Nichts als Freiraum - Anna Maria Michel - E-Book

Nichts als Freiraum E-Book

Anna Maria Michel

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Beschreibung

In der gesellschaftlichen Diskussion über die Dinge, welche die junge Generation braucht, dominieren seit Jahren Fragen der Kinderbetreuung und Schulbildung. Eine eigenständige, kreative, sich selbst bildende, experimentierende und gestaltende Jugendphase scheint in diesem Diskurs kaum vorzukommen. Anna Michel zieht ein bitteres Resümee ihrer praktischen Erfahrungen: "Jugendliche sind eine andere Spezies, denen man kein Vertrauen schenken kann und die man kontrollieren muss. Technische, akustische und bauliche Maßnahmen sowie Eingreiftruppen werden dazu genutzt, um Jugendliche aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben oder ihnen erst gar keine Gelegenheit zu geben, diesen für sich nutzbar zu machen." Anna Michel fordert in ihrer vorliegenden Arbeit ein konse- quentes Umdenken und gibt Kommunen und Einrichtungen wichtige Denkanstöße, wie echte Partizipation von jungen Menschen mittels aktiver Raumaneignung gelingen kann. Die in der Arbeit formulierten Anregungen sind pragmatisch und machbar, die abgeleiteten Forderungen durchaus erfüllbar – vorausgesetzt, die alternde Gesellschaft bringt das auf, was ihr von jeher besonders schwer fällt: das Vertrauen in die Gestaltungskraft der jungen Generation. Elvira Berndt, Gangway e. V.

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Anna Maria Michel

NICHTS ALS FREIRAUM

Visionäre Forderungenfür gelungene Partizipationvon Jugendlichen in Freiräumen

Die Autorin

Anna Michel ist 1983 in Essen im Herzen des Ruhrgebiets geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie in Osnabrück Kunstpädagogik und Französisch im 2-Fach-Bachelor, entschied sich allerdings nach dem Abschluss gegen das Lehramt und probierte sich in diversen Praktika in den Bereichen Theater, Medien und Film aus. Seit 2010 arbeitet sie bei einem freien Träger der Jugendhilfe im Bereich der Kulturpädagogischen Projekte. Berufsbegleitend studierte sie „Management von Kultur- und Non-Profit-Organisationen“ an der TU Kaiserslautern und erreichte 2017 den Masterabschluss. Sie ist verheiratet und seit Herbst 2018 Mutter eines Sohnes. Kulturelle Vielfalt und freiwilliges Engagement gehören schon seit ihrer Kindheit zu ihrem Leben. Sie engagiert sich in sozialen und kulturellen Projekten und verbindet gerne Dinge und auch Menschen, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemeinsam haben. Eine praktisch veranlagte, neugierige Querdenkerin.

INHALT

Einleitung

Partizipation

Leiter der Partizipation

Jugendliche

Rechtliche Grundlagen von Partizipation

Weitere Akteur_innen zum Thema Partizipation & Jugendliche

Alibi-Partizipation

Macht und Freiwilligkeit

Freiraum

Öffentlicher Raum

Leerstand

Freiraum und Partizipation

Virtueller Raum

Raum für Kreativität

Jugendliche, Freiraum und Partizipation

Baurecht

Schulraum

Eroberte Räume

Besetzte Räume

Vertreibung aus dem öffentlichen Raum

Die Bänke in Berlin

Forderungen

Willenserklärung

Fische, Köder und Angler

Eigentum verpflichtet

Infrastruktur

72 Stunden

Zugänge

Forderungen im Überblick

Gelungene Partizipation von Jugendlichen in Freiräumen

Resümee und Ausblick

Quellenverzeichnis

Literatur

Onlinequellen

Verzeichnis der Abbildungen

Verzeichnis der Abkürzungen

Anhang

Anhang I: Stadtaneignung

Anhang II: ePartizipation

Anhang III: Bänke in Berlin

Anhang IV: Expert_innen, Freiraumprojekte, Projekte zur Stärkung Jugendlicher

Anhang V: Methodensammlungen

Anhang VI: King Of The Jungle – Longboard Contest

Weiteres Material

EINLEITUNG

„Guten Tag, Sie bieten ein leer stehendes Ladenlokal zur Vermietung an und ich möchte Sie höflich fragen, ob Sie sich vorstellen könnten, diesen Raum für eine gewisse Zeit zur Zwischennutzung für ein Projekt von Jugendlichen zur Verfügung zu stellen?“ „Für Jugendliche? Nein, also wir haben da gerade frisch gestrichen!“

Dieses Originalzitat eines Telefonats, das ich mit einer Eigentümerin im September 2016 führte, beschreibt die momentane Vorstellung, die die ältere Generation von der Generation der Jugendlichen zu haben scheint: Jugendliche sind eine andere Spezies, denen man kein Vertrauen schenken kann und die man kontrollieren muss. Ihnen Raum zur Entfaltung zu geben, ist nicht möglich, denn die von Erwachsenen erschaffenen Räume haben ein bestimmtes Aussehen und eine bestimmte Funktion, die unveränderbar scheint und die Bedürfnisse von Jugendlichen nicht berücksichtigt. Manche dieser Räume werden täglich kontrolliert und mit Schallwaffen und architektonischen Maßnahmen gegen die Benutzung von Jugendlichen verteidigt.

Seit einigen Jahren arbeite ich im gemeinnützigen Verein FOKUS im Bereich der kulturpädagogischen Projekte. So besuchte ich 2013 eine große mehrtägige Konferenz im Themenfeld der kulturellen Bildung. Als damals Dreißigjährige war ich eine der Jüngsten unter den Teilnehmenden. Nach vielen Vorträgen und Diskussionen standen auf dem Programmplan auch „Workshops mit Jugendlichen“. Auf die praktische Arbeit zusammen mit den jungen Menschen war ich sehr gespannt. Doch anstatt zusammen zu arbeiten, saßen die Teilnehmer_innen der Konferenz in einem Stuhlkreis um die Jugendlichen herum und schauten ihnen dabei zu, wie sie mit diversen Materialien und Werkzeugen architektonische Gebilde bauten. Mir war diese Situation außerordentlich peinlich. An der Körpersprache der Jugendlichen ließ sich ihr Unbehagen deutlich ablesen, und ich selbst fühlte mich wie zu einem Zoobesuch gezwungen.

Diese beiden Beispiele aus meinem Arbeitsalltag zeigen Folgendes: Auf der einen Seite wird Jugendlichen seitens der Erwachsenen kein Raum zur Gestaltung gewährt, und auf der anderen Seite wird ihr gestalterisches Können in von Erwachsenen geschaffenen und kontrollierten Räumen, in denen die erwachsenen Ideen vorrangig sind, instrumentalisiert. Dieses möchte ich als Missstand bezeichnen, den es aufzuheben gilt.

Jeder Mensch ist ein aus sich selbst heraus handelndes Individuum und strebt damit nach Selbstbestimmung, Freiheit und Selbstentfaltung (vgl. Gerhardt 2007: 14–20). Durch Raumaneignung können diese Faktoren erreicht werden. Gerade für die positive Entwicklung Jugendlicher ist Raumaneignung von zentraler Bedeutung (vgl. Reutlinger 2015: 56). Freiräume machen ihre Bedürfnisse, ihr Wissen und ihre Interessen sichtbar. Folglich müssen sie die Möglichkeit erhalten, sich Räume anzueignen. Dies ist durch Partizipation möglich.

Durch das Einnehmen anderer Sichtweisen und die Bereitschaft zum Querdenken ist es möglich, leere Räume mit Ideen zu füllen und den Potentialen junger Menschen Raum zur Entfaltung zu geben. Die Erfahrungen aus meinem Arbeitsalltag zeigen mir, dass dies durch das Zurverfügungstellen von vorhandenen Ressourcen möglich ist. Mit geringem Aufwand können große Effekte erzielt werden, durch die dem Streben Jugendlicher nach Selbstentfaltung und Selbstbestimmung Raum gewährt wird. Dabei spielt das Thema Macht eine bedeutende Rolle, gefolgt von Respekt und Vertrauen.

Die in dieser Arbeit entwickelten Forderungen sollen den realen Lebensraum von Jugendlichen positiv beeinflussen. Sie beziehen sich alle auf die Frage: Was müsste passieren, damit gelungene Partizipation von Jugendlichen in Freiräumen stattfinden kann? Die Forderungen werden anhand von positiven praktischen Beispielen aus unterschiedlichen Bereichen formuliert. Deshalb sind sie im Titel als „visionär“ im Sinne von „weitblickend“ betitelt.

Zunächst beleuchtet diese Arbeit den Begriff Partizipation näher und untersucht, welche Definitionen mit ihm verbunden sind und in welchen Bereichen er eine Rolle spielt, sodass seine diversen Wesensmerkmale aufgezeigt werden. Anhand eines Modells werden die Faktoren herausgearbeitet, die gelungene Partizipation benötigt. Anschließend werde ich Partizipation im Hinblick auf die Gruppe der Jugendlichen untersuchen. Häufig wird dieser Begriff gerade im pädagogischen Kontext falsch verstanden und auch missbraucht.

Daraufhin werde ich den Begriff Freiraum unter ähnlichen Gesichtspunkten untersuchen. Dabei beschäftige ich mich mit dem öffentlichen Raum, Leerständen, virtuellen Raum und auch dem Raum für Kreativität. Die Thematik Freiraum setze ich im anschließenden Kapitel in Bezug zu Jugendlichen und zu Partizipation. Dieses Kapitel schließt mit einem aktuellen Beispiel ab, in dem die drei Untersuchungspunkte dieser Arbeit, Partizipation, Freiraum und Jugendliche, eine entscheidende Rolle spielen.

Daran schließt sich der Teil der Arbeit an, in dem ich die visionären Forderungen mithilfe einer Kreativ-Methode entwickle. Abschließend werde ich anhand eines Beispiels aufzeigen, wie deren Umsetzung in der Praxis vorstellbar ist.

PARTIZIPATION

Der reinen Wortherkunft nach bedeutet Partizipation nüchtern betrachtet „Teilnahme“. Die Wurzeln finden sich im Lateinischen in den Wörtern „pars, partis – Teil, Anteil, Abteilung“ und „capere – nehmen, fassen“ sowie „particeps – teilhabend“ (Duden 2007: 590). Aus dem lateinischen Stamm „pars, partis“ geht auch das politisch verwendete Wort „Partei“ hervor. „Das seit mhd. Zeit als partie ‚Abteilung, Personenverband‘ bezeugte Wort bezeichnet zunächst allgemein eine Gruppe von Personen, die sich zusammenschließen, um gemeinsame Interessen und Zwecke zu verfolgen“ (ebd.: 590f.). Mehrere Synonyme sind für das Verb „partizipieren“ zu finden: „sich beteiligen, dabei sein, mitarbeiten, mitmachen, mitwirken, [tätigen] Anteil nehmen, teilhaben, teilnehmen; (ugs.): mitmischen, mit von der Partie sein, mitziehen“ (Duden 2010a: 684).

Die Bundeszentrale für politische Bildung bezeichnet Partizipation als die „Teilhabe der Bevölkerung an politischen Willensbildungsprozessen, insbesondere an Wahlen und Referenden [und; Anm. d. Verf.] in einem rechtlichen Sinne […] [als; Anm. d. Verf.] die Teilhabe der Bevölkerung an Verwaltungsentscheidungen“ (bpb 2016: o. S.).

Artikel 20 des Grundgesetzes (GG) lautet:

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

Partizipation ist also das politische Grundprinzip der Demokratie, das seinen Ursprung in der griechischen Antike hat, bei der das Volk durch freie Wahlen die Machtausübung in seinem Land mitbestimmt. In Paragraph 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) wird jeder Mensch als Rechtssubjekt definiert, dessen Rechtsfähigkeit mit der Vollendung der Geburt beginnt. Demnach ist Partizipation ein Grundrecht jedes Menschen jeden Alters in Deutschland. Dieses Grundrecht wird durch weitere Gesetze, die unter anderem die deutsche Staatsangehörigkeit (vgl. Art. 116 GG) und weitergehende Wahlberechtigungen betreffen, definiert.

In der politischen Philosophie wird unter Partizipation die wechselseitige Einflussnahme der Menschen untereinander verstanden, mit der sie im sozialen Zusammenhang mehr erreichen können, „als ihnen als Einzelwesen möglich ist“ (Gerhardt 2007: 14). Des Weiteren sind Menschen aus sich selbst handelnde Individuen, in deren Handeln sich der Anspruch auf Selbstbestimmung ausdrückt (vgl. ebd.: 20f.). Selbstbestimmung zählt neben „Reflexivität, Freiheit, Selbstentfaltung und Darstellung zum Wesen des Menschen“ (Schilling 1995: 177). Das Erreichen dieser grundlegenden menschlichen Haltungen und Lebensziele ist auch in Artikel 2 des Grundgesetzes verankert:

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Zudem ist das Recht auf Partizipation in Form von Freiheits-, Teilhabe- und Gleichheitsrechten in den Menschenrechten definiert, an die völkerrechtlich alle Staaten der Erde gebunden sind, unabhängig von Staatsform und landesspezifischen Gesetzen (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte 2017: o. S.).

Partizipation ist also anthropologisch, pädagogisch und philosophisch als eines der Grundprinzipien des menschlichen Seins zu verstehen, durch das der Mensch seine Persönlichkeit frei entfalten kann. Das Recht auf Partizipation ist ein Menschenrecht und ist in Deutschland in mehreren Gesetzen verankert. Bereits die Wortherkunft von „pars, partis“ verdeutlicht, dass Partizipation und Politik eng verbunden sind. In politischer Hinsicht ist es das Grundprinzip der Demokratie, auf dem das politische System in Deutschland beruht.

Leiter der Partizipation

Partizipation ist ein komplexer Begriff, der sich auf viele Lebensbereiche beziehen lässt. Ist es möglich, diesen zu differenzieren und Unterschiede aufzuzeigen?

Sherry R. Arnstein entwickelte ihre Vorstellungen dazu anhand des Bildes einer Leiter. Ihre Ladder Of Citizen Participation, die 1969 im Journal of the American Institute of Planners veröffentlicht wurde, bildet seitdem die Basis für viele weiterentwickelte Modelle, die in der Pädagogik und anderen wissenschaftlichen Bereichen nachhaltig zum Tragen kommen (siehe Hart 1992, Schröder 1995).

Mit Hilfe des Bildes einer Leiter werden hier acht Stufen von Partizipation unterschieden. Dabei wird der Blick auf die Citizen, die Bürger_innen, gerichtet und es wird dargestellt, wie viel Macht ihnen von den Powerholders, den Machtinhaber_innen, zugestanden wird.

Die ersten beiden unteren Stufen beschreiben Formen von Nicht-Partizipation. Dabei werden die Bürger_innen manipuliert und von den Machtinhaber_innen für ihre Interessen instrumentalisiert.

Die Stufen drei, vier und fünf beschreiben Formen der Alibi-Beteiligung. Die Bürger_innen werden über bereits beschlossene Entscheidungen informiert, können diese aber nicht mehr ändern. Bei der Konsultation werden sie angehört und kommen zu Wort. Dass ihre Meinungen und Vorschläge im weiteren Prozess Beachtung finden, ist von den Machtinhaber_innen jedoch nicht beabsichtigt. Die Stufe der Beschwichtigung ist laut Arnstein ein höheres Level von Schein-Beteiligung. Die Gruppe der Bürger_innen wird angehört und kann Vorschläge angeben, wobei jedoch die endgültige Entscheidung bei den Machtinhaber_innen liegt.

Abbildung 1: Leiter der Partizipation nach Arnstein (1969: 217)

An oberster Stelle der Leiter stehen drei Stufen, in denen die Bürger_innen die Macht innehaben. Partnerschaft als Stufe sechs bedeutet, dass die Gruppe der Bürger_innen den Machtinhaber_innen ebenbürtig ist und zusammen Entscheidungen getroffen werden. In Stufe sieben wird die Macht auf die Bürger_innen delegiert und sie besitzen hohe Entscheidungskompetenzen.

Citizen control der Stufe acht meint die volle Kontrolle und Entscheidungsmacht durch die Bürger_innen selbst. Diese Stufe lässt sich auch als Selbstbestimmung oder Selbstorganisation bezeichnen. Je höher die Stufen der Leiter also gehen, desto mehr Macht wird von den Machtinhaber_innen an die Bürger_innen abgegeben, bis sie am Ende komplett bei den Bürger_innen liegt.

Der allgemein bekannten Wortbedeutung nach bedeutet Partizipation „teilhaben“ oder „mit von der Partie zu sein“. Demnach ist die Entscheidungsmacht immer auf mehrere Machtinhaber_innen aufgeteilt, und die Gruppe, die ein Teil und somit teilhabend ist, hat nicht die komplette Macht über Entscheidungen inne.