Offene Zeitfenster - Uli Hoffmann - E-Book

Offene Zeitfenster E-Book

Uli Hoffmann

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Beschreibung

Neue Fälle für den ehemaligen Osloer Kommissar Øyvind Løvland, der sich mit seiner Erfahrung und seinem Spürsinn in die Ermittlungsarbeit einbringt. Spannende Erzählungen an berühmten Schauplätzen von Oslo und Bergen.

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Seitenzahl: 215

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Für Florian

Uli Hoffmann

Offene Zeitfenster

Norwegenkrimis

© 2021 Uli Hoffmann

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Umschlagfoto: Adobe Stock

ISBN

978-3-347-28698-6 (Paperback)

978-3-347-28699-3 (Hardcover)

978-3-347-28700-6 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Das gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Polarlichter

Literaturkenntnisse

Wintereinbruch

Fjordpassage

Die Festung

Die Frau vom Ekeberg

Gipfelpfad

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Polarlichter

1

Die beiden Menschen, die an dem milden Herbstabend Hand in Hand von Aker Brygge kommend noch eine Runde über den Skulpturenpark am Astrup Fearnley Museum einlegten, standen noch unter dem Eindruck des schönen Opernabends, den sie kurz vorher in neuen Operahuset verbracht hatten. Sie waren den ganzen Weg zu Fuß gegangen und stellten jetzt mit Belustigung fest, dass sie in ihrer eleganten Abendgarderobe unter den am Fjord Flanierenden ganz schon overdressed wirken mussten. Sie sogen die Luft, die vom Wasser herüberwehte, genießerisch auf und schauten auf die der Navigation des regen Schiffsverkehres dienenden Lichter bis hinüber zu den Fjordinseln. Sie bewunderten die noch schemenhaften Skulpturen vor dem Astrup Fearnley Museum. An der Badestelle vorbei schlenderten sie zur Tjuvholmen allé. Dort würden sie gleich die Wohnung des Mannes betreten, wo eine gut gekühlte Flasche Burgunder darauf wartete, geöffnet zu werden und die beiden bei der Nachbesprechung der Opernaufführung zu begleiten.

Hätte die beiden sich ein wenig mehr Zeit genommen, hätten sie auf der gegenüberliegenden Halbinsel Bygdøy das Spektakel von zahlreichen rotierenden Blaulichtern bemerkt.

Auf der anderen Seite des Fjordes waren die Hauptkommissarin Kjersti Fogersen, Leiterin der Abteilung Gewaltverbrechen bei der Osloer Polizei, und ihr Assistent Anders Nygard damit beschäftigt, den Tatort zu inspizieren. Gleichzeitig bemühten sich Rettungssanitäter und Notarzt um die leblose Person, die auf dem Sockel des Denkmals zu Ehren der norwegischen Polarforscher um Roald Amundsen am Fram-Museum lag. Die Halbinsel Bygdøy beherbergte mehrere Museen wie neben dem Fram-Museum das Kon-Tiki-Museum, das Vikingerschiffmuseum und das Norsk Folkemuseum.

Der Tatort bzw. Fundort befand sich auf dem Podest des Denkmals, welches Polizeibeamte bereits mittels Flatterband abgesperrt hatten. Um diese Zeit herrschte hier am Fjord zwar kein reger Betrieb mehr, aber vereinzelte Spaziergänger waren durch Martinshörner und Blaulicht bereits angelockt worden. Anders Nygard war es gelungen, ein Fahrzeug der Feuerwehr mit einer starken Lampe hierherzubeordern. Im grellen Lichtschein erkannten die Beamten und die Rettungskräfte die Blutspur, die sich von links über die Granitplatten des Sockels bis zur Position des Toten zogen, der von der Mitte des Denkmals bis hin zur zweiten Statue von rechts mit dem Gesicht nach unten lag.

Nachdem ihn der Notarzt in Augenschein genommen hatte, drehte er sich zu den Umstehenden um und schüttelte den Kopf.

„Der Mann ist noch nicht lange tot, höchstens eine Stunde“, sagte er zu Kjersti und Anders.

„Zwei Schusswunden im Brustbereich.“

„Der Tote heißt Johan Bergerud, 55 Jahre alt, wohnhaft hier auf Bygdøy“, hielt Anders fest. „Hatte alles dabei, Geld, Handy. Raubmord können wir also ausschließen.“

„Wer hat ihn gefunden?“

„Ein älterer Mann, der mit seinem Hund unterwegs war. Dessen Notruf wurde vor gut einer halben Stunde abgesetzt. Er wartet dort, Kjersti.“

Ein ergrauter Mann, den Kjersti auf knapp siebzig schätzte, blickte ihr entgegen, als sie auf ihn zuging.

„Guten Abend, mein Kollege sagte, Sie hätten den Toten gefunden, Herr … “

„Bjarne Sørnes. Ja, ich gehe meistens um diese Zeit noch eine Runde mit meinem Hund. Und da habe ich Herrn Bergerud hier gefunden.“

„Woher wollen Sie wissen, dass der Tote Bergerud heißt?“, fragte Kjersti überrascht.

„Dorthinten steht sein Auto, auf dem Parkplatz vor dem Museum. Außerdem habe ich ihn erkannt, wir wohnen nur zwei Straßen auseinander.“

„Ist Ihnen noch jemand begegnet hier?“

„Nein, bis auf ein Liebespaar, das sich aber offensichtlich gestört fühlte und sofort das Weite suchte. Ja, und ein Auto, das mir im Bygdøynesveien kurz zuvor entgegenkam.“

„Könnten Sie das Auto beschreiben, Herr Sørnes?“, fragte Anders.

„Groß, dunkel, so eins von diesen modernen Autos, die man wohl SUV nennt.“

„Den Fahrer haben Sie sicher nicht erkannt?“

„Leider nicht, es war ja dunkel.“

„Vielen Dank, Herr Sørnes, das wäre es für‘s Erste.“

Kjersti und Anders gingen zurück zum Denkmal und begrüßten Metta Aavik, die Gerichtsärztin.

„Tut mir leid, Metta, dass wir dich am Samstagabend behelligen müssen.“

„Kein Problem, ich hatte einen schönen Abend in der Oper und wollte gerade ins Bett.“

„Was gab es denn?“

„La Traviata.“

„Wie schön!“

„Und weißt du, wen ich dort gesehen habe?

Øyvind Løvland und Sissel Bjørneboe!“

2

Anders steuerte den BMW in den Dronninghavnveien auf Bygdøy. Die beiden Kommissare gingen auf das Haus der Familie Bergerud zu und klingelten an der Tür.

Eine aufgelöste Frau, die von einer weiteren untergehakt worden war, machte ihnen auf.

„Synne Bergerud, ich weiß schon Bescheid. Das ist Mariann Helgeland, meine Freundin. Sie steht mir bei.“

Sie ließ die Beamten herein und bot ihnen zwei Plätze im Wohnzimmer an.

„Unser aufrichtiges Beileid, Frau Bergerud. Es ist gewiss nicht der Zeitpunkt, um eine Befragung durchzuführen. Aber sind Sie in der Lage, uns ein, zwei Fragen zu beantworten?“

„Geht schon, fragen Sie!“

„Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?“

„Heute Abend gegen 22: 00 Uhr“, antwortete sie stockend. „Er hatte bis dahin in seinem Büro hier gearbeitet und sagte, er müsse noch einmal kurz weg.“ Synne bekam erneut einen Weinkrampf, Mariann reichte ihr ein Taschentuch.

„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, war etwas ungewöhnlich?“

„Nein, das kam häufiger vor, dass Johan abends nochmals wegmusste, auch an Wochenenden.“

„Was machte Ihr Mann beruflich?“

Kjersti fragte dies, obwohl sie ein kleines Firmenschild neben der Haustür gesehen hatte.

„Johan war Teilhaber einer Firma, die Gruppenreisen, speziell Expeditionen in arktische und antarktische Regionen anbietet.“

„Sie sagten ‚Teilhaber‘. Wer sind die anderen?“

„Ich gebe Ihnen die Visitenkarten der Kompagnons. Ich glaube, ich kriege die Adressen jetzt nicht mehr zusammen.“

„Das ist verständlich, Frau Bergerud, wir lassen Sie jetzt auch in Ruhe. Haben Sie vielen Dank, dass wir mit Ihnen reden durften. Können wir noch etwas für Sie tun?“

„Nein, vielen Dank! Mariann bleibt bei mir, und gleich kommt unser Sohn.“

Die beiden Polizisten fuhren zurück zum Fram-Museum.

3

Anders hielt auf der rückwärtigen Seite des Museums und die beiden gingen auf das Auto zu, das ein Streifenpolizist bewacht hatte. Auf der Vordertür konnten sie im Schein der Straßenlampe ein symbolisiertes Schiff und den Schriftzug erkennen:

‚Antarctica-Ekspedisjoner‘J. Bergerud og partner

Der Wagen war verschlossen und Anders rief einen der Kriminaltechniker herbei. „Die Schlüssel haben wir in der Hosentasche des Opfers gefunden, ansonsten hätte ich die Tür auch hiermit schnell aufgekriegt!“, war sich der Kollege sicher, der stolz sein Werkzeugtäschchen hochhielt.

„Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung. Aber hier müsst ihr ran!“, sagte sie dem Kriminaltechniker und überließ ihm das Fahrzeug.

Als sie zum Denkmal auf der Fjordseite kamen, war der Tote bereits abtransportiert. Auch Metta war weg und würde die Nacht auf den Sonntag wahrscheinlich in einem Sektionsraum der Gerichtsmedizin verbringen. Vielleicht könnte sie sich damit trösten, dass sie noch die eingängigen Melodien von La Traviata im Ohr hatte.

4

Am nächsten Morgen saßen die Kommissare mit Ragnhild Eikemo, ihres Zeichens Politistasjonschef und Leiterin der Ermittlungsabteilung und Erland Hegge, dem Polizeijuristen, im Besprechungsraum des Präsidiums zusammen.

Kjersti trug das Wesentliche im Mordfall Bergerud vor. Anders bestückte die Wand mit Fotos und Namenskärtchen.

„Ein kaltblütiger Mord, zwei Schüsse in die Brust aus kurzer Entfernung“, rekapitulierte Ragnhild.

„Und ein bizarrer Fundort auf Bygdøy. Der Tote wurde praktisch den fünf Polarforschern zu Füßen gelegt“, ergänzte Anders.

„Bergerud hatte gestern Abend nach Aussage seiner Frau noch eine Verabredung, offenbar mit seinem Mörder“, sagte Kjersti.

„Fundort ist auch Tatort?“, fragte Ragnhild.

„Richtig, die Patronenhülsen haben die Kriminaltechniker am Denkmal gefunden, 9 mm. Bezüglich der Waffe kriegen wir noch Bescheid.“

„Wie wollt ihr vorgehen?“, fragte Erland Hegge.

„Die beiden Kompagnons von Bergerud werden wir gleich aufsuchen und heute Nachmittag werden wir den erweiterten Tatort am Fram-Museum noch einmal aufsuchen und Anwohner befragen“, antwortete die Kommissarin.

„Ist das nicht merkwürdig: Da wird ein Veranstalter von Expeditionen in die Antarktis am Denkmal für die Polarforscher um Roald Amundsen gefunden“, bemerkte Ragnhild.

„Das beschäftigt mich auch schon die ganze Zeit.“ Kjersti grübelte.

„Eventuell müssen wir auch die Leitung des Museums befragen. Ich fürchte, meine Schulkenntnisse in Sachen Amundsen sind ein wenig eingerostet. Ich muss mich dringend im kulturellen Erbe der norwegischen Seefahrt und Polarforschung fortbilden, fürchte ich.“

Als Kjersti dies aussprach, fiel ihr ein, dass sie ohnehin heute noch ein wichtiges privates Telefonat zu führen gedachte.

Als das Briefing beendet war, machte sie sich mit Anders Nygard auf nach Frogner. Bergeruds Firma lag im fünften Stock eines der moderneren Blocks in der Huitfelds gate. Am Empfangstresen wies eine Angestellte ihnen den Weg in Richtung der Geschäftsführerbüros.

Esben Onstad begrüßte die Kommissare als Mitinhaber der Firma. Kjesti schätzte ihn auf Mitte vierzig. An der Wand befand sich eine formatfüllende Seekarte des gesamten antarktischen Archipels. Kjersti und Anders nahmen auf der Couch Platz und lehnten beide Onstads Getränkeangebot dankend ab. Bergeruds Kompagnon machte einen übernächtigten Eindruck.

„Furchtbar, ganz furchtbar! Besonders für Synne und Erling. Ich war heute Nacht noch bei den beiden. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Wir würden gerne Näheres erfahren über Ihre gemeinsame Firma. Sie bieten vornehmlich Reisen in die Antarktis an?“, fragte die Kommissarin.

„Reisen klingt ein wenig profan, gewöhnlich. Wir bieten neben Kreuzfahrten individuell ausgearbeitete Expeditionen in die Polarregion an, inklusive Hundeschlittentouren bis zum Südpol.“

„Also eine Art Reisebüro?“

„Ich bitte Sie! Wir bewerben nicht die Reisen, die man an jeder Ecke bekommen kann. Unsere Kundschaft hat exklusive Ansprüche.“

„Herr Bergerud hatte gestern Abend noch eine Verabredung, wie seine Frau uns sagte. Können Sie sich vorstellen, mit wem?“

„Tut mir leid. Ungewöhnliche Zeit! Mit einem Geschäftskunden bestimmt nicht. Sehen Sie, wir drei arbeiten hart in und für die Firma, aber unser Privatleben ist uns heilig.“

„Eine Routinefrage: Wo waren Sie gestern Abend zwischen 22 und 23 Uhr?“

„In der Oper. Es gab La Traviata.“

„Kjersti nickte, als wollte sie sagen ‚Das weiß ich schon‘. Sie dachte: ‚Halb Oslo geht in die Oper und was mache ich?‘

„Herr Onstad, können Sie sich vorstellen, wer Ihrem Kompagnon das angetan haben könnte?“

„Nein, absolut nicht. Johan war in der Firma und bei unseren Kunden beliebt.“

„Vielen Dank für Ihre Auskünfte, Herr Onstad. Wo finden wir Ihren Kollegen, Herrn Bruland?“

„Schräg gegenüber!“

Kjersti klopfte an und vernahm ein forsches „Herein!“. Von seinem Schreibtischstuhl erhob sich ein im Vergleich mit Onstad eher salopp gekleideter Mann Anfang vierzig, der einen dunklen Bart trug, und ging den Polizisten entgegen.

„Amund Bruland“, stellte er sich vor. „Was kann ich für Sie tun?“

„Wir kommen wegen des Mordes an Ihrem Kompagnon, Herrn Bergerud.“

„Schlimm. Wir hatten erwogen, die Firma heute zuzumachen, aber die Geschäfte müssen weitergehen. Das ist sicher auch in Johans Sinn.“

„Wie haben wir uns Ihr Unternehmen vorzustellen? Haben Sie sich die Aufgaben geteilt oder arbeiteten Sie alle an gemeinsamen Aufgaben?“

„Ich arbeite an den touristischen Konzepten, Esben ist für die Finanzen zuständig und Johan war für die strategische Aufstellung der Firma verantwortlich.“

„War in den letzten Tagen etwas auffällig? Hatte Herr Bergerud Ärger mit jemandem?“

„Nichts, von dem ich hätte wissen können. Allerdings … Eine Umweltorganisation machte uns in den vergangenen Monaten Ärger. Johan musste sich mit denen auseinandersetzen. Im Fernsehen lief eine Talkshow, in der Johan mit den Aktivisten diskutierte. Falls die überhaupt an einer Diskussion interessiert sind.“

„Worum geht es der Organisation?“

„Sie ist der Ansicht, dass der Kreuzfahrt- und Expeditionstourismus, den wir anbieten, dem Ökosystem Antarktis Schaden zufügt. Dabei sind unsere Standards sehr hoch, vor allem was Umweltschonung und Nachhaltigkeit angeht. Auf jeden Fall haben die Leute Johan ganz schön zugesetzt.“

„Hat ihm jemand gedroht?“

„Nicht direkt, aber Sie wissen ja, wie aggressiv manche der Aktivisten auftreten: Einmal haben die in Johans Vorgarten Müll abgeladen und ein Transparent aufgestellt.“

„Können Sie uns etwas über dessen Wortlaut sagen?“

„So ähnlich wie ‚Bergerud verdient am Ausverkauf der Antarktis‘.“

„Der Leichnam von Johan Bergerud wurde am Denkmal für die Polarforscher auf Bygdøy gefunden. Sehen Sie einen Zusammenhang mit den Protesten der Organisation?“

„Der ist ja wohl offensichtlich!“

„Herr Bruland, wir müssen Sie das fragen: Wo waren Sie gestern zwischen 22 und 23 Uhr?“

„Ich habe zuerst mit einem Bekannten in einer Bar in Grünerløkka ein Bier getrunken, ab 22 Uhr war ich zu Hause in Frogner.“

„Das kann ihr Bekannter sicher bestätigen. Können Sie uns Namen und Adresse geben?“

„Sicherlich. Hier bitte!“, sagte Bruland und reichte den Kommissaren einen Zettel.

„Herr Bruland, wir bedanken uns für die Auskünfte“, sagte Kjersti. „Danke, wir finden hinaus.“

„Ich denke, dieser Umweltorganisation sollten wir einmal näher auf den Zahn fühlen“, schlug Anders vor.

„Kümmere du dich bitte darum! Ich muss ein wichtiges Telefonat führen.

Als die beiden im Präsidium waren, zogen sie sich in ihre Büros zurück.

Als Kjerstis Gesprächspartner abnahm, sagte sie in ironischem Ton:

„Sag mal, ich muss mich beschweren: Sissel ist bei dir und ihr nehmt mich nicht mit in die Oper!“

„Woher weißt du …?“

„Solide Polizeiarbeit, Øyvind. Sei gegrüßt.“

„Hei Kjersti, das freut mich aber, dass du dich wieder einmal bei mir meldest. Alles im Lot?“

„So weit ja.“

„Was war denn gestern Abend auf Bygdøy los?“

„Viel Arbeit: ein Mord zur besten Opernzeit!“

„Ein Reiseveranstalter, wie ich gehört habe. Spuren?“

„Noch nichts Konkretes. Uns beschäftigt noch der Fundort. Das Denkmal für Amundsen & Co. am Fram-Museum.“

„Also ein Zusammenhang mit Antarctica-Ekspedisjoner?“

„Naheliegend. Aber noch gibt es viele ungeklärte Fragen.“

„Also, ich will mich nicht aufdrängen, aber ich hätte Zeit, Sissel auch.“

„Bestelle ihr einen lieben Gruß! Und danke für das Angebot, ich melde mich.“

Kjersti legte auf und googelte die von Bruland angesprochene Umweltorganisation Antarctic Sentinels.

5

Als Anders Nygard wieder in Kjerstis Büro kam, bemerkte er die zusätzlichen Zettel auf der Pinnwand, die seine Chefin angeheftet hatte.

„Ich sehe, du bist ebenfalls weiterkommen. ‚Antarctic Sentinels‘ macht schon länger von sich reden. Die Organisation scheint gut organisiert und verstärkt ihren Einfluss auf Verbraucher, Wirtschaft und Politik. Sie kommt immer wieder in die Schlagzeilen wegen spektakulärer Aktionen in unseren Häfen und in Übersee. Neulich hinderte sie über mehrere Stunden ein Kreuzfahrtschiff am Auslaufen in Richtung Antarktis. Ihr Chefsprecher ist ein gewisser Viggo Grimstad. Ich habe schon für morgen Vormittag einen Termin mit ihm vereinbart.“

„Anders, du bist ein Schatz!“, sagte Kjersti, woraufhin der Angesprochene rot wurde.

„Ich habe übrigens Mettas Bericht gelesen: Bergerud wurde am Denkmal erschossen, sein Körper aber danach von der Fallposition noch einmal ein Stück wegbewegt.“

„Wer macht denn so etwas?“, fragte Anders.

„Keine Ahnung. Was wissen wir über die Tatwaffe, Anders?“

„Sehr verbreitete Pistole, ebenso das Kaliber. Typische Waffe für jemanden, der sich so etwas zum Selbstschutz besorgt. Wird auch von Sicherheitsfirmen verwendet. Ich fürchte nur, sie liegt jetzt in den Tiefen des Oslofjords.“

„Welchen Eindruck machten die beiden Kollegen Bergeruds auf dich?“

„Typen, die in ein solches Unternehmen passen. Onstad war ein wenig dröge, vielleicht wollte er uns nicht allzuviel sagen. Wir sollten gleich noch in der Oper Onstads Alibi checken und danach bei diesem Bekannten von Bruland vorbeischauen. Danach möchte ich nochmals bei der Witwe vorbei.

In der Oper wurden sie auf den Abend vertröstet, wenn alle Damen vom Abenddienst anwesend sein würden. Diese könnten ihnen bestimmt weiterhelfen.

Also fuhren sie zunächst nach Uranienborg, wo der Bekannte Brulands wohnte. Er hatte im Haus ein Architektenbüro und öffnete den Kommissaren die Türe. Ihnen gegenüber stand ein Mann Anfang vierzig, der sich als Jonas Vennerød vorstellte. Er bestätigte, dass er bis circa 21: 30 Uhr mit Aamund Bruland im Chopin’s waren, einer Bar in Grünerløkka. Danach habe er ihn in dessen Wohnung in Frogner abgesetzt.

In einem Hochhaus hinter dem Regierungsviertel fanden sie anschließend das Hauptbüro der Antarctic Sentinels. Deren Geschäftsführer, Viggo Grimstad, referierte über die Tätigkeit der Organisation und drückte ihnen eine Broschüre in die Hand.

„Kannten Sie Johan Bergerud von Antarctica-Ekspedisjoner?“, fragte die Kommissarin.

Ein Lächeln ging über Grimstads Gesicht.

„Das darf man mit Fug und Recht behaupten. Bergeruds Unternehmen betreibt Raubbau an der Antarktis.“

„Könnten Sie dies näher erläutern?“

„Massentourismus und das sensible Ökosystem des ewigen Eises vertragen sich nicht. Und der will noch mehr zahlungskräftige Touristen dorthin verfrachten.“

„Wann hatten Sie zum letzten Mal persönlich Kontakt zu Bergerud?“

„Vor zwei Wochen bei einer Podiumsdiskussion.“

„Haben Sie ihm gedroht?“

„Nicht so, wie Sie meinen. Ich finde es schlimm, so zu enden wie er. Aber in der Sache habe ich ihn nicht geschont, nicht als Person, sondern weil er diesem Unternehmen vorsteht.“

„Wo waren Sie gestern zwischen 22 und 23 Uhr, Herr Grimstad?“

„Zu Hause an meinem Schreibtisch. Ich hatte noch einen Artikel für eine Wochenzeitung fertigzustellen.“

„Kann das jemand bestätigen?“

„Selbstverständlich. Meine Familie und die Mitabeiter, mit denen ich geskypt habe. Liste kann ich Ihnen geben.“

Kjersti und Anders bedankten sich und verließen die Zentrale von den Antarctic Sentinels.

Sie fuhren nach Bygdøy, hielten am Fram-Museum und betrachteten nochmals das Denkmal für die Polarforscher. Anders zeigte auf die mittlerweile nur für Geübte noch erkennbare blutige Schleifspur des Opfers.

„Der Täter erschießt Bergerud hier“, erklärte er. „Dann kommt der Täter noch einmal zurück, hebt den Toten an und zieht ihn fast zwei Meter weiter und legt ihn wieder ab. So etwas habe ich noch nie gehört!“

Als die beiden im Auto saßen, um im Dronninghavnveien Frau Bergerud einen weiteren Besuch abzustatten, fragte Kjersti

„Übrigens, Anders, das, was du vorhin gesagt hast, kann man auch anders deuten.“

„Was meinst du?“, fragte er verwirrt.

„Vielleicht ist nicht der Täter nochmals vorbeigekommen, sondern jemand anders hat den Toten bewegt.“

6

Im Hause Bergerud wurden die Kommissare von der Witwe empfangen, die sofort den jungen Mann vorstellte, der auf dem Sofa saß.

„Das ist Erling Bergerud, mein Sohn!“

Die Polizisten reichten ihm die Hand und kondolierten.

„Frau Bergerud, wir sind noch einmal gekommen, um Sie zu fragen, ob Ihnen die Organisation Antarctic Sentinels etwas sagt.“

„Allerdings. Diese Leute, allen voran dieser Grimstad, haben meinem Mann das Leben schwer gemacht. Neulich haben sie sogar unseren Vorgarten für eine Aktion missbraucht.“

„Hat die Organisation oder Herr Grimstad Sie oder Ihren Mann einmal bedroht?“, fragte Anders Nygard.

„Nicht direkt bedroht, nein.“

„Und Sie, Herr Bergerud?“, ergänzte Kjersti.

Erling wirkte abwesend und schien sich sammeln zu müssen.

„Mich hat niemand bedroht. Ich habe ja auch mit der Firma nichts zu tun, ich studiere noch.“

„Frau Bergerud, wer hat gestern Abend noch davon erfahren, dass sich Ihr Mann mit jemandem treffen wollte?“

„Niemand, mein Mann telefonierte und machte sich dann sofort fertig.“

„Herr Bergerud, auch Sie müssen wir fragen, wo Sie sich zur Tatzeit aufgehalten haben.“

„Ich war in einem Restaurant in Aker Brygge, bis Mariann mich anrief und mir mitteilte, was passiert war. Ich bin dort Stammkunde, dort können Sie ruhig fragen.“

„Werden wir tun, danke Ihnen beiden für die Zeit.“

Es war mittlerweile früher Abend, und die beiden starteten den zweiten Versuch in der Oper.

Anders zeigte der Angestellten, die am vergangenen Abend Dienst hatte, ein Foto von Esben Onstad.

„War dieser Herr gestern Abend hier?“

„Herr Onstad, oh ja, der hat ein Abonnement, daher erinnere ich mich an ihn.“

„Und Onstad blieb bis zum Ende der Vorstellung?“

„Schwer zu sagen. Aber ich frage mal meine Kollegin, die hatte Türdienst.“ Sie ging zu einer ebenfalls in einen schwarzen Hosenanzug gekleideten Kollegin. Als sie zurückkam, sagte sie: „Ungewöhnlich und sehr selten: Herr Onstad hat tatsächlich die Vorstellung vor dem letzten Akt verlassen und dies meiner Kollegin mit einer Magenverstimmung begründet.“

„Über welche Uhrzeit reden wir?“

„Kurz nach 21 Uhr, höchstens 21: 30 Uhr.“

„Haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe“, sagte Kjersti und verließ mit ihrem Kollegen das Osloer Opernhaus.

„Dumme Sache, wenn ein Alibi platzt!“, bemerkte Anders spöttisch.

„Genau! Dann auf nach Grønland, Herr Kollege!“

„Hast du eigentlich vorhin gesehen, wie Bergerud junior das Gesicht verzog, als das Gespräch auf die Antarctic Sentinels kam?“

„Ja, Anders. Ein seltsamer Typ. Dem schien der Tod des Vaters nicht besonders nahezugehen.“

In ihrem Büro im Osloer Polizeipräsidium hatte Erland Hegge zwischenzeitlich Kopien von Zeitungsausschnitten zusammengetragen und an die Pinnwand geheftet.

Die beiden Hinzugekommenen betrachteten konzentriert die Fotos.

„Das gibts ja nicht!“, rief Anders plötzlich.

„Schau dir mal das Foto vom letzten Kongress der Antarctic Sentinels an! Genau an! Fällt dir was auf?“

Kjersti brauchte eine Weile, bis sie realisiert hatte, was ihr Kollege meinte.

„Das ist ja der Hammer: Auf dem Podium inmitten des Vorstandes sitzt Erling Bergerud.“

7

Nach dem Morgenbriefing fuhr Kjersti mit ihrem Privatwagen nach Tjuvholmen. Øyvind Løvland und Sissel Bjørneboe hatten sie zu einem zweiten Frühstück eingeladen. Die drei begrüßten sich mit herzlichen Umarmungen.

„Schön, dass du wieder in der Hauptstadt bist, Sissel!“

„Ab und zu muss ich ja mal nach dem Rechten schauen, damit der Herr Pensionär nicht verlottert.“

Der Angesprochene winkte ab. „Sehen wir lieber einmal, was die aktive Kommissarin so auf der Agenda hat.“

Kjersti nahm an dem gedeckten Tisch Platz, den Sissel ansprechend gedeckt hatte. Der Duft von frischem Gebäck wehte Ihr entgegen und sie war froh, dass sie am frühen Morgen nur einmal in ein Brötchen gebissen hatte. Frischer Kaffee tat ein Übriges, in Kjersti so langsam die Lebensgeister zu wecken.

Während alle den Köstlichkeiten zusprachen, berichtete die Kommissarin in allen Einzelheiten vom Mordfall Bergerud.

„Merkwürdig, aber so sind Mordfälle am Anfang meistens“, kommentierte Øyvind das Gesagte.

„Wie war das noch einmal mit dem Alibi von Bruland?“, fragte er nach.

„Angeblich war er mit einem Bekannten in Grünerløkka in einer Bar, dem Chopin’s. Das müssen wir heute Mittag noch überprüfen.“

„Das Chopin’s, sagtest du?“

„Ja, klingelt da was bei dir, Øyvind?“

„Ich meine, mich zu erinnern, dass die Bar vor einigen Monaten ins Gerede kam. Böse Stimmen behaupteten, dort würden nicht nur Wein und Cocktails ausgeschenkt.“

„Mach’s nicht so spannend! Drogen? Prostitution?“

„Nein, Glücksspiel, Poker hauptsächlich, natürlich illegal und im Hinterzimmer.“

„Stark! Und konnten die Kollegen etwas nachweisen?“

„Nein, in flagranti haben die nie einen erwischt. Vielleicht ist es ja ganz gut, wenn ihr dort noch einmal herumstochert.“

„Das könnte heißen: Wenn unser Verdächtiger regelmäßig im Chopin’s verkehrte, hätte er eventuell ein Problem.“

„Spielsucht, Schulden, falscher Umgang?“

„Das volle Programm. Möglich, aber noch nachzuweisen.“

„Was hältst du von dem Problem mit der Umweltorganisation, Øyvind?“

„Ich weiß nur, wenn eine solche ein Unternehmen im Fadenkreuz hat, kann das Riesenstress verursachen. Der kann dann schon einmal zu abscheulichen Taten führen.“

8

An der Rådhusbrygge 3 erwarb Øyvind Løvland zwei Fährtickets nach Bygdøy und bestieg mit Sissel Bjørneboe das beigefarbene Boot, welches sie zur Museumshalbinsel bringen würde. Øyvind war zufrieden, dass er seiner Freundin damit einen Ausflug schenken konnte, während sein zweiter, oder gar sein hauptsächlicher, Beweggrund der Besuch des Tatortes am Amundsen-Denkmal war. Sissel hatte jedoch darauf bestanden, das Fram-Museum ebenfalls aufzusuchen. Die Journalistin war bei sämtlichen touristischen Unternehmungen stets auf der Suche nach kulturellen Themen.

Nach kurzer Fahrt machte das Boot am Anleger Bygdøynes fest und die beiden gingen zunächst ins Museum, wo auch Øyvind in seinem Element war, als er die Fram intensiv in Augenschein nehmen konnte. Vor der Kapitänskajüte, in der im Laufe der Zeit Fritjof Nansen, Otto Sverdrup und Roald Amundsen auf ihren jeweiligen Expeditionen untergebracht waren, verharrte Øyvind in fast ehrfürchtiger Haltung. Welch eine Herausforderung der 16 Mann starken Besatzung, auf dieser Nussschale von 39 Metern Länge durch die widrigen arktischen Gewässer zu fahren!

Sissel hatte wie immer bei Unternehmungen ihr Notizbuch herausgenommen und machte sich Notizen. Sie schien ständig auf er Suche nach Themen, die sie in ihre laufenden journalistischen Projekte integrieren könnte.

Øyvind bewunderte seine Partnerin. Sie strahlte eine Begeisterungsfähigkeit für kulturelle Inhalte aus, wirkte dabei nie akademisch, sondern brannte regelrecht für jedes Mosaiksteinchen, welches sie dann auch meist sofort schreibend umsetzte.

Beiden fiel es schwer, sich nach über einer Stunde von der Fram und dem Museum zu verabschieden. Sie gingen in Richtung Fjord und kamen am Denkmal für die Polarforscher vorbei, das zwei Tage zuvor zum Tatort eines Gewaltverbrechens geworden war.

Der pensionierte Kommissar betrachtete respektvoll die fünf Skulpturen aus Bronze.

„Roald Amundsen erkenne ich, aber weißt du, wer die anderen sind?“, fragte Øyvind.

„Aber sicher! Darf ich vorstellen: Ganz links Olav Bjaaland, dann Oscar Wisting und Roald Amundsen, Sverre Hassel und ganz rechts Helmer Hanssen.“

„Bravo, du bist ja gut informiert!“, sagte Øyvind anerkennend.

„Ich habe mich einfach vorher im Internet schlau gemacht“, antwortete Sissel und grinste.

„Wenn ich mich richtig an das Foto erinnere, das Kjersti mir gestern gezeigt hat, dann lag das Opfer ziemlich in der Mitte, nachdem es noch einmal ein Stück versetzt wurde.“

„Richtig, der Kopf lag vor Sverre“, bestätigte Sissel.

„Vor wem?“, fragte Øyvind.

„Sverre Hassel, der zweite Mann von rechts.“

„Aber warum hat der Täter oder jemand anders den Toten dorthin gezogen. Nur, um ein fast symmetrisches Bild zu erzeugen? ‚Mörder richtet sein Opfer aus ästhetischen Gründen neu aus‘?“ Øyvind wurde sarkastisch.

Sissel lachte. „Unsinn! Aber darüber müsst ihr Kriminalisten euch den Kopf zerbrechen.“

Der alte Kommissar holte seine Kamera hervor und fotografierte die fünf Männer aus allen möglichen Perspektiven.

„Dort hinten kommt das Boot vom Radhuskaja. Wir sollten zum Anleger gehen. Aufgrund des schönen Wetters warteten zahlreiche Touristen auf die Fähre.

Als sie am Astrup Fearnley Museum vorbeifuhren, sagte Sissel: „Da möchte ich unbedingt auch noch einmal hin!“

„Kulturtage in Oslo – Sissel Bjørneboe berichtet“, frotzelte ihr Begleiter.

„Wenn ich schon von Bergen hierherkomme.“

9

Im Polizeigebäude am Grønlandsleiret brüteten Kjersti Fogersen und Anders Nyland mit Erland Hegge vor der Pinnwand über den derzeitigen Ermittlungsstand.

„Nachdem sein Alibi geplatzt ist, ist Onstad unser Verdächtiger Nummer eins“, sagte Anders.

„Motiv? Warum sollte er den Mitinhaber des gemeinsamen Unternehmens, das offenbar floriert, um die Ecke bringen. Die drei haben doch alle ihr Kapital in die Firma gesteckt und ein Interesse daran, dass alles weiterläuft. Und das Aushaltenkönnen von Konflikten ist Grundvoraussetzung für die Gründung einer Kommanditgesellschaft.“

„Da könnte irgendetwas vorgefallen sein oder die beiden haben sich überworfen.“