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"Man sagte, Hanno Neuser sei schon immer ein Suchender gewesen." Mit diesem Satz beginnt die Geschichte, die den Leser mitnimmt auf eine Reise der Sinnsuche, des Aufspürens von Bedeutsamkeit. Im Rückblick auf seine Schulzeit sortiert Hanno Dinge nach ihrem bleibenden Wert. Der folgende Roadtrip verlangt ihm ab, sich immer wieder neu zu besinnen und zu orientieren. Die Begegnung mit der Kunst ermöglicht ihm, ganz neue Eigenschaften an sich zu entdecken.
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Seitenzahl: 193
Veröffentlichungsjahr: 2022
Erster Teil: Suchbewegungen
Zweiter Teil: πάντα ῥεῖ
1
Zweiter Teil: Träume
Dritter Teil: Kurs Nord
Vierter Teil: Irrfahrten
Fünfter Teil: Þiðingu
Sechster Teil: Borghildur
Sechster Teil: Ein bedeutsamer Ort
1 πάντα ῥεῖ (griech.): panta rhei: alles fließt
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
Man sagte, Hanno Neuser sei schon immer ein Suchender gewesen. Nicht ungewöhnlich für einen jungen Heranwachsenden, der seinen Weg durchs Leben durch ständige Suchbewegungen absichern helfen soll. Suchen, nicht etwa in der Art eines oberflächlichen, zur Unordentlichkeit neigenden Jungen.
Nein, bei Hanno herrschte keine Unordnung, niemand musste ihm etwas hinterherräumen, im Gegenteil, alles folgte irgendwie einer Ordnung, fast einer Art Systematik. Besonders liebte er es, ihm wichtige Gegenstände in Schuhkartons, Zigarrenkisten, die er regelmäßig von seinem Großvater erhielt, oder Plätzchendosen geordnet unterzubringen. Seine Modellautos wurden in einem vorgezeichneten Stellplatz innerhalb eines Schuhkartons geparkt.
Sein Suchen galt einem eher explorativen Auf-den-Grund-Gehen, man könnte es auch eine hinter die Kulissen blickende Neugierde nennen. Auf diese Weise musste so manches Küchengerät oder Wecker im Hause Neuser herhalten, wenn Hanno deren Innenleben im wahrsten Sinne aufdecken wollte. Sobald er seinen Forscherdrang befriedigt hatte, kam es meist zu einer anderen Suchbewegung: In seinem Eifer passierte es, dass beim Zusammenbau eines geöffneten Gerätes Teile übrigblieben. Also suchte er auf allen Vieren auf dem Wohnzimmerteppich Kleinteile wie Schrauben oder Rädchen. Darauf angesprochen, dass jetzt ein Teil fehle und er somit das Untersuchungsobjekt kaputtgemacht habe, antwortete Hanno selbstbewusst, das Gerät funktioniere trotzdem einwandfrei, weil das vermisste Teil offensichtlich keine Bedeutung gehabt habe. Der Gebrauch des nicht altersentsprechenden Adjektives ‚bedeutsam‘ wurde für Hanno zunehmend wichtig. Hinzu kam noch eine weitere Eigenschaft des jungen Neuser: Einer seiner Lehrer hatte einmal gesagt, Hanno sei ein Eidetiker, er habe das, was man auch ein eidetisches Gedächtnis nannte. Hanno erzählte im Morgenkreis meist von den Erlebnissen, die er auf eine Art Szenenbild reduzieren und deren komplexe Hintergründe er wortreich untermalen konnte.
Und der suchende Hanno war gespannt, was ihn am Gymnasium erwartete, auf das er bald wechseln würde.
Der Schienenbus erzeugte ein rhythmisches Rattern. Besonders jetzt, wo der letzte Streckenabschnitt leicht bergab führte bis zum Zielbahnhof. Leider gab es auf der Strecke zum Schulort keinen Tunnel. Ein Tunnel wäre gut gewesen. Hanno hätte es sich gewünscht, sich nicht nur horizontal zu bewegen, sondern in die Erde einzudringen. Zum Mittelpunkt der Erde, ähnlich Jules Verne. In die tiefen Schichten der Bildung, zum Kern sozusagen. Das Lernen in den folgenden neun Schuljahren, das gewissermaßen ein tiefes Eindringen in den Lernstoff eines humanistischen Gymnasiums bedeutete, begänne damit allmorgendlich mit dem Eindringen in die tieferen Schichten des Daseins. Die Tunnelfahrt als eine unaufhaltsame Bewegung, keinerlei Bremsvorrichtung, unklare Perspektive. Vielleicht auch, um abzutauchen.
Am Ende, des Tunnels wie der gymnasialen Unterweisung, stünde eine Art fertiger Hanno als homo humanus.
Das Rattern des Zuges der Baureihe VT 795, des Uerdinger Schienenbusses, nahm ab, der Führer des Triebwagens verfügte über ein funktionierendes Bremssystem.
Im Bahnhof der Kleinstadt kamen Hanno und die anderen etwa 20 Minuten vor Unterrichtsbeginn an. Da sie damals noch bei guter Bewegungsfähigkeit waren, hätten sie den kurzen Weg zur Schule leicht bewältigen können, um pünktlich zur ersten Stunde vor Ort zu sein. Manche unter ihnen sagten sich aber: „Festina lente! Was sein kann, muss nicht unbedingt sein.“
Stundenzeiten, so fanden sie, seien im Grunde nur unverbindliche Richtwerte. Also warteten sie in der Bahnhofshalle, bis es 8:00 Uhr war. Jetzt würde der Unterricht beginnen. Es ergab sich das Bild eines sich trennenden Pulks von Schülern: Der eine Teil strebte kurz dem Eisernen Steg zu, jener bekannten Brücke über den Fluss, πάντα ῥεῖ, hinter dem es im Angesicht der Schultür nunmehr kein Entrinnen mehr gab. Der andere Teil vollführte einen leichten Richtungswechsel nach rechts, um sich vor der noch verschlossenen Tür eines Cafés anzustellen. Dieses Café hatte das Alleinstellungsmerkmal, dass es bereits um 8:30 Uhr öffnete, also zur besten Entscheidungszeit, wie man den Vormittag zu gestalten gedachte. Soziales Lernen fand hier statt, da man zahlreiche Bekannte antraf. Man tauschte sich aus, auch über das, was man in der Schule gerade gehabt hätte.
Dieser Teil der Fahrschüler verfügte offenbar über eine beachtliche Resilienz, selbst über die Zeit zu bestimmen, innerhalb derer man sich in die Obhut der Bildungsanstalt begeben wolle oder eben noch nicht.
Das Überschreiten des Eisernen Steges und somit des eine Grenze aufzeigenden Flusses war für Hanno ein besonderer Moment, gab er ihm doch das Gefühl, in einer gewissen Weise privilegiert zu sein. Im Gegensatz zu vielen anderen im Dorf war es ihm vergönnt, in jungen Jahren Grenzen zu überschreiten. Grenzen, hinter denen die Verheißungen einer humanistischen Bildung auf ihn warteten.
Nachdem die Schülergruppe den Eisernen Steg überwunden hatte, wurde sie abrupt abgebremst, sofern die Fußgängerampel Rot zeigte. Das Warten vor dem Lichtzeichen verstärkte die Spannung. Wer danach noch im Zweifel war, ob er tatsächlich durch die Schultür ins Innere von Unterweisung und Bildung gehen sollte, erhielt von zwei Mitschülern einen ultimativen richtungsweisenden Wink. Schülerlotsen, natürlich entsprechend uniformiert, wiesen praktisch mit ihren Kellen den letzten, noch verbleibenden Weg zum Schulgebäude. Es ist nicht bekannt, ob jemand an diesem Wegpunkt noch abgesprungen wäre und einen Fluchtweg angetreten hätte.
Das Schulgebäude empfing die Schüler in Form von zahlreichen, bereits quicklebendigen Aquariumsfischen im Vestibül. Quicklebendig. Ein Zustand, den die wenigsten im Moment gar nicht anstrebten, dem sie aber durch das Bemühen seitens ihres Musiklehrers auch nicht mehr würden ausweichen können.
Im oberen Stock des Hauptgebäudes befand sich der Musikraum. Wenn die Sextaner wie Hanno, damals noch in froher Erwartung des neuen Schultages, dort Platz genommen hatten, spielte der Musiklehrer auf zum morgendlichen Wachmachlied. ‚Und die Morgenfrühe, das ist unsere Zeit.‘
Sextaner sind für vieles zu begeistern, aber auch Zehnbis Elfjährigen sollte man um 8:00 Uhr gewisse Spuren von Restmüdigkeit zubilligen. Aber mindestens ein Wochentag begann halt mit dem Fach Musik.
Nächstes Lied: ‚So geht es in Schnützelputzhäusel‘. Was für ein Schenkelklopfer! Der Herr Oberstudienrat riss die Sextaner mit. So waren diese nach Ansicht der Stundenplangestalter bestens vorbereitet auf die folgenden ‚Kopffächer‘ wie Mathematik, Deutsch oder Latein. Flamma flagrat.
Regelrechte Begeisterung für das Fach Musik sollte alljährlich am ‚Tag der Hausmusik‘ entfacht werden. Eine Minderheit, nämlich alle, die ein Instrument spielen konnten, brachte der Mehrheit, also allen anderen, eine Probe ihres Könnens zu Gehör. Ganz gewiss ein Motivationsschub für die erste Gruppe. Bei den Zuhörern hielt sich die Motivation, es auch mit einer musikalischen Ausbildung zu versuchen, in Grenzen.
Was ist Hanno vom Tag der Hausmusik in Erinnerung geblieben? Es war der Schulkamerad, der auf seinem Akkordeon ‚Die Nordseewellen‘ zum Besten gab.
Hanno nahm die vermittelten Inhalte des Altsprachlichen Gymnasiums begierig auf, wobei er zunehmend nach dem Kriterium der Bedeutsamkeit zu unterscheiden wusste. Manche Sortierung erfolgte allerdings mit großem zeitlichem Abstand, wenn er mit zunehmender Reife Bildungsinhalte für sich besser einzuordnen verstand. Auf jeden Fall hielt die Schulzeit für ihn eine Reihe von bedeutsamen Eindrücken bereit. Wenn er mittags mit dem Schienenbus nach Hause fuhr, wuchs seine Vorfreude auf den nächsten Schultag und die erwarteten Angebote der Schule für seine Suchbewegungen.
Auch nach dem Abitur hörten Hannos Suchbewegungen nicht auf. Mit zunehmendem Alter und in zeitlichem Anstand ließ er Facetten der Schulzeit immer wieder Revue passieren, um sie einer Überprüfung auf ihre Bedeutsamkeit zu unterziehen.
In den späteren Jahren, als es Hanno Neuser immer wieder in den Ort seiner Gymnasialzeit zog, entdeckte er eines Tages in der Altstadt ein Geschäft, das er zuvor noch nicht gesehen hatte.
Man wusste nicht viel über den Laden und seinen neuen Besitzer. Die meisten Bewohner des Städtchens registrierten allein die Tatsache, dass es bei all dem in letzter Zeit fortschreitenden Leerstand endlich wieder ein neu eröffnetes Geschäft in der Altstadt gab.
So blieb auch Hanno Neuser vor dem kleinen Laden stehen. Welches genaue Geschäftsmodell dahinterstand, erschloss sich den Menschen nicht, die an dem Schaufenster vorübergingen und, die Auslagen in Augenschein nehmend, dem Ganzen einen selbsterklärenden Namen zuzuweisen versuchten. Die Auslagen, das waren zahlreiche alte Schwarzweißfotos von Straßen, Plätzen oder Gebäuden. Dazwischen waren, wie einer der Anwohner vermutete, aus Gründen der Dekoration vereinzelt Alltagsgegenstände aus Blech oder Porzellan abgestellt, auch eine alte Uhr im Holzgehäuse, wie man sie früher häufig auf dem Wohnzimmerschrank, in Hannos Familie sagten damals alle Büffee, bewundern konnte.
„Ein Antiquitätengeschäft ist das aber nicht!“, wusste einer der Passanten mit offenbar fachkundiger Expertise zu bemerken, denn neben den Dekorationsstücken lagen alte Bücher, vornehmlich mit schulischen Bezügen.
„Auch ein Antiquariat ist es nicht! Guckt euch die Bücher doch mal an! Das ist Schullektüre wie Novellen, Erzählungen oder fremdsprachige Texte zuzüglich der Übersetzungshilfen. Einen florierenden Buchhandel kann man mit einer solchen Kollektion allein nicht wirtschaftlich betreiben.“
Hanno notierte: wirtschaftlich betreiben. Eine bedeutsame Beschreibung?
Ein anderer Passant gab am nächsten Tag vor, zu wissen, wer der Ladenbetreiber sei: An der Tür habe er ein kleines Schild gelesen mit der Aufschrift:
Dr. Walther Hector Bedeutsamkeiten und Beratung
Damit hatten die Passanten zunächst etwas, womit sie umgehen konnten, obgleich sie noch immer nichts Genaues wussten. ‚Dr. Bedeutsam‘ machte jetzt die Runde.
Aber die Anwohner merkten bald, dass ihnen dies auch nicht weiterhalf. Eine gewisse Neugierde trieb Hanno an, als er sich zum Laden aufmachte und die Tür öffnete. Ein mehrstimmiges Glockenspiel, welches in Form von Messingröhren von der Decke hing, ertönte und signalisierte dem neuen Ladenbetreiber die Ankunft von Kundschaft.
„Guten Morgen, Herr Dr. Hector. Ich möchte Ihnen für Ihr neues Geschäft alles Gute wünschen.“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen“, entgegnete Dr. Hector. „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Ich bin zwar noch nicht vollständig eingerichtet hier. Aber eine Kaffeemaschine habe ich schon.“
„Sehr gerne, das ist sehr freundlich.“
Hector ging in den hinteren Raum und Hanno hörte das Mahlwerk der Maschine. Kurze Zeit später kam Dr. Hector mit einem Tablett, auf dem zwei Tassen Kaffee standen, in den Laden zurück.
„Greifen Sie zu!“
Hanno goss sich Milch in seine Tasse und sagte zu seinem Gastgeber: „Sie sollten wissen, wie froh wir sind, dass hier in der Hauptstraße wieder ein Geschäft eröffnet wurde.
Der Leerstand war ja kein schöner Anblick.“
„Ja, das war auch ein Glücksgriff für mich. Ich wollte mich unbedingt in dieser Stadt geschäftlich niederlassen.“
„Darf ich fragen, was Sie genau machen? Wir haben Ihr Schild an der Tür gesehen, können uns jedoch nicht genau vorstellen, was Sie in Ihrem Ladenlokal anbieten.“
Dr. Hector schmunzelte.
„Ich muss zugeben, die Angaben sind schon ein wenig rätselhaft. Ich bin auf der Suche nach Bedeutsamkeit, also nach Orten und Dingen, die für mich und mein Leben Bedeutung haben oder einmal hatten. Dazu reise ich in Städte oder Dörfer, mit denen ich etwas Bedeutsames verbinde. Und so kam ich hierher.“
„Inwiefern ist dieses Städtchen für Sie von Bedeutung?“
„Ich bin hier zur Schule gegangen und habe hier mein Abitur gemacht.“
„Genau wie ich. Und der zweite Teil auf Ihrem ‚Firmenschild‘, die Beratung?“
„Ich biete den Menschen an, sich ebenfalls auf die Suche zu begeben. Ich leite sie an, mit offenen Augen durch einen Ort, an ihre ehemalige Wirkungsstätte zu gehen. An meinen Beispielen lernen sie, Bedeutsamkeit zu entdecken, die sie so bisher nicht gesehen haben.“
Hanno Neuser überlegte.
„Kann ich Ihre Dienstleistung auch einmal buchen!“
„Selbstverständlich!“, antwortete Hector. Morgen Nachmittag biete ich einen Stadtrundgang an.“
„Und was kostet Ihre Dienstleistung?“
„Nichts.“
„Verzeihen Sie, aber wovon leben Sie? Was ist Ihr Geschäftsmodell?“
„Ach, wissen Sie, das Materielle ist mir längst nicht mehr wichtig. Ich habe vierzig Jahre lang in mehreren Geschäftsmodellen funktioniert. Jetzt ist Schluss mit dem Neokapitalismus! Ich habe all das hinter mir gelassen. Wofür sollte ich Geld nehmen? Wenn der Kunde dankbar ist, bin auch ich zufrieden. Und das ist wiederum für mich bedeutsam. Der Humanismus lehrt uns, uns um die Würde und Schönheit des Menschen zu kümmern.“
„Darf ich fragen, in welcher Branche Sie tätig waren, Dr. Hector?“
„Dürfen Sie! Ich war Betriebsleiter in einem Unternehmen des Maschinenbaus.“
Als Hanno immer noch zu grübeln schien, ergänzte Hector: „Mit meiner Pensionierung war Schluss. Ich muss keinen Profit mehr machen. Wofür sollte man im Alter noch Geld ausgeben? Der Hedonismus ist vorbei!“
„Uns Sie haben gerade hier in der Altstadt Ihren Laden eröffnet? Weil Sie hier am Gymnasium waren?“
„So ist es. Wenn man auf der Suche nach Bedeutsamkeiten ist, bietet sich ein solcher Ort an. Auch Städte, in denen man gewohnt oder einmal Urlaub gemacht hat. Jeder hat seine Orte der Bedeutsamkeit. Es lohnt sich, sich auf den Weg zu machen und diese noch einmal auf sich wirken zu lassen.“
„Verbinden Sie eigentlich nur Positives mit Ihrer Schulzeit?“
„Keineswegs! Schauen Sie einmal in meine Auslagen im Fenster! Da liegen exemplarisch ein paar Texte von Xenophon, Sophokles und Homer. Erinnern Sie sich?“
„Allerdings!“, antwortete Hanno lächelnd. „Wie hätten die meisten von uns den Unterricht in Latein oder Griechisch überlebt ohne die deutsche Übersetzung unter dem Tisch! Wir nannten die Heftchen einfach nur Pons. Die haben uns auf dem Weg zum Abitur so manche Brücke gebaut. Auch sie waren für mich irgendwie bedeutsam, halfen sie doch beim Eintauchen in die griechische Mythologie, Literatur und Philosophie. Eine Lernerfahrung, die wir damals wohl leider nicht immer zu schätzen gewusst haben. Bedeutsam waren sie auch aus dem Grunde, weil wir, einmal in ihrem Besitz, uns kreative Möglichkeiten ausdenken mussten, wie wir sie bei Klausuren nutzen konnten. Einige von uns entwickelten ausgefeilte Strategien, das sage ich Ihnen.
Einer von uns hat sämtliche Kapitelanfänge aufgeschrieben, die jeweilige Seitenzahl notiert und dann den Übersetzungstext auf der Toilette hinterlegt. Wenn er dann zurück in den Klassenraum zurückkam, hatten viele von uns plötzlich wieder Schreibideen.“
Dr. Hector musste grinsen, als Hanno sich in eine eloquente Aufgeregtheit geredet hatte.
„Sehen Sie, so hat die Erinnerung an diese Lektüre eine gewisse Bedeutsamkeit. Ich bin mir sicher, dass wir morgen auf unserem Rundgang diesbezüglich weitere Funde machen werden.“
Am nächsten Tag empfing Dr. Hector Hanno vor seinem Ladengeschäft und schlug vor, die Hauptstraße hinunterzugehen. Hector vermied es, als Reiseführer zu fungieren. Stattdessen überließ er es seinem heutigen Schützling in Sachen Bedeutsamkeit, selbst auf die markanten Orte hinzuweisen.
„Hier war früher eine Buchhandlung, unsere Buchhandlung!“, wusste Hanno zu berichten. „Schließlich mussten wir unsere Lektüren und Übersetzungen in den Zeiten, da es noch keine Online-Bestellungen gab, beim örtlichen Buchhändler abholen. Hier haben wir so manche Mark unseres Taschengeldes hingetragen, um uns die Lernhilfen zu besorgen. Alles in allem keine schlechte Investition. Non scholae, sed vitae ... Ich glaube, der Buchhändler verdiente ganz gut an uns; wenn wir zum Beispiel im Fach Latein eine neue Lektüre begannen, hatte der umtriebige Mann am folgenden Tag den passenden Pons im Regal.
Der Besuch im Buchladen war aber für mich darüber hinaus bedeutsam: Beim Stöbern in den Regalen mit den von uns Schülern finanzierbaren Taschenbüchern fielen mir dann zahlreiche Autoren in die Hände wie Heinrich Böll, Bertolt Brecht oder Max Frisch.“ Hier hatte also Hannos Entdeckungsreise in die Welt der Literatur begonnen. Hanno Neuser auf der Suche nach sich selbst wie Stiller in Frischs Roman.
Dr. Hector drehte sich um und zeigte auf ein größeres Gebäude. „Erinnern Sie sich, Herr Neuser? Hier hatten wir Tanzstunde.“
„Oh ja! In diesem Lokal, das über einen geräumigen Saal verfügte, lernten wir das andere Geschlecht kennen, also irgendwie schon. Wie für die umliegenden Dörfer der Gegend typisch, saßen wir Jungen in einer langen Reihe der der Mädchen gegenüber. Sobald unser Tanzlehrer die entsprechende Musik auflegte, sprang die Jungenphalanx auf und rannte auf die versammelte Damenschaft zu. Wer zu spät kommt, ...
Alles nach den Regeln, Erfordernissen der Tanzchoreographie und der Etikette. Wiener Opernball light! Ich habe es überlebt.“
Wenn man vom Bahnhof in Richtung Altstadt ging, kam man an einem Gebäude vorbei, in dem sich früher ebenfalls in Café befand.
„Hier haben wir unsere Tanzstundenmädels auf einen Martini ausgeführt und Klassenfeiern veranstaltet. Hier kam es aber auch einmal zu einem Eklat.
Eine schöne Klassenfeier, Musik kam vom Tonbandgerät, es wurde geschwoft, Hey Jude. Einige Zeit später gab es Ärger in der Elternschaft und beim Klassenlehrer. Keiner von uns hat das jemals verstanden. Jedenfalls wurde ein Elternabend einberufen, auf dem wir uns mit der Forderung konfrontiert sahen, darüber abzustimmen, ob wir uns bessern wollten. Man schien um unsere moralische Erziehung bemüht. Alles in allem ein bedeutsamer Ort: Die aufmüpfige 68er-Generation hatte sich bemerkbar gemacht. Auf der Tanzfläche.
Mir ist bis heute nicht mehr erinnerlich, wie die Abstimmung seinerzeit ausgegangen ist.“
Die beiden kamen nun an einer Gaststätte vorbei, die in einem schmucken Fachwerkhaus untergebracht war.
„Dieses Haus hatte in meiner Schulzeit eine große Bedeutung. Es war unter seinem wirklichen Namen kaum bekannt, wohl aber unter seinem Spitznamen: U-Boot. Es war die Kneipe unserer Wahl! Nachmittags gingen wir flippern, wie Bölls Fähmel beim Billardspiel, und Bier trinken, abends nur Bier trinken. In dieser Pinte hatten wir das Gefühl, schon zu den Großen zu gehören. Das U-Boot als Ort der Kneipensozialisation. Mitunter kreuzten wir schon einmal am Vormittag auf, nachdem wir die Vor- und Nachteile des Stundenplanangebotes abgewogen hatten. Der einzige Nachteil war, dass das U-Boot etwa einen Kilometer von der Schule entfernt lag. So konnten wir jedoch die geschwänzte Sportstunde durch die Wandertätigkeit in Richtung Stammkneipe guten Gewissens kompensieren.
Alle Mann auf Tauchstation! Vorne unten fünf, hinten oben zehn! Zu Befehl, Herr Kaleu!
„Erst im Laufe der Jahre wurde uns bewusst, dass man uns bereits in jungen Jahren viel zutraute“, fuhr Hanno Neuser fort und deutete auf den Weg, der er einzuschlagen gedachte. „Das hat mit dem Gebäude zu tun, vor dem wir gleich stehen.“
Es handelte sich um die ehemalige Bergschule, in die manchmal Klassen aus Raummangel im Hauptgebäude ausgelagert wurden. Eine Konsequenz war, dass die Lernzeit, was den Nettowert betraf, geschrumpft war. Offenbar waren wir so gut, dass man uns zutraute, den entgangenen Lernstoff selbstständig zu kompensieren. Dieser Sachverhalt ergab sich aus der Tatsache, dass unsere Lehrer beim Stundenwechsel mehr als einen halben Kilometer zur Dependance laufen mussten.
Die Lernzeit im Fach Mathematik war dagegen üppig. Den Herrn Oberstudienrat mit der Fakultas Mathematik verließ beim Mathematisieren jegliches Zeitgefühl, sodass er ständig überzog. Wenn dann ein anderer Lehrer vor der Tür stand, ergab es sich in der Regel, dass dieser artig auf dem Flur wartete, bis sein Vorgänger es bemerkt oder wir ihn dezent darauf hingewiesen hatten, dass es Zeit für einen Wechsel der Fachrichtung sei und nunmehr der lange Ausflug in die Mathematik beendet werden sollte.
Einmal haben wir zusammengelegt und einen Kurzzeitwecker angeschafft. Der wurde zu Beginn der Mathematikstunde auf 45 Minuten eingestellt. Allerdings betrachtete der Meister seines Faches diese akustische Erinnerung nur als unverbindliche Empfehlung und begann, eine weitere Aufgabe zu rechnen. Der Umgang mit der Größe Zeit war also vermutlich im heimlichen Lehrplan der Bergschule verankert. Wir haben jedenfalls unsere Auslagerung nicht nur mit Fassung getragen, sondern auch den Begriff ‚freie Zeit‘ aus einer neuen Perspektive betrachtet. Den Vertrauensvorschuss jedenfalls haben wir für unsere Entwicklung von Eigenverantwortung genutzt. Ein wahrhaft bedeutsamer Ort. Und viel näher am U-Boot!“
*
Sie gingen weiter in nördlicher Richtung die Hauptstraße entlang, bis sie fast den Kreisverkehr vor der Brücke erreichten. Hanno erzählte.
„Hier befand sich zu unserer Schulzeit eine Kreuzung, auf der ich in der 68er Zeit zum ersten und einzigen Mal an einem Sit-in teilgenommen habe. Der Demonstrationszug stoppte an dieser Stelle auf und wir setzten uns alle auf die Straße. Es war ein schönes Gefühl, in diesem Augenblick die Macht zu besitzen, die Autofahrer zum Anhalten zu nötigen. Die Stimmung unter uns Demonstranten war prächtig. Wir stimmten die gängigen Sprechchöre an: ‚In der Rüstung sind sie fix, für die Bildung tun sie nix‘ ist verbürgt. Bei der Bewegung des Niedersetzens und Aufstehens fielen einige Reclam-Heftchen aus den Taschen. Marx sprichwörtlich auf der Straße.“
Hannos Vortrag stockte. Dr. Hector glaubte, eine große Nachdenklichkeit bei seinem Besucher feststellen zu können. Als er ihn darauf ansprach, antwortete Hanno zögernd: „Wissen Sie, ich glaube jetzt zu wissen, welch qualitative Steigerung die ‚Bedeutsamkeit‘ hat gegenüber den eher vordergründigen ‚Erinnerungen‘ an bestimmte Ereignisse. Diese ehemalige Straßenkreuzung ist eben mehr als ein anekdotenbehafteter Ort von erlebter Vergangenheit: Für mich jetzt gerade einer von großer Nachdenklichkeit. Wir waren die 68er-Generation, aber irgendwie doch untypisch. Sozialisation im Nebental halt. In diesem Moment frage ich mich, welch ungeheure Entwicklung von der Protestbewegung der 68er langfristig hätte ausgehen können. Welche Abbiegungen hätten wir an dieser Kreuzung vornehmen können? Jetzt ist sie ein Kreisverkehr. Welchen Einfluss würde er heute auf die Richtungsentscheidung haben? Was ist aus der Schüler- und Studentenbewegung, die an diesem Ort ein temporäres Zeichen gesetzt hat, geworden? Irgendwie habe ich das Gefühl, ich bin mit diesem Ort noch nicht fertig.“
Dr. Walther Hector lächelte. „Sie haben mich verstanden. Sie wissen jetzt, was ‚Bedeutsamkeit‘ ist.“
Hanno fühlte sich geschmeichelt und dachte für einen Moment darüber nach, ob ihm der grüne Parka von damals noch passen würde.
Bei seinem nächsten Gang durch die Hauptstraße schien es vor dem Laden des Dr. Hector Streit gegeben zu haben. Zwei Damen hatten sich in die Wolle gekriegt, wer denn zuerst den Laden der Bedeutsamkeit betreten dürfe. Dr. Hectors Dienstleistung hatte sich wohl längst herumgesprochen und so fassten immer mehr Bewohner den Mut, sich beraten zu lassen.
Die ältere der beiden Frauen hatte das subjektive Gefühl, die besseren Karten zu haben. Hanno hörte, dass sie fast 90 Jahre alt war, und sie führte diese Eigenschaft offensiv ins Feld. Hanno hatte seine Freude daran, den Disput live mitzukriegen.
„Frau Eisenberger, Sie sind noch jung und werden genügend Zeit haben, Ihre Orte und Dinge der Bedeutsamkeit noch in aller Ruhe mit Dr. Hector zu betrachten und aufzuspüren. Ich dagegen habe nicht mehr viel Zeit und befürchte, meine Bedeutsamkeiten nicht mehr in gebührender Intensität würdigen zu können. Also lassen Sie mich jetzt bitte hinein!“
Nach weiteren Wortwechseln gab Frau Eisenberger klein bei, da sich mittlerweile ein Dutzend Neugierige in der Hauptstraße eingefunden hatten. Diese entwickelten einen erwartbaren Gesprächsmix basierend auf ihren Vermutungen, was Dr. Hector wohl letztendlich mit seinem Laden bezwecke, aber auch mit eingestreuten Erfahrungswerten wie „Meine Schwester war letzte Woche bei ihm und ich muss Ihnen sagen, ich erlebte sie danach wie verwandelt. Sie war auf einmal viel offener und behauptete, Dr. Hector habe ihr die Augen geöffnet für die vermeintlich kleinen Erlebnisse, die plötzlich eine große Bedeutsamkeit erlangt hatten.“
Kein Tag verging, ohne dass Hanno Neuser sich vor dem kleinen Laden einfand. Gestern erhielt Dr. Hector Besuch von zwei auffälligen Passanten. Der Mann, gekleidet in der Art, wie man sie konservativ orientierten Geschäftsleuten nachsagt, trug einen suizidgrauen Mantel, selbstverständlich eine Krawatte sowie einen eleganten schwarzen Hut. Seine Begleiterin war von nicht weniger konservativ-eleganter Erscheinung. Ein langer Mantel überdeckte einen nicht minder langen Rock. Ihre selbst ausgesprochene Berechtigung, an diesem Vormittag dieses Ladengeschäft mit ihrer Aufwartung zu beehren, unterstrich sie durch die Tatsache, dass sie ihr Haar in einem skulpturartigen Knotengebilde zusammengebunden hatte, das Hanno zur Genüge aus seiner Kindheit im Seitental bekannt vorkam. Die meisten Tanten im Dorf trugen damals eine solche Konstruktion. Er und die Umstehenden hatte den Eindruck, sie hätte zum Zeichen der Feierlichkeit noch ein winziges Schleierchen aus Tüll aufgebracht. Diese beiden Menschen verstanden es, ihren Schritten in Richtung Ladentür zusätzlich noch eine würdevolle Schwere und Ernsthaftigkeit zu verleihen.