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Es geht um einen aufrüttelnden Prozess innerhalb einer Therapie. Höhen und Tiefen werden gemeinsam durchschritten. Die besondere Beziehung zwischen Psychoanalytiker und Patientin so nah mit erleben zu können ist normalerweise nicht möglich. Es kann geschehen, dass man beim Lesen dieses Buches selbst in heilsame Momente kommt.
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Seitenzahl: 270
Veröffentlichungsjahr: 2022
Nichts als Träume
Anna S.
© 2022 Anna S.
ISBN Softcover: 978-3-347-69376-0
ISBN E-Book: 978-3-347-69377-7
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Inhaltsangabe
Mit Anfang 50 erkrankte Anna an Depression und konnte ihre Berufstätigkeit als Erzieherin mit sonderpädagogischer Zusatzausbildung immer weniger ausüben. Zugleich starb auch noch völlig unerwartet ihr Mann.
Erst anschließend erfuhr sie nach und nach, dass sie nicht nur von ihrem Mann belogen und betrogen wurde, sondern auch ihr gemeinsamer Freund und Gemeindepfarrer von all dem wusste. Ihr Glaube war tief erschüttert.
Doch ein Freund aus jungen Jahren, dessen Frau im selben Jahr verstarb, begegnete ihr wieder und unterstütze sie. Mit ihm als Lebenspartner begann sie an einem anderen Ort noch einmal neu.
In diesem Buch können Sie die therapeutische Verarbeitung einer anfangs 58-Jährigen lesen, die den großen Schock bereits einigermaßen verwunden hat.
Erst daraufhin zeigt sich in ihren Träumen, dass hinter den dramatischen Ereignissen der vergangenen Jahre ein noch viel tieferliegendes Geheimnis verborgen ist.
Ein Trauma, das letztlich ihr ganzes Leben bestimmt hatte. Dieses ans Tageslicht zu bringen – so erkennt sie immer deutlicher - ist die eigentliche Chance ihrer aktuellen Lebenskrise!
Mit Unterstützung eines guten Therapeuten, ihrem Glauben an die Kraft der Liebe und den feinstofflichen Behandlungen einer Heilerin kann sie wieder festen Boden unter ihren Füßen spüren.
Dabei hilft ihr auch die neugefundene ehrenamtliche Tätigkeit als Sterbe - und Trauerbegleiterin.
Im Dasein für andere Menschen gewinnt sie seelische Kraft und überwindet große Angst.
Danke, Bodo
Wenn Sie, liebe Lesende, den Wunsch verspüren sich mit mir austauschen zu wollen, oder wenn Sie mich für eine Lesung – vielleicht im Wechsel mit dem Spiel einer Harfe – buchen wollen, können Sie mich unter folgender E-Mail-Adresse erreichen:
nichtsals [email protected]
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsangabe
Einleitung
Depressionen
Still – ende Brust
Nicht nur ein Traum
Wahrheit oder Traum
Endlich wieder mal fliegen
Irritationen
Meine Stunde
Eine vergnügte Stunde
Welch‘ bittere Wahrheit
Ich möchte nicht leben müssen!
London oder Psychiatrie?
Endlich Gewissheit
Zweifel
Schon eine Annäherung
Struwwelliese
Ich bin nicht schuld
Unmittelbare Reaktionen
Opfer und Täter
Im Kriegsgebiet
Heilkreis mit Clara
Viel Freude
Bruderliebe
Rückenschmerzen
Das Innere Kind
Macht
Jemand mein göttliches Kind
GLAUBE
LIEBE
HOFFNUNG
Einleitung
Manchmal denke ich, es ist ein Unding, was ich Ihnen zumuten will. Eigentlich steht es mir gar nicht zu, Sie damit zu konfrontieren, genauso wenig wie Folgendes für mich nicht wirklich zumutbar gewesen war:
1. Eine Kindheit in einem Heim.
2. Ein sexueller Missbrauch im Kleinkindalter.
Es tut mir leid, aber es ist ganz einfach so, dass ich mit dem Älterwerden immer mehr beginne zurückzuschauen. Ich nicht mehr kontrollieren kann und will, was ich erzählen darf und was nicht.
Ich möchte frei sein.
Es ist mein Wunsch mich ganzheitlich zeigen zu dürfen, zumindest da, wo ich es möchte und mein Gegenüber dazu bereit ist.
In lockerer Runde einbringen zu können, dass wir pubertierenden Mädchen damals im Kinderheim jeden Donnerstagabend einen Stapel Unterwäsche ausbessern, also geplatzte Nähte zusammennähen und Namensschildchen in neue Unterwäsche einnähen mussten, wobei wir im Radio die Schlagerbörse hören durften, das tut so gut.
Einfach mal mit anderen Erinnerungen austauschen, ohne dass das Wort Kinderheim schon betroffenes Schweigen auslösen muss.
Es war nicht nur Schweres da, es war auch vieles hilfreich und gut.
Das 2. Trauma hatte viele Nachwirkungen in meinem Leben hinterlassen, die man besser begreifen kann, wenn man die Ursache kennt, bzw. zumindest grundsätzlich davon weiß. Auch wenn sich der sexuelle Missbrauch in meiner Geschichte nur andeutet, und es völlig unnötig ist, sich dort ganz hineinzubegeben, so ist es doch wichtig für mich, es mir anzuschauen, es aufzuarbeiten und es anzunehmen. Nur um es dann wieder gut hinter mir stehen zu lassen.
Ursprünglich habe ich nur für mich geschrieben, getragen von der Sehnsucht – Sprachlosigkeit zu überwinden – was wortwörtlich zu verstehen ist.
Die Traumata hatten mir die Sprache verschlagen.
Zeitweise war ich ganz verstummt oder so eingeschränkt, dass mir keinerlei passende Worte und Formulierungen mehr zugänglich waren.
Aber … wer hätte mir schon zuhören wollen?
Ganz, ganz langsam begann es, dass ein Mensch und noch einer und noch einer bereit war, mein Manuskript zu lesen. Und nicht nur das, es auch zu korrigieren und/oder mit mir in einen Austausch zu gehen. Dieses gemeinsame Nacharbeiten war und ist für mich ein wichtiger weiterer Entwicklungsschritt.
Beispielsweise habe ich zu dem Thema Suizid eine noch deutlichere Haltung gewinnen können und befinde mich auch weiterhin in einem Prozess der Meinungsfindung.
Dafür danke ich Euch sehr herzlich.
Anhand der Korrekturen und auch einem professionellen Lektorat erkannte ich Mängel, Unvollkommenheiten, Brüche – die es einem Leser unmöglich gemacht hätten, den roten Faden meiner Geschichte auch nur annähernd im Auge zu behalten und die Komplexität der Themen zu erfassen.
Jedoch … das Arbeiten mit den Träumen und die freie Assoziation bringen es mit sich, dass immer nur gerade das zum Vorschein tritt, was für den anstehenden Heilungsprozess aktuell, also dran ist und somit ein chronologisches Vorgehen außer Acht lässt.
Und ja … natürlich … es ist subjektiv, und auch die wörtliche Rede ist lediglich aus meiner Erinnerung herausgeschrieben.
Obendrein habe ich beim Schreiben zwischen der dritten und ersten Person gewechselt und es lange nicht bemerkt. So drückte sich sicherlich auch aus, dass es mir oft zu viel wurde und ich Distanz zu meiner eigenen Geschichte brauchte.
Das habe ich weder geändert noch ändern lassen, denn es würde den therapeutischen Prozess verfälschen. Dennoch konnte ich durch die Anmerkungen der Korrekturleser einige Unklarheiten auflösen und begreifbarer formulieren.
Mein Lebenslauf, der Ihnen eine Orientierung geben kann:
1954 – werde ich als erstes Mädchen nach drei Brüdern geboren, ein weiterer Bruder und eine Schwester folgen
1960 – Unterbringung in einem Kinderheim
1967 – habe meinen ersten Freund im Kinderheim, nach 20 Monaten beendet er unsere Beziehung.
1970 – Realschulabschluss, Umzug in ein Mädchenwohnheim, ein Jahr Frauenfachschule
1971 – Umzug in das Internat einer Fachschule für Sozialpädagogik
1973 – Geburt meiner Tochter
1974 – Anerkennung zur staatlich geprüften Erzieherin, Beginn meiner Berufstätigkeit, Gruppenleiterin in einem Kinderheim.
1978 – beruflicher Wechsel in eine öffentliche Schule
1980 – erste Eheschließung/Arbeiter
1981 – Austritt aus der Ev. Kirche
1982 – dreijährige berufsbegleitende sonderpädagogische Zusatzausbildung
1989 – beginne 300 Stunden Psychoanalyse auf der Couch nach S. Freud
19 91 – Ehescheidung
1995 – zweite Eheschließung/ Lehrer
2001 – beginne als ehrenamtliche Mitarbeiterin im Konfirmandenunterricht
2002 – Wiedereintritt in die Ev. Kirche
2003 – berufsbegleitende Fortbildung am Pädagogisch Theologischem Institut
2004 – Mitarbeit in einer Vorbereitungsgruppe für „Gottesdienst am Abend“
2006 – erkranke ich an Depression, mein Mann stirbt unerwartet
2007 – Umzug zu meinem heutigen Lebenspartner
2009 – beende meine Berufstätigkeit, Verrentung
2009 – einjährige Fortbildung zur Sterbebegleiterin, beginne ehrenamtlich im Vorstand des Ambulanten Hospizverein und als Sterbebegleiterin zu arbeiten
2011 – beginne eine Psychoanalyse nach C. G. Jung
2012 – beginne meine Therapie schriftlich zu verarbeiten
2012 – Einjährige Fortbildung zur Trauerbegleiterin – leite ein Trauer Café und eine Trauergruppe
2013 – beginne eine dreijährige Fortbildung: Aura- und Chakren- Behandlung
2014 – beende meine schriftliche Reflexion der Therapie, bin aber weiterhin in Therapie
2014 – nehme seitdem 14 tägig an einer fortlaufenden Traumgruppe nach C. G. Jung teil
2016 – werde zur 1. Vorsitzenden des Hospizverein gewählt
2017 – beginne eine dreijährige Fortbildung: Spirituelle Sterbebegleitung
2019 – beginne eine dreijährige Ausbildung nach C. G. Jung in Verbindung zur Chakren Lehre: Träume verstehen – Traumprozesse begleiten.
Alle Ausbildungen habe ich abgeschlossen. Es war ein langer Weg, der auch mit der Fertigstellung dieses Buches nicht beendet sein wird.
Möglicherweise werden wieder Irritationen, Sprachlosigkeit und Aussprache folgen.
Beim Lesen könnten einige sagen, wie kann sie sich Christin nennen und im nächsten Moment von Reinkarnation sprechen. Andere könnten äußern, dass die Institution Kirche im Laufe der Jahrhunderte dieses und jenes in der Bibel veränderte, was ursprünglich so nicht war.
Manche könnten sich fragen, ob der sexuelle Missbrauch überhaupt stattgefunden hat.
Ich sage, dass ich heute, bei Herausgabe des Buches, selten das Bedürfnis habe, diese Fragen über den Kopf lösen zu wollen. Es erscheint mir auch gar nicht mehr relevant.
Alles was ich dabei empfinde, ist, dass ich durch viel Angst und Leid gegangen bin und sich in mir ein immer weiter werdender Zustand ausgebreitet hat, der sich am ehesten mit den Worten – es ist wie es ist – beschreiben lässt.
Ich bin dankbar für jeden einzelnen Menschen, der bereit ist, sich auf mein Buch/auf meine Lebensgeschichte einzulassen.
Wissend, dass jene, die selbst betroffen sind, es möglicherweise nicht lesen können, aus ernstzunehmender Angst vor Retraumatisierung. Und jene, die nicht betroffen sind, sich nicht unnötig belasten wollen.
Was ich gut nachvollziehen kann.
Und dennoch hoffe ich auf einige, die sich auf meine Geschichte einlassen.
Die – auch wenn es zu dunkel, zu schwierig, zu unverständlich und noch immer nicht fehlerfrei, dennoch weiterlesen, dranbleiben und begreifen wollen.
Ich vertraue darauf, dass es kleine lichtvolle Augenblicke und Begegnungen geben wird und möchte jedem Menschen Mut machen, es zu lesen.
Träume sind unsere ganz persönliche Handschrift. Um dem gerecht zu werden, habe ich sie in Schreibschrift gesetzt.
Für den Titel – Nichts als Träume – habe ich mich entschieden, weil mich die Vieldeutigkeit, die sich darin versteckt, immer wieder zum Lächeln bringt.
Dieses Ab - und Aufwerten, als auch das in Frage stellen oder das philosophische Betrachten, beispielsweise ob die Träume aus dem Nichts kommen und uns wieder dahinführen beziehungsweise die Umkehrung dessen, dass eigentlich unser Leben nur eine Illusion, ein Traum ist oder aber, dass Träume Schäume sind bzw. anders herum betrachtet, ob sie uns Botschaften aus dem Unbewussten senden, uns Impulse für unser Leben geben wollen – all das kann Schwindel und immens viel Schwere, aber auch Lebendigkeit, Leichtigkeit und Lösung mit sich bringen.
Ich jedenfalls würde mich riesig freuen, wenn Traumata irgendwann ihre Macht über uns verlieren könnten.
Wäre nicht schon das ein wunderschöner Traum?
Depressionen
„Und am Ende bin ich es wieder, die das erdulden muss!“
„Aber das hat doch mit Ihnen gar nichts zu tun!“
„Das weiß ich doch nicht!“
Heftig schießt dieser Satz aus ihr heraus.
Ruhig und freundlich fragt er:
„Was wissen Sie nicht?“
Orientierungslos kann sie nur noch sagen:
„Ich weiß nicht.“
Die Worte verhallen im Raum.
Stille folgt.
Langsam beginnt er zu sprechen und sie – sie kann nun wieder direkt in seine Augen schauen.
„Wo sind Sie denn jetzt?“
Sie spürt, dass das eine gute Frage ist, und wenn sie sich genug anstrengen würde, könnte sie diese Frage vielleicht sogar richtig beantworten. Sie fühlt in sich hinein und murmelt: „Ich glaube, ich bin jetzt in Wahldorf.“
Und erkennt eine kleine bestätigende Reaktion in seinen Augen und ist froh, mit ihm wieder auf einem gemeinsamen Nenner angekommen zu sein.
Pure Erleichterung.
Sie ist wieder da!
Und hört seine Worte: „Ja, Sie sind da weiter als die anderen. Aber könnte es nicht sein, dass Sie ein klein wenig streng sind? Und wenn Sie es einmal mit Güte probieren?“
„Ja, sicherlich ist das so! Aber ich war so enttäuscht vom Regenbogenhaus. Dass auch hier das Symptom der Erkrankung zum Spitznamen gemacht wird!
Wissen Sie, ich bin nicht hier, weil ich einen Arbeitsplatz suche. Wenn ich wieder arbeitsfähig bin und das dann noch möchte, liebend gern. Aber deswegen bin ich nicht hier.
Ich bin hier, weil ich einen so hohen Sicherheitsbedarf habe und schon jetzt schauen möchte, wenn meine Erkrankung in mir die Oberhand gewinnt, ich keine Kraft mehr habe, um gegenzuhalten; wo ich dann bleiben kann. Zu „den Meinen“ habe ich schon gesagt, wenn es mal so weit ist, gebt mich im Regenbogenhaus ab.
Und wenn es dann so weit ist, möchte ich hier Frau S. sein, ich möchte mit meinem Namen angesprochen werden, ich möchte nicht die Frau Nein sein.
Glauben Sie mir, ich habe es wirklich versucht, mit Güte und auch mit Humor! – Ich habe mich richtig bemüht und mich ermahnt: Komm sei nicht so, das ist im Alltag schnell mal dahingesagt. Das meint man gar nicht so! Und überhaupt, leg nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Aber wissen Sie, ich finde, solange psychisch kranke Menschen nicht selbst so weit sind und über sich lachen können und Witze darüber machen, solange hat niemand das Recht, sie mit solchen Namen zu belegen.“
Mit viel Nachdruck hatte sie diese Worte hervorgebracht, und als sie nun genauer zu ihm hinschaut, kann sie sehen, dass gerade eben in ihm ganz viel vorgegangen ist!
Er sitzt heute krankheitsbedingt auf seiner Couch, ist in eine Decke eingehüllt und lehnt mit dem Oberkörper an der Wand. Nun ist er ganz in sich zusammengesunken. So hat sie ihn noch nie gesehen! Ganz erschrocken fragt sie, obwohl ihr das gar nicht zusteht, denn er ist der Therapeut, nicht sie: „Was ist mit Ihnen?“
Sich langsam aufrichtend schaut er sie an, und sie fragt nach: „Woran denken Sie denn gerade?“
Als er zu einer Antwort ansetzt, hat sie das Gefühl, dass er nicht das Eigentliche offenbart, das, was tatsächlich eben in ihm vorgegangen ist. Aber da will sie nicht nachhaken, denn das ist seins, und nun erklärt er: „Ich muss gerade daran denken, als ich ein ganz junger Arzt war, da habe ich auch solche Namen gesagt.“
„Waren Sie auch (ihre Stimme wird verschämt leise, wie kann sie es nur wagen, so etwas zu ihm zu sagen, und dennoch, es muss jetzt sein) so ein Stinkstiefel?“
Er nickt ihr beschämt zu, und alles in ihr schmilzt dahin. Wieder einmal nimmt er alles auf sich! Ihm kann sie nicht böse sein!
„Ach Herr Bertram, ich bin doch auch so. In anderen Bereichen bin ich auch so, ich muss noch so viel lernen.“
Alles löst sich in ihr auf, und ein Strahlen legt sich über beide. Voller Elan kann sie sich verabschieden und stellt klar: „Jetzt gehe ich in die „Farbige Pflege“ zu meinem ehrenamtlichen Arbeitseinsatz hier im Regenbogenhaus und freue mich so richtig darauf. Also ich meine, ich tue das sowieso total gerne, aber jetzt kann ich es richtig gut machen. Ich hatte vorher solche Angst, dass ich es heute nicht schaffe.“
Er nickt ihr verstehend und anerkennend zu.
Am Abend denkt sie: Ja, damals in Wahldorf, da hatte sie nicht gewusst, welches Drama sich um sie herum entwickelte. Sie, die Hauptbetroffene, die betrogene Ehefrau, hatte von all dem nichts gewusst. Und selbst wenn sie es gewusst hätte, hätte sie nichts davon wissen wollen.
Diese Frau, die jetzt in der „Farbigen Pflege“ diesen Namen bekommen hatte, wusste auch nicht, dass sie „Frau Nein“ ist, weil sie als schwer erkrankte depressive Frau immer „Nein“ sagt, aber vielleicht weiß sie es auch, und sagt einfach immer weiter „Nein“.
Sie sagt schon ganz vollautomatisch: „Nein“.
Und einige Tage später überlegt sie noch einmal, was es denn gewesen sein könnte, das den Therapeuten selbst so betroffen gemacht hatte?
Ob es seine eigene Erkrankung, sein eigener Weg ins Regenbogenhaus war? Ob dies so oder so ähnlich auch mal seine Gefühle waren? Dass es ihn so erinnert und berührt hat?
Grinsend muss sie denken: Projektionen, nichts als Projektionen!
Aber am folgenden Tag wird sie immer kleinlauter:
Vielleicht war er nur erschlagen von ihrer „glühenden Rede“?
S E U F Z, eventuell hatte er es am Ende, zumindest in dieser Therapiestunde, ganz einfach „nur“ erdulden müssen?
P R O J E K T I O N E N, nichts als P R o j e k … … j e j … io … ..
Still – ende Brust
Im Traum sieht sie die typische Geste einer Frau, die eine ihrer Brüste aus ihrem Büstenhalter holt und nun ihre Brustwarze zwischen den Fingerspitzen hält; ganz so, als ob sie diese ihrem Baby reichen will.
Dennoch kann sie es während des Träumens nicht so sehen. Erst am nächsten Tag fiel es ihr ein, beziehungsweise auf.
Beim Anblick der weiblichen Brustspitze hat sie nur die verwirrende Frage in sich, ob sie auch Frauen sexuell zugewandt sei. Die Situation wirkt irgendwie erotisch auf sie. Die weibliche Brustspitze lässt sie im Traum augenblicklich aus höchster Not in tiefste Entspannung versinken
Zwei Tage zuvor hatte sie diese „Not“ erlebt.
Sie hatte den Absturz auf sich zukommen sehen, aber trotz all ihrer Bemühungen nicht verhindern können.
Ihr Mann, mit dem sie seit fünf Jahren zusammen lebt, kam ins Hotelzimmer. Genau genommen ist er ihr Lebenspartner, wie sie verwitwet, durch ihre Traueranzeige wieder mit ihr in Kontakt gekommen, nachdem beide als junge Erwachsene mit ihren damaligen Ehepartnern freundschaftlichen Kontakt gepflegt hatten, sich dann aber aus den Augen verloren.
Als ihr Mann ins Hotelzimmer zurückkam, begann sie mit normaler Stimme zu sprechen, aber dann „packte es sie“, und sie
brüllte, brüllte und brüllte.
Sie schrie und schrie, konnte überhaupt nicht aufhören zu schreien.
Dabei hatte er lediglich nach einem langen, anstrengenden, heißen Julitag in Rom, nach einer köstlichen Dusche und gemeinsamem Faulenzen vor dem Fernseher für sich entschieden, er müsse noch eine Kleinigkeit essen und verschwand nach unten ins Hotelrestaurant. – Das kam für sie, fast schon am Einschlafen, so überraschend! Endlich war sie völlig entspannt nach all den Highlights der letzten Tage und sie hatte ihren eigenen Hunger nicht einmal mehr verspürt.
Alles war zu viel für sie gewesen, und sie hatte, seit sie hier waren, noch nicht ein einziges Mal richtig geschlafen. Ihr Verstand sagte ihr, dass er im Recht war. Sie sprach das auch laut aus, konnte aber nicht anders und musste brüllen.
Am nächsten Tag schmiegte sie sich an ihn und flüsterte ihm verschämt zu: „Danke, dass du gestern zurückgebrüllt hast.“ Darüber musste er lachen.
Auf ihr Gebrüll hatte er gestern heftig wie noch nie reagiert, war explodiert und hatte, lauter als sie, gebrüllt. Vor Verblüffung war sie ganz still gewesen und konnte ihm in ihrem Ausnahmezustand sogar glauben, was er schrie: „Ich will dir doch nur helfen.“
Vor lauter Schreck hörte sie auf zu brüllen.
Endlich Stille.
Endlich ein Ende.
Er holte ihren MP3-Player. Bei beruhigender Musik lag sie die ganze Nacht wach neben ihm. Aber sie schrie nicht mehr. Das war die Hauptsache!
Am nächsten Tag flogen sie nach Hause. Dort legte sie sich für drei Tage ins Bett. Sie war krank.
Als sie ihrem Therapeuten davon erzählt, sagt dieser: „Das ist nicht schlimm!“
Huch, nicht schlimm?!?!?
Sie versucht es noch einmal: „Aber ich habe ganz, ganz laut gebrüllt!“
„Das macht nichts. Das ist nicht schlimm.“
Verblüfft schaut sie ihn an.
Entleert fühlt sie sich.
Als sie die Reaktion ihres Mannes schildert, rutscht er ihr fast erwartungsvoll entgegen, seine Augen blitzen auf und schwungvoll stellt er fest: „Das hat er gut gemacht.“
„Ja, das finde ich auch.“ Und dann, ein wenig schmollend: „Also wirklich, Sie sind mir einer.“ Wie kann „ihr“ Therapeut es gut finden, wenn jemand sie anbrüllt, fragt sie sich.
So ist das halt.
Ganz entspannt sprechen sie über Hunger und Sexualität. Herr Bertram erklärt, dass ihre Reaktion aus dem Affekt heraus erfolgte und sie einen Komplex, die Angst vor dem Alleinsein, in sich hat.
Sie berichtet, dass sie jede Nacht vom Essen und Wasser(Urin)lassen träumt. Als sie ihrem Therapeuten einen weiteren Traum erzählen will, mahnt er zur Langsamkeit. „Ich möchte nicht, dass Sie weg sind.“
Sie hört die Worte, versteht sie nicht und fühlt dennoch, dass er Recht hat, weiß, was er tut und es gut mit ihr meint.
Sie vertraut ihm.
Sie fühlt sich gut aufgehoben.
Sie muss nicht alles verstehen.
Erst Zuhause begreift sie, was er gemeint hatte. Voller Staunen und tiefer Dankbarkeit realisiert sie, immer und immer wieder, wie unterschiedlich eine Therapie verlaufen kann.
Schon einmal hatte sie 300 Stunden auf einer Couch gelegen. Sie ist dankbar für vieles, was sie damals vor ca. 25 Jahren erlebt und weitergeführt hatte, und war an Grenzen gestoßen, auch an solche, die möglicherweise mehr mit dem Therapeuten als mit ihr zu tun hatten, welche ihr zusätzliches Leid brachten.
Sie staunt am meisten darüber, dass ihr diesmal so viel Leid erspart bleibt!
Sogar ihr eigenes!
Ein Vergleich aus ihrem früheren Berufsalltag fällt ihr ein. Sie denkt an die Bauecke, die sie als junge Erzieherin in dem Klassenraum der Schule für geistig Behinderte vor langer, langer Zeit eingerichtet hatte.
Nein, nur Tische und Stühle reichten nicht aus.
Die weit verbreitete Vorstellung, Kinder würden, wenn man sie nur lange genug toben ließe, von ganz allein wieder „runter“ kommen und sich einem konstruktiven Spiel zuwenden, stimmt einfach nicht.
Kinder können bis zur Erschöpfung raufen, toben und ballern, aber es hilft ihnen nicht weiter. Sie kommen über diese angebliche Entladung nicht zum eigentlichen Tun.
Irgendwann entschied sie für sich, solche Spiele im Keim zu ersticken und blieb stattdessen lieber bei den Kindern, spielte mit ihnen und entwickelte gemeinsam mit ihnen einen gangbaren Weg.
In der heutigen Therapiestunde sagt sie dem Therapeuten auch, dass sie schon vor vier Wochen eine Fotografie ihrer leiblichen Mutter aus der untersten Schublade hervorgeholt und auf ihren Schreibtisch gestellt hat.
Nicht nur ein Traum
„Wie geht es Ihnen?“
„Ach, es geht so. Ich merke meine Depression zurzeit sehr stark. Ich spüre meine eingefrorenen Gesichtszüge und die Schwere, die über mir lastet und mich runter drückt. Na ja, und mich gleichzeitig schützt. Mehrmals am Tag muss ich weinen, bei geringfügigen Anlässen oder Bildern, die in mir aufsteigen. Dann weine ich ein bisschen und spüre eine kleine Entlastung. Ich weine nur einige Sekunden und dann – ich muss ein wenig lachen –, ja, dann bin ich froh, dass ich die Depression habe, weil dadurch immer nur die Dosis hochkommt, die ich auch aushalten kann. Na ja, so tut’s halt nicht allzu weh!“
„Ja, es wird nicht leicht sein, da herauszukommen“, sagt Herr Bertram.
Traum: 23./24. August
Ich stehe, vor mir kniet ein junger attraktiver Mann auf beiden Knien und drückt seinen Kopf in meinen Schoß. Meine Finger gleiten durch seine dichten dunklen Locken. Ich drehe meinen Kopf links herum und erblicke weit hinter uns ein junges Mädchen. Das hatte ich ganz vergessen, dass sie bei uns ist. Sie verabschiedet sich von mir und bedankt sich für alles. Es wäre so schön bei uns gewesen. Darüber freue ich mich und auch, dass sie unsin diesem zärtlichen, hingebungsvollen Moment gesehen hat.
Dann durchschreite ich die Räume, in denen noch eben das junge Mädchen geschlafen hat. Ja, denke ich, es ist wirklich sehr schön bei uns. Alles ist hell und freundlich, ganz edles Material. Links am Boden sehe ich viele Perlen. Es ist überall sehr sauber und es riecht angenehm.
Eine fremde Frau begegnet mir und verschwindet!
Ich gehe zur Pforte der Wohnung und ordne an, dass niemand ohne mein Wissen eingelassen werden soll. Weil, ich hätte die Fremde doch herumführen können und ihr alles zeigen können, so wäre auch sichergestellt, dass nichts gestohlen wird!
Dann liege ich in dem Bett, in dem vorhin noch das junge Mädchen lag. Links von mir steht plötzlich ein Mann, grob und ungeschliffen wirkend. Er zieht seine Hose herunter. Ich habe Angst, dass er mich vergewaltigen wird.
Jetzt liegt er rechts neben mir im Bett. In Großaufnahme sehe ich seinen Penis, er sticht mit einer Nagelschere nahe der Wurzel hinein und durchtrennt eine Röhre. Nun kann kein Samen mehr hindurchfließen!
Meine ersten Gedanken sind Erinnerungen an meinen verstorbenen Mann und das junge Mädchen in mir, das sich schon als 15-Jährige gefragt hatte, ob sie je in ihrem Leben ein Zuhause finden würde. Aufgrund von Verwahrlosung war ich als Sechsjährige mit meinen Geschwistern in ein Kinderheim gekommen.
Ich war eines der wenigen Heimkinder, das auf eine höhere Schule ging. Aus dem Fenster der Realschule blickend, stellte ich mir die Frage nach einem zukünftigen Zuhause und dachte so sehr, sehr weit voraus. Ich tagträumte. Vielleicht im Alter, wenn ich 50 Jahre bin, bis dahin muss ich doch auch einmal…, eventuell habe ich bis dahin mein Zuhause gefunden.
Tatsächlich, ich hatte meinen 50. Geburtstag gefeiert, mit dem Gefühl, alles erreicht zu haben, was ich mir je gewünscht hatte.
Meine zweite Ehe, schwierig wie die erste, wenn auch anders, hatte mich einige Male an den Punkt gebracht ernsthaft an Suizid zu denken. Eine Paartherapie, die ich Jahre vorher organisiert hatte, sagte er kurzfristig ab. An dieser Stelle rutscht mir jetzt ein kräftiges „dieses Arschloch“ heraus, und sogar diese Ehe war dann in sich viel friedlicher geworden, seit ich in einer Reha gewesen war. Mit neu gewonnener Energie forderte ich ein, dass wir regelmäßig, wenn schon nicht mit einem Fachmann, so doch zu zweit, über uns selbst sprachen. Ab diesem Zeitpunkt ließ er sich auf wöchentliche Gespräche ein.
Gegenüber meiner besten Freundin hatte ich anlässlich meines 50. Geburtstages festgestellt: „Was soll mir denn jetzt noch passieren?“
Fast 50 Jahre hatte ich gebraucht, um an diesen Punkt zu kommen. Und dann, auf dem Höhepunkt meines Lebens kommt eine fremde Frau, und alles ist wieder hin.
„Was macht die denn?“ fragt der Therapeut.
„Die stiehlt.“
Verblüfft hakt er nach: „Was macht die?“
Und mit viel Lautstärke und Schwung wiederhole ich: „Die klaut!“
Wie sehr habe ich mir gewünscht, einmal länger als zehn Jahre an einem Ort zu wohnen. Ich bin sehr oft umgezogen. Die längste Zeit, die ich an einem Ort verbrachte, war die im Kinderheim. Dort wohnte ich zehn Jahre und das war nicht gerade das, was man ein Zuhause nennen konnte.
„Bei mir ist alles immer wieder den Bach runter gegangen. Mein erster Mann (Arbeiter) war cholerisch und begann zu schlagen, mein zweiter (Lehrer), na ja, das wissen Sie ja, er konnte nicht monogam leben und begann nach zehn Jahren ein Doppelleben aufzunehmen. Und überhaupt, sicherlich, mein Jürgen jetzt, der wird nun nicht gerade fremdgehen, aber ich weiß doch nicht – und dann voller Wut – was der sich dann für ein Szenario einfallen lässt!“
Herr Bertram lacht laut und meint: „Aber das sind alles nur Ihre Gedanken!“
„Nicht nur, es sind auch meine Erfahrungen“ und mit grimmiger und maßlos enttäuschter Stimme spreche ich von den Kindern in Kapstadt, den Townships, in denen ich auf einer Auslandreise war und dem sexuellen Missbrauch, der jede Nacht dort stattfindet und nicht einmal mehr als Missbrauch empfunden wird. Das ist dort die Normalität.
Der Therapeut nickt und bleibt doch bei seiner Aussage: „Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch genau an dem Platz ist, der für ihn passend ist, und jeder dort etwas hat, was wichtig für ihn ist, auch wenn wir das nicht immer sehen können.“ Oder so ähnlich.
Ich rede davon, dass ich heute so wütend bin und dass das auch einmal raus muss, und er argumentiert: „Ja, aber nicht vergleichen und nicht auf andere losgehen.“
Voller Entrüstung bricht es aus mir heraus: „Wo gibt es denn sowas, auch noch kultiviert wütend sein? Als erstes kommt doch alles nur raus! Und überhaupt, den Satz ‚So sind die Menschen‘, den kann ich auch nicht mehr hören!“
Er ist still und schaut mich an.
Ich bin noch aufgebrachter und denke, jedenfalls weiß ich, dass all diese Urteile von mir aus der Wut herausbrechen. Andere sagen so etwas mit völlig normaler Alltagsstimme, und wenn ich mich beschwere, heißt es: „So sind die Menschen.“
„Mindestens drei meiner Geschwister bekamen einfach keine Chance im Leben, zwei sind schon gestorben. Sie hatten einfach keine Möglichkeiten!“ Daraufhin sagt er: „Vielleicht wollten sie nicht mehr?“ Ich schaue ihn bitterböse an und aus mir heraus zischt ein entsetzter Laut.
Ich kann ihn nur trotzig anschauen und so etwas denken wie: „Das lässt sich alles leicht sagen, wenn man aus dem Gröbsten heraus ist.“ Und überhaupt, als ob gute Gedanken alles besser machen könnten.
Ich raffe mich auf, zumindest irgendetwas auch nur annähernd freundliches zu sagen und erkläre: „Wissen Sie, ich staune sehr darüber, dass ich so viele Jahre immer wieder glauben konnte, dass es wie im Märchen funktioniert: Wenn man immer auf dem guten Wege bleibt und sich bemüht, dann wird man am Ende belohnt. Ich staune, dass ich überhaupt so lange daran glauben konnte. Ich zweifele an allem!“
„Das dürfen Sie auch. Wer ist denn das, der sich da im Traum diese Verletzung zufügt?“
„Ja, ich weiß, das bin ich auch. Ich mache das.“
„Au, das tut weh, das tut sehr weh.“
„Mir nicht, mir tut das nicht weh. Wir haben doch in der letzten Stunde über Sexualität gesprochen, also über die Fähigkeit überhaupt Lust empfinden zu können, und darüber, dass das der Grund war, warum ich mich so bemüht habe, die Psychopharmaka wieder abzusetzen. Aber nicht nur die Medikamente dämmen die Gefühle ein, sondern erst recht die psychische Erkrankung selbst. Man sagt, dass dadurch alle Gefühle abgeschnitten werden und meine Gedanken daran haben im Traum dieses wohl so in Szene gesetzt.“
„Das tut weh, sehr weh!“
„Mir tut das nicht weh, im Traum tut das nicht weh, ich schaue einfach nur zu!“
„Das ist ja wie eine Sterilisation, die findet aber an einer ganz anderen Stelle statt. Da geht doch auch der Urin durch. Wie kann der Urin da jetzt durchgehen?“
„Das weiß ich nicht. Ja, das ist die Harnröhre, da geht gar nichts mehr durch!“
Dann bricht aus mir heraus, dass ich in derselben Nacht auch die weibliche Variante dieses Traumes geträumt habe. Eine Frau nimmt eine Art Verhütungspille ein, ist aber betrogen worden, man hat ihr eine Fälschung gegeben,somit wird sie dennoch schwanger. Das Baby, welches sie gebärt, ist dann …
Und mit schwungvoller Stimme ganz in dem Sinne – so das habt ihr jetzt davon – sage ich lautstark: „Aber es ist völlig deformiert!“
„Ja“, bestätigt er, „aber es muss auch einen aktuellen Bezug geben, was kann denn der Traum mit Heute zu tun haben?“
Ich schaue ihn erstaunt an und weiß gar nichts.
P A U S E
Wir schauen einander direkt an und ich spüre, dass jetzt der Höhepunkt dieser Sitzung kommt, er hat noch etwas in petto. Ich spürte die ganze Zeit, dass er all meine Deutungen nicht als das wirklich Wichtige dieser Stunde behandelte. Es stimmt alles, aber da ist noch etwas ganz anderes. Ich schaue ihn herausfordernd und fragend an, er formuliert klar und deutlich:
„Wissen Sie eigentlich, was das weibliche Gegenstück zum Penis ist?“
„Die Klitoris.“
„Physisch gesehen ja, das stimmt. Aber ich meine jetzt das weibliche Gegenstück auf der symbolischen Ebene. Wissen Sie, was das ist?“
Ich schaue ihn erstaunt und ahnungslos an. Es fällt mir nichts ein, obwohl ich das Gefühl habe, ich könnte das eigentlich wissen. Mein Kopf ist wie leergefegt, er lässt mir einen langen Moment zum Überlegen. Dennoch sage ich dann: „Nein, das weiß ich nicht.“
Er tippt auf seine Stirn und lehrt dabei:
„Das weibliche Gegenstück zum Penis ist auf der symbolischen Ebene die geistige, schöpferische Kraft.“
Einen Moment bin ich völlig baff und fühle mich ertappt.
Ja genau, darum geht es heute. Ich schaue ihn erstaunt an und bin froh. Ich wusste, dass er etwas finden würde. Etwas, was mich wirklich weiterbringt und es platzt aus mir heraus: „Ach so, das ist es. Jetzt weiß ich es!“
Und schaue ihn völlig entgeistert an.
Ungläubiges Staunen.
Nur, um dann schon wieder im enttäuschten, frustrierten Jargon fortzufahren: „Keiner will meine Hospizgeschichten lesen!“
Er schaut mich an und lässt sich auf dieses Thema nicht mehr ein, auch wenn es den Nagel auf den Kopf trifft.
Daheim kann ich nur denken, warum sollte er das auch tun, er hat mir oft genug gesagt, dass ich schreiben kann und mir sogar einen Verlag vorgeschlagen, an den ich zwei meiner Geschichten gesandt hatte. Was kann er dafür, dass sie nicht genommen wurden.
Ich hatte meine Texte an einen Schriftsteller geschickt. Bei ihm belegte ich ein Wochenendseminar für Hobbyautoren. Wie so oft hatte ich auch dort gesagt, dass ich nicht schreiben kann, jedenfalls nicht im literarischen Sinne, und das hatte mir auch dieser Experte deutlich zu verstehen gegeben. Dennoch hatte Herr Bertram zu mir gesagt: „Schreiben Sie, Sie können das!“
Aber ich weiß nicht, ob Form und Schreibstil ausreichend sind. Von der Aussagekraft meiner Geschichten bin ich überzeugt. Aber wer will schon so etwas lesen?
Ob es einen Markt dafür gibt?
Vielleicht hatte er das auch nur deshalb gesagt, weil er mein Selbstwertgefühl stärken will, weil er es gut mit mir meint? Und natürlich auch, weil Schreiben so befreiend ist und so sehr die Verarbeitung von allem Erlebten anregt. Gibt es eine bessere Selbstreflexion als das Schreiben? Ach, es gibt so viele Ausdrucksformen!
Ob meine für eine Veröffentlichung ausreicht, das weiß ich nicht.
Herr Bertram wusste von mir, dass ich all diese Geschichten an Clara Baum, die Gründerin des Regenbogenhauses geschickt und mir dies kaum eine Resonanz gebracht hatte.