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Øyvind Løvland ist Kriminalkommissar im Ruhestand. Doch anstatt seine freie Zeit jetzt zu genießen, gerät er in aktuelle Kriminalfälle und versucht, diese mit seiner Erfahrung und seinem Instinkt aufzuklären. Die Schauplätze sind markante Orte in Norwegen.
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Seitenzahl: 151
Veröffentlichungsjahr: 2020
Für Marianne
Uli Hoffmann
Ortstermin
Kriminalerzählungen
© 2020 Uli Hoffmann
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg Umschlagfoto: Adobe Stock
ISBN
978-3-347-06495-9 (Paperback)
978-3-347-06496-6 (Hardcover)
978-3-347-06497-3 (e-Book)
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Inhalt
Akershus
Wittgenstein
Troldhaugen
Die Handlung und alle handelnden Personen, mit Ausnahme der historischen, sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig. Die beschriebenen Orte sind jedoch real.
Akershus
1
Øyvind Løvland hielt auf die Bank zu, die ihm für seine Zwecke geeignet schien. Sie war frei von anderen zu dieser Zeit auf Akershus umherschlendernden Menschen und lag bereits in der noch wärmenden Abendsonne. Außerdem hatte er von der Anhöhe einen guten Blick auf das am Kai liegende Kreuzfahrtschiff, aus dessen geöffnetem Luk sich über eine kleine Rampe ein kontinuierlicher Strom von Touristen auf den Søndre Akershuskai ergoss. Stets wenn sich ihm die Möglichkeit bot, betrachtete er diese Art der Touristen, die einen Tagesausflug für den Besuch der Hauptstadt nutzen wollten. Obwohl für das Erkennen von Gesichtern sein Beobachtungsplatz zu weit entfernt lag, versuchte er sich auszumalen, mit welchen Beweggründen und Sehnsüchten diese Menschen sich an Bord eines Kreuzfahrtschiffes und auf die Reise nach Oslo begeben hatten. Landausflüge. Können diese sowohl der Stadt als auch dem Wunsch der Reisenden gerecht werden, in ein paar Stunden nachhaltige Eindrücke mitzunehmen? Er hatte vor Jahren seiner Frau versprochen: „Wenn ich pensioniert bin, machen wir eine Weltreise.“ Leider war es bei dem Versprechen geblieben, denn seine Frau war vor etwa einem Jahr gestorben, kurz nach seinem Eintritt in den Ruhestand. Das hatte ihn schwer getroffen. Ihre Pläne für den sogenannten letzten Lebensabschnitt hatten sich in Luft aufgelöst und ihn in eine heftige Krise gestürzt. Freunde und ehemalige Kollegen waren in größter Sorge, er könne sich total aufgeben und dem Alkohol verfallen. Eines Tages traf er eine Entscheidung, die die Wende zum Positiven hin bewirken sollte. Er verkaufte sein schmuckes Zweifamilienhaus oberhalb der Stadt. „Ich werde verrückt allein hier oben“, hatte er immer wieder geäußert. Mit Hilfe eines kompetenten Maklers gelang der Verkauf recht schnell und zu einem mehr als zufriedenstellenden Preis. Als Lottogewinn bezeichnete er die Tatsache, dass er nahezu zeitgleich eine Eigentumswohnung auf Tjuvholmen erwerben konnte. Die war zwar sündhaft teuer, aber dank Hausverkauf, Erbschaft seiner Frau und Ersparnissen nannte er jetzt eine kleine Wohnung in Traumlage unweit von Aker Brygge sein Eigen. Es war im Grunde genommen genau das, was ihm immer vorschwebte: in einem modernen, trendigen Viertel Oslos zu leben, wo er lebhaftes Treiben um sich herumhaben würde, dazu noch die Lage am Wasser. Sein Vater war Kapitän einer Hafenfähre gewesen, die den Liniendienst zu den Inseln im Fjord sicherstellte.
Schnell hatte er sich eingelebt, er genoss trotz des Schmerzes wegen des Todes seiner Frau die neuen Freiheiten, genug Geld zu haben, das zu tun, was ihm Freude machte. In seinem Freundeskreis konstatierte man schnell, wie gut ihm dieser Neubeginn tat. Er wirkte entspannter, hatte eine positivere Sicht auf die Dinge, selbst sein ironischer Humor war zurückgekehrt. „Ich werde auf meine alten Tage noch zum Genussmenschen. Wofür sollte ich mein Geld sparen?“ Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Sein Tageslauf hatte neue Fixpunkte bekommen: Zum Mittagessen ging er fast immer in das Fischrestaurant an Aker Brygge, wo er meist einen großen Teller Fischsuppe bestellte oder eine Portion Grönland-Garnelen zu sich nahm. Dazu gerne eine Flasche trockenen Burgunder. Wenn er auf seinen Spazierwegen an einem Café vorbeikam, gönnte er sich einen Tee und etwas Gebäck. Am frühen Abend kreuzte er regelmäßig im Bier-Palast Aker Brygge auf. „Happy Hour“ nannte er diesen Termin. Alles in allem dachte er, so könne es bleiben. Wann immer das Osloer Wetter es zuließ, war er unterwegs in den Straßen und Parks seiner Heimatstadt, die er wie kaum ein anderer kannte, besuchte die Plätze der Hauptstadt mit ihren zahlreichen Denkmälern. Auch hatte er endlich Zeit, das kulturelle Leben in Theatern und Museen ausgiebig zu genießen.
Während seiner aktiven Zeit im Polizeidienst hatte er für derlei Aktivitäten kaum Gelegenheit gefunden. Über dreißig Jahre stand er in Diensten der Osloer Polizei und war als Kommissar der Mordkommission mit allen dunklen Seiten der Hauptstadt konfrontiert. Bekannt für seinen Spürsinn, seine analytischen Fähigkeiten sowie die sturköpfige Beharrlichkeit hatte er sich im Großraum Oslo und darüber hinaus großes Ansehen erworben. Nach den dramatischen Anschlägen vom 22. Juli hatte er sich durch professionelle Besonnenheit hervorgetan. Seine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen sprachen stets in großer Hochachtung von ihm.
Der Septembertag kündigte sein beginnendes Ende durch die langsam am Horizont verschwindende Sonne an. Løvland erhob sich von der Bank und beschloss, in Richtung Radhusplassen zu gehen. Er hoffte, das er am Kai noch etwas Fisch für den Abend würde mitnehmen können. Ansonsten würde er nochmals im Fischrestaurant vorbeischauen, wo man mittlerweile immer einen kleinen Tisch für den Stammgast freihielt.
„Schade!“ Für Fisch vom Kutter war es zu spät. Er flanierte über Aker Brygge und stellte fest, dass sich die Reihen der Gäste in der Außengastronomie bereits gelichtet hatten, da der anbrechende Septemberabend mit seiner Kühle das Signal zum Aufsuchen der Innenbereiche gab. Er beschloss, nach Hause zu gehen und eventuell später noch einmal aufzubrechen. Die Freiheit hatte er ja, wie er zufrieden feststellte. Er schaute auf die Uhr am Kai. Es war kurz vor 18: 00 Uhr und mittlerweile dunkel.
In genau diesem Moment ging in etwa 2 km Luftlinie Entfernung im Osloer Polizeipräsidium der Notruf ein.
2
Kjersti Fogersen saß in ihrem Büro der Abteilung Gewaltverbrechen und schrieb Berichte. Sie hasste diesen Teil der polizeilichen Aufgaben, obwohl ihr zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn klar war, dass auch Schreibtischarbeit ihren Alltag bestimmen würde.
Sie hatte nicht lange überlegen müssen, als man ihr die Stelle in der Hauptstadt angeboten hatte. Der Dienst in Drammen war auf Dauer nicht das, was ihr vorgeschwebt hatte. Außerdem würde ihr auch aus privaten Gründen der Wechsel in das pulsierende Leben Oslos guttun. Sie hatte damals gerade eine Trennung hinter sich und ein Umzug stand sowieso an.
Kjersti fühlte sich gestört durch das Flackern einer Leuchtstoffröhre. Obwohl sie der Haustechnik Bescheid gegeben hatte, war bisher noch keine Abhilfe geschaffen worden. Also weiter warten und mit der merkwürdigen Taktung des Lichtes leben.
Im Nachbarbüro, welches durch eine Glasscheibe mit Jalousie von ihrem getrennt war, saß Anders Nygard und starrte konzentriert auf den Bildschirm. Ihr Kollege, wenige Jahre jünger als sie und schon lange bei der Osloer Polizei, hatte zunächst einen spröden, fast sturen Eindruck auf sie gemacht, sich aber zunehmend als zuverlässiger Kollege entpuppt, der mit der Zeit immer offener wurde und mit dem sie auch einmal ein privates Wort reden konnte.
Kjersti sah, wie Anders telefonierte und sich Notizen machte. Er legte auf, erhob sich und eilte aus seinem Büro. „Auf geht’s! Es gibt Arbeit!“ Als sie den Flur entlangliefen, setzte er sie kurz ins Bild. „Männliche Leiche auf Akershus.“ Auf dem Parkplatz bestieg Anders den BMW und hielt Kjersti die Beifahrertür auf. Sie stieg ein, schnallte sich an und betätigte beim Einbiegen auf die Straße den Knopf, der Blaulicht und Sirene in Gang setzte.
Vom Grønlandsleiret ging es in Richtung der Festungsanlage am Fjord. Blaulichter verwandelten kurze Zeit später die umliegenden Häuser, darunter Gebäude, die zum Verteidigungsministerium gehören, in ein gespenstisches Szenario. Anders stellte den BMW am Rande des Grev Wedels Plass in der Kirkegata ab und die beiden Kommissare hielten auf den in helles Scheinwerferlicht getauchten, mit Signalband abgesperrten Tatort zu. Neben zahlreichen uniformierten Kollegen schwirrten ein halbes Dutzend in weiße Schutzanzüge gekleidete Kriminaltechniker innerhalb der Absperrung umher. Eine uniformierte Kollegin, die Kjersti als Freja Jakobsen erkannte, kam auf sie zu. „Das Opfer ist 42 Jahre alt, seine Papiere lauten auf Per Lunde. Wohnt hier in Oslo.“
„Hei, Kjersti!“, sagte eine Frau in weißem Overall.
„Hei, Metta!“
Dr. Metta Aavik war die leitende Forensikerin der Osloer Polizei. Sie zog sich die Schutzhandschuhe aus und warf sie in einen bereitstehenden Müllsack. Der Fotograf fertigte jede Menge Bilder von der Leiche sowie des Fundortes an. Erst jetzt wurde Kjersti bewusst, wo sie sich genau befand: Am Rande des Grev Wedels Plass stand die Statue von Otto Ruge, ehemaliger Generalleutnant und Oberbefehlshaber der norwegischen Streitkräfte. Sie kannte das Denkmal seit ihrer Kindheit, in der sie mit ihren Eltern oft Sonntagsspaziergänge hier auf Akershus unternommen hatte. Sie erinnerte sich, dass sie jedes Mal mit Ehrfurcht die Statue des Generals bestaunt hatte und ihr Vater hatte seiner Tochter jeweils eine kleine Geschichtsstunde geboten. Und jetzt befand sie sich erneut an diesem Ort und hatte es mit einem Gewaltverbrechen zu tun.
„Ihr könnt ihn euch jetzt ansehen“, sagte Metta zu den beiden Kommissaren.
Kjersti und Anders hoben das Absperrband hoch und traten an das Opfer heran. Der leblose Körper schien sich an das Fundament der Statue anzulehnen, im Schutze des Generals. Das helle T-Shirt, das er trug, wies etliche Blutflecke auf.
„Er wurde erstochen“, meinte Metta erläutern zu müssen, obwohl der geschulte Blick der beiden Kommissare dies bereits nahegelegt hatte.
„Sieben Stiche. Der Täter hat gründliche Arbeit geleistet.“
„Tatwaffe?“, fragte Anders.
„Großes Küchen- oder Jagdmesser“, erwiderte die Gerichtsmedizinerin.
„Hatte er etwas bei sich?“, war Kjerstis Frage.
„Geldbörse, Karten, Ausweis. Und sein Handy haben wir gefunden. Geht gleich in die Auswertung.
Als Kjersti sich den Toten nochmals genauer anschaute, rief sie entsetzt: „Den kenne ich! Als ich seinen Namen Per Lunde hörte, habe ich zunächst nicht geschaltet. Das ist Per, der Journalist!“
Auf diversen Pressekonferenzen der Polizei hatte Kjersti Per Lunde gesehen und ihn als hartnäckigen Nachfrager erlebt, der den verantwortlichen Kollegen aus der Polizeiführung ganz schön auf die Nerven gehen konnte. Und so mancher seiner Artikel erwies sich als, gelinde gesagt, polizeikritisch.
Per Lunde lag jetzt zu Füßen des bedeutenden norwegischen Generals in einem Osloer Park, auf höchst brutale Weise mit zahlreichen Messerstichen umgebracht.
„Hatte Lunde Familie, eine Ehefrau, die wir benachrichtigen müssen?“, fragte Kjersti einen der uniformierten Beamten.
„Eine Frau“, antwortete der Angesprochene. „Die Adresse ist Nils Tollers Vei 17 in Marienlyst.“
„Danke. Komm Anders, wir fahren!“
Die beiden Kommissare gingen zurück zu ihrem BMW und Anders wendete. Der Feierabendverkehr auf der Frederiksgata hatte sich bereits reduziert und Anders näherte sich dem Stadtteil Ulleval. Lundes Haus war ein rot gestrichenes Gebäude in einer Sackgasse. Für einen Moment dachte Kjersti, wie gern sie hier oben wohnen würde statt in dem nüchternen Mehrfamilienhaus in Lambertseter. In der mit Verbundsteinen ausgelegten Hauseinfahrt parkte ein Nissan Micra. Das Haus war hell erleuchtet und die Kommissare klingelten. Nach einiger Zeit kam jemand auf die Haustür zu und öffnete. Der Anblick der Frau war erbärmlich. Sie war total verheult, ihr anscheinend üppig aufgetragenes Make-up verlief. Kjersti stellte sich und ihren Kollegen vor. Bevor sie den Anlass ihres Besuches erklären konnte, sagte die Frau mit einer klaren Stimme: „Sie kommen wegen Per? Ich weiß, was passiert ist.“
„Es tut uns leid, Frau Lunde. Woher wissen Sie vom Tod Ihres Mannes?“
„Von Brage Eggen. Er ist ein Journalisten-Kollege.“
Kjersti blickte Anders mit einem fragenden Ausdruck an. Wie zum Teufel hatte die Presse schon wieder Wind von dem Mord im Grev Wedels Park gekriegt?
„Entschuldigen Sie, aber dürfen wir Ihnen jetzt schon ein paar Fragen stellen? Wir können aber auch gerne morgen wiederkommen.“
„Nein, ist schon in Ordnung. Hoffentlich kann ich Ihnen helfen, denjenigen zu finden, der das getan hat.“
„Sie leben, Verzeihung lebten, alleine mit Ihrem Mann in diesem schönen Haus?“
„So ist es. Kinder haben wir keine. Per war der Ansicht, dafür habe er den falschen Beruf. Er meinte, um nach der Arbeit den entspannten Familienvater zu geben.“
„Und Sie? Wollten Sie keine Kinder?“
„Anfangs schon. Aber dann war es irgendwann zu spät. Außerdem ging es uns dank Pers Job sehr gut. Als wir dann das Haus hier gekauft haben, habe ich mich mit meinem Schicksal arrangiert.“
Kjersti bemerkte ein leichtes Zucken in ihrem Gesicht, als dieser Satz über Ihre Lippen kam.
„Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen, Frau Lunde?“
„Heute am frühen Abend. Ich bereitete gerade das Abendessen vor, als Per sagte, er müsse noch einmal weg.“ Es entstand eine kleine Pause und Pia Lunde rang nach Luft.
„Sie glauben gar nicht, wie ich diesen Satz über die Jahre hinweg gehasst habe. Er ist so gegen 17: 00 Uhr mit dem Auto weggefahren.“
„Und Sie wissen nicht, worum es ging?“
„Nein. Per hat mich praktisch nie eingeweiht in seine Arbeit.“
„Und wo waren Sie heute Abend?“
„Hier zu Hause, die ganze Zeit. Allein.“
„Sie haben also keine Ahnung, an welcher Sache Ihr Mann dran war, wie man wohl bei Journalisten sagt?“
„Nichts, keine Ahnung.“
„Woran hat er denn in der letzten Zeit gearbeitet? Also, sagen wir, in den vergangenen Monaten?“
„Bis auf die Reportage über diese Werft weiß ich nichts. Aber darüber müssten Sie auch etwas gelesen haben.“
„Werft? Bitte helfen Sie uns auf die Sprünge!“
„Diese Firma Johannessen. Dadurch hat sich Per eine Menge Ärger eingehandelt. Aber Per sagte immer, das sei erfolgreicher Journalismus, wenn man Staub aufwirbelt.“
Kjersti erinnerte sich. Johannessen war seit Generationen erfolgreich im Schiffbau. Während seiner Recherche kam bei Per der Verdacht auf, Aamund Johannessen, Sohn des Patriarchen und Juniorchef, sei in irgendwelche dubiosen Rüstungsprojekte verwickelt. Per Lunde musste sich darauf vor Gericht gegen eine Verleumdungsklage zur Wehr setzten. Danach wurde es still um ihn, seine Artikel konnte er immer seltener an den Mann bringen. Er war freier Journalist ohne feste Anstellung.
„Wissen Sie, ob Ihr Mann nach dem Prozess der Sache Johannessen weiter nachgegangen ist?“
„Aber sicher. Wenn Per einmal Lunte gerochen hat. Das weiß ich von Brage.“
„Wo können wir diesen Brage Egge finden?“
„Ich gebe Ihnen eine Visitenkarte von ihm, er hat eine Wohnung im Maridalsveien.“
„Können wir noch etwas für Sie tun, Frau Lunde? Jemanden anrufen, zum Beispiel?“
„Nein, danke, gleich holt mich eine Freundin ab. Ich werde heute Nacht nicht hier in diesem Haus bleiben.“
„Das verstehen wir. Haben Sie vielen Dank, dass wir Sie heute Abend befragen durften. Wir finden hinaus. Alles Gute für Sie!“
Als Kjersti und Anders auf der Rückfahrt nach Grønland waren, brachte Radio NRK bereits die Nachricht, dass im Bereich Akershus eine männliche Leiche gefunden worden war.
Als sie in den Grønlandsleiret einbogen, hielt Kjersti fest: „Ich glaube, heute tut sich nicht mehr viel. Wir gehen gleich den kommenden Tag durch und dann muss ich unbedingt mal nach Hause.“
„Sehe ich auch so“, ließ sich Anders vernehmen.
Er parkte den BMW auf dem fast leeren Parkplatz vor dem Polizeigebäude. Um diese Zeit schienen die meisten Kollegen längst ihren Feierabend zu genießen. Lediglich die Etage mit ihrer Abteilung war noch hell erleuchtet.
Als sie ihr Büro erreichten, waren Freja Jakobsen sowie Ragnhild Eikemo, Politistasjonssjef, Leiterin der Abteilung Gewaltverbrechen, in ein reges Gespräch vertieft.
„Ich setze dich gleich ins Bild, Ragnhild. Vorher besprechen Anders und ich, was morgen früh getan werden muss.“
Ragnhild nickte und verschwand in ihrem Büro. Anders war schon dabei, die große, weiß getünchte Pinnwand zu bestücken. Ein Bild von Lunde hatte Freija auf seine Bitte hin bereits ausgedruckt, dazu ein Foto des Grev Wedels Plass mit dem Ruge-Denkmal. Anders‘ Lieblingsbeschäftigung waren die Pfeile, mit denen er Fotos und Namen verband und so eine Art Diagramm erstellte. Pia Lunde, Brage Egge und Aamund Johannessen fanden ebenfalls an der Wand ihren Platz.
„Ich schlage vor, dass wir uns morgen zunächst einmal mit diesem Journalisten befassen. Außerdem würde ich gerne von Aamund Johannessen wissen, ob Per Lunde seiner Firma in letzter Zeit weiter auf die Nerven gegangen ist.“
„Einverstanden“, entgegnete Anders.
„Und ich kümmere mich mal um den Tatort. Die Festung Akershus besteht ja vielfach aus Gebäuden, die zum Verteidigungsministerium gehören. Vielleicht kann Ragnhild ja mal ihre Connections spielen lassen und ich finde jemanden dort, der mir mit Auskünften dient.“
„Und wie ich unsere Metta kenne, legt sie eine Nachtschicht ein und wird uns morgen früh das Obduktionsergebnis präsentieren.“
Für einen Moment dachte Kjersti, dass sie sich hier bei der Osloer Polizei glücklich schätzen konnte, in einem solchen Team zu arbeiten. Ihre Eltern, die immer noch in Bergen wohnten, waren damals keineswegs erfreut, als ihre Tochter eröffnete, das Angebot aus der Hauptstadt anzunehmen und wegzuziehen. So oft, wie es ihr Dienst erlaubte, reiste sie mit der Bergensbane in die zweitgrößte Stadt des Landes und stattete ihren Eltern einen Besuch ab.
Bedingt durch den Ortswechsel ergab sich auch eine Trennung von ihrem langjährigen Freund, der in Bergen ein Architekturbüro hatte. Anfangs sprachen beide noch von Fernbeziehung, die angeblich bei so vielen Paaren gut funktionierte. Nach vier Wochen in Oslo lernte Kjersti Magnus kennen. Sie war begeistert von seinem Esprit, seiner Vorliebe für alles Kulturelle und von seinen ersten literarischen Versuchen. Diese blieben leider Versuche und so mussten die beiden und ihre Tochter Lillian, die ein Jahr darauf geboren wurde, ausschließlich von Kjerstis Gehalt als Polizeibeamtin leben. Das Leben in Oslo ist bekanntermaßen nicht billig und besonders die Suche nach einer größeren Wohnung gestaltete sich als schwierig. Sie fanden schließlich in einem Mehrfamilienhaus in Lambertseter eine relativ große, nicht unbedingt eine attraktive Wohngegend. Mittlerweile fühlten sie sich wohl, hatten genug Platz, Magnus verfügte über ein großes Arbeitszimmer und Lillian war ganz stolz auf ihr eigenes Reich. Kein Luxus, aber sie kamen gut über die Runden. Allerdings war Kjerstis täglicher Weg nach Grønland war durchaus manchmal zeitaufwändig. Kjerstis Hoffnung war, dass ihr Mann bald auf dem literarischen Markt endlich erfolgreich sein würde.
3
Als Kjersti am nächsten Morgen ihr Büro im Polizeigebäude betrat, waren schon alle anderen vor Ort. Neben Ragnhild, Freija und Anders auch Erland Hegge, der Polizeijurist.
„Guten Morgen, Kjersti“, sagte Ragnhild Eikemo. Wir haben schon jede Menge Anrufe von der Presse. Konferenz heute um 14: 00 Uhr, okay?“, fragte die Chefin.
„Geht klar. Bis dahin müssten wir Mettas Bericht vorliegen haben.“
Für Kjersti waren diese Pressekonferenzen Routine, trotzdem war sie vorher immer angespannt. Man wusste ja nie, ob sich so manch forscher Schreiberling profilieren wollte. Gar nicht leiden konnte sie besserwisserisches Auftreten im Sinne von „Wieso haben Sie noch nicht … ?“ Oder mittelmäßig verpackte Schuldzuweisungen. Klar, die Presse und die Öffentlichkeit hatten ein Recht auf größtmögliche Transparenz, sie und ihre Kollegen aber auch auf Respekt und Ruhe bei der Ermittlungsarbeit.