Wegführung - Uli Hoffmann - E-Book

Wegführung E-Book

Uli Hoffmann

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Drei Erzählungen, drei neue Kriminalfälle, in die der pensionierte Kommissar Øyvind Løvland zufällig gerät und die seinen Spürsinn erneut herausfordern. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Journalistin Sissel Bjørneboe, bekommt er es zu tun mit einem Doppelmord auf der Hardangervidda, einem Mörder, der ein Katz- und Mausspiel mithilfe kryptischer Verse inszeniert und einem Verbrechen in der Inselwelt Westnorwegens.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 141

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Marianne

Uli Hoffmann

Wegführung

Norwegenkrimis

© 2020 Uli Hoffmann

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Umschlagfoto: Adobe Stock

ISBN

978-3-347-18169-4 (Paperback)

978-3-347-18170-0 (Hardcover)

978-3-347-18171-7 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Das gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Rallarvegen

Stadtführung

Inselwelt

Rallarvegen

1

Øyvind Løvland schaute auf die Uhr, nicht etwa auf seine Armbanduhr, sondern, so, als wolle er gewissermaßen die geeichte, offizielle Zeitauskunft in Form der Bahnhofsuhr auf dem Bahnsteig in Hønefoss. 13: 41 Uhr. Demnach acht Minuten Verspätung. Die NSB war zwar nicht unbedingt bekannt für absolute Pünktlichkeit. Aber bereits in der ersten Station nach der Abfahrt in Oslo acht Minuten? Løvland hoffte, dass sich die Zeit nicht noch hochschaukeln würde bis zu seinem Ziel in Haugastøl.

Er schaute aus dem Fenster. Es stiegen geschätzt ein Dutzend Reisende in den Zug nach Bergen. Den Mittagszug bevorzugte der pensionierte Kommissar, wenn er in die Stadt an der Westküste unterwegs war. So wäre er gegen 19: 00 Uhr dort und könnte noch etwas unternehmen, wenn er sich dort mit Sissel Bjørneboe treffen würde. Außerdem böte ihm die Fahrt mit dem Nachmittagszug über die Hardangervidda ein grandioses Schauspiel von sich ständig wandelnden Lichtverhältnissen. Immerhin fast sieben Stunden brauchte die Bergenbahn für die Reise zwischen den beiden größten Städten des Landes. Seit seiner Pensionierung genoss Øyvind Løvland das entschleunigte Reisen mit der norwegischen Staatsbahn. Und wieder einmal würde am Zielbahnhof die Person auf ihn warten, die er lieben gelernt hatte: Sissel Bjørneboe, die Kulturjournalistin, die er vor einiger Zeit anlässlich eines Kriminalfalles im Sognefjord kennengelernt hatte. Sissel war eine gebildete Frau mit Esprit und scharfem Verstand, die ihm auch bei der Aufklärung von Verbrechen schon geholfen hatte.

Øyvind Løvland bat seinen Sitznachbarn, sein Gepäck im Auge zu behalten, und strebte in das Bordrestaurant. Er wollte eine Kleinigkeit essen und etwas trinken. Bis Haugastøl waren es noch etwa zweieinhalb Stunden. Er hatte diesen kleinen Ort an der Bergensbane zusammen mit Sissel ausgesucht, um auf der Hardangervidda zu wandern und Rad zu fahren. Sissel hatte sofort zugestimmt, könnte sie doch den Artikel über das Fjell, die Bergensbane und den Rallarvegen vollenden, den sie bereits vor Monaten begonnen hatte. Der Rallarvegen führt an der Bahnstrecke entlang und diente beim aufwändigen Bau des Schienenstranges den Arbeitern als Weg zwischen ihren Unterkünften und den Einsatzorten sowie zum Transport des Materials. Heute gilt er als einer der spektakulärsten Rad- und Wanderwege Norwegens. Von Haugastøl führte er über 86 Kilometer bis nach Myrdal und weiter bis nach Flåm am Aurlandsfjord. Der Weg war nicht asphaltiert und Øyvind hatte sich mehrmals gefragt, ob er und Sissel sich nicht übernehmen würden, wenn sie dort unterwegs wären. Aber schließlich hatte seine Freundin ihn bestärkt, diese Herausforderung anzunehmen.

Als Øyvind im Bordrestaurant sein Essen und sein Ringnes-Bier serviert bekam, erreichte der Zug Nesbyen mit zwölf Minuten Verspätung. Noch alles im Rahmen. Er erinnerte sich, dass er mit seinen Eltern hier einmal das Hallingdal-Museum besucht hatte.

Øyvind genoss es, im Bordrestaurant zu sitzen und bei einem Glas Ringnes die wunderschöne Landschaft vorüberziehen zu lassen. Für einen Augenblick realisierte er, dass der Ruhestand doch seine angenehmen Seiten hatte.

„Aber dieses Mal machen wir Urlaub! Keine Mordermittlungen bitte!“, hatte Sissel ihm gestern Abend noch am Telefon aufgetragen.

„Von mir aus gerne!“, sagte er zu sich, als die Durchsage kam, dass Gol der nächste Haltepunkt sein würde. Spätestens in zwei Tagen würde die Realität seine Vorsätze zunichte gemacht haben.

Øyvind kehrte zu seinem Sitzplatz zurück, bedankte sich bei seinem Nachbarn für seine Aufsicht und blickte aus dem Fenster. Die Sonne hatte bereits einen tieferen Stand am Horizont erreicht und tauchte das Hallingdal in ein zauberhaftes Licht. Es war kurz nach 15: 00 Uhr, der Zug würde bald Ål erreichen. Øyvind griff zu seinem Tablet und las einige Artikel der Morgenzeitung, zu denen er vor seiner Abreise aus Oslo nicht mehr gekommen war.

Die Fahrt am Hallingsdalselva entlang bot das Bild einer landwirtschaftlich genutzten Landschaft. Einzelne Gehöfte hatten darüber hinaus Hinweisschilder bezüglich Übernachtungsmöglichkeiten am Straßenrand positioniert.

Øyvind ging nochmals seine Buchungsunterlagen durch. Für Sissel und sich hatte er ein kleines Appartement gebucht. Dazu gleich zwei Mountainbikes für die Dauer ihres Aufenthalts. In Haugastøl gab es nur begrenzte Übernachtungsmöglichkeiten. Das große Haus der Touristeninformation bot einige unterschiedliche Appartements an und lag am Ufer des Sløddfjorden. Bewusst hatten sie sich gegen einen Aufenthalt in einem der Hotels in Geilo, Ustaoset oder Myrdal und für die einfache Art der Unterbringung entschieden.

Øyvind hatte sich extra eine neue Kamera zugelegt und vielleicht konnte er einige Aufnahmen für Sissels Artikel beisteuern.

Øyvind nahm seinen Kopfhörer und stellte am Smartphone seine bevorzugte Playlist mit norwegischen Folk-, Country- und Jazzinterpreten ein.

Kurz vor 16: 00 Uhr erreichten sie Geilo, wohin er früher zum Skilanglaufen gereist war. Der Zug durchquerte eine sommerliche Landschaft, die im Winter mitunter mit heftigen Schneefällen, Verwehungen und Stürmen die NSB in Atem halten konnte. Um wie viel beschwerlicher musste der Bau der Bergensbane für die Arbeiter gewesen sein! Wenn er mit Sissel auf dem Rallarvegen unterwegs sein würde, würden sie eventuell ein wenig von den damaligen Strapazen des Bahnbaus nachempfinden können. Welch eine epochale Entscheidung, eine Eisenbahn durch das Fjell zu errichten!

Ustaoset. Noch zwanzig Minuten bis Haugastøl. Øyvind stand auf und verabschiedete sich von seinem Sitznachbarn. Ob Sissel ihn auf dem Bahnsteig erwarten würde? Überflüssige Frage. Sie würde mit dem Zug 602 von Bergen bereits gegen 15: 00 Uhr angekommen sein und ganz sicher auf ihn warten.

2

Seine Gedanken waren sofort wieder bei den Bauarbeitern und Ingenieuren, die es ermöglicht hatten, dass Sissel heute an diesem kleinen Bahnhof auf der Hardangervidda stehen und auf ihren Freund warten konnte. Ihn, den sie vor Monaten in Skjolden am Sognefjord kennengelernt hatte und den sie wegen seines Verstandes, seiner Bildung und seiner Kreativität schätzen und lieben gelernt hatte.

Die silberne Lokomotive brachte die roten Wagen des Expresszuges der Bergensbane in den Bahnhof von Haugastøl. Der Bremsvorgang des langen Zuges erfüllte den kleinen Ort mit einem durchdringenden Geräusch. Außer ihr befanden sich etwa ein Dutzend Wartende auf dem Bahnsteig, darunter eine Wandergruppe mit Rucksäcken. Eigenartig, mit welcher Körperhaltung und Gestik Wartende einer Veränderung ihrer Situation entgegensahen. Warten auf ein sich gleich veränderndes Bild, welches von Personen geprägt sein würde, seien es vertraute Gesichter oder neue Begegnungen. Der durch die Eisenbahn ermöglichte Ortswechsel würde sie in Kürze zu einer gänzlich anderen Umgebung verhelfen, auf die sie wiederum reagieren müssten.

Sissel Bjørneboe hielt Ausschau nach dem drittletzten Wagen. Øyvind hatte ihr per SMS mitgeteilt, in welchem Zugteil er sich befinde. Als der Zug zum Stehen kam, musste Sissel noch ein Stück dem besagten Wagen entgegengehen. Hinter einer jungen Familie mit Kindern, allesamt mit farbenfrohen Rucksäcken ausgestattet, betrat Øyvind Løvland den Bahnsteig von Haugastøl. Seinen Rollkoffer zog er hinter sich her, stellte ihn aber bald ab und breitete seine Arme aus. Mit einer herzlichen Umarmung begrüßte der ehemalige Hauptkommissar seine Freundin.

„Schön, dass du da bist!“, sagte die Journalistin. „Mein Zug aus Bergen war einigermaßen pünktlich.“

„Wie war das Wetter dort?“

„Was glaubst du? Mein Schirm ist jetzt noch nass!“

„Die Fahrt durch das Hallingdal war traumhaft. Ich glaube, die nächsten Tage bleiben so schön auf dem Fjell. Wir sollten also einiges unternehmen können.“

„Da vorne steht ein kleiner Anhänger, wo wir unser Gepäck draufstellen können. Den bringt anschließend jemand zu unserer Unterkunft. Wir laufen doch, oder?“

„Auf jeden Fall, nach der langen Fahrt wird uns das guttun. Ist ja nur ein Kilometer.“

Im Appartementhaus, welches von der örtlichen Tourismusinformation betrieben wird, begrüßte sie Emil Baardson, der für die Vermietung verantwortlich war.

„Herzlich willkommen in Haugastøl. Ich bin Emil und wünsche euch einen schönen Aufenthalt auf der Hardangervidda.“

„Øyvind! Vielen Dank.“

Nach den Formalitäten bekam Øyvind den Schlüssel für das Appartement ausgehändigt. Emil zeigte auf den Speiseraum, wo die bestellten Mahlzeiten eingenommen werden.

„Wenn es euch recht ist, treffen wir uns in einer halben Stunde bei den Fahrrädern. Dann kann Sverre, unser Praktikant, sie für euch passend einstellen. So habt ihr für die gesamte Woche euer Mountainbike. Ihr findet es also immer im Schuppen bei Sverre. Übrigens, ihr habt schon gesehen, wir haben noch eine Gruppe aus Stavanger im Haus, die Marketingabteilung eines Herstellers von Präzisionsoptik“, sagte Emil Baardson. Sie will bei uns ihre Corporate Identity verbessern.“ Bei diesem Satz wurde Emils Gesicht von einem dezenten Grinsen überzogen. „Ihr werdet euch sicher noch bekanntmachen.“

Sissel und Øyvind bedankten sich bei Emil und begaben sich zum Aufzug. In der Sitzgruppe neben dem Eingang nahmen sie die Gruppe wahr, die angeregt über einer großen topographischen Karte fachsimpelte.

Als die beiden ihr Appartement betraten, ließen sie sich unisono zu einem ‚Oh wie schön‘ hinreißen: Vor dem großen Fenster hatten sie einen spektakulären Blick auf den Sløddfjorden. Begeistert packten sie aus und zogen sich um.

Anschließend gingen sie zum Parkplatz vor dem Gebäude, wo eine beachtliche Menge blauer Mountainbikes aufgereiht war. Emil empfing die beiden. Hinter ihm stand Sverre, der gerade einen Schlauch wechselte. Emil hatte Øyvind erzählt, dass Sverre das Asperger-Syndrom hatte, also unter einer Form von Autismus litt. Eine landesweit agierende Stiftung hatte es sich zu ihrem Ziel gemacht, jungen Leuten wie Sverre Arbeitsplätze zu vermitteln, damit sie ein möglichst eigenständiges Leben führen konnten. Emil hatte ihn in den höchsten Tönen gelobt.

„Einen besseren Praktikanten hätten wir uns nicht wünschen können: Ein wortkarger, eigensinniger junger Mann, der fast seine ganze Zeit in der Werkstatt zubringt und dort sogar eine Schlafpritsche hat. Sverre hält den Laden in vorbildlicher Ordnung.“

Dieser Sverre stellte nach einer kurzen Probefahrt der beiden Gäste Sattelhöhe und Lenker individuell ein und checkte die Bremsen. Zwei Zettel mit ihren Namen befestigte er an der Sattelstütze. Zudem notierte er die Nummern der Räder, die Namen der Entleiher sowie die Zeit der Herausgabe in einer dicken Kladde. Beeindruckt, aber auch sehr diskret, schaute der Kommissar dem jungen Mann eine Weile zu.

Als man nach dem Abendessen noch eine Weile sitzen blieb, stellte sich einer der Männer der Gruppe, der Øyvind bereits bei der Ankunft als der Wortführer aufgefallen war, als Sondre Skjeggestad vor.

„Und dies ist quasi meine Abteilung, die sich mittels Coachings runderneuern will. So eine Art Frischzellenkur, damit man nicht einrostet. Wir müssen uns ständig auf neue Wege begeben oder analysieren, ob die eingeschlagenen noch die richtigen sind.“

Die Gruppe bestehend aus vier Männern und drei Frauen, allesamt geschätzt um die Vierzig, stellte sich ebenfalls mit Vornamen vor. Øyvind entging nicht, dass die Teilnehmer die Euphorie ihres Abteilungsleiters keineswegs zu teilen schienen.

Eine der Damen, Malin, schien Sissel zu kennen. Sie betonte, sie habe mehrere Artikel zu kulturellen Reisen von ihr gelesen.

„Und ihr wollt euch hier oben im Fjell mit innovativen Ideen und neuem Esprit ausstatten?“

Øyvind konnte es nicht lassen. Malin und Hedda, ihre Nachbarin, verdrehten die Augen.

Flüsternd wandten sie sich Øyvind zu: „Chef befiehlt, Firma bezahlt. Wir gehorchen.“

„Wie überall“, dachte Øyvind. Er hatte so seine Erfahrungen mit verordneter Gruppendynamik machen müssen.

Sondre Skjeggestad betrat den Raum, wedelte mit einem Schlüssel und rief in, wie Øyvind fand, deutlichem Befehlston: „Wir gehen in unseren Gruppenraum für eine erste Sitzung!“ Sein Grüppchen erhob sich etwas widerwillig und folgte seinem Anführer.

Nach etwa einer Stunde unternahmen die Teilnehmer individuelle Spaziergänge am Fjord oder testeten ihre Mountainbikes für eine kurze Fahrt zwischen der Unterkunft und dem Ort Haugastøl.

Sissel und Øyvind hatten sich ebenfalls zu Fuß auf den Weg gemacht und ein beschauliches Plätzchen am Wasser gefunden. Gegen 23: 00 Uhr waren sie wieder am Haus und zogen sich auf ihr Appartement zurück.

Kurz nach Mitternacht, Sissel war bereits eingeschlafen, klopfte jemand heftig an ihre Tür. Øyvind taumelte im Halbschlaf zur Tür.

„Wer ist da?“

„Emil. Emil Baardson. Ich bitte um Entschuldigung, Øyvind, kann ich Sie sprechen? Es tut mir wirklich leid, aber es ist dringend.“

Løvland zog sich etwas über und öffnete die Tür. Vor ihm stand ein aufgelöster Emil Baardson.

„Verzeihen Sie, Sie sind doch der ehemalige Kriminalkommissar aus Oslo, nicht wahr?“

Øyvind zuckte zusammen. Er konnte sich nicht erinnern, weder bei der Buchung noch beim Check-in seine Berufsbezeichnung angegeben zu haben. Woher konnte der Leiter dieser Unterkunft wissen, dass er einmal Polizeibeamter gewesen war?

Emil Baardson bemerkte Løvlands Überraschung und schob eine Erklärung nach:

„Ich kenne Sie aus meiner Zeit in Oslo. Ich habe dort in einem Hotel gearbeitet. Aus diversen Pressekonferenzen, die im Fernsehen gezeigt wurden, war mir Ihr Name bekannt. Und heute beim Check-in habe ich Sie wiedererkannt.“

„Und ich habe gedacht, man habe mich mittlerweile vergessen nach den Jahren. Was kann ich denn zu dieser späten Stunde noch für Sie tun, Emil?“

„Können Sie mitkommen? Wir haben da ein Problem. Genauer gesagt, eine Leiche.“

„Oh nein!“, ertönte es aus dem Bett. Sissel war durch das Klopfen und den Wortwechsel wach geworden und musste das Wort Leiche gehört haben.

„Wo?“, fragte Løvland.

„An der Eisenbahn, nicht weit von hier, fünf Minuten zu Fuß.“

„Sissel, meine Liebe, ich muss noch mal kurz weg.“

Øyvind verließ mit Emil Baardson das Appartementhaus.

„Wir müssen die Fjellberglie hinauf bis zur Bahnunterführung.“

Sie mussten zuerst den Haugastølvegen, die Reichsstraße 7, überqueren. Über einen leicht ansteigenden, befestigten Weg ging es bergauf, bis eine Brücke einen Einschnitt der Bergensbane überquerte. Øyvind sah die Menschenmenge, die sich unterhalb an einer Böschung gebildet hatte. Beim Absteigen erkannte er, dass es sich dabei mehrheitlich um Mitglieder der Tagungsgruppe aus Stavanger handelte.

„Notarztwagen und Polizei habe ich bereits verständigt“, ergänzte Emil.

„Woher kommt die Polizei?“, fragte Øyvind.

„Aus Geilo, das sind etwa 24 Kilometer. Die müssten bald hier sein.“

Øyvind sah, dass die Gruppe konsterniert auf den toten Körper starrte und die Köpfe schüttelte. Der geübte Blick des ehemaligen Ermittlers scannte die Gruppe und erkannte schnell, dass eine Person fehlte: deren Leiter, Sondre Skjeggestad. Zur Sicherheit fragte er Emil. Der bestätigte, dass Skjeggestad tot an der Böschung der Bergensbane lag.

„Bitte halten Sie sich alle vom Tatort und dem Opfer fern! Hier muss die Spurensicherung ran!“, ordnete Øyvind an. Sofort befand er sich im Polizistenmodus. Mit seiner neuen Kamera, die er sich noch schnell geschnappt hatte, fotografierte er den Toten sowie Fundort und Umgebung aus möglichst vielen Perspektiven. Falls nötig, würde er der Kriminalpolizei die Speicherkarte zur Verfügung stellen.

„Apropos: Die Kriminalpolizei, Abteilung Gewaltverbrechen, kommt gewiss nicht aus Geilo, vermute ich mal“, sagte der pensionierte Kommissar.

„Nein, aus Bergen“, antwortete Emil. „Gewaltverbrechen? Meinen Sie denn, Sondre ist ermordet worden?“, fragte Elias Landvik.

„Auf den ersten Blick könnte man jedenfalls den Eindruck haben: das Loch in der Brust, das viele Blut. Aber das werden die Forensiker penibel untersuchen. Also nochmal: Nichts anrühren! Wer hat ihn eigentlich gefunden?“

„Zwei Teenager drängten sich durch die Reihen der Umstehenden.

„Ich war das, Viljar Kjelland. Mit meiner Freundin, Annelise Kølle. Wir kamen auf einem Spaziergang hier vorbei.“

„Haben Sie den Toten angefasst?“

„Wo denken Sie hin? Uns steckt der Schreck jetzt noch in den Gliedern!“, erwiderte Viljar. „Ich habe nur überprüft, ob er noch atmet. Dem konnte aber keiner mehr helfen.“

„Was könnte Sondre Skjeggestad mitten in der Nacht hier an der Bahnstrecke gemacht haben?“, fragte Øyvind in die Runde der Gruppe aus Stavanger, deren Gesichter eine merkwürdige Kombination von Müdigkeit wegen entgangener Nachtruhe sowie blankem Entsetzen zeigten.

„Sondre ist ein leidenschaftlicher Fotograf. Unsere Firma befasst sich mit der Entwicklung und Herstellung hochwertiger Optik, müssen Sie wissen“, erklärte Elias Landvik.

„Aber mitten in der Nacht? Es ist zwar nicht richtig dunkel zu dieser Jahreszeit, aber was könnte er fotografiert haben?“, fragte Øyvind Løvland.

Aus der hinteren Reihe trat Eldar Næss hervor.

„Ich weiß, dass Sondre gerne Aufnahmen in problematischen Lichtverhältnissen gemacht hat. Ich denke, er hatte die Absicht, Züge in der Nacht zu fotografieren.“

„Ja fährt hier denn noch nachts überhaupt ein Zug vorbei?“

„Ich interessiere mich ebenfalls für Eisenbahnen und speziell für die Bergensbane. Um kurz vor 2: 00 Uhr kommt der Nachtzug nach Oslo hier vorbei. Der Fahrplan ist mir präsent.“

„Hat Herr Skjeggestad sich bei Ihnen abgemeldet für seinen Fotospaziergang?“

„Nein, wir saßen noch lange in unserem Tagungsraum zusammen, bis sich nach und nach die Gruppe zu Bett begab oder noch mal kurz vor die Tür ging.

„Wer war zuletzt noch mit ihm zusammen?“

Øyvind registrierte, dass er sich bereits im Verhörmodus befand. Gut, dass Sissel jetzt nicht dabei war.

„Also, ich habe ihn noch gesehen, als er mit Fotoausrüstung das Haus verließ“, sagte Nicolai Årud. „Anschließend bin ich noch duschen gegangen und dann ins Bett.“

„Haben Sie noch etwas mitgekriegt?“

Øyvinds Frage richtete sich an die Damen der Gruppe. Sie sagten übereinstimmend aus, dass sie mehr oder weniger zur gleichen Zeit, also gegen 1: 30 Uhr, in ihrem gemeinsamen Appartement waren. Zuletzt sei Malin ins Bett gekommen.

In diesem Moment sah man aus der Richtung des Bahnhofes Haugastøl zwei Wagen mit Blaulicht und Sirene heranrasen. Sie fuhren die Bucht am Sløddfjorden entlang und hielten auf den Fjellberglie