Nicht systemrelevant - Christoph Schickhardt - E-Book

Nicht systemrelevant E-Book

Christoph Schickhardt

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Beschreibung

Kinder und Jugendliche sind bis heute die großen Verlierer der Corona-Pandemie. Die Schließungen von Kitas, Schulen und Freizeitangeboten haben ihnen lebenswichtige soziale Bezugssysteme genommen, zu deutlichen Lernrückständen geführt, ihre psychische Gesundheit gefährdet und bereits bestehende Ungleichheiten verschärft. Was vorher galt, zeigte die Pandemie überdeutlich: Junge Menschen in Deutschland haben keine Lobby, wenig Rechte oder Mitsprache.

Gestützt auf aktuelle empirische Studien zieht Christoph Schickhardt die bittere Bilanz einer verfehlten Corona-Politik. Er benennt kinderethische Grundbegriffe und diskutiert diese mit Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention und das Grundgesetz. Es ist symptomatisch für die Rechte junger Menschen, dass erst ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Schulschließungen eine grundgesetzliche Anerkennung des Rechts auf schulische Bildung ermöglichte.

Schickhardts kinderethische Überlegungen und Reformvorschläge sind ein wertvoller Anstoß in einer überfälligen Debatte über die Rolle von Kindern und Jugendlichen in der zukünftigen Gesellschaft.

»Systemrelevant waren andere und anderes. Die Selbstverständlichkeit und Geräuschlosigkeit, mit der Maßnahmen mit teilweise einschneidenden Folgen über die Köpfe der jungen Menschen hinweg erlassen und aufrechterhalten wurden, lässt sich nur teilweise mit dem Krisenmodus der Pandemie erklären.«

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Cover

Titel

Christoph Schickhardt

Nicht systemrelevant

Eine Aufarbeitung der Corona-Politik aus kinderethischer Sicht

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5265.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG Berlin 2024

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Umschlaggestaltung: Brian Barth

eISBN 978-3-518-77273-7

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung

I

. Kinderethische Grundlagen

Kinder und Jugendliche

Kindeswohl

Rechte der Kinder und Jugendlichen

Gerechtigkeit

Kinder, Eltern, Staat

II

. Die Corona-Politik und die Kinder und Jugendlichen

Einleitung

1

Das Recht auf Beteiligung: ohne Gehör und Mitsprache in der Pandemie

2

Das Recht auf Schutz vor Kindeswohlgefährdung: erhöhte Gefährdung und weniger Schutz

3

Das Recht auf Bildung: mit und ohne Bildung durch die Pandemie

4

Das Recht auf Wohlbefinden: Schulen und Wohlbefinden im Lockdown

5

Das Recht auf Gesundheit: wenn Gesundheitspolitik krank macht

6

Die Kosten der Pandemie: Armut, Reichtum und Schulden

7

Kinder und Jugendliche und die Impfpolitik

Fazit

Dank

Quellenangaben

Informationen zum Buch

Einleitung

In Deutschland lebten zu Beginn der Corona-Pandemie im Winter 2020 ca. 13,7 Millionen Kinder und Jugendliche. Diese Minderjährigen im Alter zwischen null und 17 Jahren machten ungefähr ein Sechstel der Bevölkerung aus. Mehr als zwei Millionen von ihnen besuchten eine Kita, mehr als acht Millionen eine allgemeinbildende Schule. Schaden nahmen sie nicht so sehr durch das Virus selbst – schnell und zunehmend klar stellte sich heraus, dass die allermeisten jungen Menschen durch die verschiedenen Virus-Varianten kaum gefährdet waren. Schaden nahmen sie durch die politischen Pandemie-Maßnahmen, die drastisch in ihre Rechte und ihr Leben eingriffen, sowie durch ein katastrophales Krisenmanagement. Zum Schutz der Älteren wurden die Jüngeren ungleich schwer belastet und negative Folgen unzureichend abgefedert. In Krisen treten Werte und Prioritäten, aber auch Machtstrukturen einer Gesellschaft besonders deutlich hervor: In Deutschland fanden die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen in Politik und Öffentlichkeit lange Zeit kaum Berücksichtigung. Systemrelevant waren andere und anderes. Die Selbstverständlichkeit und Geräuschlosigkeit, mit der Maßnahmen mit teilweise einschneidenden Folgen über die Köpfe der jungen Menschen hinweg erlassen und aufrechterhalten wurden, lässt sich nur teilweise mit dem Krisenmodus der Pandemie erklären.

Die Schließungen von Kitas, Schulen und Freizeitangeboten nahmen den Minderjährigen existenziell wichtige Bezugssysteme und Lebensräume. Kinder und Jugendliche in dysfunktionalen Familien mit Gewalt- und Missbrauchspotenzial wurden ihrem Schicksal überlassen, warnende Stimmen aus der Wissenschaft, die bereits im Frühjahr 2020 laut wurden, weitgehend überhört. Lange Zeit blieb unbeachtet, dass Kinder und Jugendliche Grundbedürfnisse haben, die sich von denen Erwachsener teilweise deutlich unterscheiden, z.B. im Bereich körperlicher und seelischer Gesundheit. Weitgehend unbeachtet blieb auch, dass manche sogar besondere Bedürfnisse haben, etwa nach einer freundlichen Umgebung außerhalb ihrer Familien, nach Schutz vor Vernachlässigung, Gewalt oder Missbrauch.

Die Pandemie hat der Welt den Spiegel vorgehalten, und Deutschland zeigte sich darin als ein Land, in dem für Kinder und Jugendliche wichtige Institutionen wie die Schulen viele Mängel haben und die jungen Menschen dementsprechend häufig nicht auffingen; als ein Land mit einer beschämend hohen Rate an Kinderarmut, in dem sich die sozialen Ungleichheiten pandemiebedingt in zentralen Bereichen wie Bildung, Lebensqualität und Gesundheit verschärften; als ein Land, in dem junge Menschen keine Lobby haben, wenig Rechte und Mitsprache, und das Kinder und Jugendliche beim Umgang mit den Belastungen der Pandemie-Politik weitgehend sich selbst bzw. ihren Familien überließ. Manchen gelang es – teilweise mit Unterstützung ihrer Familien – auf beeindruckende Weise, damit umzugehen; anderen gelang das weniger gut, z.B. weil familiäre Hilfe und Ressourcen fehlten oder sie Vorbelastungen hatten. Nach Ende der Pandemie zeigt sich ein Land, das, mit neuen Krisen beschäftigt, zur alten »Normalität« zurückkehren will – als sei diese vorher gut gewesen, als habe sie sich in der Pandemie bewährt und als gäbe es keine durch die Pandemie geprägte neue »Normalität«.

Warum konnten politisch Verantwortliche in den Jahren der Pandemie eigentlich so agieren, wie sie es taten? Welche Rechte auf bestimmte Leistungen haben Kinder und Jugendliche? Was schuldet ihnen der Staat bzw. die Gesellschaft, die sich im Staat organisiert? Eine mögliche Antwort, an der sich die Corona-Politik zu orientieren schien, lautet: wenig bis nichts – zumindest wenn es hart auf hart kommt. So konnten die Regierungen z.B. Schulen mit unverbindlicher Selbstverständlichkeit schließen, weil zwar geklärt ist, dass diese Macht über Kinder (und ihre Eltern) ausüben dürfen, aber kaum, welche Verantwortung die Schulen für Kinder und Jugendliche und deren Rechte, Wohl und Schutz haben. Die politisch Verantwortlichen konnten handeln, wie sie es taten, weil weder in ihrem Bewusstsein noch im Gesetz oder in der Öffentlichkeit klar ist, welche Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Staat gegenüber seinen Kindern und Jugendlichen hat.

Die Corona-Pandemie ist ein Lehrstück über die Rolle junger Menschen in dieser Gesellschaft. In diesem Buch wird dieses Lehrstück aus kinderethischer Perspektive noch einmal betrachtet. Dabei werden zunächst kinderethische Grundlagen eingeführt. Sie bilden das begriffliche und normative Grundgerüst für die kinderethische Analyse und Bewertung der Corona-Politik. Diese konzentriert sich auf Bereiche, in denen die Corona-Maßnahmen besonders deutlich zu spüren waren, Kinderschutz, Beteiligung, Bildung, Wohlbefinden und Gesundheit. Die Folgen der Pandemie werden für junge Menschen noch lange spürbar sein: auf individueller Ebene, auf mittlerer Ebene, z.B. bezüglich der Gleichheit bzw. Bildungsungleichheit zwischen Kindern und Jugendlichen, und auf der Makroebene, wie bei der Staatsverschuldung und dem zukünftigen Umgang mit Ausnahmesituationen und Krisen. Die nächste Pandemie kommt bestimmt. Für Thomas Mertens, Virologe und langjähriger Vorsitzender der Ständigen Impfkommission, ist das nur eine Frage der Zeit.1

Die Pandemie war ein globales Ereignis mit katastrophalen Folgen für Millionen Menschen weltweit, die starben, schwere Krankheitsverläufe hatten, Angehörige verloren oder ihre wirtschaftliche Existenz. Für Deutschland meldete das Robert Koch-Institut bis zum Juni 2023 rund 174400 Sterbefälle in Zusammenhang mit dem Covid-19-Virus.2 Wenn es in diesem Buch nur um die Rolle und Belange der Kinder und Jugendlichen geht, bedeutet dies nicht, dass all die anderen Aspekte und schlimmen Folgen für viele andere Menschen in Deutschland und weltweit relativiert werden sollen. Ebenso wenig soll die damalige Notwendigkeit politischer Maßnahmen zum Schutz bestimmter Bevölkerungsgruppen in Abrede gestellt werden. Es geht um das »Wie« dieser Maßnahmen, sofern sie Kinder und Jugendliche betrafen.

Das Buch kann nicht das gesamte, stetig anwachsende Feld wissenschaftlicher Studien zu den vielseitigen Auswirkungen der Pandemie abbilden. Es hat allerdings den Anspruch, Impulse zu geben in Bezug auf die Frage, was in zukünftigen Pandemien anders gemacht werden sollte und vor allem mit Blick darauf, was sich strukturell in vielen Bereichen jetzt ändern muss. Das Buch versteht sich als Beitrag zur dringlichen öffentlichen Debatte über die Rolle von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft.

I. Kinderethische Grundlagen

Kinder und Jugendliche

Die Begriffe »Kinder und Jugendliche« beziehen sich in diesem Buch auf alle Minderjährigen zwischen der Geburt und der Vollendung des 18. Lebensjahres. In einigen juristischen Dokumenten wird das Wort »Kinder« für Kinder und Jugendliche bis zur Volljährigkeit verwendet, weshalb auch in diesem Buch manchmal der Kürze wegen oder aufgrund feststehender Begriffe wie »Kindeswohl« nur von »Kindern« die Rede ist, aber dennoch Kinder und Jugendliche gemeint sind. Angesichts der großen Altersspanne ist es schwierig, bestimmte Eigenschaften festzuhalten, die allen Kindern und Jugendlichen gleichermaßen zu eigen sind. Einige Merkmale kommen als charakteristisch in Betracht, auch wenn sie stark variieren können und Jugendliche sich mit zunehmender Reife immer weniger von »normalen« jungen Erwachsenen unterscheiden. Dazu gehören gewisse natürliche Umstände, die universell bzw. kulturunabhängig vorhanden sind: Kinder, vor allem sehr junge Kinder, und Jugendliche können nicht oder nur eingeschränkt für sich selbst sorgen, sie weisen eine besondere Fürsorgeabhängigkeit von anderen Personen auf und haben besondere geistige, körperliche und soziale Bedürfnisse, z.B. nach stabilen Bezugspersonen oder Geborgenheit. Kinder und Jugendliche, vor allem jüngere Kinder, stehen in teils existenziellen Abhängigkeitsverhältnissen zu anderen Personen, insbesondere zu ihren Eltern, denen sie gewöhnlich an Körperkraft, Wissen, Lebenserfahrung und letztlich an Macht unterlegen sind.

Kinder und Jugendliche befinden sich in einer für das gesamte weitere Leben grundlegenden und prägenden Entwicklungsphase mit zu verschiedenen Zeiten sich öffnenden und wieder schließenden Entwicklungsfenstern, in denen das Erlernen bestimmter Kompetenzen leichtfällt. Diese Kompetenzen später zu erwerben ist zwar nicht unmöglich, aber deutlich erschwert. Aus der besonderen Bedeutung der Kindheit und Jugend als Entwicklungsphase für das ganze Leben ergibt sich eine besondere »Entwicklungsverletzlichkeit«. Am Anfang ihrer Entwicklung verfügen junge Menschen im Vergleich zu »normalen« Erwachsenen noch über eingeschränkte kognitive, geistige und soziale Fähigkeiten, entwickeln diese aber zunehmend, wodurch sie nach und nach selbständig werden. Kinder und Jugendliche weisen physiologisch-medizinische und psychologische Eigenheiten auf. Sie sind keine kleinen Erwachsenen.

Im gegenwärtigen Deutschland sind auch soziale und kulturelle Bedingungen und Gegebenheiten für Kinder und Jugendliche prägend. Dazu gehören das System Schule und Kita, die wirtschaftlichen Bedingungen inklusive einer speziell auf junge Menschen abzielenden Konsumgüter- und Digitalindustrie, die Familien mit den typischen Strukturen der Kleinfamilie und mit den zunehmenden Formen von Ein-Eltern- und Patchwork-Familien, die sozioökonomischen Verhältnisse und die Arbeitsbedingungen der Eltern oder Migrationshintergründe. Auch die sozialen Bedingungen wirken sich auf die Verletzlichkeiten (Vulnerabilitäten) von Kindern und Jugendlichen aus, die individuell und je nach Entwicklungsstand variieren. Für junge Menschen gelten auch bestimmte Gesetze, die u.a. festlegen, dass sie erst ab 18 Jahren als vollständig autonome Rechtspersonen mit allen bürgerlichen Rechten und Pflichten gelten. Dabei kennen sie häufig ihre Rechte nicht oder können sie nicht einfordern und durchsetzen.

Kinder und Jugendliche haben aber nicht nur bestimmte Verletzlichkeiten, sondern auch besondere »kindertypische« Stärken, Fähigkeiten und Resilienzen – in unterschiedlichen Ausprägungen. Physiologisch waren sie z.B. gegen das Corona-Virus widerstandsfähiger als Erwachsene. Junge Menschen sollten nicht aus einer »defizit-orientierten« Perspektive über ihre »Mängel« im Vergleich zum Idealbild der »normalen« Bürgerin, des »mündigen« Bürgers betrachtet werden. So sagt der Neurologe Dieter Braus etwa: »Kreativität, die Fähigkeit, Grenzen zu überwinden, die Lust, neue Dinge auszuprobieren und andere Lösungen zu finden, stammen oft von Menschen zwischen zwölf und 25. Pubertierende sind die wichtigste Ressource unserer Gesellschaft, und eigentlich bräuchten wir viel mehr von ihrem Innovationspotenzial.«3

Die meisten Kinder und Jugendlichen sind auch in der Lage, ihre Erfahrungen, Bedürfnisse und Anliegen zu schildern, wenn man ihnen Gehör schenkt. Relevant ist schließlich, worauf bereits Jean-Jacques Rousseau hinwies: dass junge Menschen nicht nur von der Entwicklungsperspektive aus betrachtet werden dürften, d.h. mit Blick darauf, was sie eines Tages als Volljährige sein können oder sollen und was sie auf dem Weg dahin brauchen und tun müssen. Vielmehr sollten sie auch als Kinder und Jugendliche in ihrer Gegenwart im Hier und Jetzt gesehen werden.4

Kinderethik beschäftigt sich mit moralischen Fragen, die Kinder und Jugendliche betreffen. Sie untersucht u.a., ob und wie echte oder vermeintliche kinderspezifische Merkmale moralisch zu berücksichtigen sind. Eine ihrer zentralen Aufgaben ist die kritische Analyse und Bewertung der Frage, wie junge Menschen im Verhältnis zu ihren Eltern, dem Staat und der Gesellschaft geachtet und behandelt werden sollten. Kinderethik fragt z.B., ob Säuglinge Rechte haben können und sollten, obwohl sie nicht verstehen, was Rechte sind.

In seinem 1995 erschienenen Roman »Der Vorleser« legt Bernhard Schlink dem Vater des jugendlichen Protagonisten, einem Heidelberger Philosophieprofessor, folgende Worte in den Mund: »Erinnerst du dich nicht mehr, wie es dich als kleinen Jungen empören konnte, wenn Mama besser wusste als du, was für dich gut war? Schon wieweit man das bei Kindern tun darf, ist ein wirkliches Problem. Es ist ein philosophisches Problem, aber die Philosophie kümmert sich nicht um die Kinder. Sie hat sie der Pädagogik überlassen, wo sie schlecht aufgehoben sind. Die Philosophie hat die Kinder vergessen.«5 Diese Klage ist bzw. war zum damaligen Zeitpunkt berechtigt. In der Aufklärung beschäftigten sich führende Philosophen wie John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant und Wilhelm von Humboldt wenn auch nicht systematisch mit Kinderethik, so doch ausführlich mit ethischen Fragen der Pädagogik oder Erziehung. In der Folge war es auch für Philosophinnen und Philosophen späterer Generationen, deren Schaffen sich teilweise bis in die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erstreckte, selbstverständlich, sich auch mit Fragen der Bildung oder Erziehung zu beschäftigen.6 Diese Selbstverständlichkeit ging in der vorherrschenden Philosophie der Nachkriegszeit verloren. Ab ungefähr 2007 nahmen in der deutschsprachigen Philosophie einige Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, darunter ich selbst, moralische Fragen, die Kinder und Jugendliche betreffen, systematisch in den Blick.7 Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass Kinder und Jugendliche bzw. sie betreffende moralische Fragen in der akademischen Ethik oder Philosophie weitgehend vernachlässigt wurden, was sowohl angesichts der Komplexität der Fragen wie auch ihrer gesellschaftlichen Bedeutung unerklärlich war. In ihren Arbeiten konnten die deutschsprachigen Philosophinnen und Philosophen an angelsächsische Autoren anknüpfen, die in den 1990er-Jahren begonnen hatten, sich mit Kinderethik zu beschäftigen.8 Heute ist die Kinderethik dabei, sich als ein kleineres unter vielen Teilgebieten der deutschsprachigen wie englischsprachigen akademischen Philosophie bzw. Ethik zu etablieren.

Kindeswohl

Solange Minderjährige noch nicht oder nur eingeschränkt fähig sind, ihr Leben eigenverantwortlich zu führen und für sich selbst zu sprechen, braucht es Orientierung in Form einer Vorstellung von dem, was für junge Menschen gut ist. Was ist also gut für sie? Und worin bestehen ihre spezifischen Interessen? Diese beiden Fragen werden häufig und auch hier unter dem Begriff des Kindeswohls behandelt.9 Diesem haftet manchmal eine paternalistische Note an. Außerdem wird der Begriff häufig mit dem Kindesschutz, dem Schutz vor Kindeswohlgefährdungen, in Verbindung gebracht. Frei von diesen Verengungen wird den folgenden Ausführungen ein liberales Grundverständnis des Kindeswohls zugrunde gelegt. Drei Aspekte des Kindeswohls sind dabei als zentrale inhaltliche Bestandteile unabdingbar:

1. Autonomieentwicklung: Entwicklung und individuelle Entfaltung zu einer autonomen, d.h. selbstbestimmungsfähigen Person mit einer offenen Zukunft

2. Wohlbefinden: sich wohlfühlen im Sinne von Zufriedenheit, Glücklichsein, subjektivem Wohlbefinden

3. Eine Reihe von Grundgütern wie z.B. Gesundheit, die, je nach Sichtweise, an und für sich gut sind für Kinder und Jugendliche oder notwendig bzw. förderlich sind für die Autonomieentwicklung und das Wohlbefinden

ad 1. Autonomieentwicklung

Die Autonomieentwicklung ist ein zentraler Bestandteil des Kindeswohls: Junge Menschen sollten Fähigkeiten und Erfahrungen erwerben, die es ihnen ermöglichen, sich individuell zu entfalten und zunehmend Freiheiten wahrzunehmen, um ihr Leben selbst zu bestimmen und zu gestalten. Da jeder Mensch ab einer gewissen Reife und ab einem gewissen Alter (Volljährigkeit) sein Leben eigenverantwortlich gestalten will, sollte er ab der Kindheit lernen und nach und nach in die Lage versetzt werden, sein Leben selbst zu bestimmen und Freiheiten auszuüben. Dazu sollten junge Menschen Kenntnisse und Erfahrungen bezüglich der eigenen Talente, Vorlieben und Charaktereigenschaften gewinnen. Leitgedanke sollte die Realisierung eines selbstbestimmten Lebens entlang der persönlichen Vorstellung von einem guten Leben sein. Junge Menschen sollten spätestens bei Eintritt ins Erwachsenenleben echte Alternativen bei der Wahl und Gestaltung wichtiger Lebensbereiche haben, wie z.B. bei der Entscheidung zu (beruflicher) Bildung, Berufswahl, Partnerschaft, Sexualität, Freundinnen und Freunden, Bekannten, Religion und Weltanschauung. Am Ende der Kindheit und Jugend sollte eine »offene Zukunft« stehen.10

ad 2. Wohlbefinden

Neben der Autonomieentwicklung ist das Wohlbefinden im Sinne des subjektiven Sich-Wohlfühlens ein weiterer zentraler Bestandteil des Kindeswohls. Damit sind positive bzw. angenehme psychische Empfindungen, Gefühle oder Stimmungen gemeint wie Freude, Lust, Spaß, Genuss, Zufriedenheit, Unbeschwertheit, Stolz, Vergnügen etc. Kinder und Jugendliche sollten überwiegend zufrieden und glücklich sein und sich sicher fühlen. Sie haben ein Recht auf Umstände, die es ihnen erlauben, sich grundsätzlich wohlzufühlen. Eine gute Kindheit und Jugend muss sich für die Kinder und Jugendlichen auch gut anfühlen. Eine Kindheit, in der ein junger Mensch nicht lacht oder nur selten glücklich ist, kann keine gute Kindheit sein. Auch kann es keine gute Kindheit und Jugend sein, wenn vor allem starke negative Gefühle wie Unzufriedenheit, Traurigkeit, Schmerz, Unlust, Verdruss, Niedergeschlagenheit, Langeweile, Einsamkeit, Angst, Frust oder Enttäuschung dominieren. Allerdings ist nicht jedes subjektiv positive Gefühl bzw. nicht jeder Anlass für positive Gefühle moralisch unproblematisch und zu begrüßen. Wenn ein Kind Freude daran hat, ein anderes zu ärgern, sollte das kritisiert und diese Art der Freude nicht gefördert werden.

ad 3. Grundgüter

Der dritte Aspekt des Kindeswohls umfasst eine Reihe von Grundgütern, die an und für sich gut für junge Menschen sind oder gemäß dem allgemeinen Kenntnisstand für die beiden Kindeswohlbestandteile Autonomieentwicklung und Wohlbefinden notwendig oder in hohem Maße förderlich sind.11 Dazu gehören u.a. die Befriedigung von Grundbedürfnissen (Essen, Trinken, Schlafen usw.), körperliche und seelische Gesundheit, Bildung, Selbstachtung, Resilienz, Mitsprache- und Beteiligungsmöglichkeiten sowie angemessene Freiheitsräume, Chancen, Liebe, Zuneigung, Geborgenheit und stabile Bindungen, soziale Kontakte wie Zusammensein und Austausch mit anderen jungen Menschen sowie mit Erwachsenen, bestimmte sprachliche, kognitive und soziale Fähigkeiten, Spielen und Sport. Die meisten dieser Güter sind sowohl für Autonomie als auch für Wohlbefinden notwendig oder förderlich, wenn auch nicht immer gleichermaßen für beide.

Was dagegen ist schlecht für Kinder und Jugendliche? Vernachlässigung, Gewalt oder Missbrauch sind u.a. deshalb schlimm, weil sie nicht nur punktuell, sondern massiv, substanziell und langfristig die Verwirklichung nahezu aller genannten wichtigen Kindeswohlbestandteile gefährden bzw. sogar deren Gegenteil bewirken, also z.B. Unselbständigkeit statt Autonomie, Traurigkeit und Selbstverachtung statt Wohlbefinden und Selbstachtung oder körperliche und seelische Verletzlichkeiten und Krankheiten statt Resilienz und Gesundheit. Dass derartige Schädigungen ausbleiben, z.B. auch durch Kindesschutzrechte und Maßnahmen gegen Kindeswohlgefährdungen, ist selbstverständlich wichtig für jeden jungen Menschen und sein Wohl. Für die Verwirklichung des Wohls von Kindern und Jugendlichen ist aber wesentlich mehr notwendig.

Gemäß dem liberalen Ansatz ist es wichtig, dass die Interessen von Kindern und Jugendlichen als Interessen des individuellen Kindes im Sinne einer einzelnen und vollwertigen Person zu verstehen sind und nicht einfach mit den Interessen der Eltern, Familie, Gemeinschaft oder gar des Staates gleichgesetzt werden dürfen.12 Ebenfalls Ausdruck des liberalen (und nicht paternalistischen) Ansatzes ist es, die Bedeutung der Mitsprache und Beteiligung zu unterstreichen: als Teil der Achtung und Förderung der Autonomie, als wichtiger Schritt, um das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen zu erfragen, zu verstehen und zu achten, sowie als Bedingung für ihre Selbstachtung. Die einzelnen Bestandteile des Kindeswohls hängen teils vielschichtig und eng miteinander zusammen; und die Kinderrechte, die wichtige Bestandteile des Kindeswohls als Ansprüche der Kinder und Jugendlichen formulieren, müssen vernetzt gedacht werden, sie entfalten ihren vollen Wert erst im Zusammenspiel.

Eine besondere Herausforderung bei Entscheidungen darüber, was dem Kindeswohl dient bzw. abträglich ist, betrifft die zeitliche Dynamik der Kindheit und Jugend. Das Kindeswohl muss berücksichtigen, was jetzt für ein Kind als Kind gut ist, was im Laufe der späteren Kindheit und Jugend für das Kind gut sein wird und was für den jungen Menschen in ferner Zukunft als erwachsene Person gut sein wird. Schokolade zu essen kann einen jungen Menschen im Moment glücklich machen, zu einem späteren Zeitpunkt aber als Grund von Zahnschmerzen auch Unbehagen verursachen oder zu einem noch späteren Zeitpunkt als Ursache von Übergewicht Möglichkeiten der Selbstentfaltung einschränken.

Rechte der Kinder und Jugendlichen

Es reicht nicht, eine Vorstellung vom Kindeswohl zu haben; vielmehr kommt es darauf an, ob und wie das Kindeswohl bzw. die Interessen der Kinder und Jugendlichen in der sozialen Realität Gewicht haben und geachtet werden. Das gesellschaftlich wichtigste Instrument, um entsprechende Ansprüche Minderjähriger zu formulieren, sind ihre Rechte. Es gibt verschiedene Sphären, in denen Kinder und Jugendliche Rechte haben. In der Sphäre der Ethik werden jungen Menschen mit Bezug auf moralische Gründe und Intuitionen moralische Rechte zugesprochen, wofür die kinderethische Bestimmung des Kindeswohls die zentrale inhaltliche Grundlage bildet. In der Sphäre der geltenden Gesetze haben Minderjährige sogenannte juridische Rechte, die auf erlassenen Gesetzen oder der Verfassung beruhen. Sozusagen auf halbem Weg zwischen der ideellen Sphäre der Ethik und der Sphäre des faktisch geltenden Rechts (Gesetzes) steht die Sphäre der Menschenrechte. Menschenrechte sind weitgehend Teil des internationalen Rechts, werden oft als weiches Recht (soft law) bezeichnet und haben einen hohen moralischen Anspruch und Impetus.

Kinder und Jugendliche sind grundsätzlich Träger der Allgemeinen Menschenrechte, wie sie im Jahr 1948 in den dreißig Artikeln der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet wurden. Allerdings wurden diese Menschenrechte, ähnlich wie die Grundrechte im Grundgesetz (GG), kaum mit Blick auf Kinder und Jugendliche formuliert. Ausdrückliche Kinderrechte in internationalen Menschenrechtsdokumenten finden sich in der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK), die 1989 von den Vereinten Nationen verabschiedet und seitdem von allen UN-Mitgliedstaaten bis auf die USA ratifiziert wurde, darunter Deutschland im Jahr 1992. Bemerkenswert an der UN-KRK ist, dass sie Minderjährigen nicht nur Fürsorge-, sondern auch Freiheitsrechte zuspricht, z.B. das Recht auf Meinungsfreiheit, und Kinder und Jugendliche als sich selbst- und mitbestimmende Personen in den Blick nimmt.13 In der UN-KRK ist ein Dreiklang von Schutz, Förderung und Beteiligung zu erkennen, der für das Kindeswohl und die Kinderrechte wichtig ist.14

Für die kinderethische Analyse der deutschen Corona-Politik besonders interessant ist das sogenannte Kindeswohlprinzip, dem gemäß bei allen staatlichen Maßnahmen, von denen Kinder und Jugendliche betroffen sind, »das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt« sei, »der vorrangig zu berücksichtigen ist« (UN-KRK Art. 3.1). Ebenfalls relevant sind das Recht des Kindes auf Bildung (UN-KRK Art. 28), das Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit, Spiel und altersgemäße Freizeitbeschäftigung sowie auf freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben (UN-KRK Art. 31) und nicht zuletzt das stark und ausführlich formulierte Recht auf Schutz vor Gewaltanwendung, Verwahrlosung, Misshandlung (UN-KRK Art. 19). Den Rechten der jungen Menschen stehen im Wortlaut der UN-KRK jeweils formulierte Pflichten des Staates gegenüber. Anzumerken ist jedoch, dass die Rechte der UN-KRK für Kinder und Jugendliche in Deutschland nicht einfach einklagbare Individualrechte darstellen.15

Kinder und Jugendliche in Deutschland sind nicht nur Träger der »weichen« Rechte aus der UN-KRK, sondern auch Träger »harter« juridischer Rechte, angefangen bei den grundgesetzlichen Verfassungsrechten. Aufgrund der Tatsache, dass nirgendwo im Grundgesetz steht, ob die Grundrechte auch Minderjährigen zustehen, war diese Frage jahrzehntelang unklar. Heute besteht Konsens unter Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtlern, dass auch Kinder und Jugendliche Träger der Grundrechte sind.16 Kinder und Jugendliche haben prinzipiell alle grundgesetzlichen Freiheiten wie Erwachsene auch, allerdings unterliegen sie in der Wahrnehmung ihrer Freiheiten verschiedenen Beschränkungen, insbesondere seitens ihrer Eltern im Rahmen der elterlichen Sorge.17 Explizit erwähnt werden Kinder oder Jugendliche im Grundgesetz nur in zwei Artikeln: Artikel 6, in dem es um Familie und vor allem um die Rechte der Eltern geht, und Artikel 7, indem es um Schule geht. Indirekt werden Minderjährige in Artikel 38 Abs. 2 erwähnt, wo sie als noch nicht Volljährige vom Recht zu wählen ausgeschlossen werden.

Gerechtigkeit

Ob das Wohl der Kinder und Jugendlichen z.B. in Form von Kinderrechten in unserer Gesellschaft ausreichend, d.h. moralisch angemessen berücksichtigt wird, ist eine Frage der Gerechtigkeit. Was aber ist eine aus ethischer Sicht gerechte Gesellschaft? Und wie müssen Kinder in der Gesellschaft gestellt sein und behandelt werden, damit es ihnen gegenüber sozial gerecht zugeht? Auf diese Fragen kann es keine einfachen Antworten geben. Trotzdem soll hier zumindest kurz und vereinfacht ein Ansatz zu sozialer Gerechtigkeit im Allgemeinen und mit Blick auf Kinder und Jugendliche im Besonderen skizziert werden.

Grundsätzlich gelten zwei Prinzipien. Erstens: Alle Menschen verdienen Achtung, d.h., sie müssen mit Respekt behandelt werden. Dieser Grundsatz lässt sich mit Immanuel Kant damit begründen, dass jeder Mensch ein Zweck an sich ist, kein Ding und kein Instrument, und dass jeder Mensch Träger der Menschenwürde ist.18 Zweitens: Alle Menschen gelten gleich, d.h., alle Menschen müssen trotz der zahlreichen Unterschiede, die de facto zwischen ihnen bestehen, als Gleiche geachtet und behandelt werden. Diese beiden Prinzipien lassen sich zu einem Grundsatz zusammenfassen, dem der gleichen Achtung aller Menschen. Dieser gilt auch für Kinder und Jugendliche. Auch jeder junge Mensch verdient die gleiche moralische Achtung und Berücksichtigung wie Erwachsene und muss mit dem gleichen Gewicht als eigenständiger und individueller Mensch gelten.

Was kann der sehr allgemeine Grundsatz der gleichen Achtung aller Menschen mit Blick auf die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft konkreter bedeuten? Ein plausibler Ansatz ist die Forderung, dass eine gerechte Gesellschaft inspiriert sein sollte vom Ideal einer fairen Kooperation freier und gleicher Menschen, wie es der US-amerikanische Philosoph John Rawls in »Eine Theorie der Gerechtigkeit« ausgearbeitet hat.19 Seine Theorie gesellschaftlicher Gerechtigkeit benennt und diskutiert, was die beiden wichtigsten Ideale der westlichen liberalen politischen Philosophie – Freiheit und Gleichheit – im Rahmen einer demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschafts- und Staatform bedeuten und wie sie in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu setzen sind.20

Das Prinzip der Achtung aller Menschen verlangt, die Interessen eines jeden einzelnen Menschen ausreichend zu achten, ihm insbesondere Freiheitsrechte zuzugestehen und ihm dabei zu helfen, die Freiheiten wirklich auszuüben und tatsächlich ein selbstbestimmtes Leben zu führen entsprechend seinem eigenen Plan von einem glücklichen bzw. guten Leben.

Das Prinzip der Gleichheit bedeutet grundsätzlich, dass alle Menschen mit ihren Interessen »auf dieselbe Weise mit Achtung und Respekt behandelt« werden müssen.21 Wie kann dieses Prinzip nun auf Kinder und Jugendliche angewendet werden? Offensichtlich kann man ein sehr junges Kind und einen mündigen Erwachsenen nicht immer gleich behandeln. Auf einer primären und grundlegenden Ebene verdienen die Interessen, Bedürfnisse und Rechte von jungen Menschen nicht weniger Achtung als diejenigen erwachsener Menschen. Das wäre ungerecht und diskriminierend. Auf einer nachgeordneten, sekundären Ebene können Ungleichbehandlungen ethisch gerechtfertigt sein, wenn es dafür gute ethische Gründe gibt.22 Es ist z.B. gerecht, dass ein Dreijähriger im Unterschied zu einem Erwachsenen nicht allein einkaufen gehen darf, im Kaufhaus dann aber lauter und wilder sein darf als ein Erwachsener. Für diese Ungleichbehandlung gibt es gute Gründe, die mit der Reife und den Interessen des Kindes zu tun haben. Auf der sekundären Ebene geht es um eine ethisch gerechtfertigte Ungleichbehandlung, d.h. um einen fairen Umgang mit spezifischen Eigenschaften und Unterschiedlichkeiten von Menschen.

Schon John Rawls hat erkannt, dass Gerechtigkeit nicht nur eine Frage der Verteilung von Gütern zwischen Mitgliedern einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ist, sondern auch eine intertemporale Frage zwischen Generationen. Jede Generation ist auch der Zukunft verpflichtet, muss auf nachfolgende Generationen Rücksicht nehmen, keine Generation darf die eigenen Interessen höher werten als die der kommenden. Rawls führt daher einen »gerechten Spargrundsatz« ein, der die Verhältnisse zwischen Generationen bestimmen soll.23 Die unmittelbare kinderethische Relevanz der zeitlichen Gerechtigkeitsdimension besteht darin, dass aus moralischer Sicht auch demokratisch legitimierte Regierungen und Parlamente, die in Deutschland von einer verhältnismäßig stetig zunehmenden Anzahl älterer stimmberechtigter Bürgerinnen und Bürger gewählt werden, Lasten und Kosten nicht einfach in die Zukunft der heutigen Kinder und Jugendlichen verschieben dürfen. Die Prinzipien der Gleichheit und Freiheit müssen auch zwischen Generationen gelten. Dieser Gerechtigkeitsgedanke findet einen gewissen Ausdruck im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz vom 24. März 2021 mit der Begründung des intertemporalen Grundrechtsschutzes und einem »Recht auf Wahrung der künftigen Entfaltungsfreiheit« bzw. dem Recht junger Menschen, in Zukunft nicht übermäßig die Lasten des Klimawandels tragen zu müssen. Für Kinder und Jugendliche und damit auch für die Kinderethik spielt die Zukunft in Form zukünftiger kollektiver Lebensbedingungen, z.B. mit Blick auf Staatsverschuldung oder Erdklima, eine wichtige Rolle. Kinderethik ist aber nicht mit der Gerechtigkeit für zukünftige Generationen zu verwechseln: Jungen Menschen sollte zwar die Zukunft gehören, sie sind aber keine zukünftige Generation, sondern eine gegenwärtige.