehmungsebenen verfügen, was den Kreis zu unserer Vision schließt.

Während erste theoretische Überlegungen auf der impliziten Annahme basierten, dass höhere Wahrnehmungsfähigkeit mit Vulnerabilität einhergeht4, wurden die theoretischen Modelle um positive Aspekte und Anpassungsfähigkeit ergänzt.5 Bis 2019 existieren Modelle mit bis zu sechs Dimensionen6 – Leichtigkeit der Erregung, ästhetische Sensibilität, Empfindlichkeit gegenüber Fehlern, niedrige sensorische Schwelle, negative Affektivität und relative Empfindlichkeit. Kein Modell wurde bisher bestätigt.7

Allein das Bewusstsein, dass Wahrnehmung individuell, vielschichtig und vernetzt interagierend ist, ist ein Verdienst der Forschungen der letzten 25 Jahre. Jedoch erlauben insbesondere die Umfragen aus Fragebögen Interpretationsspielräume und sind, streng wissenschaftlich gesehen, nicht präzise genug. Deshalb erweiterten Forscher die Untersuchungen der Hochsensitivität auf Gehirnaktivitäten, den Einfluss des Lebenslaufs, der sozialen Umgebung und der Gene.8

Eine zweite Problematik bisheriger Überlegungen ergibt sich aus der Übersetzung des Begriffs „Sensitivity“ ins Deutsche, da Sensibilität umgangssprachlich häufig eine Empfindlichkeit suggeriert. Deshalb nutzen wir hier den Begriff „Sensitivität“. „Der Begriff Sensibilität hat in der modernen Psychologie viele Bedeutungen, eine strengere Definition des Sensibilitätskonstrukts ist erforderlich.“9

Die dritte Problematik ergibt sich aus der Vernetzung aller Faktoren im Zusammenspiel, denn der Fokus lag hauptsächlich auf der Wahrnehmung äußerer Reize. Der Einfluss mentaler Modelle fällt eher in den Bereich der Psychologie. Jedoch zeigte sich in fachübergreifenden Gesprächen, dass selbst der Begriff des Modells unterschiedlich interpretiert wird.

Viertens sind die Stichproben in den Studien im Hinblick auf die Bevölkerung nicht repräsentativ – anfänglich wurden nur Studierende für die Tests herangezogen. Immer wieder wird in Studien propagiert, dass 20 Prozent der Bevölkerung hochsensitiv seien. Das ist lediglich eine Annahme. Außerdem wird von Wissenschaftlern nicht festgelegt, was hochsensitiv ist. Kann es sein, dass mehr als 50 Prozent aller Menschen über den Sechsten Sinn verfügen? Zählt dieser Sinn zu Hochsensitivität? Dazu kommen noch kulturelle Einflüsse, die unterschiedliche Interpretationen von Wahrnehmungen zulassen.

Fünftens sind die Begrifflichkeiten der Dimensionen sehr individuell und hängen von der Situation und dem kulturellen Kontext ab. Als Beispiele seien hier die ästhetische Sensitivität und irrelative Empfindlichkeit genannt. Zudem sind die Dimensionen in der Praxis für die Proband:innen zu abstrakt, um daraus konkrete Empfehlungen im Umgang mit Hochsensitivität abzuleiten.

Sechstens gibt es praktische Probleme bei den Messungen mit Elektroenzephalogramm (EEG) und Magnetresonanztomographie (MRT). Das EEG erfordert eine exakte Anbringung und einen guten Hautkontakt. Zudem sollen Proband:innen möglichst entspannt sein und die Augen zu schließen. Die Beobachtung über MRT erfordert eine Kopfspule, welche die Proband:innen in eine künstliche Situation bringt. Beide bringen also Probleme bei den Rückschlüssen auf eine reale Situation mit sich.

Siebtens ist der medizinische Ansatz für gesunde Hochsensitive nicht ausreichend erforscht, um gezielte Möglichkeiten der Unterstützung durch Vitalstoffe für gewünschte Wahrnehmungszustände sicherstellen zu können.

Mein Modell orientiert sich an den Kategorien von Pluess10 und umfasst die vier Dimensionen VANTAGE, GENERELL, GERING und VULNERABEL mit den Ausprägungen stark erhöht, leicht erhöht, leicht verringert und stark verringert. In diesem Kontext sei festgehalten, dass „Vantage“ die Kurzform von „Advantage“ ist, was in Deutsch „Vorteil“ bedeutet. Daher kann auch von vorteilhafter Vantage-Sensitivität gesprochen werden. Die Typisierung ist jedoch im Sinne einer Zugehörigkeit zu verstehen und berücksichtigt Stabilität und Veränderungen.

Der Test zur Einschätzung basiert auf acht Aussagen, die wesentliche Faktoren aus den wissenschaftlichen Studien extrahieren. Ganz bewusst wurde dabei ein Spielraum von Interpretationen zugelassen. Die Validierung erfolgt erst in einem Standortgespräch zwischen geschulten Coaches und den Klient:innen. Beispiele werden vermieden, um eine Prägung der Befragten zu vermeiden. Eine Detaillierung wurde ebenfalls nicht vorgenommen, da der Anspruch war, den Test in wenigen Minuten abschließen zu können.

Der nachfolgende Coaching-Prozess beinhaltet Trainingseinheiten und einen kontinuierlichen Abgleich zum ersten Ergebnis des validierten Tests. Für die Verwaltung und Analyse der Tests und der Daten aus dem Coaching entwickelten wir das Portal „Vantage.Space“. Damit entsteht die Chance, mittels anwendungsorientierter Forschung eine valide und wissenschaftlich orientierte Grundlage für den Nachweis der Wirksamkeit eines gezielten Coachings zu schaffen.

WAS BEDEUTET EINE ERHÖHTE WAHRNEHMUNG?

Zur Beantwortung dieser sehr großen Frage liefert vorliegendes Buch persönliche Einblicke. Diese Frage bzw. Forschungslücke erkannte Hans-Günter Lindner bereits im Herbst 2020. Die Forschung lieferte zwar Einblicke, diese aber waren für die Leser:innen zu abstrakt. Da sich viele der Teilnehmer meines Tests von den bisherigen Typisierungen „nicht abgeholt“ fühlten und der Vantage-Typ in der bisherigen Literatur eher unterrepräsentiert ist, sollten Autor:innen ein Spektrum erschließen, das die Leser:innen mit den Erfahrungen mitnimmt.

Relativ rasch fand er schließlich die passenden Mitautor:innen vorliegenden Buches, deren Beiträge mir regelmäßig Gänsehaut schenken. Diese Gänsehaut ist für mich übrigens ein neurosensitiver Indikator für Stimmigkeit, wodurch Sie nun – werte Leserin, werter Leser – bereits ein konkretes Beispiel eines möglichen Ausdrucks erhöhter Wahrnehmung erhalten haben.

Gleichzeitig sei festgehalten, dass Sie bzw. Ihr Verstand bei den konkreten Einblicken der erhöhten Wahrnehmung meiner geschätzten Mitautor:innen womöglich hie und da etwas herausgefordert sein werden. In diesem Kontext möchte ich nochmals auf die wissenschaftliche Definition von Neurosensitivität verweisen. Wenn also nur eine Minderheit über eine stark erhöhte Fähigkeit verfügt, Reize zu registrieren, ist es – per Definition – sehr wahrscheinlich, dass es Reize gibt, die von der Mehrheit schlicht (noch) nicht registriert werden können. Beispielsweise schildern Simone Scheuner und Camilla Bauer intuitive Impulse mittels Vorahnungen oder innerer Bilder, welche sich dann auf bemerkenswerte Weise bewahrheiteten. Oder Donatus Minio schildert seinen Umgang mit Stimmungen von anderen bzw. kollektiven Energiefeldern.

Ein ehemaliger Forschungskollege sagte mir während meines Doktorats diesen weisen Satz: „Die Wunder von heute sind die Forschung von morgen.“ In diesem Kontext beruht vorliegendes Sachbuch auf einem wissenschaftlichen Prinzip, das in den letzten Jahren dank qualitativer Forschungsmethoden zunehmend an Bedeutung gewann, nämlich dem der Intersubjektivität. Intersubjektivität drückt das aus, „was mehreren Personen gemeinsam gegeben ist bzw. in ihnen vorgeht, wiewohl es jeder für sich erlebt.“11 In diesem Kontext eröffnet das Bewusstsein rund um Neurosensitivität und somit rund um unsere Wahrnehmungsunterschiede neue Möglichkeiten.

SEELE UND UNKONVENTIONELLE WAHRNEHMUNGEN

Über welche unkonventionellen Wahrnehmungen sind sich erhöht Neurosensitive einig? Die Antwort auf diese Frage können Sie in den nächsten Kapiteln gerne selbst erkunden, indem Sie das mitnehmen, das für Sie stimmig ist. Was ich sicherlich schon mal festhalten kann, ist, dass erhöht Neurosensitive sich meist einig darin sind, dass eine größere geistige Welt existiert, welche von der Mehrheit der Menschen so (noch) nicht erkannt wird.

Beispielsweise gehen viele Mitautor:innen explizit oder implizit davon aus, dass Seelen existieren. Im Gegensatz gehen heutzutage viele Wissenschaftler:innen ebenfalls explizit oder implizit (noch) davon aus, dass keine Seelen existieren – dies, obschon weder die Existenz noch die Nicht-Existenz von Seelen bewiesen werden kann. Ob es also Seelen gibt oder nicht, ist eine fundamentale Grundannahme, die irgendwie getroffen werden muss. Bisher wurde diese Grundannahme unter anderem mit dem Argument getroffen, dass die Mehrheit der Menschen keine Seelen wahrnehmen kann, wodurch es in den letzten Jahrzehnten von der Mehrheit als irrational und unvernünftig angesehen wurde, an die Existenz von Seelen zu glauben.

Im Kontext der Definition von Neurosensitivität kann heute allerdings festgehalten werden, dass es irrational und unvernünftig ist zu glauben, dass nur das existiert, was man selbst wahrnimmt. Denn dies würde bedeuten, dass man über die größtmögliche Fähigkeit, Reize zu registrieren, verfügt, was bei rund acht Milliarden Menschen enorm unwahrscheinlich ist.

ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE

Die Frage, wie viel man wahrnimmt, ist nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, wie gut man mit seiner (erhöhten) Wahrnehmung zurechtkommt. An dieser Stelle sei noch einmal betont, dass die erhöhte Wahrnehmung von erhöht Neurosensitiven auf der erhöhten Empfänglichkeit ihres zentralen Nervensystems beruht und genetisch bedingt ist. Und je mehr wir wahrnehmen, desto größer können die Herausforderungen für unser zentrales Nervensystem sein.

In diesem Kontext stellt sich nun die Frage, in welchem Zustand das jeweilige hochsensitive Nervensystem ist. Denn bei der sogenannten Generellen Sensitivität ist das zentrale Nervensystem empfänglicher sowohl gegenüber positiven als auch negativen Einflüssen. Bei der Vulnerablen Sensitivität ist die Empfänglichkeit nur gegenüber negativen Einflüssen erhöht, wodurch positive Einflüsse nicht besonders stark aufgenommen werden können. Im Gegensatz dazu besteht bei der vorteilhaften Vantage-Sensitivität eine erhöhte Empfänglichkeit gegenüber positiven Reizen bei gleichzeitiger Widerstandsfähigkeit gegenüber negativen Reizen. Wenn kaum Sensitivitätsgene aktiv sind oder die Kindheit nicht konstruktiv war12, besteht eine geringe Sensitivität, wobei eine verringerte Empfänglichkeit sowohl gegenüber positiven als auch negativen Einflüssen besteht. Aus der Tabelle wird ersichtlich, dass die Entwicklung einer Vantage-Sensitivität als wünschenswert erachtet werden kann.

SENSITIVITÄTSTYPEN

13

EMPFÄNGLICHKEIT

GEGENÜBER …

 

positiven Einflüssen

negativen Einflüssen

Geringe Sensitivität

gering

gering

Generelle Sensitivität

hoch

hoch

Vulnerable Sensitivität

gering

hoch

Vantage-Sensitivität

hoch

gering

Nebst den unkonventionellen Wahrnehmungen ist die eigene Entwicklung in Richtung vorteilhafter Vantage-Sensitivität der zweite zentrale Bestandteil von den Beiträgen der nachfolgenden Mitautor:innen. Beispielsweise schildern Jana Mickel, Sacha Furrer Zoller und Caroline Rüesch ihre ganz individuelle Entwicklung in Richtung vorteilhafter Vantage-Sensitivität. In diesem Kontext ist beispielsweise Jana Mickel ein lebender Beweis, dass die Entwicklung sogar von der nachteilhaften Vulnerablen Sensitivität über die neutrale Generelle Sensitivität bis zur vorteilhaften Vantage-Sensitivität möglich ist. Anderseits zeigt uns das Beispiel von Sacha Furrer Zoller, dass gewissen erhöht Neurosensitiven die vorteilhafte Vantage-Sensitivität praktisch vom Elternhaus mitgegeben werden konnte.

In diesem Kontext zeigt eine Meta-Analyse von 84 Studien bei hochsensitiven Kindern14, dass die Kindheit tatsächlich ein entscheidender Faktor ist, ob eher die nachteilhafte Vulnerable Sensitivität oder die vorteilhafte Vantage-Sensitivität entwickelt werden kann: Hochsensitive Kinder, welche in den ersten Lebensjahren eine förderliche Elternschaft erlebten (d. h. Wärme und konstruktive Kontrolle), wiesen im Schulalter überdurchschnittlich gute Ergebnisse auf (z. B. Schulnoten oder von Lehrer:innen bewertete Sozialkompetenz). Im Gegensatz dazu wiesen hochsensitive Kinder, welche in den ersten Lebensjahren eine hinderliche Elternschaft erlebten (d. h. Kälte und destruktive Kontrolle), unterdurchschnittliche Ergebnisse auf.

Dabei möchte ich allerdings betonen, dass die Kindheitserfahrung natürlich nicht der einzige Faktor ist, welcher die Entwicklung bestimmt. So gibt es erste Studien, welche die besondere Wichtigkeit von Achtsamkeit für erhöht Neurosensitive aufzeigen15. Beispielsweise zeigen hochsensitive Personen nur dann signifikant erhöhte Ängstlichkeit, wenn ihre Achtsamkeit und Akzeptanz gering sind. Eine weitere Studie legt zudem dar, dass hochsensitive Personen, die an einem achtwöchigen MBSR-Programm (Mindfulness Based Stress Reduction) teilnahmen, nach dem Kurs signifikant weniger Stress und soziale Angst und dafür mehr Empathie aufwiesen16. Somit scheint es möglich zu sein, dass die vorteilhafte Vantage-Sensitivität bei entsprechender Disziplin auch nach der Kindheit noch entwickelt werden kann, wie es eben beispielsweise Jana Mickel vorlebte.

Zusammenfassend ist die Reise ins (neurosensitive) Ich somit von zwei Hauptaspekten geprägt. Erstens mit unkonventionellen Wahrnehmungen von (noch) nicht allgemein anerkannten Reizen. Zweitens von einer eigenen Entwicklung in Richtung vorteilhafter Vantage-Sensitivität.

Dieser beiden Hauptaspekte waren wir uns als erhöht Neurosensitive wohl lange Zeit noch nicht wirklich bewusst, auch wenn viele von uns irgendwie intuitiv spürten, dass wir anders sind, wie es mehrere Mitautor:innen betonen. Bemerkenswert finde ich auch, dass gewisse erhöht Neurosensitive bereits einige Jahrzehnte (halbbewusst) darauf warteten, das Bewusstsein rund um Neurosensitivität zu stärken, wie es z. B. bei Caroline Rüesch oder Hans-Günter Lindner der Fall ist.

 WERTE

DIE ALTEN WERTBEGRIFFE

Der Begriff Wert wird unterschiedlich, wenn nicht sogar verwirrend gebraucht. Die Axiologie, die Wertphilosophie betrachtet den Begriff als Lehre des Guten und beinhaltet meist moralische, neutrale und ästhetische Aspekte. Das „Philosophie Magazin“ bezeichnet sie als die „Eigenschaft einer Sache, die sie objektiv erstrebenswert macht“.17 Im wirtschaftlichen Sinne hängt der Wert von einer Knappheit, der messbaren Bedeutung von Wirtschaftsobjekten und der Befriedigung von Kundenbedarfen ab. Dabei wird der Begriff Wert dem Nutzen und dem Preis häufig gleichgesetzt. Der häufig zitierte Wertschöpfungsprozess betrachtet vornehmlich die Produktion. Die Empfänger von Werten – Kunden oder Mitarbeiter – finden darin keine Beachtung. In der Arbeitswerttheorie wird der Wert durch die Arbeitszeit bestimmt. Psychologie und Soziologie adressieren das Erstrebenswerte. Robert S. Hartman treibt es mit dem Axiom der Wertewissenschaft auf die Spitze, denn es fokussiert das Gute, und gut ist bei ihm, was ein Konzept erfüllt. Beliebiger geht es kaum! Auch die Sammlungen von Werten zeigen eine Vielfalt ohne Struktur und Bezug.18

Schauen wir auf eine offizielle Definition des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, liest sich das wie folgt: „Als ‚Vorstellungen des Wünschenswerten‘ stellen Werte normative Fixpunkte dar und besitzen auf individueller Ebene eine sinnstiftende Komponente.“19 Das Wünschenswerte liegt immer in der Zukunft. Das bedeutet, dass das Lesen dieser Zeilen keinen Wert hat. Normativ bedeutet „maßgeblich, verbindlich, als Richtschnur dienend“20 oder „als Richtschnur, Norm dienend; eine Regel, einen Maßstab für etwas darstellend, abgebend“21. Das Wort „Fixpunkte“ suggeriert, dass sich also alles um Werte dreht. Nach Duden ist ein Fixpunkt ein „fester Bezugspunkt für eine Messung, Beobachtung o. Ä.“.22 Es dreht sich bei Werten hier um eine Messung. Im letzten Teilsatz bleibt aber die Frage, ob Werte nur wirklich „auf individueller Ebene sinnstiftend“ sind. Für die Allgemeinheit soll es also keinen Sinn haben? Wir sehen also, dass das Werteverständnis hier sehr eingeschränkt formuliert ist. Werte müssen kein Fixpunkt sein und können sehr wohl für die Allgemeinheit gelten, denn gerade die Politik ruft danach. Vergessen sollten wir derartige Ansätze nicht, jedoch kritisch hinterfragen.

Wenn wir den obigen Betrachtungen folgten, dann hätte das Lesen dieses Buches keinen Wert. Ihr gesamtes Leben hätte dann auch keinen Wert, denn die Vorstellung des Wünschenswerten ist etwas Gedachtes, nicht Greifbares. Achtsamkeit hätte keinen Wert. Der Moment wäre ein Nichts.

Dieter Frey definiert in seiner Psychologie der Werte23: „Unter Werten versteht man die Grundsätze, nach denen eine Gesellschaft oder eine Gruppe von Menschen ihr Zusammenleben richtet oder richten will. Der Begriff drückt hier auch aus, dass die entsprechenden Vorstellungen und Ideen vom Zusammenleben als richtig und daher wertvoll angesehen werden.“ Er folgt Clyde Kluckhohn, der Werte als etwas Wünschens- und Erstrebenswertes sieht, denn er zitiert ihn gleich am Anfang seines Buches. Das birgt mehrere Probleme. Frey grenzt Werte nicht klar von Zielen ab und unterstellt, dass Menschen sich danach ausrichten wollen. Es gibt jedoch negative Werte, die in Gruppen und den Einzelnen darin eben nicht gewollt werden. Zudem wird „richtig“ mit „wertvoll“ gleichgesetzt. Richtig und wertvoll sind Begriffe, die stark von den individuellen Sichtweisen abhängen. Weiterhin zeigt sich, dass die Definition Kluckhohns nicht nur beim Bundesministerium, sondern quasi als allgemeingültiges Dogma akzeptiert wird.

Shalom H. Schwartz definiert in seiner „Theory Of Basic Values“ zehn grundlegende Werte, die er später auf 19 erweitert24: Selbstbestimmtes Denken und Handeln, Stimulation, Genussstreben, Erfolgsstreben, Vormachtstellung, Ressourcenkontrolle, Ansehen, persönliche und gesellschaftliche Sicherheit, Tradition, Angepasstheit hinsichtlich Regeln und anderen, Bescheidenheit, Fürsorge, Verlässlichkeit, gesellschaftliche Belange, Naturschutz und Toleranz. Auch er geht vom Wünschbaren aus, welches das Handeln leitet. Ein weiteres Manko ist, dass er die Erhebung nur unter Lehrern, Schülern und Studierenden durchführte. Ein Test der ursprünglich zehn Typen wurde von Mohler und Wohn auf alle Bevölkerungsschichten in Europa erweitert.25 In diesem Arbeitsbericht von 2005 zeigt sich, dass die Theorie nicht als allgemeingültig erklärt werden kann. Darüber hinaus garantiert das Modell von Schwartz keine Identifikation mit den Werten von Personen im täglichen Handeln; die individuelle Wahrnehmung bleibt außer Acht.

Milton Rokeach verfolgte einen ähnlichen Ansatz. Er unterteilt 36 Werte in die Kategorien Terminalwerte und instrumentelle Werte26. Terminalwerte sind beispielsweise wahre Freundschaft, reife Liebe, Glück, Heil und Weisheit. Beispiele für instrumentelle Werte sind Fröhlichkeit, Liebe, Mut, Fantasie und Intellekt. Dies ist zwar ein Katalog an Werten, der möglicherweise wahrgenommen wird. Aber diese sind für die Bestimmung individueller Werte nur bedingt tauglich, da der Spielraum zur Interpretation dieser Begriffe sehr weitreichend ist und eine Eingrenzung auf einen Katalog, das mögliche Wahrnehmungsspektrum einschränkt. Allein schon das Wort Intellekt führt zu den Definitionen von Intelligenz, die in der Wissenschaft sehr unterschiedlich diskutiert werden. Eine Steigerung ist die Begriffskombination „reife Liebe“, denn was ist reif für Sie als Leser:in und was ist überhaupt Liebe? Besonders die Liebe wandelt sich ständig und bleibt eine lebenslange Diskussion.

Zusammengefasst sind für mich die meisten Definitionen ohne einen Bezug auf das Hier und Jetzt, denn die alten Definitionen fokussieren soziologische und politische Ebenen. Der Wert als Begriff wird beliebig gebraucht und liegt meist auf einer Flughöhe, die den Menschen im Jetzt längst verlassen hat. Schluss damit!

EINE NEUE DEFINITION DER WERTE

Wert ist ein Wort für das Ergebnis einer Wahrnehmung. Diese Definition hat mehrere Facetten. Erstens ist das Wort nicht der Wert an sich, sondern nur ein Platzhalter. Nennen wir das Beispiel eines Wertes als Wort wie z. B. Vertrauen, dann ist dies nicht der Wert. Dieser ergibt sich erst in der Vorstellung des Empfängers, was Vertrauen für diesen ist. Und hiermit sind wir bei der Wahrnehmung bzw. Neurosensitivität. Je mehr wir wahrnehmen, desto besser können wir eine Vorstellung bilden und einen Wert bestimmen. Wie Sie sehen, unterscheidet sich dieser Ansatz deutlich von anderen, denn er ist radikal individuell. Erst wenn viele Messungen individueller Werte statistisch zusammengefasst beziehungsweise aggregiert werden, dann folgert das die Definitionen aus dem vorigen Teilkapitel.

Was passiert, wenn wir ein Wort hören? Die Luft, die von einer anderen Person erzeugt wird, bewegt unser Trommelfell und wird im Gehirn schrittweise zu einer Bedeutung zusammengesetzt. Erst nach mehreren Stufen von den Sensoren bis zum Hirnstamm wird das Wort letztendlich bewusst als solches wahrgenommen. Allein das Hören zu erörtern ist zu kurz gegriffen, denn wir nehmen zusätzlich unsere Umwelt wahr. Wenn wir nicht gerade die Augen schließen, sehen wir unsere Umgebung und vielleicht den Sender der Nachricht. Dazu kommen Gerüche, Geschmack, Berührungen und weitere Wahrnehmungen. Der Auslöser ist in diesem Beispiel eine Anzahl auditiver Signale, die sich mit anderen Wahrnehmungen ergänzen. Auch diese anderen Wahrnehmungen werden ebenso schrittweise weiterverarbeitet und fließen im Hippocampus zusammen, bis sie im Thalamus und anderen Regionen auftreffen.

Der Körper nimmt also alle gesammelten Signale auf, und diese verbreiten sich im Menschen ähnlich wie die Wellen, die entstehen, wenn ein Stein ins Wasser fällt. Gefühle, Emotionen und Gedanken treten in einem ersten Schritt automatisch und unbewusst auf. Was dazwischen im Gehirn passiert, kann ein Abgleich mit der Vergangenheit, mit einem inneren Modell sein, eine Vorschau in die Zukunft oder einfach ein Gefühl, ohne dass dieses explizit bewusst ist oder sogar sprachlich benannt werden kann.

Betrachten wir das Wort „Wert“ emotionsfrei, dann ist es zuerst neutral. Wir kombinieren die Wahrnehmungen hinzu wie bei einem Mischpult, das wir mehr oder weniger steuern können. Das erfolgt so schnell und unbewusst, dass im Bewusstsein eventuell eine Kategorie auftaucht, um den Signalfluss und die entstehenden Muster zu vereinfachen. Erst wenn wir uns über unser Mischpult und unsere Wahrnehmungen bewusstwerden, dann wird klar, was gemeint sein könnte. Sicher können wir erst sein, wenn der Sender dies bestätigt und dies auch verstanden hat.

Hohe Neurosensitivität hat den Vorteil, dass viele Signale aufgenommen werden können, aber sagt noch nichts über die Verarbeitung aus. Sind die Filter nicht vorhanden, kann leicht eine Reizüberflutung folgen, und dies kann zu vulnerabler Sensitivität führen. Erfolgt die Zuordnung strukturiert, können auch negative Ereignisse einer Ursache zugeordnet und „containert“ werden.

Bewusst oder zufällig gelernte Regeln nehmen für die Verarbeitung eine zentrale Rolle ein. Dabei vergleichen wir das Wahrgenommene mit den eigenen Vorstellungen. Wir setzen es in Beziehung zur Verwendung beziehungsweise Nutzung. Die gefundenen Kategorien werden dann mit Merkmalen assoziiert. Wirtschaftlich kann der Nutzen dann in einem Preis resultieren, wenn ein Markt vorhanden ist. Aufgrund individueller Prägung wird der Wert häufig mit dem Preis gleichgesetzt, da wir die unsaubere Verwendung des Wortes „Wert“ in Nachrichten häufig hören. Wenn wir dies auf uns selbst beziehen, dann könnte dies zu Spannung oder Dissonanz führen, sodass unser Selbstbewusstsein darunter leidet.

Betrachten wir beispielsweise ein Gemälde und finden es faszinierend, dann hat es für uns vielleicht die Werte Interesse, Neugier und Überraschung. Wenn wir das Preisschild anschauen und der Preis ist niedrig, dann korrigieren wir uns höchstwahrscheinlich und sagen zu uns selbst, dass wir uns getäuscht haben. Ist der Preis höher als wir uns leisten können, dann wird dieses Gemälde in Gedanken vielleicht wertvoll. Die Größe spielt zwar vordergründig keine Rolle, aber es leuchtet Ihnen ein, dass ein Gemälde von 2 × 3 Metern teurer sein muss als eines von 20 × 30 Zentimetern. Wie war ich enttäuscht, als ich die Mona Lisa im Louvre sah: 77 × 53 Zentimeter und angeblich unbezahlbar. Der Wert war angeblich sichtbar, der Nutzen für das Museum auch, aber der Preis nicht. Jemand hatte also einen Markt geschaffen, der die Werte vorgab. Sie als Leser:in sind also geprägt von den Menschen, die einen Markt machen. Erst auf diesem Markt gibt es einen Preis, wenn das Objekt angeboten wird. Zu Geld wird es erst dann, wenn Käufer da sind, die nachher eine Transaktion durchführen. Das Geld ist dann am Ende der Kette ein Indikator für den Wert. Immaterielle Werte werden also über die Kette Wert – Nutzen – Preis – Geld zu materiellen Werten. Dabei gilt:

Wert ist nicht Nutzen ist nicht Preis ist nicht Geld.

Wert und Verwendung ergeben Nutzen; damit ist nicht ausnutzen gemeint, was häufig verwechselt wird. Der Nutzen auf dem Markt ergibt einen Preis. Geld entsteht, wenn ein Tausch zwischen Verkäufer und Käufer stattfindet. Die klare Trennung der Begriffe zeigt den schrittweisen Übergang von immateriellen zu materiellen Werten. Beide haben Bedeutung und können ineinander überführt werden, wenn ein Markt vorhanden ist.

Was aber passiert, wenn Sie eine telepathische Sendung erhalten haben? Es ist kein Markt dafür vorhanden. Oder doch? Der Markt ist ihr Nervengeflecht und insbesondere das Gehirn, das Herz und der Bauch. Hier sitzt ihr Speicher für Erinnerungen, und eigentlich verhandeln Sie mit sich selbst. Preis und Geld spielen keine Rolle wie bei der Mona Lisa, denn Ihr Gefühl ist unbezahlbar. Sicherlich ist für Gefühle auch ein Markt vorhanden, und dazu sind wirtschaftliche Prozesse kulturell gewachsen. Aber das wundervolle und befreiende Gefühl, allein im Regen zu stehen, hat keinen Markt. Denken Sie aber daran, dass Sie dann allein sind und nachher die Wäsche trocknen müssen. Das ist dann ein negativer Nutzen, und der hat einen Preis, der sich aus Waschmittel, Arbeitsleistung und möglichen weiteren negativen Gefühlen wie Ärger und Kältegefühl zusammensetzt.

Es liegt an Ihnen selbst und nur an Ihnen, ob Sie das Ereignis der Wahrnehmung positiv oder negativ betrachten und filtern. Wenn Sie frei von Prägungen sind, dann entscheiden Sie selbst, ob Sie Vantage-sensitiv sein wollen oder vulnerabel. Wie das geht, werde ich in meiner Reise ins Ich weiter ausführen. Die Reise ist ein Sammelbecken für die Wahrnehmungen und die Werte aller Teilnehmer. Filtern dürfen Sie als Leser:in selbst, aber machen Sie sich bitte Ihre Prägung beim Lesen bewusst.

DIE WERTE AUF DER REISE

Für mich als Entdecker standen die Werte Neugier, Transparenz, Aufklärung und die Freude, mich mit Menschen zu einem gemeinsamen Thema ohne Vorbehalte austauschen zu können, im Vordergrund. Der Nutzen liegt in der Verwendung – also dem, was ich damit mache. Die Beispiele der Autor:innen sollen Ihnen helfen, sich in diesen wiederzufinden und daraus zu lernen.

Preis und Geld spielten keine Rolle, da die Motivation zu hoch war und es allen Beteiligten nur Freiheit genommen hätte. Ziel war also die Erhöhung des immateriellen Wertes für das ganze Projekt. Dabei war mir meine Methode des „human value design“ hilfreich.

Zentral für das Projekt war das Fotografieren der Menschen. Die Fotos dienen dabei nur als Anker für die Wahrnehmung. Zuerst einfach machen, dann über das gemeinsame Thema Neurosensitivität sprechen und in kurzen Zyklen unterschiedliche Situationen aufnehmen. Die Szenen wählte ich meistens mit den Porträtierten aus, wobei wir schnell die Situationen wechselten und die Umgebung nach Wohlfühlen auswählten: eine reale persönliche Aufstellung im Feld des anderen. Ich nahm eher nur die Rolle eines Beobachters und Katalysators ein.

Wie ging ich dabei konkret vor? Zuerst führte ich Vorgespräche, damit eine gemeinsame Vertrauensbasis für das Projekt entstand. Dann wurden Termine festgelegt und der Projektstand kontinuierlich mitgeteilt, um das Vertrauen zu stärken. Der Plan musste gleichzeitig exakt, verlässlich, aber auch agil sein, denn ständige Änderungen waren vorauszusehen. Die Fluktuation der Teilnehmer:innen hielt sich im Rahmen. Im Gegenteil: Es kamen immer mehr dazu. Wenn eine Person absagte, kamen zwei dazu.

Im Gegensatz zu vielen anderen Fotografen bereitete ich mich auf keines der persönlichen Treffen vor. Ich wollte erwartungsfreies Arbeiten, eine individuell angenehme Umgebung – ich nannte das immer „artgerechte Haltung“ – und bat darum, nicht zu lachen. Wenn jemand unbedingt lachen wollte, kam mein typischer Satz „Mach mir die Mona Lisa“. Ich gab meist nur ein sehr knappes Feedback, klärte nicht über Menschen auf, sondern über meine Vorgehensweise. Ich erzählte daher umso mehr über das Fotografieren an sich und unser gemeinsames Thema Neurosensitivität. Jedes Gespräch drehte sich nur darum. Aussagen wie „du bist“ oder „du musst“ oder „stell dich mal so“ waren verboten.

Ich gehe immer gemäß dem Motto von Robert Capa vor: „Wenn du meinst, du bist nah genug, dann geh näher ran.“ So nutzte ich meine PhaseOne mit 150 Megapixel, um derart scharfe Fotos zu machen, dass eine Irisanalyse möglich ist. Da diese Mittelformatkamera deutlich größer ist als „normale“ Vollformatkameras, setzte ich für unauffälliges Vorgehen meine Leica M ein. Ich fotografierte teilweise ohne Blitz und ging häufig an die Grenze des technisch Machbaren. Alle wirkten geduldig mit, denn eine kleine Bewegung, und das Auge ist verwaschen unscharf. Das Fotografieren wurde zur gemeinsamen Meditation mit größter Achtsamkeit.

Das richtige Blitzen machte ich dann mit zwei B1X von Profoto und einem A1. Durch den schnellen Blitz konnte ich die Bewegungen und die Mimik superscharf einfrieren, und die Bewegungen wirkten sich kaum auf die Schärfe aus. Warum erwähne ich das, obwohl Technik ja angeblich keine Rolle spielen soll, sondern nur der Fotograf an sich? Es ist gut, wenn ein(e) Fotograf:in den größten Wert hat, aber der Aufbau der Anlage, die Wirkung der kompletten Ausstattung auf die Porträtierten führt unweigerlich zu einer anderen Haltung. Es ist wie ein Eintritt in eine andere Dimension.

Ich teilte immer nur mit, was ich auch wirklich wahrnahm und empfand. Vorsichtig sprach ich Empfehlungen aus. Es gab Diskussionen über Vor- und Nachteile eines Ausdrucks oder eine Haltung, über Gefühle, Emotionen und Gedanken, gerade was uns einfiel – völlig frei ohne jegliche Wertung. Es war ein Spiel mit Leichtigkeit: Ich sehe was, was du nicht siehst. Fotoserien wurden in kurzen Zyklen von zehn Minuten geschossen und dann gab es Feedback, danach abrupter Szenenwechsel.

Mit allen entwickelte ich die Fotos zusammen in Videositzungen, nachdem ich schon eine Vorverarbeitung vorgenommen hatte. Hier kam das Feedback in Form von Interpretationen und Werten. Ich baute „co-kreativ“ ein Modell des Wahrgenommenen. Der Einfluss auf die Fotografierten geschah, sozusagen, „nichtinvasiv“. Ich filterte dann die Fotos nach technischer Güte. Dann extrahierte ich die wesentlichen Fotos je Szene und spielte die aussagekräftigsten in eine Cloud, sodass jeder seine Fotos für sich selbst begutachten und mit den anderen zur weiteren Diskussion teilen konnte. Nach der Betrachtung kamen uns meist noch gemeinsam Ideen und Methoden, wie wir noch besser die Probleme des Alltags bewältigen können, Wahrnehmungen besser messen und sortieren können.

Die Texte aller Koautor:innen entstanden dann wie teilweise bei mir mithilfe der Fotos. Besonders bei mir kamen bei jeder neuen Entwicklung die alten Emotionen und Gefühle hoch. Lachend und heulend saß ich vor meinen großen Monitoren und wusste, dass ich das Leben intensiv empfinde. Ich ließ es gewähren, und bei spontanen Eingebungen entwickelte ich weiter und schuf etwas Neues bis hin zu abstrakten Schöpfungen, die ich dann noch mit Fragmenten der Umgebung mischte. Letztendlich erfolgte dann die Auswahl der Fotos mit den Autor:innen, sodass der Text und die Fotos das Wesentliche aus unserer Sicht vermitteln. Der gesamte Prozess und der Austausch untereinander führten unweigerlich zu einer Transformation von beiden. Die Gespräche über die Wahrnehmung brachten uns näher zu den eigenen Werten auf der Reise ins Ich.

 DIE REISE

DER WEG ZU DEN ICHS

DER GEISTIGE BEGINN

Während der Reise war mir gar nicht mehr klar, wann die Reise eigentlich startete. Beginnt nicht jede Reise ins Ich, wenn wir ins Leben starten? Die eigentliche Reise begann, noch bevor ich das erste Gespräch mit Patrice hatte. Allein die Erkenntnis, dass meine Wahrnehmungen keine Hirngespinste waren, hatte die Reise vor Jahren beginnen lassen. Ich konnte Mails voraussagen und Studierenden in den Vorlesungen ihre Gedanken sagen. Ich merkte, dass das schon in früher Jugend so war, aber durch die Vorlesungen und meine visionären Projekte in der Unternehmensberatung kam es jetzt deutlicher zum Vorschein.

Deshalb wartete ich das Seminar von Patrice im August 2020 ab. Es bildete sich eine Gruppe, die Neurosensitivität als zentrales Thema diskutierte und eine Möglichkeit der Selbstreflexion bot. Es entwickelte sich eine positive Aufwärtsspirale.

Mitte November 2020 begann ich online mit den ersten Gesprächen zum Buch und startete die fotografische Reise frühzeitig im Januar 2021, die bis September 2021 dauerte. In Vorgesprächen erklärte ich das Konzept und die Leitlinien. Es gab keine Vorschriften oder Prägungen, wie ein Beitrag auszusehen hätte. Ich führte jeden zur individuellen Entwicklung der eigenen Texte.

Ich blieb meinem Grundprinzip treu, ohne Erwartungen zu reisen. Also bereitete ich mich auf keines der Gespräche vor. Ich wollte alle so wahrnehmen, wie sie im Gespräch wirken. Denn wenn ich mir zu viele Gedanken machte, dann wäre ich durch meine Vorstellungen schon geprägt. Die Wahrnehmungen in den Gesprächen sollten Impressionen bleiben, als ob eine Künstler:in ein Bild oder eine Skulptur hinterlässt, das nicht mit Farbe, sondern mit Energie geformt ist – eher eine Sozialplastik nach Joseph Beuys. Die Bewegungen und Emotionen sind dann ein energetischer Abdruck von und in Seele und Geist. Das ist auch ein Effekt, den ich aus meinem Alltag kenne: Ich sehe und spüre die Energie der anderen zuerst und dann erst Bewegungen, Mimik, Gestik und Emotionen.

Schon in den ersten Online-Gesprächen erkannten wir viele Gemeinsamkeiten. Die meisten fanden sich in typischen Aussagen wieder, wie „Alle glauben, dass es nur an mir liegt. Ich muss mich nur anstrengen, um so zu sein wie die anderen“. Hellsehen war bei vielen vorhanden, aber Hellhören war für mich neu, da ich derartiges früher eher als Zufall hinnahm. Der Wert war mir klar, denn von diesem Zeitpunkt an beschäftigte ich mich mit diesem Phänomen. Waren die Stimmen meiner Großmütter damals nur eine Technik zur Beruhigung vor Prüfungen, oder war da tatsächlich mehr? Warum sprach ich häufig von „ich rieche das schon im Voraus“ und erinnerte mich später, dass meine Großmutter väterlicherseits einen extrem ausgeprägten Geruchssinn hatte.

Neu war für mich auch, dass eine Teilnehmerin schrittweise elektrische Geräte wie Smartphone oder Computer eines Freundes blockieren konnte. Wie konnte sie Smartphones einfach durch ihren Willen manipulieren, fragte ich mich? In anderen Fällen erkannte ich in den Aussagen Methoden, die ich aus der Lehre kannte. Als mir eine Person zum Beispiel erzählte, dass sie die Emotionen aus Gesichtern lesen könne, wusste ich, dass es mit dem Facial Action Coding System (FACS) und den Microexpressions von Ekman und Friesen doch schon Methoden für eine verfeinerte Wahrnehmung gab. Im Weiteren konnte ich noch andere Methoden kennenlernen, die über die üblichen fünf Sinne hinausgehen.

Je weiter die Kommunikation dann in der Gruppe voranschritt, desto mehr kamen neue Phänomene zum Tragen. Durch kleine Hinweise über Messenger konnten Teilnehmer geistig bei mir einsteigen. Damit meine ich nicht den textuellen Gedankenfluss, sondern die Gefühle in den einzelnen Situationen, wenn nicht sogar die komplette Situation. Ein Beispiel ist die Nachricht von Franziska an Weihnachten:

„Danke dir für das Zusenden der Fotos. Ich muss über die Weihnachtsfeiertage tatsächlich bei dir auf Besuch gewesen sein. Es kommt mir alles so bekannt vor!

Und ja, vielleicht ist die Fensterfront der Lift, den ich gemeint habe zu sehen. Vielleicht diente mir das Glas als energetisches Transportmittel, denn tatsächlich bin ich an der Außenseite des Liftes, also am Glas entlang in den Raum geschwebt. (Ich schwebe oder fliege auf astralen Reisen übrigens immer, das ist ein absolut tolles Gefühl!)

Seitlich vom Lift habe ich übrigens eine dunkle beziehungsweise dunkelbraun glänzende Hotellobby – also dort, wo man eigentlich den Check-In macht – wahrgenommen. Das muss also die Küche gewesen sein. Eine Person stand hinter dem Tresen. Manche Hotel- beziehungsweise Hausgäste haben sich dort lose versammelt und zum Teil im Stehen Rotwein getrunken.

Tatsächlich muss ich mich schlussendlich aber ganz nahe und seitlich der Couch aufgehalten haben, denn die konnte ich am allerbesten wahrnehmen. Aber ich erinnere mich auch an einen Glastisch und an die gemusterten Teppiche (jetzt, da ich die Fotos sehe, fällt es mir wieder ein). Insgesamt war das Licht etwas gedimmt. Ich erinnere mich auch noch, dass ich in einem oberen Stock war, aber diesbezüglich ist meine Wahrnehmung nicht mehr so fein. Es muss ein Schlafzimmer gewesen sein mit einem großen und langen Wandschrank an der Türseite. Es ist schon seltsam und ich frage mich schon, was ich denn in deinem Haus eigentlich wollte?“

Zur Verifizierung machte ich Fotos für Franziska und schickte sie ihr zu. Diese bestätigten genau die Situation an Weihnachten. Wir standen um einen Tisch, hinter mir die Küche. Wir tranken Rotwein, und rechts von mir war das Wohnzimmer mit einer dunkelroten Ledercouch. Den Lift konnte sie sich nicht erklären, aber für mich war das sehr einfach. Links von mir war eine große Glasfront, die das Haus wie einen Wintergarten zum Garten hin abschließt. Sie war also tatsächlich da.

Remote Viewing mal eben so zwischendurch.

DER START

Bis Mai 2021 bewegte ich mich bei dieser Reise so gut wie nicht, außer zu Marcus und Dierk. Marcus Stein kannte ich seit November 2020. Er ist Winzer und hatte bei mir um die Ecke eine Weinhandlung eröffnet. Wir führten Online-Tastings durch und sprachen häufig über mein Thema „Werte“. Wir entwickelten meine eigene Weinmarke „proflindner“. Im Rahmen unserer Zusammenarbeit kam später noch das Thema Neurosensitivität hinzu, denn – wie konnte es auch anders sein – auch er war hochsensitiv.

Dierk Osterloh ist Maler und Fotograf – ihn lernte ich online über LinkedIn kennen. Wir erkannten sofort unsere Gemeinsamkeiten und schmiedeten drei Jahre später zahlreiche Pläne zur Vermarktung von Kunst. Wie konnte es auch anders sein – auch er war hochsensitiv.

Während der Zeit der Pandemie saß ich fast ausschließlich hinter meinem Schreibtisch und kommunizierte mit anderen fast nur über Messenger und Zoom – der direkte Kontakt blieb völlig auf der Strecke. Aufgerüttelt wurde ich durch Dirk Bandemer, mit welchem ich bereits seit mehr als zehn Jahren wirtschaftlich zusammenarbeite. Ihn musste ich schon im Januar 2021 fotografieren, denn seine gesundheitliche Diagnose im Dezember 2020 war schockierend. Der Weg zu ihm beträgt nur 80 km, und kurz nach der Fotosession igelte ich mich wieder ein. Da ich im Zeitplan vorgab, dass wir Ende Mai 2021 die Inhalte weitgehend gesammelt haben sollten, wusste ich, dass ich mich irgendwann wieder bewegen musste. Ich war auch aufgrund der Pandemie eher in einen Winterschlaf gegangen, und aus gesundheitlichen Gründen durfte ich außer Spazierengehen – was ich eigentlich völlig langweilig finde – wenig tun. Ich war zwar nach ein paar Eingriffen wieder halbwegs fit, aber unendlich müde. Die Vielfalt der einströmenden Informationen war so hoch, dass ich die Verarbeitung dessen, was kam, einfach wegschlafen musste. Ich sah alles vor mir, wusste die genauen Zeiten, aber es war wie eine Lähmung, die ich einfach akzeptierte. Schlafen, ohne zu schlafen, einfach die Ordnung sich im Gehirn herstellen lassen, obwohl eigentlich alles präzise geordnet war. Entweder arbeitete ich in noch höherer Geschwindigkeit als sonst oder ich fiel in einen tiefen Schlaf, der keiner war. Wenn ich die Augen schloss, zogen dunkelblaue Wolken mit hüpfenden violetten Tupfen wie kleine Feuerwerke an mir vorbei. Als dann die richtigen Eingebungen gekommen waren, flossen die Zeilen einfach aus mir heraus.

DER ERSTE SCHOCK

Der Schock trieb mich aus meinem Einigeln heraus. Ich hatte schon am 22. Dezember 2020 von Dirks Krebsdiagnose erfahren. Sein Todesurteil? Ein Schock für uns alle, denn wir kannten uns gut und hatten jahrelang Pläne geschmiedet. Wir packten über die Jahre immer neue Schachteln an Ideen aus und trieben uns gewaltig an. Meist wurde nichts daraus, aber es würde schon noch kommen. Wir gaben nie auf. Das war gut so und seine Einstellung half ihm.

Als ich jetzt von seiner Diagnose hörte, analysierten wir beide diese zuerst haargenau. Ich meinte, dass er immer noch sehr konzentriert sei. Er hatte seine Strategie, und die Ärzte waren gut und handelten augenscheinlich sehr überlegt. Es schien mir eine Ansammlung von Problemen zu sein, die seinen Zustand herbeiführten, und genau so könnte er wieder heraus – so sah er es auch. Uns war bewusst – es gibt keinen Weg, außer den positiven Ausweg. Wir beide sind Vantage-sensitiv bis ins Mark.

Also fuhr ich am 23. Januar 2020 zu Dirk, nachdem er seit einem Monat körperlich und seelisch stabil war. Wir wollten das Shooting, damit wir eventuell noch weitere Fotos während des Krankheitsverlaufs machen konnten und er noch bei „alter“ Frische war. Wir machten keine Experimente, denn ich wollte ihn in seiner trauten Umgebung möglichst authentisch „festhalten“.

Ich traf auf einen Mann, der weder krank aussah noch so dachte oder fühlte. Seine Energie war ungebrochen. Er war körperlich vorsichtiger als sonst, aber irgendwie schien es wie in einem falschen Film. Ich sagte ihm: „Deine Energie sagt mir, dass das nur vorübergehend ist.“ Locker würde es nicht sein, aber er arbeitete sehr intensiv an sich. Da er Führungskraft in einem führenden Wohlfahrtsverband Deutschlands ist, hatte er alle Ressourcen greifbar nahe – und hervorragende Ärzte.

Um den Text möglichst authentisch zu halten, sprach er im ersten Monat alles für mich auf sein Handy auf. Die Sätze wurden sprachlich nicht redigiert, da diese seinen Zustand authentisch wiedergeben.

DIRK BANDEMER

CHARAKTERISTIK

 achtsam: Erkenne zwischen den Zeilen „Botschaften“.

 Selbstpflegedefizit (Dependenz): Kann nicht nein sagen.

 situative Beobachtung: Ich gehe oft von einem anderen, größeren Ausgangspunkt in einer Situation oder einem Gespräch aus, da ich die spätere Wirkung bewerte, und versuche, Schaden und Nutzen zu trennen.

 Details: Erkennen der Zusammenhänge und aufgrund dieser Zusammenhänge Lösungen zu finden

 Beobachtungen: Vergleiche gerne Soll und Ist einer Situation oder eines Gesprächs und die spätere Folge

 Fassade: Durch genaues Analysieren entdecke ich die Realität hinter einer Fassade in der Situation oder dem Gespräch.

 Folge: Oft werde ich, trotz Erkrankung, bei „Not“ um Hilfe gebeten. In der Phase des „Gutgehens“ des Gesprächspartners bin ich nicht gefragt.

MEIN LEBEN

Geboren 1970 mitten im Ruhrgebiet. Meine Beziehung zum Ruhrgebiet ist differenziert. Es ist nicht schön, hier zu leben, da es diverse Probleme gibt. Ich lebe seit ca. 1990 auch im Allgäu. Es zieht mich dennoch immer wieder ins Ruhrgebiet zurück, da ich mich trotz aller Probleme dort wohlfühle.

In meinem Leben bemerkte ich, dass ich oft Situationen und Gespräche anders wahrgenommen habe. Neben dem Inhalt erkannte ich oft weitere Botschaften. Umfeld, Körpersprache, Gestik, Mimik, Stimmung, Wortwahl etc. bildeten in einigen Situationen ein anderes Bild gegenüber den Aussagen in der Situation.