Neurowissenschaften – humorvoll erklärt - Samuel Kerbholz - E-Book

Neurowissenschaften – humorvoll erklärt E-Book

Samuel Kerbholz

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Beschreibung

66 Kapitel:

Neuron * Dendrit * Axon * Synapse * Neurotransmitter * Aktionspotential * Ruhemembranpotential * Ionenkanal * Myelinscheide * Gliazellen * Astrozyten, Oligodendrozyten, Mikroglia, Schwann-Zellen * Hippocampus * Amygdala * Thalamus * Hypothalamus * Kleinhirn (Cerebellum) * Großhirnrinde (Cortex) * Frontallappen, Parietallappen, Okzipitallappen, Temporallappen * Basalganglien * Substantia nigra * Neuroplastizität * Synaptische Plastizität, Langzeitpotenzierung (LTP), Langzeitdepression (LTD), Neurogenese * Spiegelneuronen * Somatosensorisches System * Motorischer Kortex * Präfrontaler Kortex * Vegetatives Nervensystem * Sympathikus, Parasympathikus * Neuroendokrinologie * Belohnungssystem * Dopamin, Serotonin, Acetylcholin, Glutamat, GABA, Noradrenalin * Elektroenzephalographie (EEG), Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), Positronen-Emissions-Tomographie (PET) * Neuroethik

Blut-Hirn-Schranke – Schutzbarriere zwischen Blutkreislauf und Gehirn * Depolarisation – Verringerung der Membranspannung, Repolarisation – Wiederherstellung des Ruhepotentials, Hyperpolarisation – Überschießende Negativierung * Hirnstamm – Verbindung zwischen Gehirn und Rückenmark, Formatio reticularis – Netzwerk im Hirnstamm * Corpus callosum (Balken) – Verbindung der Hemisphären * Neuromodulatoren – Substanzen zur Modulation neuronaler Aktivität * Broca-Areal – Sprachproduktionszentrum, Wernicke-Areal – Sprachverständniszentrum * Primärer visueller Kortex (V1) – Sehrinde, Primärer auditorischer Kortex – Hörrinde, Assoziationskortex – Integration multipler Informationen * Weiße Substanz – Myelinisierte Axone, Graue Substanz – Zellkörper und Dendriten * Synaptogenese – Bildung neuer Synapsen * Neurotrophine – Wachstumsfaktoren für Nervenzellen * Neuropharmakologie – Wirkung von Substanzen auf das Nervensystem * Diffusionstensor-Bildgebung (DTI) – Darstellung von Nervenbahnen, Transkranielle Magnetstimulation (TMS) – Nicht-invasive Hirnstimulation, Patch-Clamp-Technik – Messung von Ionenströmen, CT – Computertomografie * Elektrophysiologie * Künstliche Intelligenz und Neurowissenschaften * Neurogenetik * Epigenetik des Nervensystems * CREB, BDNF und das Langzeitgedächtnis, Transgenerationale Epigenetik * Rekonsolidierung * Doppelblindstudien

Bewusstsein & Subjektive Erfahrung * Gedächtnis & Lernen * Kognitive Funktionen * Sprache & Kommunikation * Emotionen & Motivation * Entwicklung & Plastizität * Schlaf & Circadiane Rhythmen * Wahrnehmung & Sensorische Verarbeitung * Neurodegenerative & Psychiatrische Erkrankungen * Grundlegende Mechanismen

Gehirnwäsche mit Brainofantastic * Die Gedanken sind frei * Brief ans Unterbewusstsein * Unterbewusstsein an Ratio
 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

 

Neurowissenschaften – humorvoll erklärt

 

66 Kapitel:

 

Neuron * Dendrit * Axon * Synapse * Neurotransmitter * Aktionspotential * Ruhemembranpotential * Ionenkanal * Myelinscheide * Gliazellen * Astrozyten, Oligodendrozyten, Mikroglia, Schwann-Zellen * Hippocampus * Amygdala * Thalamus * Hypothalamus * Kleinhirn (Cerebellum) * Großhirnrinde (Cortex) * Frontallappen, Parietallappen, Okzipitallappen, Temporallappen * Basalganglien * Substantia nigra * Neuroplastizität * Synaptische Plastizität, Langzeitpotenzierung (LTP), Langzeitdepression (LTD), Neurogenese * Spiegelneuronen * Somatosensorisches System * Motorischer Kortex * Präfrontaler Kortex * Vegetatives Nervensystem * Sympathikus, Parasympathikus * Neuroendokrinologie * Belohnungssystem * Dopamin, Serotonin, Acetylcholin, Glutamat, GABA, Noradrenalin * Elektroenzephalographie (EEG), Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), Positronen-Emissions-Tomographie (PET) * Neuroethik

 

Blut-Hirn-Schranke – Schutzbarriere zwischen Blutkreislauf und Gehirn * Depolarisation – Verringerung der Membranspannung, Repolarisation – Wiederherstellung des Ruhepotentials, Hyperpolarisation – Überschießende Negativierung * Hirnstamm – Verbindung zwischen Gehirn und Rückenmark, Formatio reticularis – Netzwerk im Hirnstamm * Corpus callosum (Balken) – Verbindung der Hemisphären * Neuromodulatoren – Substanzen zur Modulation neuronaler Aktivität * Broca-Areal – Sprachproduktionszentrum, Wernicke-Areal – Sprachverständniszentrum * Primärer visueller Kortex (V1) – Sehrinde, Primärer auditorischer Kortex – Hörrinde, Assoziationskortex – Integration multipler Informationen * Weiße Substanz – Myelinisierte Axone, Graue Substanz – Zellkörper und Dendriten * Synaptogenese – Bildung neuer Synapsen * Neurotrophine – Wachstumsfaktoren für Nervenzellen * Neuropharmakologie – Wirkung von Substanzen auf das Nervensystem * Diffusionstensor-Bildgebung (DTI) – Darstellung von Nervenbahnen, Transkranielle Magnetstimulation (TMS) – Nicht-invasive Hirnstimulation, Patch-Clamp-Technik – Messung von Ionenströmen, CT – Computertomografie * Elektrophysiologie * Künstliche Intelligenz und Neurowissenschaften * Neurogenetik * Epigenetik des Nervensystems * CREB, BDNF und das Langzeitgedächtnis, Transgenerationale Epigenetik * Rekonsolidierung * Doppelblindstudien

 

Bewusstsein & Subjektive Erfahrung * Gedächtnis & Lernen * Kognitive Funktionen * Sprache & Kommunikation * Emotionen & Motivation * Entwicklung & Plastizität * Schlaf & Circadiane Rhythmen * Wahrnehmung & Sensorische Verarbeitung * Neurodegenerative & Psychiatrische Erkrankungen * Grundlegende Mechanismen

 

Gehirnwäsche mit Brainofantastic * Die Gedanken sind frei * Brief ans Unterbewusstsein * Unterbewusstsein an Ratio

 

Copyright © 2025 Samuel Kerbholz

Stephan Lill, Birkenhorst 5b, 21220 Seevetal, Germany

 

 

Das Neuron: Vom Einzelgänger zum Netzwerk-Junkie

Ein Portrait des fleißigsten Callcenter-Mitarbeiters der Evolution

Man stelle sich vor: Hundert Milliarden Mitarbeiter, alle gleichzeitig am Telefon, keiner macht Mittagspause, und der Betriebsrat wurde nie gegründet. Willkommen im Großraumbüro namens Gehirn, wo das Neuron – auch bekannt als Nervenzelle – seit Millionen von Jahren die gleiche Schicht schiebt. Ohne Urlaubsanspruch. Ohne Weihnachtsgeld. Aber mit einem Kommunikationssystem, das selbst die Deutsche Telekom vor Neid erblassen lässt.

Das Neuron ist im Grunde ein biologischer Nachrichtendienst mit Größenwahn. Während normale Zellen sich damit begnügen, einfach nur da zu sein – Leberzellen etwa haben den Charme eines Finanzbeamten kurz vor der Rente –, hat sich das Neuron für die Diva-Karriere entschieden. Es will nicht bloß existieren. Es will kommunizieren. Ständig. Mit jedem. Über alles.

"Ich bin nicht kompliziert", würde ein Neuron sagen, wenn es sprechen könnte (was ironischerweise nur möglich ist, weil Neuronen existieren). "Ich habe nur drei einfache Teile: Dendriten zum Empfangen, einen Zellkörper zum Verarbeiten und ein Axon zum Senden. Das ist wie E-Mail, nur mit mehr Chemie und weniger Spam."

Nun, ganz so einfach ist es dann doch nicht.

Die Dendriten sind die verzweigten Antennen des Neurons, kleine Ästchen, die aussehen, als hätte jemand einen Baum durch einen Schredder gejagt und das Ergebnis für künstlerisch wertvoll befunden. Sie empfangen Signale von anderen Neuronen – Tausende gleichzeitig. Stellen Sie sich vor, Sie müssten bei einem Familientreffen allen Verwandten gleichzeitig zuhören. Genau so fühlt sich ein Dendrit vermutlich jeden Tag.

"Signal von oben!", ruft Dendrit Nummer 347. "Glutamat-Lieferung an Synapse 12!"

"Hier auch!", meldet sich Dendrit 891. "Aber Vorsicht, es ist GABA – das heißt nicht weiterleiten!"

Der Zellkörper, das Soma, sitzt mittendrin wie ein gestresster Dispatcher und rechnet: Erregen oder Hemmen? Feuern oder Schweigen? Es ist eine Demokratie der Ionen, und jede Synapse hat eine Stimme. Nur dass die Mehrheit hier in Millivolt gemessen wird.

Wenn genug erregende Signale zusammenkommen – wenn die Spannung einen kritischen Punkt erreicht, den sogenannten Schwellenwert –, passiert etwas Spektakuläres: das Aktionspotential. Ein elektrischer Impuls rast mit bis zu 120 Metern pro Sekunde das Axon hinunter. Das ist ungefähr so schnell wie ein Intercity-Express, nur dass dieser Zug ausschließlich mit Natriumionen beheizt wird.

"Achtung, wir haben Zündung!", schreit das Neuron metaphorisch und schickt seinen Impuls auf die Reise. Das Axon – oft ummantelt mit Myelin, einer Isolierschicht, die aussieht wie Luftpolsterfolie für Nerven – leitet den Stromschlag weiter. An bestimmten Stellen, den Ranvier-Schnürringen, springt der Impuls von Lücke zu Lücke. Die Wissenschaft nennt das "saltatorische Erregungsleitung", was auf Lateinisch "hüpfende Leitung" bedeutet. Das Neuron hat also nicht nur ein Telefonnetz erfunden, sondern auch noch Schnurlos-Technologie.

Am Ende des Axons, an der Synapse, wird es dann richtig interessant. Hier verwandelt sich das elektrische Signal in ein chemisches – als würde man mitten im Gespräch von Telefon auf Rauchzeichen umschalten. Neurotransmitter-Moleküle schwimmen durch den synaptischen Spalt, diesen winzigen Abgrund zwischen zwei Neuronen, und docken an der nächsten Zelle an.

"Paket für Neuron Müller!", ruft der Neurotransmitter. "Unterschrift bitte!"

"Welcher Absender?", fragt Neuron Müller misstrauisch.

"Dopamin aus der Motivationsabteilung!"

"Ah, sehr schön. Weitermachen!"

Es ist ein System von bestechender Eleganz und erschreckender Komplexität. Jedes Neuron ist mit bis zu 10.000 anderen verbunden. Das sind mehr Kontakte, als selbst der ambitionierteste LinkedIn-Nutzer jemals erreichen wird. Und anders als bei sozialen Netzwerken sind hier alle Verbindungen tatsächlich aktiv.

Die Ironie ist natürlich, dass wir nur deshalb über Neuronen nachdenken können, weil Neuronen über sich selbst nachdenken. Das Gehirn ist das einzige Organ, das sich einen Namen gegeben hat. Das Herz hat sich nie "Herz" genannt. Die Leber ist zu beschäftigt mit Entgiften, um über Branding nachzudenken. Aber das Neuron? Das Neuron hat nicht nur die Sprache erfunden, sondern auch gleich ein ganzes Fachgebiet – die Neurowissenschaften –, nur um sich selbst zu studieren.

Man könnte sagen, das Neuron ist der ultimative Narzisst der Biologie.

Oder der ultimative Realist. Denn während andere Zellen still vor sich hin arbeiten, hat das Neuron verstanden: Kommunikation ist alles. Ohne den ständigen Austausch – elektrisch, chemisch, Tag und Nacht – gäbe es kein Bewusstsein, keine Erinnerungen, keine Träume. Keine schlechten Witze. Gute ebenfalls nicht.

Das Neuron ist also nicht einfach nur eine Zelle. Es ist ein Philosoph mit Stromanschluss, ein Poet mit Axon, ein Mitarbeiter im kosmischen Callcenter, der nie auflegt, weil er weiß: Das Gespräch ist alles, was wir haben.

Und jetzt, in diesem Moment, während Sie diese Zeilen lesen, feuern Millionen Ihrer Neuronen, tauschen sich aus, streiten sich über Bedeutungen, speichern Informationen ab oder werfen sie raus. Ein ganzes Parlament aus Nervenzellen diskutiert gerade, ob dieser Text lustig ist oder nicht.

Die Mehrheit scheint sich noch nicht entschieden zu haben.

Aber das Neuron? Das arbeitet einfach weiter. Weil das sein Job ist. Seit 500 Millionen Jahren. Ohne Beschwerde. Mit viel Natrium.

Und erstaunlich wenig Schlaf.

 

Der Dendrit: Die Kunst des Zuhörens (oder: Warum manche Äste klüger sind als Bäume)

Portrait einer Empfangsantenne mit Persönlichkeitsstörung

Es gibt im menschlichen Körper keine größeren Klatschbasen als Dendriten. Diese kleinen, verzweigten Auswüchse von Nervenzellen sind im Grunde die Nachbarinnen am Gartenzaun der Neuroanatomie – immer am Lauschen, immer bereit, jedes noch so unwichtige Signal aufzuschnappen. "Hast du gehört? Synapse 347 hat gestern drei Mal Dopamin geschickt!" – "Nein! Wirklich? Erzähl!"

Schauen wir uns dieses merkwürdige Gebilde genauer an.

Der Dendrit ist die Empfangsabteilung des Neurons, ein biologischer Parabolspiegel, der aussieht, als hätte die Evolution beim Zeichnen eine Tasse Kaffee umgestoßen und dann gedacht: "Ach, lassen wir das so." Diese Verästelungen – vom griechischen dendron für Baum, weil die alten Griechen offenbar noch nie einen richtigen Baum gesehen hatten – sprießen aus dem Zellkörper wie die Frisur eines Wissenschaftlers, der zu nah an einen Tesla-Generator geraten ist.

Und genau wie bei dieser Frisur steckt hinter dem Chaos System.

"Ich bin ein Kommunikationsprofi", würde ein Dendrit von sich behaupten, wenn er nicht gerade damit beschäftigt wäre, tausend Gespräche gleichzeitig zu führen. "Meine Aufgabe ist simpel: Ich höre zu. Allen. Immer. Ohne Filter."

Das klingt zunächst nach einem empathischen Traum, ist aber in Wahrheit der neurobiologische Albtraum jedes Introvertierten. Ein einziges Neuron kann bis zu 10.000 Dendriten haben. Stellen Sie sich vor, Sie hätten 10.000 Ohren, und alle befinden sich auf einer Party. Gleichzeitig. Seit Ihrer Geburt.

Die Dendriten verzweigen sich in immer feinere Äste – primäre, sekundäre, tertiäre Verzweigungen –, als hätte jemand einen Familienstammbaum gezeichnet, bei dem alle Cousins dritten Grades auch noch ein Mitspracherecht haben. An diesen Ästen sitzen die eigentlichen Empfangsstationen: die Synapsen. Kleine Andockstellen, wo Neurotransmitter anlanden wie Taxis vor einem Bahnhof.

"Signal von links!", meldet Dendrit A.

"GABA-Lieferung an Synapse 23!", ruft Dendrit B.

"Glutamat auf der Hauptstraße!", schreit Dendrit C hysterisch.

Der Zellkörper, irgendwo in der Mitte dieses Durcheinanders, versucht verzweifelt, demokratisch zu entscheiden, was all diese Informationen bedeuten. Feuern oder nicht feuern? Das ist hier die Frage. Und die Antwort liegt in der Summe all dessen, was die Dendriten ihm zuflüstern.

Hier kommt die geniale Raffinesse ins Spiel: Nicht alle Dendriten sind gleich. Manche sitzen näher am Zellkörper – die VIPs der Neuroanatomie –, deren Stimme mehr Gewicht hat. Andere verzweigen sich weit draußen in der Peripherie, wie entfernte Verwandte, die zwar auch eingeladen sind, aber deren Meinung man heimlich ignoriert. Die Wissenschaft nennt das "räumliche Summation", was im Grunde bedeutet: Wer näher am Chef sitzt, wird eher gehört. Auch im Gehirn regiert die Büropolitik.

Dazu kommt die "zeitliche Summation" – wenn viele Signale kurz hintereinander eintreffen, addieren sie sich. Das ist wie beim Betteln eines Kleinkindes: Einmal "Mama, ich will Eis" kann man ignorieren. Zwanzigmal in zwei Minuten, und plötzlich steht man an der Eisdiele.

Die Dendriten sind also keine passiven Antennen. Sie sind Rechner, Filter, Gewichtungsexperten. Sie integrieren, modulieren, entscheiden. Manche haben sogar eigene kleine Spikes – elektrische Mini-Erregungen –, als würden sie sich schon mal warm laufen für die große Vorstellung.

"Ich bin nicht nur Empfänger", sagt der Dendrit stolz. "Ich bin Kurator der Information."

Was für eine prätentiöse kleine Zellstruktur.

Aber – und hier wird es philosophisch – der Dendrit hat recht. Denn das Gehirn ist keine Demokratie der Gleichberechtigung. Es ist eine Meritokratie der Lautstärke und Wiederholung. Was oft genug gesendet wird, was wichtig erscheint, was emotional aufgeladen ist – das kommt durch. Der Rest wird ignoriert wie Spam-Mails am Montagmorgen.

Dendriten sind auch Lernmaschinen. Wenn zwei Neuronen häufig zusammen feuern – "cells that fire together, wire together", wie es der Neurowissenschaftler Donald Hebb formulierte –, wachsen die Dendriten, bilden neue Synapsen, verstärken die Verbindung. Das ist neurobiologische Freundschaft: Je öfter man miteinander redet, desto besser versteht man sich. Oder zumindest desto schneller kann man miteinander reden.

Das Gegenteil funktioniert auch. Selten genutzte Synapsen werden abgebaut. "Pruning" nennt man das – beschneiden, wie bei einem Baum, den man in Form bringt. Das Gehirn ist ein Gärtner, der nur die Äste behält, die Früchte tragen. Der Rest muss weichen. Das ist brutal, aber effizient. Nostalgie hat im Stoffwechsel keinen Platz.

Man könnte also sagen: Dendriten sind die Verkörperung dessen, worauf es im Leben ankommt – Zuhören. Nicht nur hören. Zuhören. Mit allen Verästelungen, allen Nuancen, allen feinen Unterschieden zwischen "wichtig" und "kann warten" und "völlig irrelevant, aber vielleicht später mal bedeutsam".

Und genau hier offenbart sich die Tragik des Dendriten. Denn während er selbst ein Meister des Zuhörens ist, wird ihm selbst nie zugehört. Er empfängt nur. Er sendet nicht. Er ist der ewige Input ohne Output, der Zuhörer ohne Stimme, die Antenne ohne Sender.

"Ist das nicht frustrierend?", würde man ihn fragen.

"Nein", würde der Dendrit antworten, wenn er könnte. "Denn ich bin Teil von etwas Größerem. Ohne mich kein Gedanke, keine Bewegung, kein Witz, keine Erinnerung. Ich bin der Anfang jeder Botschaft, die je durchs Gehirn gereist ist. Ich bin die erste Instanz. Der Pförtner der Bedeutung."

Tatsächlich: Ohne Dendriten kein Bewusstsein. Keine Liebe. Keine Angst. Keine schlechten Entscheidungen um drei Uhr nachts. Alles, was wir denken, fühlen, bereuen oder feiern, beginnt mit einem kleinen verästelten Ding, das ein Signal aufschnappt und weitergibt.

Auch jetzt, in diesem Moment, während Sie diese Zeilen lesen, feuern Millionen Ihrer Dendriten. Sie verarbeiten Buchstaben, Wörter, Ironie. Sie vergleichen mit Erinnerungen, suchen nach Mustern, entscheiden, ob Sie lächeln oder die Stirn runzeln sollen.

Die Dendriten haben schon abgestimmt.

Sie lesen noch.

Das bedeutet: Sie haben zugehört.

Und das ist, frei nach Dendrit-Philosophie, das einzige, was wirklich zählt.

 

Das Axon: Die Autobahn des Gedankens

Portrait eines Fortsatzes mit Geschwindigkeitswahn

Während der Dendrit das soziale Tier der Neuroanatomie ist – immer am Plaudern, immer am Empfangen, ständig in Kontakt mit der Nachbarschaft –, ist das Axon der Einzelgänger. Der Langstreckenläufer. Der Minimalist, der sich auf das Wesentliche konzentriert: Senden. Nur senden. Niemals empfangen. Eine Einbahnstraße, die so konsequent ist, dass selbst deutsche Verkehrsplaner vor Neid erblassen würden.

Das Axon ist der lange, dünne Fortsatz eines Neurons, der manchmal nur einen Millimeter misst, manchmal aber auch über einen Meter lang wird. Ein Meter! Das ist, gemessen an der Größe einer Zelle, ungefähr so, als würde ein Mensch eine Telefonleitung bis zum Mond legen. Nur um dann eine einzige Nachricht zu übermitteln: "Jetzt!"

"Ich bin ein Spezialist", würde das Axon von sich behaupten, wäre es nicht gerade damit beschäftigt, mit 120 Metern pro Sekunde einen elektrischen Impuls weiterzuleiten. "Ich mache eine Sache, aber die mache ich richtig. Ich bin der ICE des Nervensystems – schnell, zuverlässig, und wenn ich ausfalle, merkt es jeder."

Das stimmt. Wenn Axone streiken – etwa bei Multipler Sklerose, wo die Isolierung kaputtgeht –, bricht das gesamte Kommunikationsnetz zusammen. Plötzlich kommen Signale verspätet an, oder gar nicht, oder an der falschen Stelle. Das ist, als würde die Post Ihre Steuererklärung an den Weihnachtsmann schicken. Kreativ, aber nicht hilfreich.

Schauen wir uns dieses merkwürdige Gebilde genauer an.

Das Axon entspringt am sogenannten Axonhügel, einer kleinen Erhebung am Zellkörper, die aussieht wie der Startblock bei einem Sprintwettbewerb. Hier entscheidet sich, ob ein Aktionspotential losgeschickt wird oder nicht. Wenn genug Spannung zusammenkommt – wenn die Dendriten laut genug geschrien haben –, öffnen sich Ionenkanäle, Natrium strömt hinein, und whoosh – das Signal rast los.

"Startschuss!", ruft das Axon und katapultiert seinen elektrischen Impuls ins Rennen.

Jetzt wird es interessant. Denn das Axon ist oft von einer Substanz namens Myelin umhüllt, einer fettigen Isolierschicht, die von speziellen Zellen – den Schwann-Zellen im peripheren und den Oligodendrozyten im zentralen Nervensystem – liebevoll umwickelt wird, wie Luftpolsterfolie um ein zerbrechliches Paket. Diese Myelinscheide ist nicht durchgehend, sondern hat regelmäßige Lücken: die Ranvier'schen Schnürringe, benannt nach dem französischen Anatom Louis-Antoine Ranvier, der vermutlich sehr stolz wäre, dass sein Name jetzt für "kleine Lücken in der Nervenisolierung" steht.

An diesen Lücken passiert etwas Geniales: Das Aktionspotential springt von Lücke zu Lücke – saltatorische Erregungsleitung, vom lateinischen saltare, springen. Statt die ganze Strecke gemütlich entlangzukriechen, hüpft der Impuls wie ein Steinchen über einen See. Das ist nicht nur schneller, sondern auch energiesparender. Effizienz! Die Evolution hat offenbar bei deutschen Ingenieuren gelernt.

"Ich bin wie ein Expresszug", sagt das Axon stolz. "Ich halte nur an ausgewählten Bahnhöfen."

Die unmyelinisierten Axone hingegen – die gibt es auch – sind die Regionalbahnen des Nervensystems. Langsam, gemächlich, aber zuverlässig. Gut genug für Schmerzsignale, die keine Eile haben. Niemand muss sofort wissen, dass der Fuß eingeschlafen ist. Das kann auch in zwei Sekunden mitgeteilt werden.

Am Ende des Axons, oft nach einer Reise, die in Zellmaßstäben einer Weltreise gleichkommt, befindet sich die präsynaptische Endigung – der Hafen, wo die elektrische Post in chemische Fracht umgeladen wird. Hier warten kleine Bläschen voller Neurotransmitter, die darauf brennen, in den synaptischen Spalt geschossen zu werden wie Konfetti aus einer Kanone.

"Paket für die Gegenseite!", ruft das Axon und entlädt seine chemische Ladung.

Das Empfängerneuron – genauer gesagt dessen Dendriten – nimmt die Nachricht entgegen, und der Kreislauf beginnt von vorn. Das Axon hat seinen Job erledigt. Es kehrt in den Ruhezustand zurück, pumpt Natrium raus, Kalium rein, stellt die ursprüngliche Spannung wieder her und wartet auf das nächste Signal.

"Bereit für die nächste Runde", murmelt es zufrieden.

Das Axon ist also ein Minimalist mit Maximalleistung. Es tut nur eine Sache – leitet weiter –, aber diese eine Sache ermöglicht so ziemlich alles, was wir als Leben bezeichnen. Bewegung? Axone. Wahrnehmung? Axone. Die Entscheidung, ob Sie jetzt weiterlesen oder lieber Kaffee holen? Ein riesiges Feuerwerk aus Axonen, die miteinander verhandeln.

Und hier offenbart sich die stille Größe dieser Struktur. Während die Dendriten die ganze Aufmerksamkeit bekommen – "Oh, schau mal, wie komplex! Wie verzweigt!" –, schuftet das Axon im Hintergrund, lang, dünn, unscheinbar, aber absolut unverzichtbar. Es ist der Bassist in der Band der Neuroanatomie. Niemand beachtet ihn, aber ohne ihn klingt das Lied schrecklich.

Man könnte sagen: Das Axon ist die Verkörperung einer fundamentalen Lebenswahrheit – manchmal ist weniger mehr. Keine Verästelungen, keine komplizierten Verzweigungen, keine Ambiguität. Nur eine klare Richtung: vorwärts. Nur eine Aufgabe: weitergeben. Nur ein Ziel: ankommen.

In einer Welt voller Dendriten, die ständig zuhören, abwägen, integrieren, ist das Axon erfrischend eindeutig. Es ist die Einbahnstraße, die keine Diskussion duldet. "Hier geht's lang", sagt das Axon. "Und zwar nur hier lang."

Keine Umkehr. Keine Zweifel. Keine Rückfragen.

Das hat etwas Bewundernswertes. Und gleichzeitig etwas leicht Beunruhigendes. Denn ein System, das nur sendet, nie empfängt, nur vorwärts geht, nie zurückblickt, ist effizient – aber auch blind für alles, was hinter ihm liegt.

Philosophisch betrachtet ist das Axon die biologische Manifestation des Fortschritts: zielgerichtet, unaufhaltsam, manchmal rasend schnell, manchmal etwas langsamer, aber immer in Bewegung. Es lebt im Präsens, im ewigen Jetzt des Signals, das gerade weitergeleitet wird. Vergangenheit? Irrelevant. Zukunft? Kommt von selbst. Wichtig ist nur der Moment, in dem das Aktionspotential durch die Membran rauscht.

"Ich bereue nichts", würde das Axon sagen, hätte es Zeit für Selbstreflexion. "Ich sende, also bin ich."

Descartes wäre stolz. Oder verwirrt. Vermutlich beides.

Und während Sie jetzt über dieses Essay nachdenken, überlegen, ob Sie lächeln oder mit den Augen rollen sollen, feuern in Ihrem Gehirn gerade Millionen von Axonen. Sie schicken Signale von A nach B, von der visuellen Rinde zur Sprachverarbeitung, von der Amygdala zum präfrontalen Kortex, vom Motorcortex zu Ihren Fingern, falls Sie gleich umblättern wollen.

Alles Einbahnstraßen.

Alle rasend schnell.

Alle absolut überzeugt davon, dass ihre Nachricht die wichtigste ist.

Und irgendwie – gegen jede Wahrscheinlichkeit – funktioniert es.

Das ist vielleicht die größte Leistung des Axons: Es ist Teil eines chaotischen, überkomplexen, milliardenfach vernetzten Systems, und trotzdem weiß es genau, was es zu tun hat.

Weitermachen.

Immer weiter.

Bis zum nächsten Signal.

 

Die Synapse: Klatsch und Tratsch an der Grundstücksgrenze

Portrait einer Kontaktstelle mit Kommunikationszwang

Die Synapse ist der Gartenzaun des Nervensystems. Jener mysteriöse Ort, wo Neuronen sich begegnen, ohne sich wirklich zu berühren – wie zwei Nachbarn, die höflich über die Hecke plaudern, aber niemals gemeinsam grillen würden. Ein Spalt, gerade mal 20 bis 40 Nanometer breit, trennt die beiden. Das ist weniger als der Durchmesser eines Virus. Und doch findet hier die gesamte Kommunikation statt, auf der Denken, Fühlen und das verzweifelte Suchen nach dem Autoschlüssel am Montagmorgen basieren.

Man könnte sagen: Die Synapse ist der sozialste Ort der Biologie. Oder der unsozialste, je nachdem, wie man es betrachtet. Denn während sich die Neuronen fast berühren – fast, aber eben nicht ganz –, werfen sie sich Botschaften zu wie Liebesbriefe in einer viktorianischen Romanze. Nur dass diese Briefe aus Molekülen bestehen und in Millisekunden zugestellt werden.

"Ich bin kein Hindernis", würde die Synapse von sich behaupten, wäre sie nicht gerade damit beschäftigt, zum millionsten Mal an diesem Tag Glutamat durch den synaptischen Spalt zu schleusen. "Ich bin eine Möglichkeit. Ohne mich gäbe es nur Chaos. Mit mir gibt es organisiertes Chaos."

Das ist nicht unbedingt beruhigend, aber immerhin ehrlich.

Schauen wir uns das Geschehen genauer an.

Am Ende eines Axons – der präsynaptischen Seite – warten kleine Bläschen, die Vesikel, gefüllt mit Neurotransmittern. Diese chemischen Botenstoffe haben klangvolle Namen wie Dopamin, Serotonin, Acetylcholin oder GABA, und sie alle haben einen Job: rüberschwimmen und Bescheid geben. Wenn ein Aktionspotential am Ende des Axons ankommt, öffnen sich Kalziumkanäle, Kalzium strömt hinein, und die Vesikel verschmelzen mit der Zellmembran wie übermotivierte Luftballons bei einer Kindergeburtstagsparty.

Plopp! Die Neurotransmitter werden freigesetzt.

"Eilpost für die Gegenseite!", ruft das präsynaptische Neuron und wirft seine molekularen Briefe über den Zaun.

Auf der anderen Seite – der postsynaptischen Seite, meistens ein Dendrit – warten Rezeptoren. Winzige Proteine, die wie Briefkästen funktionieren, jeder mit einem spezifischen Schlüssel. Glutamat passt nur in Glutamat-Rezeptoren. GABA nur in GABA-Rezeptoren. Es ist wie bei LEGO: Nur die richtigen Teile passen zusammen, und wenn man es falsch macht, wird das Gehirn sauer.

Wenn ein Neurotransmitter andockt, passiert etwas. Entweder wird das postsynaptische Neuron erregt – "Los, feuere!" –, oder es wird gehemmt – "Bloß nicht feuern!". Glutamat ist der Motivationscoach unter den Neurotransmittern, immer positiv, immer ermutigend. GABA hingegen ist der Pessimist, der bei jeder Idee sagt: "Lass mal lieber."

"Ich hab da eine Idee!", ruft Glutamat enthusiastisch.

"Nein", sagt GABA.

"Aber …"

"Nein."

Diese Balance – Erregung versus Hemmung – ist das Fundament dessen, was wir Denken nennen. Zu viel Glutamat, und das Gehirn überhitzt, Neuronen feuern unkontrolliert, Krampfanfälle drohen. Zu viel GABA, und alles wird träge, müde, sediert. Deshalb funktionieren Schlafmittel und Beruhigungsmittel oft über GABA-Rezeptoren. Sie sagen dem Gehirn: "Psst. Ruhe jetzt."

Nach getaner Arbeit – Signal übermittelt, Rezeptor aktiviert – müssen die Neurotransmitter wieder weg. Entweder werden sie von Enzymen zerlegt wie unerwünschte Werbung, oder sie werden vom präsynaptischen Neuron wieder aufgenommen. "Wiederaufnahme" nennt man das, ein Recyclingprogramm der Natur, das erstaunlich gut funktioniert. Antidepressiva wie Prozac blockieren diese Wiederaufnahme von Serotonin – mehr Serotonin im Spalt, mehr gute Laune. Zumindest in der Theorie.

Die Synapse ist also nicht nur eine Kontaktstelle. Sie ist eine Apotheke, ein Verhandlungsraum, ein Schlachtfeld biochemischer Interessen. Hier wird entschieden, ob ein Gedanke weitergeleitet wird oder stirbt. Ob eine Bewegung ausgeführt wird oder nicht. Ob Sie jetzt lachen oder nur leicht die Mundwinkel verziehen.

Und das Geniale: Synapsen sind lernfähig.

Wenn zwei Neuronen häufig zusammen feuern, wird die Synapse zwischen ihnen stärker. Mehr Rezeptoren, effizientere Übertragung, schnellere Reaktion. "Neurons that fire together, wire together" – der berühmte Hebb'sche Lernregel, die im Grunde besagt: Übung macht den Meister, auch auf Zellebene.

Das Gegenteil gilt auch. Synapsen, die selten genutzt werden, verkümmern. Sie werden schwächer, weniger effizient, und irgendwann verschwinden sie ganz. Das Gehirn ist ein gnadenloser Arbeitgeber: Wer nicht liefert, fliegt.

"Entschuldigung", sagt das Neuron zur schwächelnden Synapse, "aber wir gehen in eine andere Richtung. Nichts Persönliches."

Diese Plastizität – die Fähigkeit, Verbindungen zu stärken oder zu schwächen – ist die Grundlage von Gedächtnis, Lernen, und warum Sie sich noch an den Text Ihres Lieblingslieds aus der Schulzeit erinnern, aber nicht daran, wo Sie gestern Ihre Brille hingelegt haben. Manche Synapsen werden zu Autobahnen, andere zu Feldwegen, und wieder andere zu Sackgassen, die niemand mehr benutzt.

Philosophisch betrachtet ist die Synapse ein faszinierendes Paradoxon. Sie ist eine Lücke, die verbindet. Ein Abstand, der Nähe ermöglicht. Eine Nicht-Berührung, die alles berührt. Ohne diesen winzigen Spalt, dieses Niemandsland zwischen zwei Neuronen, gäbe es keine Gedanken, keine Kreativität, keine Möglichkeit, die Welt zu verändern.

Man könnte auch sagen: Die Synapse ist der Beweis dafür, dass die interessantesten Dinge im Leben in den Zwischenräumen passieren. Nicht im Neuron selbst, sondern im Raum dazwischen. Nicht in der Aussage, sondern in der Pause danach. Nicht im Wissen, sondern im Zweifeln.

"Ich bin die Pause zwischen den Noten", würde die Synapse sagen, hätte sie ein Faible für Jazz. "Ohne mich nur Lärm. Mit mir Musik."

Und tatsächlich: Wenn Synapsen nicht richtig funktionieren, bricht das System zusammen. Alzheimer? Synapsen sterben ab. Parkinson? Dopaminerge Synapsen verschwinden. Depressionen? Das synaptische Gleichgewicht gerät durcheinander. Schizophrenie? Zu viel Dopamin, zu viel Glutamat, das Orchester spielt falsche Noten.

Die Synapse ist also nicht nur eine biologische Banalität. Sie ist der kritische Punkt, an dem alles passiert – oder eben nicht. Der Ort, wo Möglichkeiten zu Entscheidungen werden. Wo Signale zu Bedeutung werden. Wo Chemie zu Bewusstsein wird.

Und das alles in einem Spalt, der kleiner ist als ein Virus.

"Ich bin winzig", gibt die Synapse zu. "Aber ich bin mächtig."

Das ist keine Übertreibung. In Ihrem Gehirn gibt es ungefähr 100 Billionen Synapsen. Einhundert. Billionen. Das sind mehr Verbindungen als Sterne in der Milchstraße. Jede einzelne ein kleiner Gartenzaun, über den Informationen geworfen werden. Jede ein Ort, wo Neuronen miteinander flüstern, streiten, sich einigen.

Der Flurfunk läuft.

Ununterbrochen.

Seit dem Tag Ihrer Geburt.

Und während Sie jetzt über dieses Essay nachdenken – ob es witzig ist oder nur bemüht, ob Sie es Freunden schicken oder lieber für sich behalten –, feuern Millionen Ihrer Synapsen. Sie vergleichen, bewerten, erinnern sich an ähnliche Texte, an andere Witze, an das Gefühl von Belustigung oder Langeweile.

Die Synapsen haben schon abgestimmt.

Sie lesen noch.

Das heißt: genug Glutamat, nicht zu viel GABA.

Die Mehrheit ist dafür.

Vorerst.

 

Neurotransmitter: Die Paketdienste des Denkens

Eine kleine Kulturgeschichte der molekularen Eilboten, ihrer Neurosen und ihrer erstaunlichen Fähigkeit, aus Chemie Chaos zu machen

Es gibt, wenn man es genau betrachtet – und wir werden es genau betrachten müssen, denn Ungenauigkeit wäre hier fatal wie ein falsch adressiertes Paket –, im menschlichen Körper keine geschäftigeren Geschöpfe als die Neurotransmitter. Diese winzigen Moleküle, kaum größer als die Hoffnung eines Pessimisten, pendeln unaufhörlich zwischen Nervenzellen hin und her, beladen mit Botschaften, die von "Beweg deinen kleinen Finger" über "Das riecht verdächtig nach Gas" bis hin zu "Du solltest dich vielleicht doch nicht in diese Person verlieben" reichen.

Man könnte sagen – und man täte gut daran, es zu sagen –, dass die Neurotransmitter die Kurierfahrer der Biochemie sind. Nur dass sie, im Gegensatz zu ihren menschlichen Kollegen, niemals zu spät kommen, niemals das Paket beim Nachbarn abgeben und niemals behaupten, niemand sei zu Hause gewesen, obwohl man den ganzen Tag auf dem Sofa saß.

Dafür haben sie andere Eigenheiten.

Betrachten wir zunächst Glutamat, den Optimisten unter den Neurotransmittern. Glutamat ist jener Botenstoff, der ständig "Ja!" ruft, auch wenn niemand gefragt hat. Er ist der erregende Transmitter schlechthin, verantwortlich für ungefähr neunzig Prozent aller schnellen synaptischen Übertragungen im Gehirn. Glutamat sagt niemals Nein. Es sagt nicht einmal Vielleicht. Es sagt: "Los jetzt! Mach! Feuer! Denk! Lern! Erinnere dich!"

Man möchte ihm manchmal zurufen: "Beruhige dich, Glutamat. Nicht alles erfordert sofortige Aktion."

Aber Glutamat hört nicht zu. Es ist zu beschäftigt damit, Neuronen zum Feuern zu bringen.

Das Problem mit Glutamat – und es gibt immer ein Problem, wenn jemand niemals Nein sagt – ist seine Unfähigkeit zur Mäßigung. Zu viel Glutamat, und das Gehirn gerät in einen Zustand, den die Medizin "Exzitotoxizität" nennt, was im Grunde bedeutet: Die Neuronen werden zu Tode ermutigt. Es ist, als würde man bei einem Marathon ununterbrochen "Schneller! Schneller!" rufen, bis der Läufer kollabiert. Schlaganfälle, Epilepsie, neurodegenerative Erkrankungen – überall hat Glutamat seine überambitionierten Finger im Spiel.

"Ich wollte doch nur helfen", würde Glutamat sagen, aus dem Fenster des zusammengebrochenen Neurons blickend.

Dem gegenüber steht GABA – Gamma-Aminobuttersäure, für Freunde einfach GABA –, der Miesepeter der Neurotransmitter. GABA ist der hemmende Botenstoff, jener, der permanent "Nein" sagt, selbst zu den besten Ideen. Während Glutamat das Gaspedal des Gehirns ist, ist GABA die Bremse. Und zwar eine sehr misstrauische Bremse, die schon bei Tempo 30 nervös wird.

"Müssen wir das wirklich tun?", fragt GABA bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

"Ja", sagt Glutamat.

"Ich finde, wir sollten noch mal darüber nachdenken", sagt GABA.

"Wir haben nachgedacht. Jetzt handeln wir", insistiert Glutamat.

"Oder wir könnten einfach ... nichts tun?", schlägt GABA vor.

Diese beiden – Glutamat und GABA – sind wie ein altes Ehepaar, das sich über jede Kleinigkeit streitet, aber ohne einander nicht leben kann. Denn ein Gehirn voller Glutamat wäre ein permanenter Krampfanfall, und ein Gehirn voller GABA wäre ... nun ja, ein Koma. Balance ist alles. Die Griechen wussten das schon. Sogar die Neurotransmitter haben es verstanden.

Dann haben wir Dopamin, den Rockstar unter den Botenstoffen. Dopamin ist verantwortlich für Motivation, Belohnung, das Gefühl von "Wow, das war großartig, lass uns das nochmal machen!". Es ist der Grund, warum Sie nach dem ersten Stück Schokolade ein zweites wollen. Und ein drittes. Und warum Sie um drei Uhr morgens noch "nur eine weitere Folge" schauen.

Dopamin hat allerdings auch eine dunkle Seite. Zu viel davon, und die Realität beginnt zu verschwimmen – Halluzinationen, Paranoia, der feste Glaube, dass die Regierung Ihre Gedanken liest. Zu wenig, und die Welt wird grau, flach, motivationslos. Parkinson-Patienten haben zu wenig Dopamin in bestimmten Hirnregionen, weshalb Bewegungen schwerfallen und die Freude am Leben schwindet wie Schnee im März.

"Ich bin nicht süchtig machend", würde Dopamin behaupten, während es heimlich noch eine Dosis in den Nucleus accumbens schmuggelt. "Ich bin nur ... sehr überzeugend."

Das stimmt. Dopamin ist so überzeugend, dass ganze Industrien – Glücksspiel, Social Media, Fast Food – darauf basieren, es gezielt zu triggern. Jeder Like, jeder Gewinn, jeder Bissen Pommes frites ist eine kleine Dopamin-Injektion. Das Gehirn lernt schnell: "Das war gut. Mehr davon."

Und dann gibt es Serotonin, den sanften Philosophen der Neurotransmitter. Serotonin ist für Stimmung, Schlaf, Verdauung zuständig – ein erstaunlich breites Portfolio, wenn man bedenkt, dass es nur ein einziges Molekül ist. Serotonin sagt: "Alles wird gut. Entspann dich. Die Welt ist nicht so schlimm, wie du denkst."

Menschen mit zu wenig Serotonin neigen zu Depressionen, Angstzuständen, dem festen Glauben, dass Montage niemals enden werden. Deshalb funktionieren viele Antidepressiva – die sogenannten SSRIs – nach dem Prinzip: "Lass das Serotonin einfach länger im synaptischen Spalt. Wenn schon nicht mehr davon produziert wird, dann soll es wenigstens länger bleiben."

Acetylcholin wiederum ist der Büroangestellte unter den Neurotransmittern. Zuverlässig, fleißig, unverzichtbar, aber selten im Rampenlicht. Acetylcholin kümmert sich um Muskelbewegungen, Aufmerksamkeit, Gedächtnis. Ohne Acetylcholin könnten Sie nicht blinzeln, nicht laufen, sich nicht erinnern, wo Sie Ihre Schlüssel hingelegt haben.

Bei Alzheimer-Patienten sterben acetylcholinerge Neuronen ab, weshalb das Gedächtnis schwindet wie Nebel in der Morgensonne. Die Medizin versucht verzweifelt, das zu kompensieren, aber Acetylcholin ist eigen. Es will seine Ruhe. Es will nicht künstlich hochgepäppelt werden.

"Ich bin nicht das Problem", würde Acetylcholin sagen. "Das Problem ist, dass die Neuronen, die mich produzieren, sterben. Macht die wieder lebendig, dann rede ich weiter."

Fair enough.

Nicht zu vergessen: Noradrenalin, der Aufputscher. Noradrenalin ist verantwortlich für Wachsamkeit, Kampf-oder-Flucht-Reaktionen, das Gefühl, dass gleich etwas Wichtiges passieren könnte. Es ist der Neurotransmitter, der Sie morgens aus dem Bett zwingt. Oder es zumindest versucht.

Zu viel Noradrenalin, und Sie sind permanent gestresst, nervös, auf der Flucht vor unsichtbaren Tigern. Zu wenig, und Sie können sich nicht konzentrieren, sind müde, unmotiviert, wünschen sich zurück ins Bett.

"Ich bin nicht hektisch", sagt Noradrenalin, während es hektisch durch den synaptischen Spalt rast. "Ich bin aufmerksam."

Der Unterschied ist subtil. Aber wichtig.

Und schließlich – weil keine Aufzählung vollständig wäre ohne ihn – Endorphin, der Schmeichler des Nervensystems. Endorphine sind körpereigene Opiate, die Schmerzen lindern und Glücksgefühle auslösen. Sie werden freigesetzt beim Sport, beim Lachen, beim Essen von Schokolade, beim Verliebtsein. Endorphine sind der Grund, warum Marathonläufer nach 30 Kilometern plötzlich lächeln, obwohl ihr Körper sie hasst.

"Schmerz?", fragt Endorphin unschuldig. "Welcher Schmerz?"

Es ist der Freund, der einem nach einer durchzechten Nacht sagt: "War doch gar nicht so schlimm, oder?"

Doch. War es. Aber dank Endorphin erinnern wir uns nur an den Spaß.

Die Neurotransmitter sind also, bei Lichte betrachtet, eine höchst eigenwillige Gesellschaft. Jeder mit seinem eigenen Charakter, seinen eigenen Neurosen, seiner eigenen Art, auf die Welt – oder zumindest auf die Synapse – zu blicken. Manche sind optimistisch bis zur Selbstzerstörung, andere pessimistisch bis zur Lähmung. Manche jagen dem nächsten Kick hinterher, andere philosophieren über den Sinn des Daseins.

Und doch – und hier offenbart sich die stille Größe dieser chemischen Kuriertruppe – funktionieren sie zusammen. Nicht immer harmonisch, nicht immer perfekt, aber ausreichend gut, um Denken, Fühlen, Handeln zu ermöglichen.

Sie sind, wenn man so will, die Pizza-Lieferanten des Bewusstseins. Manchmal kommt die Pizza zu heiß (Glutamat), manchmal zu kalt (GABA), manchmal mit den falschen Zutaten (Dopamin), und manchmal wird sie gar nicht geliefert (Serotonin). Aber meistens – meistens – kommt sie an.

Und das, alles in allem, ist schon bemerkenswert.

Während Sie nun über diese Zeilen nachdenken, tobt in Ihrem Gehirn ein molekularer Lieferdienst sondergleichen. Glutamat schreit "Lies weiter!", GABA murmelt "Vielleicht später?", Dopamin verspricht "Das wird interessant!", und Serotonin sagt beruhigend: "Es ist alles gut."

Sie haben keine Wahl.

Die Neurotransmitter haben längst entschieden.

Sie lesen noch.

Das nennt man Chemie.

Oder Schicksal.

Je nachdem, wen man fragt.

 

Das Aktionspotential: Eine Reise ins Herz der elektrischen Erregung

Oder: Wie eine Nervenzelle beschließt, dass jetzt wirklich Schluss mit Lustig ist

Es gibt, wenn man die Sache nüchtern betrachtet – und Nüchternheit ist bei elektrischen Phänomenen im Nervensystem stets ratsam, will man nicht in metaphysische Spekulationen abgleiten –, kaum ein dramatischeres Ereignis auf zellulärer Ebene als das Aktionspotential. Während andere Zellen ihr Dasein in beschaulicher Gleichmut fristen, hat sich das Neuron für die große Geste entschieden: den Alles-oder-Nichts-Impuls, den elektrischen Aufstand, den Moment, in dem es von der Kontemplation zur Aktion übergeht.

Man könnte sagen – und wir werden es gleich ausführlich tun –, dass das Aktionspotential der neurobiologische Ausdruck des Satzes ist: "Jetzt reicht's!"

Stellen wir uns ein Neuron vor, wie es so dasitzt, gemütlich in seiner Ruhespannung von etwa minus 70 Millivolt. Das ist, elektrisch gesehen, ein Zustand behaglicher Negativität, wie man ihn auch nach der Lektüre der Abendnachrichten verspürt. Innen negativ geladen, außen positiv – eine klare Trennung, eine geordnete Welt, in der Natrium draußen bleibt und Kalium drinnen, bewacht von fleißigen Ionenpumpen, die unermüdlich arbeiten wie Türsteher vor einem exklusiven Club.

"Natrium bleibt draußen", sagt die Pumpe bestimmt. "Heute nicht. Vielleicht nie."

Natrium wartet geduldig. Es hat Zeit. Ionen haben immer Zeit.

Dann aber geschieht etwas. Signale treffen ein. Neurotransmitter docken an Rezeptoren an. Die Dendriten – jene geschwätzigen Antennen, die wir bereits kennengelernt haben – melden: "Chef, es gibt Neuigkeiten!" Das Neuron addiert pflichtbewusst alle eingehenden Signale. Erregen oder Hemmen? Plus oder Minus? Und wenn die Summe einen kritischen Punkt erreicht – den Schwellenwert von etwa minus 55 Millivolt –, dann passiert es.

Das Neuron beschließt zu feuern.

Was nun folgt, ist eine Kaskade von Ereignissen, die in ihrer Präzision und Geschwindigkeit an eine militärische Operation erinnert, nur dass hier keine Menschen beteiligt sind, sondern Proteine. Spannungsabhängige Natriumkanäle öffnen sich – schwupp –, und Natrium, das seit Stunden, Tagen, vielleicht sogar Jahren draußen gewartet hat, stürmt hinein wie Zuschauer beim Ausverkauf am Black Friday.

Die Spannung schießt hoch. Von minus 70 Millivolt auf plus 30 Millivolt. In einer Millisekunde.

"Endlich!", jubelt Natrium. "Endlich drin!"

Das Neuron, nun plötzlich positiv geladen, ist kurzzeitig verwirrt. "War das eine gute Idee?", scheint es zu fragen. Aber es ist zu spät für Selbstzweifel. Die Lawine ist losgetreten. Die Natriumkanäle weiter unten am Axon, angelockt von der Spannungsänderung, öffnen sich ebenfalls. Das Aktionspotential rast los, von Schnürring zu Schnürring, wenn das Axon myelinisiert ist, oder gemächlich die ganze Strecke entlang, wenn nicht.

Es ist, elektrisch betrachtet, eine Wanderwelle der Erregung. Philosophisch betrachtet, der Moment, in dem Potenzial zu Kinetik wird.

Doch wie bei jeder großen Geste gibt es auch hier eine Ernüchterungsphase. Denn kaum sind die Natriumkanäle offen, schließen sie sich wieder – ein sogenannter Inaktivierungsmechanismus, der verhindert, dass das Signal rückwärts läuft. "Nein", sagt der Kanal bestimmt. "Einmal reicht. Wir machen das nicht nochmal."

Gleichzeitig öffnen sich Kaliumkanäle. Kalium, das bisher brav drinnen geblieben ist, strömt nach draußen. Die Spannung sinkt. Von plus 30 zurück Richtung minus 70. Manchmal sogar darunter – eine sogenannte Hyperpolarisation, eine kurze Phase der Überreaktion, in der das Neuron noch negativer wird als zuvor.

"War das nötig?", fragt das Neuron erschöpft.

"Nur zur Sicherheit", antwortet Kalium. "Man weiß ja nie."

Die Natrium-Kalium-Pumpe – jener unermüdliche Türsteher – beginnt sofort, die alte Ordnung wiederherzustellen. Natrium raus, Kalium rein. Das kostet Energie, viel Energie, weshalb das Gehirn, obwohl es nur zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht, etwa zwanzig Prozent des gesamten Energieverbrauchs verschlingt. Denken ist teuer. Elektrische Impulse noch teurer.

Das Faszinierende am Aktionspotential – und hier offenbart sich die elegante Brutalität der Natur – ist sein Alles-oder-Nichts-Prinzip. Entweder das Neuron feuert vollständig, oder gar nicht. Es gibt kein halbes Aktionspotential, kein zaghaftes "Vielleicht feuere ich ein bisschen". Nein. Wenn der Schwellenwert erreicht ist, gibt es kein Zurück. Das ist wie bei einem Niesen: Man kann es nicht halb niesen. Entweder man niest, oder man niest nicht.

"Ich bin nicht kompliziert", würde das Aktionspotential sagen, hätte es eine Stimme. "Ich kenne nur zwei Zustände: Ruhe oder Revolution. Dazwischen gibt es nichts."

Das ist radikal. Aber effektiv.

Denn dieses Alles-oder-Nichts-Prinzip garantiert, dass Signale verlässlich übertragen werden. Keine Abschwächung auf langen Strecken, kein Rauschen, keine Missverständnisse. Ein Aktionspotential am Anfang des Axons ist genauso stark wie am Ende, selbst wenn das Axon einen Meter lang ist – was, in Zellmaßstäben, einer Reise von Hamburg nach München entspricht.

Man könnte sagen: Das Aktionspotential ist der ICE des Nervensystems. Schnell, zuverlässig, und wenn es losfährt, hält es an allen Bahnhöfen (Schnürringen), aber niemals zwischen den Bahnhöfen.

Es gibt allerdings eine kurze Phase nach dem Aktionspotential, in der das Neuron nicht erneut feuern kann – die absolute Refraktärphase. Die Natriumkanäle sind inaktiviert, erschöpft, nicht bereit für eine zweite Runde. "Gib mir eine Millisekunde", sagt das Neuron. "Dann können wir weiterreden."

Danach folgt die relative Refraktärphase, in der das Neuron theoretisch feuern könnte, aber nur, wenn der Reiz besonders stark ist. Es ist wie bei einem Marathonläufer kurz nach dem Zieleinlauf: Nochmal laufen? Ja, theoretisch möglich. Aber bitte nur, wenn es wirklich, wirklich wichtig ist.

Diese Refraktärphasen sind nicht etwa Schwächen des Systems, sondern Features. Sie verhindern, dass Neuronen sich in einen unkontrollierten Dauerfeuerzustand versetzen – was medizinisch ein Krampfanfall wäre und emotional einem Nervenzusammenbruch entspräche. Die Pause ist Teil der Funktion. Auch Neuronen brauchen Erholung.

Philosophisch betrachtet – und wir sind hier schließlich in einem Neurowissenschaftsbuch, wo man gelegentlich philosophisch werden darf –, ist das Aktionspotential ein faszinierendes Beispiel für einen binären Entscheidungsprozess in einer analogen Welt. Die Dendriten sammeln alle möglichen Signale, erregend und hemmend, stark und schwach, wichtig und nebensächlich. Das Neuron integriert, addiert, subtrahiert. Und dann, wenn die Summe den Schwellenwert erreicht, fällt die Entscheidung: Ja oder Nein. Feuern oder Schweigen.

Es ist die biologische Variante von Shakespeares "Sein oder Nichtsein", nur mit mehr Natrium und weniger Drama.

Obwohl – wenn man es genau nimmt – das Aktionspotential durchaus dramatisch ist. Jeder Gedanke, jede Bewegung, jede Erinnerung, jedes Gefühl basiert auf unzähligen dieser elektrischen Impulse. Während Sie jetzt diese Zeilen lesen, feuern Millionen Ihrer Neuronen, senden Aktionspotentiale von der Netzhaut zum visuellen Kortex, von dort zu Sprachzentren, zu Gedächtnisregionen, zu emotionalen Bewertungszentren.

"Ist dieser Text witzig?", fragt ein Neuron.

"Schwellenwert erreicht!", antwortet ein anderes. "Feuern!"

"Warten!", ruft ein hemmendes Interneuron. "Vielleicht ist es gar nicht witzig, sondern nur bemüht!"

Zu spät. Das Aktionspotential ist bereits unterwegs. Die Entscheidung gefallen. Sie lächeln. Oder auch nicht. Je nachdem, wie die Mehrheit abgestimmt hat.

Das Bemerkenswerte ist: All diese Entscheidungen, all diese Milliarden von Aktionspotentialen, laufen ab, ohne dass Sie es bewusst merken. Sie denken nicht: "Jetzt öffne ich mal spannungsabhängige Natriumkanäle in meinem motorischen Kortex, um meine Hand zu bewegen." Sie denken einfach: "Ich bewege meine Hand." Und irgendwo, tief im neuronalen Maschinenraum, lösen Aktionspotentiale eine Kaskade aus, die Muskelfasern kontrahieren lässt.

Es ist, als würde man ein Auto fahren, ohne zu wissen, wie der Motor funktioniert. Nur dass das Auto in diesem Fall Sie selbst sind. Und der Motor aus hundert Milliarden Neuronen besteht, die ununterbrochen Aktionspotentiale feuern.

"Ich bin das Bewusstsein", würde das Aktionspotential vielleicht behaupten, wenn es nicht gerade damit beschäftigt wäre, mit 120 Metern pro Sekunde ein Axon hinunterzurasen. "Ohne mich nur Stillstand. Mit mir alles."

Das ist nicht ganz falsch. Aber auch nicht ganz richtig. Denn das Aktionspotential ist nur der Bote, nicht die Botschaft. Es transportiert Information, aber es ist nicht die Information. Es ist das Medium, nicht der Inhalt. Der Strom, nicht das Licht.

Und doch: ohne Strom kein Licht.

Während Sie nun über diesen Essay nachdenken – ob Sie ihn interessant finden oder geschwätzig, erhellend oder ermüdend –, haben Ihre Neuronen bereits Millionen von Aktionspotentialen gefeuert. Jedes einzelne ein kleiner elektrischer Aufstand, eine Momentaufnahme der Entscheidung, ein Ja im Meer der Neins.

Die Abstimmung läuft.

Ununterbrochen.

Seit Ihrer Geburt.

Und die Mehrheit sagt: weiterlesen.

Oder vielleicht: aufhören.

Je nachdem, wie viele Natriumkanäle gerade geöffnet sind.

Das nennt man freien Willen.

Oder Elektrochemie.

Je nachdem, wen man fragt.

 

Das Ruhemembranpotential: Die Kunst des Nichtstuns

Oder: Wie eine Nervenzelle beweist, dass Entspannung harte Arbeit ist

Es gibt, wenn man die Dinge beim Namen nennen will – und wir werden das tun müssen, sonst verlieren wir uns in elektrochemischen Nebelschwaden –, kaum ein größeres Missverständnis in der Neurobiologie als das sogenannte Ruhemembranpotential. Der Name suggeriert Entspannung, Gelassenheit, vielleicht ein Neuron in Badelatschen auf einer Sonnenliege. Die Realität ist: Das Neuron arbeitet im Ruhezustand härter als die meisten Menschen an einem durchschnittlichen Montag.

Minus 70 Millivolt. Das ist die Grundspannung, mit der ein Neuron sein Dasein fristet, wenn gerade nichts Aufregendes passiert. Klingt harmlos. Ist es aber nicht. Denn um diese minus 70 Millivolt aufrechtzuerhalten, muss das Neuron permanent gegen die Gesetze der Thermodynamik ankämpfen, gegen die natürliche Tendenz des Universums, alles gleichmäßig zu verteilen und ins Chaos zu stürzen.

Man könnte sagen – und Physiker würden nicken, während Philosophen die Stirn runzeln –, dass das Ruhemembranpotential der biologische Beweis dafür ist, dass Ordnung Energie kostet.

Stellen wir uns ein Neuron vor, wie es so dasitzt in seiner Membran, einer dünnen Doppelschicht aus Fettmolekülen, die Innen von Außen trennt wie eine Wohnungstür die Privatsphäre von der Außenwelt. Auf beiden Seiten dieser Tür tummeln sich Ionen – elektrisch geladene Teilchen, die nichts lieber täten, als sich gleichmäßig zu verteilen.

Draußen: viel Natrium (Na+), viel Chlorid (Cl-).Drinnen: viel Kalium (K+), viele negativ geladene Proteine, die zu groß sind, um jemals rauszukommen.

Das ist keine natürliche Verteilung. Das ist eine erzwungene Verteilung. Und wer erzwingt sie? Die Natrium-Kalium-Pumpe, jenes molekulare Kraftwerk, das unermüdlich arbeitet wie ein Pförtner, der ständig die Gästeliste überprüft.

"Natrium? Nein, du gehst raus. Kalium? Du kommst rein. Nein, Natrium, ich habe es dir schon gesagt – raus!"

Die Pumpe befördert drei Natriumionen nach draußen und holt zwei Kaliumionen nach drinnen. Immer wieder. Tausende Male pro Sekunde. Das kostet Energie – ATP, die Währung des Stoffwechsels. Man schätzt, dass etwa zwanzig bis vierzig Prozent der gesamten Energie, die ein Neuron verbraucht, allein dafür draufgeht, das Ruhemembranpotential aufrechtzuerhalten.

Zwanzig bis vierzig Prozent!

Stellen Sie sich vor, Sie würden vierzig Prozent Ihres Einkommens dafür ausgeben, einfach nur in Ihrer Wohnung zu sitzen und nichts zu tun. Das Finanzamt würde Fragen stellen. Das Neuron fragt nicht. Es zahlt. Weil es keine Wahl hat.

Denn ohne diese Spannung – ohne die minus 70 Millivolt – könnte das Neuron nicht feuern. Kein Aktionspotential. Keine Signalübertragung. Kein Denken, Fühlen, Bewegen. Das Ruhepotential ist keine Pause. Es ist die Voraussetzung für alles, was danach kommt. Es ist wie die gespannte Sehne eines Bogens: ruhig, unbeweglich, aber voller potenzieller Energie.

"Ich ruhe nicht", würde das Neuron sagen, wenn es nicht gerade damit beschäftigt wäre, Ionen zu sortieren. "Ich lade."

Das klingt nach einer Ausrede. Ist aber die Wahrheit.

Die Spannung entsteht durch mehrere Faktoren, die zusammenwirken wie Instrumente in einem Orchester, das niemand hören kann. Erstens: die unterschiedlichen Ionenkonzentrationen – mehr Kalium innen, mehr Natrium außen. Zweitens: die Durchlässigkeit der Membran. Kalium kann durch spezielle Kanäle relativ leicht nach draußen diffundieren, Natrium hingegen kommt nur schwer rein. Drittens: die negativ geladenen Proteine im Zellinneren, die nicht rauskönnen und deshalb das Innere zusätzlich negativ machen.

Das Ergebnis dieser komplizierten Chemie ist eine elektrische Spannung. Minus 70 Millivolt. Das klingt nach wenig – eine Batterie hat 1,5 Volt, also etwa zwanzigmal mehr. Aber erstens ist das Neuron winzig, und zweitens geht es nicht um die absolute Spannung, sondern um die Änderung. Wenn die Spannung plötzlich von minus 70 auf plus 30 steigt – das sind immerhin 100 Millivolt Unterschied –, dann ist das, gemessen an der Dicke der Membran (etwa 5 Nanometer), eine gewaltige elektrische Feldstärke. Ungefähr 20 Millionen Volt pro Meter.

Zum Vergleich: Ein Blitz hat etwa 3 Millionen Volt pro Meter.

Das Neuron ist also, elektrisch betrachtet, ein permanenter Gewittersturm in Miniatur. Nur dass das Gewitter im Ruhezustand unterdrückt wird. Kontrolliert. Gezähmt.

"Ich bin kein Stubenhocker", sagt das Ruhemembranpotential. "Ich bin ein eingesperrter Vulkan."

Tatsächlich. Denn die minus 70 Millivolt sind nur der Ausgangspunkt. Das Neuron wartet. Es summiert eingehende Signale – erregen oder hemmen, plus oder minus. Und wenn die Summe einen kritischen Punkt erreicht, den Schwellenwert von etwa minus 55 Millivolt, dann bricht der Vulkan aus. Das Aktionspotential feuert. Natrium stürmt herein. Das Neuron wird kurzzeitig positiv geladen.

Und danach? Zurück zum Ruhepotential. Die Natrium-Kalium-Pumpe arbeitet Überstunden, um die ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen. Es ist wie nach einer wilden Party: Jemand muss aufräumen. Und dieser Jemand ist immer die Pumpe.

"Ich mache das nicht gern", murmelt die Pumpe, während sie das dreitausendste Natriumion nach draußen befördert. "Aber jemand muss es ja tun."

Philosophisch betrachtet – und wir dürfen hier philosophisch werden, denn die Grenze zwischen Neurobiologie und Philosophie ist so durchlässig wie eine Membran für Kaliumionen – ist das Ruhemembranpotential ein Zustand gespannter Erwartung. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Die Stille vor dem Wort. Der Moment, bevor etwas passiert.

Es erinnert an jene berühmte Zeile von Rilke: "Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen." Nur dass es beim Neuron heißen müsste: "Denn Ruhe ist nichts als der Erregung Anfang, die wir gleich nicht mehr ertragen."

Weniger poetisch. Aber akkurater.

Das Faszinierende ist: Das Neuron ist im Ruhezustand nicht wirklich ruhig. Es empfängt ständig Signale von anderen Neuronen. Tausende Synapsen feuern, Neurotransmitter docken an, Ionen strömen rein und raus. Aber solange die Summe dieser Einflüsse den Schwellenwert nicht erreicht, bleibt das Neuron unter minus 55 Millivolt. Es integriert, kalkuliert, wartet.

Es ist wie bei einem Meeting, in dem alle durcheinander reden, aber noch niemand laut genug geschrien hat, um tatsächlich gehört zu werden.

"Ich höre zu", sagt das Neuron. "Aber ich reagiere erst, wenn es sich lohnt."

Das ist Effizienz. Oder Faulheit. Je nachdem, wie man es betrachtet.

Interessanterweise ist das Ruhemembranpotential nicht bei allen Neuronen gleich. Manche liegen bei minus 60 Millivolt, andere bei minus 80. Manche sind nervös, nah am Schwellenwert, bereit, bei der kleinsten Provokation loszufeuern. Andere sind phlegmatisch, weit entfernt vom Schwellenwert, brauchen viel Überzeugungsarbeit, bevor sie sich bewegen.

Man könnte sagen: Auch Neuronen haben Persönlichkeiten.

Die nervösen Neuronen sind wie jene Menschen, die bei jedem Handyklingeln zusammenzucken. Die phlegmatischen Neuronen sind wie jene, die selbst bei einem Feueralarm erst einmal in Ruhe zu Ende frühstücken.

Beides hat Vor- und Nachteile. Die nervösen Neuronen reagieren schnell, aber manchmal zu schnell – Fehlalarm, Überreaktion, Panik. Die phlegmatischen Neuronen sind zuverlässig, aber manchmal zu langsam – wenn sie endlich feuern, ist die Party schon vorbei.

Das Gehirn braucht beide Typen. Balance. Yin und Yang. Minus 60 und minus 80.

Während Sie nun diese Zeilen lesen – und hoffentlich noch nicht eingeschlafen sind, trotz des Wortes "Ruhe" im Titel –, sitzen Milliarden Ihrer Neuronen bei ihren minus 70 Millivolt und warten. Sie integrieren visuellen Input, semantische Bedeutungen, emotionale Färbungen. Sie addieren erregende Signale, subtrahieren hemmende, vergleichen mit Erinnerungen, gleichen ab mit Erwartungen.

Und die meisten von ihnen feuern nicht.

Sie bleiben ruhig. Geduldig. Bei minus 70 Millivolt.

Aber sie sind bereit.

Jederzeit.

Denn das Ruhemembranpotential ist keine Pause. Es ist ein Versprechen. Ein geladenes Gewehr. Eine gespannte Feder.

"Ich bin nicht untätig", würde das Neuron sagen, während die Natrium-Kalium-Pumpe rattert wie ein alter Dieselmotor. "Ich bin vorbereitet."

Und das ist vielleicht die wichtigste Lektion, die wir von diesem unscheinbaren minus 70 Millivolt lernen können: Echte Bereitschaft sieht von außen aus wie Nichtstun. Aber von innen? Von innen ist es harte Arbeit, ununterbrochene Anstrengung, permanenter Kampf gegen die Entropie.

Das Neuron chillt nicht.

Es wartet nur darauf, dass etwas passiert.

Und wenn es passiert?

Dann geht die Post ab.

Bis dahin: minus 70 Millivolt.

Ruhe.

Oder was man dafür hält.

 

Der Ionenkanal: Türsteher mit Elektrochemie-Diplom

Oder: Wie man mit selektiver Durchlässigkeit ein ganzes Nervensystem am Laufen hält

Es gibt, wenn man die Geschichte der Evolution Revue passieren lässt – was wir hier in gebotener Kürze tun werden, denn niemand hat Zeit für einen viertausend Seiten langen Exkurs über präkambrische Einzeller –, kaum eine genialere Erfindung als den Ionenkanal. Dieses Protein, eingebettet in die Zellmembran wie ein Fenster in einer ansonsten hermetisch abgeriegelten Festung, hat eine einzige, aber absolut unverzichtbare Aufgabe: Es lässt manche Ionen durch und andere nicht.

Das klingt simpel. Ist es aber nicht. Denn der Ionenkanal ist nicht etwa ein großzügiger Philanthrop, der jedem die Tür aufhält. Er ist ein Türsteher. Ein sehr wählerischer Türsteher. Mit Gästeliste, Gesichtskontrolle und der unerschütterlichen Überzeugung, dass nur die richtigen Ionen Zutritt zum Club Neuron erhalten dürfen.

"Ausweis, bitte", sagt der Natriumkanal zum ankommenden Natrium-Ion.

"Ich bin Natrium", sagt das Ion.

"Größe?"

"0,95 Ångström Radius."

"Ladung?"

"Plus eins."

"Hmm." Der Kanal überlegt. "Normalerweise lasse ich dich nicht rein. Du weißt schon – Ruhemembranpotential und so. Aber wenn das Aktionspotential kommt, darfst du durch. Bis dahin: warten."

Natrium seufzt. Es kennt die Prozedur.

Der Ionenkanal ist ein molekulares Meisterwerk. Ein Tunnel durch die Zellmembran, gebaut aus Proteinen, die sich zu einer Röhre zusammenfalten. Die Öffnung ist so präzise konstruiert, dass sie nur bestimmte Ionen durchlässt – Natrium, Kalium, Kalzium, Chlorid –, je nachdem, welcher Typ Kanal es ist. Es ist, als hätte jemand eine Tür gebaut, die nur Menschen mit genau 1,75 Meter Körpergröße, braunen Augen und einem Faible für Jazz durchlässt. Alle anderen bleiben draußen.

Wie funktioniert diese Selektivität? Durch eine Kombination aus Größe und Ladung. Der Natriumkanal hat eine Engstelle – den Selektivitätsfilter –, die so eng ist, dass nur Natrium-Ionen durchpassen. Kalium-Ionen? Zu groß. Chlorid? Falsche Ladung. Der Kanal ist wie ein Schlüsselloch, in das nur ein ganz bestimmter Schlüssel passt.

"Tut mir leid, Kalium", sagt der Natriumkanal. "Du bist einfach nicht mein Typ."

"Macht nichts", sagt Kalium. "Ich habe meinen eigenen Kanal. Der ist eh besser."

Das stimmt. Denn Kalium hat tatsächlich seinen eigenen Kanal – den Kaliumkanal, der wiederum so wählerisch ist, dass er Natrium abweist wie einen ungebetenen Gast bei einer Hochzeit. Der Kaliumkanal ist faszinierend, weil er ein scheinbares Paradoxon löst: Kalium-Ionen sind größer als Natrium-Ionen, trotzdem lässt der Kaliumkanal nur Kalium durch. Wie geht das?

Die Antwort liegt in der Hydrathülle. Ionen schwimmen nicht nackt durchs Zellplasma – das wäre unanständig und thermodynamisch ungünstig. Sie sind umgeben von Wassermolekülen, die sich an die Ladung anschmiegen wie Groupies an einen Rockstar. Natrium, das kleinere Ion, hat eine dickere Hydrathülle. Kalium, das größere Ion, hat eine dünnere. Wenn die Ionen durch den Kanal wollen, müssen sie ihre Wasserhülle abstreifen. Und der Kaliumkanal ist so konstruiert, dass er Kalium hilft, seine Hülle loszuwerden, Natrium aber nicht.

"Du musst schon nackt reinkommen", sagt der Kaliumkanal streng. "So sind die Regeln."

Kalium zögert. "Okay. Aber nur, weil du es bist."

Es ist eine intime Angelegenheit. Molekular gesehen.

Neben der Selektivität haben Ionenkanäle noch eine zweite bemerkenswerte Eigenschaft: Sie können öffnen und schließen. Man nennt das "Gating", vom englischen "gate" – Tor. Manche Kanäle öffnen sich bei bestimmten Spannungen (spannungsabhängige Kanäle), andere, wenn ein Ligand – ein Neurotransmitter beispielsweise – andockt (ligandengesteuerte Kanäle). Wieder andere öffnen sich bei mechanischem Druck oder Temperaturänderungen.

Der spannungsabhängige Natriumkanal ist besonders dramatisch. Im Ruhezustand ist er geschlossen. Fest verschlossen. Die Tür ist zu, das Licht aus, niemand zuhause. Aber wenn die Membranspannung steigt – wenn das Neuron erregt wird und sich dem Schwellenwert nähert –, dann ändert sich die elektrische Landschaft. Geladene Teile des Kanalproteins bewegen sich, die Struktur ändert sich, und schwupp – die Tür geht auf.

"Willkommen im Club!", ruft der Natriumkanal euphorisch, und tausende Natrium-Ionen stürmen herein wie Fans beim ersten Konzert ihrer Lieblingsband nach zwei Jahren Pandemie.

Das ist der Beginn des Aktionspotentials. Chaos. Begeisterung. Elektrische Ekstase.

Aber dann – und hier zeigt sich die Disziplin des Systems – schließt sich der Kanal wieder. Nicht sofort, aber nach etwa einer Millisekunde. Und er schließt sich nicht einfach nur. Er inaktiviert sich. Ein spezieller Teil des Proteins – der Inaktivierungsball – schwingt herum und blockiert den Kanal von innen, wie ein Türstopper, den man von der falschen Seite einsetzt.

"Party vorbei!", sagt der Kanal. "Alle raus. Neue Gäste erst in ein paar Millisekunden."

Das ist die Refraktärphase. Die Zeit, in der das Neuron nicht nochmal feuern kann, egal wie sehr man es bittet. Der Natriumkanal ist erschöpft. Er braucht eine Pause.

Ligandengesteuerte Kanäle sind etwas weniger dramatisch, dafür geselliger. Sie öffnen sich, wenn ein Neurotransmitter andockt. Glutamat zum Beispiel bindet an seinen Rezeptor – der gleichzeitig ein Ionenkanal ist –, und öffnet damit die Tür für Natrium und Kalium. Das nennt man einen ionotropen Rezeptor, weil er direkt einen Kanal öffnet, ohne lange Umwege über second messenger und G-Proteine.

"Du hast den Zugangscode?", fragt der glutamaterge Rezeptor.

"Glutamat", sagt Glutamat.

"Korrekt. Komm rein."

So einfach. So direkt. Keine Bürokratie.

Dann gibt es noch die mechanisch gesteuerten Kanäle – etwa in Haarzellen des Innenohrs, die sich öffnen, wenn Schallwellen sie verbiegen. Oder die temperaturempfindlichen Kanäle – TRP-Kanäle genannt –, die auf Hitze oder Kälte reagieren. Manche von ihnen sind dafür verantwortlich, dass Chili scharf schmeckt und Menthol kühl. Das sind keine elektrischen Signale im klassischen Sinn, sondern sensorische Tricks, mit denen die Evolution uns beigebracht hat, was essbar ist und was nicht.

"Das brennt!", schreit der TRP-Kanal, als Capsaicin andockt.

"Ja", sagt das Gehirn. "Das ist der Sinn. Hör auf zu heulen."

Philosophisch betrachtet – und wir nähern uns hier gefährlich der Metaphysik, aber das ist bei Ionenkanälen unvermeidlich – sind Ionenkanäle die Gatekeeper der Realität. Alles, was wir wahrnehmen, fühlen, denken, entscheiden, basiert letztlich darauf, dass irgendwo ein Ionenkanal aufgeht oder zugeht. Jeder Gedanke ist eine Kaskade von öffnenden und schließenden Kanälen. Jede Emotion ein Sturm im Ionenverkehr.

Man könnte sagen: Wir sind, was unsere Ionenkanäle durchlassen.

Das ist eine demütigende Erkenntnis. Denn sie bedeutet, dass unsere gesamte Existenz – unsere Erinnerungen, Träume, Ängste, Hoffnungen – abhängt von der korrekten Funktion winziger Proteinröhren in Zellmembranen. Wenn die Kanäle nicht richtig funktionieren, bricht alles zusammen. Epilepsie? Ionenkanäle feuern unkontrolliert. Migräne? Ionenkanäle machen, was sie wollen. Manche genetischen Erkrankungen – Kanalopathien (auf Englisch: Channelopathies) genannt, was wie ein Rechtschreibfehler klingt, aber tatsächlich der medizinische Fachbegriff ist – basieren auf defekten Ionenkanälen. Ein einziger Fehler im Protein, und plötzlich lässt der Natriumkanal zu viel oder zu wenig durch. Das Neuron gerät aus dem Gleichgewicht. Das System kollabiert.

"Ich habe nur einen Aminosäurefehler!", sagt der defekte Kanal verzweifelt. "Einen einzigen!"

"Reicht", sagt das Neuron und stirbt.

Brutal. Aber so funktioniert Biologie.

Gleichzeitig – und das ist die andere Seite der Medaille – sind Ionenkanäle auch Angriffspunkte für Medikamente. Lokalanästhetika blockieren Natriumkanäle, weshalb der Schmerz nicht weitergeleitet wird. Bestimmte Herzmedikamente wirken auf Kalziumkanäle. Antiepileptika stabilisieren überaktive Natriumkanäle. Die moderne Medizin ist, in großem Maße, die Kunst, Ionenkanäle zu manipulieren.

"Ich bin therapeutisch relevant", sagt der Ionenkanal stolz.

"Du bist ein Protein", sagt die Wissenschaft. "Sei nicht so eingebildet."

Und während Sie nun über diese Zeilen nachdenken – ob sie erhellend sind oder ermüdend, geistreich oder geschwätzig –, öffnen und schließen sich in Ihrem Gehirn Milliarden von Ionenkanälen. Natrium strömt rein, Kalium raus, Kalzium triggert Neurotransmitter-Freisetzung, Chlorid dämpft übermäßige Erregung.

Es ist ein Tanz. Ein elektrochemischer Walzer. Eine Choreografie aus Öffnen, Schließen, Durchlassen, Blockieren.

Die Türsteher arbeiten.

Ununterbrochen.

Seit Ihrer Geburt.

Und sie sind sehr, sehr gut in ihrem Job.

Denn ohne sie?

Kein Gedanke.

Kein Gefühl.

Kein Bewusstsein.

Nur eine tote Zellmembran.

Mit ein paar nutzlosen Proteinen drin.

Zum Glück öffnen sie.

Meistens.

 

Die Myelinscheide: Isolierband mit Evolutionssiegel

Oder: Wie Fettpolster intelligent wurden und das Nervensystem revolutionierten

Es gibt, wenn man die großen Erfindungen der Evolution Revue passieren lässt – was wir hier in gebotener Kürze tun werden, denn niemand möchte einen Vortrag über kambrische Explosionen und triassische Diversifikationen –, kaum eine genialere Idee als die Myelinscheide. Diese fettige Ummantelung des Axons, die aussieht wie Luftpolsterfolie für Nervenfasern, hat das Nervensystem von der Postkutsche auf den ICE gebracht. Ohne Myelin wären wir vermutlich noch immer damit beschäftigt, darüber nachzudenken, ob wir vor dem Säbelzahntiger weglaufen sollen, während der uns bereits verspeist.

Die Myelinscheide ist im Grunde eine Isolierung. Eine Fettschicht, mehrfach um das Axon gewickelt wie ein sehr pedantischer Mensch Geschenkpapier um ein Buch wickelt – akkurat, lückenlos, mit dem festen Glauben, dass mehr immer besser ist. Und tatsächlich: Mehr ist hier besser. Denn je dicker die Myelinschicht, desto schneller das Signal.

"Ich bin kein Ballast", würde die Myelinscheide sagen, wäre sie nicht gerade damit beschäftigt, ein Axon so einzupacken, dass selbst die Deutsche Post neidisch würde. "Ich bin Performance-Optimierung."

Das klingt nach Silicon-Valley-Marketing. Ist aber neurowissenschaftliche Wahrheit.

Schauen wir uns das Ganze genauer an. Ein nacktes, unmyelinisiertes Axon leitet elektrische Impulse mit etwa einem halben bis zwei Metern pro Sekunde weiter. Das ist ungefähr Schrittgeschwindigkeit. Für ein Schmerzgefühl akzeptabel – niemand muss sofort wissen, dass er sich den Zeh gestoßen hat. Für komplexe motorische Aufgaben oder schnelle Reflexe aber völlig unzureichend. Stellen Sie sich vor, Sie greifen nach einer heißen Herdplatte, und Ihr Gehirn bekommt die Nachricht "Autsch!" erst drei Sekunden später. Sie hätten dann bereits Verbrennungen dritten Grades und würden immer noch überlegen, ob es vielleicht doch etwas warm war.

Die Evolution – jene blinde Uhrmacherin, die nie schläft und niemals Urlaub macht – hat deshalb die Myelinscheide erfunden. Eine Isolierung aus Lipiden und Proteinen, produziert von spezialisierten Zellen: den Schwann-Zellen im peripheren Nervensystem und den Oligodendrozyten im zentralen Nervensystem.

Diese Zellen machen nichts anderes, als sich um Axone zu wickeln. Immer wieder. Schicht um Schicht. Wie jemand, der Frischhaltefolie um Essensreste wickelt und nicht aufhören kann, weil man ja nie weiß, ob nicht doch noch Luft durchkommt.

"Noch eine Schicht", sagt die Schwann-Zelle besessen.

"Ich glaube, das reicht", sagt das Axon.

"NOCH. EINE. SCHICHT."

Das Resultat: bis zu 150 Lagen Zellmembran, so dicht gepackt, dass kaum noch Platz für Zytoplasma bleibt. Reines Fett. Konzentrierte Isolation. Die Myelinscheide ist im Grunde die biologische Variante von Styropor – nur eleganter und mit besserer Presse.

Aber die wahre Genialität liegt nicht in der Dicke der Isolierung, sondern in den Lücken dazwischen. Denn die Myelinscheide ist nicht durchgehend. Sie hat regelmäßige Unterbrechungen – die Ranvier'schen Schnürringe, benannt nach dem französischen Anatomen Louis-Antoine Ranvier, der 1878 entdeckte, dass Nervenfasern aussehen wie Würstchen in einer Kette.

An diesen Lücken – etwa alle ein bis zwei Millimeter – liegt das Axon frei. Hier befinden sich massenhaft spannungsgesteuerte Natriumkanäle. Und hier passiert das Aktionspotential. Nicht entlang der gesamten Strecke – das wäre Energieverschwendung –, sondern nur an diesen strategisch platzierten Haltestellen.

Das Signal springt von Schnürring zu Schnürring. Hopp, hopp, hopp. Saltatorische Erregungsleitung, vom lateinischen saltare – springen. Es ist, als würde man beim Spaziergang jeden zweiten Gullydeckel überspringen: schneller, effizienter, und irgendwie macht es auch mehr Spaß.

"Ich bin ein Floh", sagt das Aktionspotential stolz, während es von Lücke zu Lücke hüpft.

"Du bist ein elektrischer Impuls", korrigiert das Axon.

"Lass mir meine Metaphern."

Durch diese saltatorische Leitung erreichen myelinisierte Axone Geschwindigkeiten von bis zu 120 Metern pro Sekunde. Das ist schneller als ein Intercity-Express (der schafft im Schnitt etwa 50 Meter pro Sekunde). Wenn Ihr Gehirn Ihnen sagt "Zieh die Hand weg!", dann kommt diese Nachricht in Ihrem Finger schneller an, als Sie "Autsch" sagen können.

Tatsächlich kommen Sie mit dem "Autsch" meistens zu spät. Das Rückenmark hat bereits gehandelt, einen Reflex ausgelöst, die Hand zurückgezogen. Das Bewusstsein erfährt davon erst hinterher, wie ein mittleres Management, das erst aus der Firmenzeitschrift erfährt, dass die Produktion umstrukturiert wurde.

Die Myelinscheide spart aber nicht nur Zeit, sondern auch Energie. Denn wenn das Aktionspotential nur an den Schnürringen neu generiert werden muss, dann müssen auch nur dort Ionenkanäle öffnen und schließen. Weniger Natrium rein, weniger Kalium raus, weniger Arbeit für die Natrium-Kalium-Pumpe. Das spart ATP – die Währung des Stoffwechsels.

Man schätzt, dass die saltatorische Erregungsleitung etwa hundertmal energieeffizienter ist als die kontinuierliche Weiterleitung in unmyelinisierten Axonen. Das ist ungefähr der Unterschied zwischen einem Tesla Model S und einem Hummer H2. Beides kommt an. Aber eines verbraucht erheblich weniger Ressourcen.

"Ich bin nachhaltig", sagt die Myelinscheide selbstgefällig.

"Du bist Fett", sagt das Axon.

"Nachhaltiges Fett."

Philosophisch betrachtet – und wir müssen hier philosophisch werden, sonst wäre das nur ein Biologieskript –, ist die Myelinscheide ein faszinierendes Beispiel dafür, wie Isolation Verbindung ermöglicht. Indem sie das Axon von der Umgebung abschirmt, macht sie Kommunikation erst möglich. Es ist wie bei einem guten Zaun zwischen Nachbarn: Erst die Grenze schafft die Möglichkeit für Respekt. Oder zumindest für weniger Streit.

Ohne Myelin gäbe es kein komplexes Sozialverhalten, keine Sprache, keine Fähigkeit, drei Dinge gleichzeitig zu tun (selbst wenn wir es schlecht machen). Alles, was uns zu Menschen macht – unser Denken, Planen, Bereuen, Prokrastinieren –, basiert darauf, dass Signale schnell genug durchs Gehirn rasen. Und das wiederum basiert auf Fett. Viel Fett. Clever verpacktes Fett.

Das Tragische ist: Wenn die Myelinscheide kaputtgeht, bricht alles zusammen. Multiple Sklerose – eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem die Myelinscheiden angreift wie ein verwirrter Türsteher die eigenen Gäste – führt zu Lähmungen, Sehstörungen, kognitiven Problemen. Die Signale kommen nicht mehr an. Oder zu langsam. Oder am falschen Ort.

"Ich kann nicht mehr", sagt das demyelinisierte Axon erschöpft.

"Dann leite halt langsamer", schlägt jemand vor.

"Das ist nicht dasselbe. Ich bin schnell. Das ist meine Identität."

Tatsächlich. Ein myelinisiertes Axon, das seine Myelinscheide verliert, ist wie ein Rennwagen ohne Motor. Technisch immer noch ein Auto, aber nicht mehr das, wofür es gebaut wurde.