Nichtideale Normativität - Christoph Horn - E-Book

Nichtideale Normativität E-Book

Christoph Horn

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Beschreibung

Das politische Denken Kants wird zu oberflächlich gedeutet, wenn man es – wie in der vorherrschenden »moralischen Interpretation« – einfach als Fortsetzung seiner Ethik der 1780er Jahre auffasst. Die bisherige Interpretation kann nicht erklären, warum Kant darin zentrale Moralitätsmerkmale wie das der intrinsischen Motivation oder das eines strikten Universalisierungstests aufgibt. In seiner politischen Philosophie fehlen so viele Charakteristika von Moralität, dass man sie weit besser als Ausdruck einer eigenständigen Form von nichtidealer Normativität auf der Basis der Rechtsidee begreift. Christoph Horn diskutiert Kants ebenso faszinierenden wie problematischen Versuch, eine ausschließlich deontologische Form von politischer Normativität zu entwickeln, ohne dabei auf eine Gütertheorie zurückgreifen zu können.

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Das politische Denken Kants wird zu oberflächlich gedeutet, wenn man es – wie in der vorherrschenden »rechtsmoralischen Interpretation« – einfach als Fortsetzung seiner Moralphilosophie der 1780er Jahre auffasst. Diese »Abhängigkeitsthese« kann nicht erklären, warum Kant darin zentrale Moralitätsmerkmale wie das der intrinsischen Motivation oder das eines strikten Universalisierungstests aufgibt. In seiner politischen Philosophie fehlen so viele Charakteristika von Moralität, dass man sie weit besser als Ausdruck einer eigenständigen Form von nichtidealer Normativität auf der Basis der Rechtsidee begreift. Andererseits lässt sich auf diese Weise eine radikale »Trennungsthese« vermeiden, die – entgegen dem Wortlaut von Kants Schriften – annimmt, Moral und Recht seien grundsätzlich voneinander unabhängig. Christoph Horn diskutiert Kants ebenso faszinierenden wie problematischen Versuch, eine ausschließlich deontologische Form von politischer Normativität zu entwickeln, ohne dabei auf eine Gütertheorie zurückgreifen zu können.

Christoph Horn ist Professor für Philosophie an der Universität Bonn. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (stb 2, Kommentar mit Corinna Mieth und Nico Scarano) sowie Gründe und Zwecke. Texte zur aktuellen Handlungstheorie (stw 1950, hg. mit Guido Löhrer).

Christoph Horn

Nichtideale Normativität

Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie

Suhrkamp

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2074

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

© Christoph Horn 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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eISBN 978-3-518-73067-6

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Zitierweise und Siglen

Vorwort

1. Der Konflikt zwischen Abhängigkeits- und Trennungsthese

1.1 Moralische und rechtlich-politische Pflichten

1.2 Fünf Merkmale von Moralität und die Normativität des Politischen

1.3 Die Idee einer moralbasierten öffentlichen Ordnung

2. Menschenrechte und die Grundlagen politischer Normativität

2.1 Menschenrechte bei Kant?

2.2 Moralische Probleme mit der politischen Philosophie Kants

2.3 Die menschliche Würde

3. Der deontologische Rechtsbegriff und seine pflichttheoretischen Implikationen

3.1 »Das angeborne Recht ist nur ein einziges«

3.2 Das Naturrecht und seine formale Normativität

3.3 Probleme des Rechtsbegriffs und der Pflichtensystematik

4. Was macht einen Staat zum Gebot der Vernunft?

4.1 Welche Form des normativen Individualismus? Welche Vertragstheorie?

4.2 Eigentum als konstitutive Bedingung der konkreten Rechtsordnung

4.3 Gemeinwille, Volkssouveränität und legislative Kompetenz

5. Geschichtsphilosophische Hintergründe politischer Normativität

5.16Zum theoretischen Anspruch der Geschichtskonzeption

5.2 Die These vom Mechanismus der Geschichte und die rechtliche Normativität

5.3 Der Friede und die weltbürgerliche Rechtsordnung

6. Kants politische Philosophie als Theorie nichtidealer Normativität

6.1 Der spezifische Charakter rechtlich-politischer Normativität

6.2 Moralische Deontologie und das Problem der Nichtidealität

6.3 Politische Philosophie und die Idee moralischer Grundgüter

Bibliographie

Namenregister

7Zitierweise und Siglen

Die Schriften Kants werden im Folgenden nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1902ff.) zitiert. So meint zum Beispiel »V.20,21-42« Band V, Seite 20, Zeile 21 bis 42. Alle Zitate folgen der originalen Orthographie. Wie in der Kantforschung üblich, wird bei der Kritik der reinen Vernunft nach den Seitenzahlen der ersten und zweiten Originalauflage zitiert; somit bezieht sich beispielsweise KrV A 70/B 95 auf S.70 der ersten (A) und S.95 der zweiten (B) Auflage. Auf Forschungsliteratur wird mit dem Namen des Verfassers und dem Erscheinungsjahr Bezug genommen, zum Beispiel »Byrd/Hruschka 2010: 152f.«.

ApH Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (VII.117-334, 1798)

Collins Vorlesung über Moralphilosophie (XXVII.1, Nachschrift Collins, 1784/85)

EaD Das Ende aller Dinge (VIII.325-340)

Feyerabend Naturrecht Feyerabend (XXVII.2.2: 1317-1394, 1784)

GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (IV 385-463, 1785)

GTP Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (VIII.273-313, 1793)

Herder Praktische Philosophie Herder (XXVII.1.3-89)

IaG Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VIII.15-32, 1784)

Kaehler Immanuel Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie, hg. v. W. Stark, Berlin/New York 2004.

KpV Kritik der praktischen Vernunft (V.1-164, 1788)

KrV Kritik der reinen Vernunft (A: IV.1-252, 1781; B: III.1-552, 1787)

KU Kritik der Urtheilskraft (V.165-486, 1790)

Mrongovius Moral Mrongovius II (XXIX.1.1.597-642, 1784/85)

8MS Die Metaphysik der Sitten (VI.203-493, 1797)

Opus postumum Opus postumum (XX 255-351, XXI-XXII, 1796-1803)

Powalski Praktische Philosophie Powalski (XXVII.1.91-235, Abschrift Powalski)

Refl. Reflexionen (XIX.1-660, Moralphilosophie, Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie)

RGV Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI.1-202, 1793)

RL Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (VI.203-372, 1797)

SdF Der Streit der Facultäten (VII.1-116, 1798)

TL Die Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (VI.373-493, 1797)

Vigilantius Vorlesung über Metaphysik der Sitten (XXVII.2.1.475-732, Nachschrift Vigilantius 1793-94)

VRL Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (XXIII.211-370)

VTL Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (XXIII.373-419)

WiA Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (VIII.33-42, 1784)

ZeF Zum ewigen Frieden (VIII.341-386, 1795)

9Vorwort

In diesem Buch geht es um die Frage, wie man Kants politische Philosophie verstehen kann, genauer gesagt: deren eigentümliche Form von Normativität. Dazu muss ich mich dem seit mehreren Jahrzehnten kontrovers diskutierten Problem zuwenden, ob sich das Recht, das Kant bekanntlich als die Grundnorm des Politischen auffasst, ihm zufolge aus dem Moralbegriff des Kategorischen Imperativs (KI) ableiten lässt oder nicht. Wenn ja, wie gewinnt man dann Ersteres aus Letzterem? Kann man solche normativen Gehalte wie die Individualrechte, den Republikanismus, die Gewaltenteilung, den Völkerbund oder das Weltbürgerrecht als Gebote der praktischen Vernunft gemäß einer KI-Prozedur auffassen? Bezeichnen wir die Überzeugung, Recht lasse sich aus dem Kategorischen Imperativ ableiten, als Abhängigkeitsthese. Sie wird in der Mehrzahl der einschlägigen Publikationen vertreten, etwa von W. Kersting, B. Ludwig, O. Höffe, P. Guyer oder G. Seel. Dagegen haben einige andere Kantforscher opponiert, die Recht und Moral als voneinander unabhängige normative Phänomene beschreiben. Anhänger einer solchen Unabhängigkeits- oder Trennungsthese sind etwa J. Ebbinghaus und G. Geismann sowie in jüngerer Zeit M. Willaschek, A. Ripstein und A.W. Wood. Wenn die Trennungsthese zutrifft, wie steht es dann um die Einheit von Kants praktischer Philosophie? Was verbindet dann noch Moral und Recht?

Die Debatte um die Vorzüge und Nachteile der Abhängigkeits- und der Trennungssthese ist keineswegs leicht zu entscheiden, weil sie zahlreiche textliche und inhaltliche Aspekte umfasst. Im vorliegenden Buch möchte ich einen neuen Blick auf die Kontroverse werfen und sie durch einen dritten Standpunkt zu überwinden versuchen. Während die Textbasis, wie sich zeigen wird, insgesamt eher für die Abhängigkeitsthese spricht, weisen zahlreiche inhaltliche Gesichtspunkte in die Richtung der Trennungsthese. Dieser Konflikt, so scheint mir, lässt sich auflösen, wenn man die rechtlich-politische Normativität bei Kant als nichtideale Variante der vollen Normgeltung versteht, die durch das Verfahren des Kategorischen Imperativs (KI-Prozedur) generiert wird. Kant konzipiert Recht als stark verminderte, um wesentliche Bestandteile verkürzte 10Version jener vollen Normgeltung, die sich aus der KI-Prozedur ergibt. Die Minderung der vollen Normativität erweist sich als so erheblich, dass es schwerfällt, die rechtsgenerierende Prozedur, welche ich als »Gemeinwillenstest« bezeichne, noch als Derivat der KI-Prozedur zu interpretieren: Weder inhaltlich noch formal noch motivational noch extensional konvergieren die beiden Verfahren. Dennoch zeigen sie eine gewisse Ähnlichkeit, was Kant dazu bewogen hat, ihr Verhältnis wiederholt als eines der Abhängigkeit zu beschreiben. In der nützlichen Klassifikation interpretatorischer Ansätze, die G. Seel (2009: 73) vorgenommen hat, lässt sich mein Standpunkt also dem Typ 2 zuordnen,[1] wobei ich das Verhältnis von Moral und Recht als eines der markanten Abschwächung verstehe. Dabei spielen nichtnormative, nämlich geschichtsphilosophische Überlegungen Kants eine so prägnante Rolle, dass man, wie ich glaube, kaum mehr sinnvoll von einer »Abhängigkeit« des Rechts vom Kategorischen Imperativ sprechen kann, obwohl Kant dies zugegebenermaßen tut.

Kants Konzeption rechtlich-politischer Normativität ist, so wird sich zeigen, als stark nichtideale Variante der vollen Normativität des Kategorischen Imperativs zu verstehen, wie wir ihn aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft kennen. Meine weitere Absicht ist es, diese Idee näher zu erörtern und dadurch aufzuzeigen, worin die Stärken dieses Modells liegen, aber auch, weshalb es in relevanten Hinsichten unzulänglich ist. Einerseits bietet Kants Modell eine interessante Mischung aus Entkopplung und Verbindung von politischer Philosophie und Moralphilosophie; andererseits stellt es ungenügende normative Anforderungen an das Feld des Politischen, wie man am Beispiel der Menschenrechte sieht, die Kant nicht wirklich rekonstruieren kann. Auch liefert es keine befriedigende Auskunft über die Vorrangfragen von Moral und Recht. Als zentraler Schwachpunkt erweist sich, dass Kant Rechte und Freiheiten nicht als moralisch vorrangige Güter innerhalb der Menge aller Güter auffasst, sondern als Implikation seiner Pflichtentheorie versteht. Sein deontologischer Liberalismus, wie ich diese Position nennen werde, zeigt 11erhebliche Nachteile gegenüber einer güterbasierten Auffassung politischer Normativität.

Eine erste Version meiner Überlegungen konnte ich auf Einladung von Heiner Klemme in Greifswald vorstellen, eine zweite bei Draiton de Souza und der Sociedade Kant Brasileira in Porto Alegre; ausführlich diskutiert habe ich meine Lesart zudem mit den Teilnehmern des Kolloquiums des FIPH in Hannover. Bedanken möchte ich mich für viele Anregungen und unterschiedliche Formen der Unterstützung, die von wertvollen Hinweisen über kollegiale Ermunterung bis zu heftiger Kritik reichten: bei Karl Ameriks, Wolfgang Bartuschat, Jochen Bojanowski, Reinhard Brandt, Katrin Flikschuh, Manfred Frank, Christel Fricke, Paul Guyer, Beatrix Himmelmann, Otfried Höffe, Jan Jacob, Maciek Kaniowski, Heiner Klemme, Jakub Kloc-Konkolowicz, Harald Köhl, Gerhard Kruip, Jens Kulenkampff, Georg Lohmann, Guido Löhrer, Zeljko Loparic, Bernd Ludwig, Corinna Mieth, Peter Niesen, Alessandro Pinzani, Nico Scarano, Dieter Schönecker, Gerhard Schönrich, Camilla Serck-Hanssen, Christian Thies, Jens Timmermann, Dietmar von der Pfordten und Véronique Zanetti. Besonderen Dank schulde ich Martin Brecher, Katarina Dworatzyk, Nora Kassan, Malte Kuhfuß, Reza Mosayebi, Julia Peters, Martina Richtberg, Anna Schriefl und Simon Weber. Für die geduldige Zusammenarbeit seitens des Verlags danke ich Eva Gilmer und Jan-Erik Strasser.

Bonn, im Juni 2013

121. Der Konflikt zwischen Abhängigkeits- und Trennungsthese

Welche Interpretation wird den Texten gerecht: die Abhängigkeits- oder die Trennungsthese? Um dies entscheiden zu können, muss man sich Kants Konzeption von praktischer Normativität insgesamt ansehen und dann den Platz rechtlich-politischer Normen innerhalb dieses Ganzen zu bestimmen versuchen.

Kant entwickelt seine praktische Philosophie mehrfach in umfassender Form: erstens in den Vorlesungen, die uns aus der Zeit seit den 1770er Jahren greifbar sind; dazu zählen die Vorlesungsmitschriften Collins, Herder, Kaehler, Feyerabend, Mrongovius, Powalski und Vigilantius. Eine umfassende, systematische Pflichtenlehre bietet zudem die Metaphysik der Sitten (1797) mit ihren beiden Teilen Rechtslehre und Tugendlehre. Wichtige Elemente der politischen Philosophie und der Rechtsphilosophie finden sich zusätzlich auf mehrere Schriften verteilt. Neben der Rechtslehre, die einer Gesamtdarstellung noch am nächsten kommt, sind hier besonders einschlägig der Aufsatz Was ist Aufklärung? (1784), der Traktat Über den Gemeinspruch (1793) sowie die kleine Abhandlung Zum ewigen Frieden (1795). Weiteren relevanten Äußerungen Kants begegnen wir in den Traktaten Idee (1784), Religion (1793) und Streit der Fakultäten (1798). In diesen und einigen weiteren Texten wird auf engem Raum eine Fülle rechtlich-politischer Theoreme entwickelt, darunter eine Konzeption von Vernunftrecht, Gemeinwille und Volkssouveränität, die Idee des Republikanismus, die Vertragstheorie, Gewaltenteilung, eine zwischenstaatliche Friedensordnung, eine von der Tradition weitgehend unabhängige Legitimation von Eigentum und vieles mehr.[1] Doch was Kant seinen Lesern schuldig bleibt, ist ein roter Faden, der diese Teilthemen verbinden würde. Dem späten Kant scheint es nicht mehr gelungen zu sein, einen homogenen Gesamtentwurf vorzulegen. Aus diesem Grund müssen die Interpreten auf Notizen und Vorarbeiten sowie die Reflexionen zurückgreifen,[2]13und aus demselben Grund sollte man in der Rechtslehre mit der Notwendigkeit einiger Textumstellungen rechnen.[3]

Tatsächlich fällt es nicht leicht, den inneren Zusammenhang von Kants politischer Philosophie aus den verstreuten Texten überzeugend zu rekonstruieren. Die Hauptschwierigkeit besteht allerdings nicht darin, dass uns Theorieelemente vorliegen, die auf diverse Schriften verteilt sind und die die Interpreten zur Lösung eines Puzzlespiels herausfordern. Das Grundproblem ist vielmehr, dass man nur schwer verstehen kann, was Kants politisches Denken mit seiner Moralphilosophie zu tun hat. Denn wer die Grundlegung und die Kritik der praktischen Vernunft gelesen hat, weiß: Moralität bildet für Kant so etwas wie einen absoluten, unausweichlichen Standpunkt des Individuums zur Welt. Nach Kants Moralphilosophie sieht sich jedes Vernunftwesen unter strikte Anforderungen an die Rationalität seines Handelns gestellt, unter Gebote, Verbote und Erlaubnisse, die es nicht zurückweisen kann und die es nicht relativieren darf. Was man in den politischen Schriften lernen kann, ist jedoch, dass »Recht« ebenfalls ein normatives Phänomen ist, das sich unbedingt an das Individuum adressiert, um dessen Verhalten zu normieren. Auch auf rechtliche Normen trifft zu, dass sich ein vernünftiges Individuum keinesfalls von ihnen freimachen kann; denn auch sie gelten Kant zufolge a priori. Und doch erweist sich die Geltungsweise des Rechts als so different von derjenigen Normativität, welche wir aus der Grundlegung und der zweiten Kritik kennen, dass wir allen Grund haben, Kants Überzeugung von der gemeinsamen Quelle beider mit Vorsicht zu behandeln.

1.1 Moralische und rechtlich-politische Pflichten

Kant zufolge existieren zwei verschiedene Spielarten von vernünftiger praktischer Notwendigkeit: Ethik und Recht. Individuen haben einerseits Tugendpflichten, und andererseits müssen sie Rechtspflichten, also rechtlich-politische Verbindlichkeiten, erfüllen. Wie verhält sich die eine Art von Normativität zur anderen? Es ist diese Frage, in der mir der Schlüssel zu einem angemessenen 14Verständnis der politischen Philosophie Kants zu liegen scheint. Und die Antwort hierauf ist wesentlich schwieriger zu geben, als man dies aufgrund der Kantischen Idee von Normativität erwarten würde, wie wir sie aus seinen moralphilosophischen Hauptschriften der 1780er Jahre kennen.

Es ist von entscheidender Bedeutung, gleich zu Beginn Festlegungen zum weiteren Sprachgebrauch zu treffen. Kant selbst differenziert zwischen dem Ethischen und dem Rechtlichen auf eine Weise, die nicht mehr unserer geläufigen Terminologie entspricht. Unserer Wortverwendung nach bezeichnet »Recht« eine Form von Normativität, die in einem eigenständigen gesellschaftlichen Subsystem realisiert ist: der Sphäre des Rechts, bestehend aus dem politischen Gesetzgeber, dem Gerichtswesen, den Polizei- und Justizorganen, professionellen Juristen, der akademischen Rechtswissenschaft usw.; Recht regelt individuelles und kollektives Handeln gemäß der Idee grundlegender sozialer Interaktionsbedingungen. Um es tautologisch auszudrücken, hat es Recht mit allen Aspekten des menschlichen Sozialverhaltens zu tun, die wir rechtlich geregelt sehen wollen, also mit allem, was eindeutig festgelegt und unter Straf- und Sanktionsdruck gestellt werden soll. Wegen ihrer Bindung an das öffentliche Rechtssystem gehört die philosophische Rechtsethik – falls man Recht überhaupt an moralphilosophische Grundlagen binden möchte – zur . Die Aufgabe der Rechtsethik besteht darin, die moralischen Grundlagen dessen zu thematisieren, was einer rechtlichen Regelung unterliegt oder unterliegen sollte. Demgegenüber würden wir der die Rolle zuweisen, generelle moralische Normen für dasjenige Verhalten von Individuen zu formulieren, das nicht dem Rechtssystem unterworfen ist. Wir würden als normativen Leitbegriff der Institutionenethik »Legalität« und als normativen Leitbegriff der Individualethik »Moralität« verwenden.

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