Nicolae - Abseits der Pfade - Aurelia L. Porter - E-Book
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Nicolae - Abseits der Pfade E-Book

Aurelia L. Porter

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Beschreibung

Abenteuer. Schicksalsschläge. Wendepunkte.

Im vierten Teil der Nicolae-Saga begleitet der Leser den Titelhelden auf eine abenteuerliche Wanderung durch die Wildnis der Walachei.

Während Nicolae den Schatten der Vergangenheit zu entfliehen versucht, lernt er Land und Leute jenseits seines behüteten Bergdorfs und der Bukarester Paläste kennen. Aufenthalte bei einem Köhler, einem Obstbauern und einer Dorfhure stellen ihn vor manche Herausforderung und öffnen ihm die Augen über sich selbst.

In der Donaustadt Severin begegnet er dem neunjährigen Marian, der sich und seine Familie mit kleinen Gaunereien über Wasser hält – bis dieser sich mit den falschen Leuten einlässt. Neben Armut, Täuschung und Verrat erfährt Nicolae auch echte Freundschaft und die erste körperliche Liebe.

Unterdessen gerät die Welt hinter den Mauern des Karpatenschlosses immer mehr aus den Fugen. Mit verzweifelter Entschlossenheit sucht Natalia den direkten Weg zu ihrem Vorfahren. Er ist der einzige Halt in ihrer auseinanderbrechenden Welt.

History & Mystery in einer spannenden Familiensaga.

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Nicolae

Abseits der Pfade

Familiensaga 19. Jahrhundert

(1875 bis 1876)

 

Band 4 der Nicolae-Saga von

Aurelia L. Porter

 

© 2021 Aurelia L. Porter

Umschlaggestaltung: Saeed Maleki, Hamburg

Umschlagmotiv: Shutterstock

 

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Neuauflage der Printausgaben

ISBN 978-3-347-06036-4 (Paperback)

ISBN 978-3-347-28043-4 (Hardcover)

Verlag & Druck: tredition GmbH,

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

 

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung ist nur mit schriftlicher Zustimmung des Autors zulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Zur Nicolae-Saga gibt es Musik!

Hören Sie kostenlos in den Soundtrack hinein.

Info: www.aurelia-porter.de

 

 

Erzähle mir etwas von deiner Vergangenheit, dann

erzähle ich dir etwas von deiner Zukunft.

Denn ohne deine Vergangenheit bist du nichts,

nur eine Eintagsfliege.

 

(Meister Elias)

 

 

Wanderschaft

 

Angestrengt horchte er in die Stille. Kein Rascheln im Unterholz, kein Ruf eines Nachtvogels waren zu hören. Der Wald lag in absoluter Lautlosigkeit. Also waren sie ganz in der Nähe!

Behutsam setzte er seine Schritte auf dem mondbeschienenen Pfad und ließ seine Blicke unentwegt schweifen.

Endlich kam der Höhleneingang in Sicht. Frate hatte ihn bereits gewittert und hob grüßend die Nüstern.

Bei seinem Nachtlager angelangt, schichtete Nicolae das gesammelte Reisig zu einem lockeren Haufen, bevor er die größeren Hölzer darüberlegte. Er fischte nach seinem Feuerstein, als sich ihm plötzlich die Nackenhaare aufstellten. Schnell drückte er sich an die Felswand, bis die schillernden Schleier vorübergezogen waren. Erst als Frate ein leises Schnauben hören ließ, holte auch er wieder Atem und entfachte ein Feuer.

 

***

 

Es regnete Bindfäden. Tante Judith sagte dann, es regne Katzen und Hunde, was sie nicht verstand. Wieso Katzen und Hunde?, hatte sie schon oft gefragt. Das sagt man im Englischen so, bekam sie stets zur Antwort. Aber eine richtige Antwort war das nicht! Was meinte sie damit? Dass die Regentropfen so groß wie Katzen oder Hunde waren? Das wäre nun wirklich eine maßlose Übertreibung! Oder dass sie sich am Boden in Katzen und Hunde verwandelten? Aber nein, dann wäre die Erde ja längst mit ihnen übersät! Oder waren die Regentropfen gar die Tränen aller Katzen und Hunde, die bereits im Himmel waren und durch die Wolken auf die Erde herabweinten? Das konnte auch nicht sein, denn Tante Judith hatte ihr vor Kurzem erst erklärt, dass Tiere nicht in den Himmel kämen, weil sie keine Seele hätten. Florin hatte sie anschließend beruhigt, dass Pferde und Ponys wie ihre Alba von dieser Regel ausgenommen seien.

Leise seufzend wandte sie sich vom Fenster ab und ging zum Tisch, auf dem ihr Botanikbuch aufgeschlagen lag.

»Wenn Papa heimgekehrt ist und dich laufen gemacht hat, zeige ich dir, wo all diese schönen Blumen bei uns wachsen.«

Mit einem vagen Lächeln sah ihre Stiefmutter von ihrer Handarbeit auf. »Das wäre wirklich wundervoll, Natalia.«

»Was strickst du da eigentlich, Mama Marcela?«

»Es wird ein Jäckchen für den kleinen Cătălin.«

»Kriegt Cătălina auch eines?«

»Natürlich. Eins nach dem anderen. Zwei auf einmal geht nicht.«

»Geht schon! Ioana hat ja auch zwei Kindchen auf einmal bekommen.«

Ihre Stiefmutter schien zu einer Entgegnung ansetzen zu wollen, unterließ es dann aber.

»Mama Marcela«, fragte Natalia, indem sie sich zu ihr auf die Armlehne setzte, »bringst du mir das Stricken bei? Meine Leni wollte es mir eigentlich zeigen, aber ...«

»Gerne. Ich freue mich, wenn ich dir etwas beibringen kann. Allerdings bin ich nicht sehr gut darin. Sieh her, meine Maschen sind recht unregelmäßig. Das liegt daran, dass ich zeitweise kein Gefühl in den Fingern habe. Es war schon besser geworden, doch seit dein Vater ...«

»Sei nicht traurig«, beeilte sich Natalia zu erwidern, als sie den dunklen Schleier gewahrte, der sich auf Mama Marcelas Augen zu legen drohte. »Er kehrt gewiss bald mit Nini zurück und dann wird alles wieder gut. Dann macht er auch deine Finger wieder heil, ganz bestimmt!« Sie gab ihrer Stiefmutter einen Kuss und schaute genau zu, wie diese die Maschen auf die langen Nadeln reihte.

»Wenn Tante Judith von Ioana zurück ist«, setzte sie hinzu, »werde ich sie sogleich um Stricknadeln bitten. Sie strickt normalerweise auch, für die Bedürftigen. Aber momentan hat sie ja anderes zu tun. Ich glaube, sie ist froh, dass sie sich um jemanden kümmern kann.«

»Ebenso wie Ioana froh sein dürfte, dass ihr mit den brüllenden Zwillingen jemand zur Seite steht.« Mama Marcelas Schmunzeln hinterließ auf jeder Seite ihrer Mundwinkel zwei feine Dreiecke.

»Stimmt, die beiden sind ziemlich laut«, kicherte Natalia. »Mama Marcela? Bekommst du auch irgendwann ein Kindchen?«

Ihre Stiefmutter stutzte. »So Gott will«, antwortete sie leise, bevor sie fortfuhr, die Maschen abzuheben.

»Und … will Er?«

Da ließ sie die Nadeln sinken. »Ich weiß es nicht, Natalia«, antwortete sie mit einem verzagten Blick. »Meine Krankheit, weißt du ... es kann sein, dass ...« Wie so oft, ließ sie ihren Satz unvollendet.

»Bitte entschuldige, Mama Marcela, jetzt habe ich dich traurig gemacht, das wollte ich nicht«, rief sie besorgt. »Ich frage wohl zu viel, oder? Tante Judith hätte mich deswegen längst getadelt.«

»Schon gut, Natalia. Ich bin froh, dass du mich unterhältst und mich von meinen trübsinnigen ...«

»Das meint Tante Judith auch«, fuhr Natalia redselig fort. »Sie sagt, man muss dich von deinen falschen Gedanken abhalten. Nini ist nicht wegen dir weggelaufen, das weiß auch ich ganz bestimmt. Er mag dich; er hat mir kurz vor der Hochzeit noch gesagt, dass er dich nett findet und ich auf dich aufpassen soll, damit du mir nicht auch noch entrissen wirst. Keine Ahnung, was er damit meinte, aber eines steht fest: Das werde ich tun! So, wie Papa es mir ebenfalls aufgetragen hatte, bevor er fortgeritten ist.«

Zu Natalias Schrecken traten Tränen in Mama Marcelas Augen, aber diese versicherte ihr, dass es nur aus Rührung sei, und küsste sie zur Bestätigung auf die Schläfe.

Zufrieden ging Natalia zum Pianoforte und klimperte ein wenig darauf herum, während von draußen Katzen und Hunde gegen die Fensterscheiben trommelten.

 

***

 

Wie jede Nacht hielten sie ihn unter Beobachtung. Nicht ein einziges Mal hatten sie sich bisher tagsüber bemerkbar gemacht. Erst in der Dämmerung nahmen sie seine Fährte auf.

Wer waren sie? Was wollten sie? Zuerst hatte er an ein Rudel Wölfe gedacht, doch die Fleischreste, die er ihnen vor ein paar Tagen hingeworfen hatte, waren unberührt geblieben. Räuber konnten es auch nicht sein, sonst hätten sie ihn längst überfallen.

Mit einem kurzen Blick vergewisserte er sich, ob seine Satteltaschen noch genauso dalagen, wie er sie vor dem Reisigsammeln dort hinterlassen hatte. Alles lag anscheinend unberührt unter dem Dach aus Astwerk und Gestrüpp, das ihn diese Nacht vor dem Regen schützen sollte. Trotzdem tastete er nach seiner Pistole, die er eingeschlagen in einem Wachstuch verwahrte.

Beruhigt entzündete er ein Feuer und kramte die Kochutensilien hervor. Seine Vorräte gingen langsam zur Neige. Demnächst würde er wohl oder übel auf Jagd gehen müssen.

Er angelte nach dem Maiskuchen, den er der längeren Haltbarkeit wegen vor ein paar Tagen bei einem Schäfer gegen sein weißes Brot eingetauscht hatte. Lustlos knabberte er an dem durchweichten Klumpen, der die unappetitliche Konsistenz von Kautschuk angenommen hatte und nach Satteltaschenleder schmeckte.

Wieder bahnte sich ein Tropfen seinen Weg durch das von ihm errichtete Naturdach und fiel in seinen Kragen. Ein Frösteln durchlief ihn. Wie gerne hätte er ein größeres Feuer gemacht, aber die feuchten Hölzer brannten schlecht und der Zunder war so gut wie unbrauchbar geworden. Er konnte froh sein, dass er zumindest ein wenig Wasser für seinen Kräutertee erwärmt bekam.

Die Beine in den klammen Bauernhosen, deren Wollweiß an Knie und Gesäß längst einem schmuddeligen Braungrau gewichen war, dicht an den Körper gezogen und die dumpfe Wolldecke um die Schultern gewickelt, suchte er sich mit beiden Händen an dem Becher Tee zu wärmen. Die seit Tagen anhaltende Nässe drang in jede Pore. Ob sie auch fröstelten, wer immer sie waren? Ob der Dauerregen ihnen ebenso zusetzte und von der Nasenspitze tropfte? Er wusste genau, sobald er sich hinlegte und zur Ruhe käme, würden sie sich ihm nähern. Was hielt sie davon ab, sich seiner zu bemächtigen? Er wäre ein leichtes Opfer, trotz der Pistole, die er während des Schlafes griffbereit neben sich hielt. Wenn sie ihn zu mehreren überfielen, wäre er machtlos, das war ihm klar. Ganz zu schweigen davon, dass er sich nicht einmal sicher war, ob er im Notfall in der Lage wäre, auf was auch immer zu schießen.

Er schüttelte die Krümel von der Decke und bettete seinen Kopf auf dem Sattel. Wie gut es täte, jetzt ein Gebet zu sprechen oder die Schutzgeister seiner Kindheit herbeizurufen. Wie verlockend wäre es, in Erinnerungen zu schwelgen und an die vertrauten Gesichter daheim zu denken, während er einsam hier draußen auf Schlaf hoffte. Doch genau das durfte er nicht! Gerade sie, seine Vergangenheit, wollte er hinter sich lassen. Sie sollte keine Macht mehr über ihn haben, ihm weder die Sinne vernebeln noch den Verstand rauben. Er wollte all das Quälende abschütteln wie Flöhe aus einem Hundefell, um frei zu sein für eine Zukunft ohne erdrückende Erblast, eine Zukunft, die nichts Menschenunmögliches von ihm verlangte.

 

***

 

Das Kribbeln hatte in Fingerspitzen und Zehen begonnen und bahnte sich seinen Weg zum Herzen, wo es dieses wild zum Pochen brachte. Sie schaute von ihren Rechentürmen auf und legte den Stift beiseite. »Papa kommt zurück, Tante Judith«, sagte sie, selbst noch etwas ungläubig. Schon war sie, ohne um Erlaubnis zu bitten, in die Halle gelaufen, hatte sich ihren Umhang geschnappt und war zur Tür hinausgestürmt. »Papa kommt zurück!«, rief sie aufgeregt über den ganzen Hof. Erstaunte Gesichter blickten ihr entgegen.

»Was guckt ihr denn so? Gewiss hat er meinen Bruder gefunden, sonst würde er ja nicht schon zurückkehren. So freut euch doch!«

Sie lief zur Hofauffahrt und trappelte voller Ungeduld von einem Fuß auf den anderen.

Nur wenig später sah sie, wie ihre Tante ihre Stiefmutter durch die von Gábor aufgehaltene Tür in den Hof hinausschob. Der Ausdruck auf Tante Judiths Gesicht war skeptisch, der Mama Marcelas voller Zuversicht.

»Lasst uns beten, dass er ihn dabei hat«, stieß Letztere leise aus, woraufhin sie die Augen schloss und ihre aneinander gelegten Fingerspitzen an die Lippen führte.

»Natürlich hat er ihn dabei!«, entgegnete Natalia.

Aufmerksam schauten sie über die Hofmauer in die Ferne, während Gábor einen Regenschirm über die beiden Damen hielt. Der Himmel hing tief und hüllte die Gipfel in ein undurchdringliches Grau. Nur wenn sich die Dunstschichten für Sekunden auseinanderschoben, war eine trübe Landschaft erkennbar.

Als kurz darauf der Graf auf Fulger in den Hof gesprengt kam, überschlug sich Natalias Herz. Atemlos rannte sie zu ihm und erstarrte, als sie erkannte, dass er alleine von Fulger absaß.

Die Dienerschaft verbeugte sich still vor ihrem Herrn, der deutliche Spuren von Sorge im Gesicht trug.

»Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt«, verkündete er erschöpft. »Himmel und Hölle.«

Erneut senkten sich die Köpfe, diesmal vor Kummer.

Ihr Vater führte, nass wie er war, Fulger selbst zur Tränke, löste Zaumzeug und Sattel und rieb ihn unter dem schützenden Vordach mit trockenem Stroh ab. Wie erstorben schaute Natalia ihm dabei zu. Sie spürte den feinen Nieselregen nicht, der unaufhörlich auf ihr bloßes Haupt fiel und ihr das Gesicht nässte.

»Papa ...«, hauchte sie kraftlos in die diesige Luft.

Das aufgeregte Kribbeln war spurlos verschwunden und einem Gefühl unendlicher Schwere gewichen.

 

***

 

Grandpa Patty wäre stolz auf ihn gewesen. Er hatte es tatsächlich geschafft, sich einen Fisch zu fangen – mit bloßen Händen! Leise bat er das zappelnde Wassertier um Vergebung, bevor er ihm resolut den Kopf auf einem Stein zerschlug, wie er es bei seinem Urgroßvater gesehen hatte. Beherzt griff er zum Messer, ritzte gekonnt den Unterleib des Fisches auf und holte sorgsam die Innereien heraus. Anschließend säuberte er ihn im Wasserlauf und machte ein Feuer. Obwohl es, dem Licht nach zu urteilen, früher Nachmittag war, wich er von seiner Gewohnheit ab, erst kurz vor der Nachtruhe etwas zu essen. Der Hunger duldete keinen Aufschub mehr.

Während er den Fisch auf einen Stock gespießt über das Feuer hielt, wunderte er sich über seine Skrupellosigkeit. Nachdem er ihn jedoch gierig verzehrt hatte, war er sich sicher, dass er anderntags ohne Hemmungen zu Pfeil und Bogen greifen würde, um was auch immer zu erlegen.

Nur mäßig gesättigt, setzte er seinen Weg fort, von dem er nicht die leiseste Ahnung hatte, wohin ihn dieser führen würde. Seine Gedanken waren allein auf Nahrungssuche und einen geeigneten Schlafplatz ausgerichtet. Für alles andere war kein Raum mehr.

 

Gegen Abend klarte der Himmel das erste Mal seit Tagen auf. Von einer mit Heidekraut und Krüppelwacholder bedeckten Anhöhe sah er in weiter Ferne aus einem sich vor ihm erstreckenden Wald eine Rauchsäule in den Himmel aufsteigen. Sein Herz tat einen Schlag mehr – ob vor Freude, nach Tagen allein in der Wildnis endlich auf eine Menschenseele zu stoßen, oder aus Angst davor, hätte er nicht zu sagen vermocht. Doch der Lichtblick gab ihm Hoffnung.

Frohgemut lenkte er Frate in den absteigenden Wald hinein.

 

***

 

Das Abendessen verbrachten sie seit Tagen in bedrückender Stille. Kaum einer vermochte einen Bissen hinunterzubekommen. In Abständen blickte Marcela sorgenvoll zu ihrem Gatten auf, der seit seiner Rückkehr tief in Gedanken versunken war. Mehr als ein gelegentliches Seufzen war während der Mahlzeiten nicht zu vernehmen.

Von keinem war bisher eine Meldung eingetroffen. Weder von Heinrich, der in Hermannstadt seinen Wachposten aufgeschlagen hatte, noch von Robert, der die Nicolae bekannten Straßen und Plätze Bukarests patrouillierte. István war mit einem Teil seiner Leute hinauf in die Bucovina geschickt worden, während der andere Teil seiner Männer die Ebene südlich der Hauptstadt durchgraste und Order hatte, in Cernavodă den Fähranleger zu überwachen. Herr Varnali ließ unterdessen die Häfen von Küstenja und Varna beobachten. Er selbst hielt in der Umgebung des Ferienhauses am Schwarzen Meer nach Nicolae Ausschau. Florin durchstreifte unterdessen mit einem Suchtrupp die südlich gelegenen Karpatenwälder, indes Vasile die umliegenden Wälder durchforstete. Selbst im Unterdorf war ein Suchtrupp zusammengestellt worden, der unter der Leitung Andreis die Wälder bis hinunter nach Siebenbürgen durchzog. In Kronstadt erbot sich Cezar, seine Ohren offen zu halten, denn als Barbier würde er es als Erster erfahren, falls ein vornehmes Jüngelchen ohne Begleitung durch die Stadt stromerte.

Der Graf hatte tatsächlich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Er hatte sowohl über Preot Ştefan die umliegenden Bergklöster informiert als auch die durchs Land ziehenden Zigeuner und Haiducken, die gelegentlich in seinen Diensten standen. Doch trotz dieser weitreichend angelegten Suche, fehlte bisher jegliche Spur von Nicolae.

»Miss Woodward«, sprach der Graf sie an, nachdem die Teller des Hauptganges fast unbemerkt von Mariana fortgeräumt worden waren. »Sie könnten mir einen Dienst erweisen.«

»Welchen auch immer, Exzellenz!«, antwortete Judith eilfertig, in der Hoffnung, in irgendeiner Weise behilflich sein zu können. Alles war besser als diese quälende Warterei.

»Gut. Dann erwarte ich Sie nachher in meinem Arbeitszimmer.«

Über Natalias Gesicht huschte ein Hoffnungsschimmer. Zumindest das Kompott fand nun wieder ihren Mund.

 

***

 

Von Weitem sah er Walderdbeeren aus dem Dickicht leuchten und lenkte Frates Schritte dorthin. Gierig stopfte er sich kurz darauf eine Handvoll in den Mund.

Er wusste nicht, wie viele Tage bereits vergangen waren, seit er die Rauchsäule von der Anhöhe aus gesichtet hatte, doch bisher war er auf nichts von Menschenhand Gemachtes gestoßen.

Seine Jagdversuche waren jämmerlich gescheitert. Der Wald war zu dicht für Damwild und vor den Wildschweinen, die sich in den sumpfigen Wäldern hinlänglich wohl zu fühlen schienen, musste er sich in Acht nehmen. Alleine würde er keines von diesen ebenso starken wie schnellen Tieren erlegen können, dafür waren seine Kräfte zu aufgezehrt.

Früh am Abend verkroch er sich mit knurrendem Magen in eine Erdhöhle. Wenigstens hatte es nicht wieder angefangen zu regnen, wenngleich der Waldboden durchfeuchtet und stellenweise morastig war. Die klamme Kleidung wollte selbst tagsüber nicht trocknen.

Er begann wie immer zu frösteln, sobald er sich hinlegte. Fest in die Decke gewickelt, wartete er auf die huschenden Schatten. Er fürchtete sie nicht länger, im Gegenteil, sie waren ihm fast zu Freunden geworden. Des Nachts wachten sie über seinen Schlaf, bis sie sich im Morgengrauen verflüchtigten. Was auch immer sie waren – nicht abzuschüttelnde Ausgeburten seiner Phantasie oder Schutzengel aus Kindertagen –, sie schienen ihm nicht schaden zu wollen. Sollten sie sich ruhig in seiner Nähe aufhalten, solange es Bestien von ihm fernhielt. Nur den schillernden Schleiern, die neuerdings sogar tagsüber, auf ihn zuschwebten, wich er nach wie vor aus. Er ahnte, dass sie ihm gefährlich werden könnten.

 

***

 

»Haben Sie in Ruhe über meine Bitte nachgedacht?«, fragte der Graf und sah Judith forschend in die Augen.

»Das habe ich. Ich bin bereit, es zu versuchen, auch wenn –«

»Nein«, unterbrach er sie, »lassen Sie etwaige Zweifel gar nicht erst aufkommen! Denken Sie ausschließlich an Nicolae.«

»Das tue ich.«

»Es ist nicht schlimm, falls es Ihnen nicht sogleich gelingen sollte. Wir werden es Abend für Abend wiederholen. Es ist immerhin eine Chance. Eine gute Chance. Ihnen ist Nicolae nicht gram, Ihnen hat er sein Herz nicht zur Gänze verschlossen.«

Judith schwieg betreten. Sie hatte genau in dem Moment damit begonnen, an des Grafen unumstößliche Macht zu glauben, als ihr Neffe damit aufgehört hatte.

»Wie Ihr wisst, bin ich noch nie hypnotisiert worden, Exzellenz«, stammelte sie und sah hilflos zu ihm auf.

»Keine Sorge, warten Sie einfach ab, was geschieht. Ihr Vertrauen zu mir sollte inzwischen groß genug sein.«

»Das ist es«, versicherte sie ihm. »Denn ich weiß um Eure Liebe zu Nicolae, die Euch nötigte, Eure Gattin zu vernachlässigen. Seid versichert, dass Marcela großes Verständnis aufbringt.«

»Marcela ist das selbstloseste Geschöpf, das mir je untergekommen ist, Miss Woodward, und Sie können mir glauben, wie unendlich schwer es mir gefallen ist, sie so kurz nach der Hochzeit allein lassen zu müssen. Doch selbst jetzt, da ich wieder daheim bin, bin ich nicht der Gatte, der ich ihr gerne wäre und den sie verdiente. Ich danke Ihnen auch in dieser Hinsicht für Ihre Unterstützung. Marcela hat mir erzählt, wie liebevoll Sie sich um sie kümmern.«

»Natalia gebührt der weitaus größere Dank, Exzellenz. Obwohl sie längst vergessen geglaubte Ängste auszustehen hat, ist sie sehr tapfer. Ihre unerschütterliche Zuversicht gibt uns allen Mut.«

»Dann lassen Sie uns jetzt beginnen.«

Bereitwillig legte sich Judith auf den Diwan und schloss die Augen. Sie wusste, worauf es ankam. Sie hatte sich tagelang auf diese erste Sitzung vorbereitet. Ihre Gedanken waren ganz auf ihren Neffen gerichtet.

 

***

 

Er war auf Frate zusammengesunken. Das immerwährende Zwielicht in diesem Wald machte kaum einen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Hin und wieder schreckte er zusammen und riss gewaltsam die Augen auf.

Das Heulen der Wölfe kam deutlich näher. Ob sie ihn bereits witterten? Vielleicht hatte er sich die vor Tagen gesichtete Rauchsäule ja nur eingebildet! Vielleicht war es in Wirklichkeit nur aus den Wäldern aufsteigender Dunst gewesen. Oder er hatte gar in der waldigen Düsternis die Orientierung verloren und war an der einzigen Menschenseele weit und breit vorbeigeritten.

Schon während des gesamten Tagesritts war er immer wieder auf Frate eingenickt, der unermüdlich seine Schritte durch den nicht enden wollenden Wald setzte. Einmal hatte er gemeint, Frate habe eigenmächtig die Richtung gewechselt, während er vor sich hin gedöst hatte, doch er hatte sich nicht aufraffen können, die Zügel anzuziehen. Wozu auch? Es war doch vollkommen gleich, wohin er ritt. Auf Menschen würde er in diesem undurchdringlichen Urwald ohnehin nicht stoßen.

Wenig später wälzte er sich trotz seiner bleiernen Müdigkeit unruhig auf seinem Lager hin und her. Wie schon die Nacht zuvor meinte er auch diesmal, die Stimme seiner Tante nach ihm rufen zu hören. In Sorge, allmählich den Verstand zu verlieren, hielt er sich die Ohren zu, aber die Stimme blieb. Obwohl er fror, brach ihm der Schweiß aus. Angestrengt lauschte er auf die Geräusche der Nacht.

 

***

 

»Jedes Gebet hilft, sagt Papa. Je mehr, desto besser.«

»Ich schließe ihn ohnehin jeden Abend in meine Gebete ein.«

»Das ist gut, Marie. Papa sagt, wir dürfen nicht aufhören, ganz doll an ihn zu denken. Vielleicht schafft es irgendwann einer unserer Gedanken, zu ihm durchzudringen.«

»Warum haben sie das nicht längst getan?«

»Weil er es nicht will«, antwortete Natalia und schaute betrübt in die Ferne. »Papa sagt, Nini weicht unseren Gedanken aus, weil er fürchtet, sie könnten sein Herz erweichen. Er ist stark, stärker als er ahnt. Darum müssen wir gemeinsam noch stärker sein als er.«

»Aber Euer Vater ist doch stark wie keiner!«

»Schon. Aber mein Bruder hat seine Herzensbande zu ihm gekappt. So hat es Papa mir jedenfalls erklärt, als er vor Wochen ohne ihn heimgekehrt ist. Nini will einfach nicht gefunden werden.«

Traurig senkte sie den Blick.

»Das ist schlimm«, erwiderte Rosemarie heiser.

»Ja. Sehr schlimm!«

»Und gefährlich.«

»Sehr gefährlich.«

»Er weiß bestimmt gar nicht, was er damit anrichtet.« Fröstelnd zog Rosemarie ihr Schultertuch fester. »Er setzt sein Leben dabei aufs Spiel«, fuhr sie fort, »und das unsere!«

Überrascht schaute Natalia zu der Schmiedstochter auf.

»Nein, Marie, keine Sorge! Papa sagt, solange Nini sich noch in unserem Reich aufhält – und das muss er wohl, weil er nirgendwo anders aufgetaucht ist –, kann ihm nichts passieren. Die Wächter der Wälder schützen ihn. Doch warum sagtest du eben, dass er auch unser Leben aufs Spiel setzt? Das verstehe ich nicht.«

»Weil, weil ...«

»Weil was, Marie?«

»Ich darf’s nicht sagen!«

»Wer sagt das?«

»Mein Vater.«

»Ich sag: Du darfst. Mir musst du mehr gehorchen, denn ich bin deine junge Herrin. Also sprich!«

»Nun, weil ...« Nervös nestelte Rosemarie an ihrem Schürzenband. »Weil Euer Bruder das Herz Eures Vaters ist« Verlegen schaute sie auf, als hätte sie ein großes Geheimnis ausgeplaudert.

»Ja und? Ich weiß, dass Nini Papas Herz ist. Er nennt ihn ja auch immer so, jedenfalls wenn sie unter sich sind. ›Schlaf gut, mein Herz‹, sagt er, oder: ›Nimm es nicht so schwer, mein Herz‹, manchmal auch: ›Auf bald, mein Herz.‹ «

»Ja, Prinzessin, aber die Anrede mein Herz ist wortwörtlich zu verstehen, nicht nur als Kosename.«

»Wie bitte? Was redest du denn da? Papa nennt mich doch auch mein Engel, ohne dass ich in Wirklichkeit einer bin.«

»Vielleicht aber doch«, hauchte Marie ehrfürchtig in die Luft.

Da musste Natalia kichern. »Was ihr Bauern so alles glaubt!«

Beschämt senkte Rosemarie den Blick und schwieg. Rau fegte der Wind über die Anhöhe, auf der beide saßen.

»Sag einmal«, griff Natalia den Gedanken auf, »wieso erzählt dein Vater dir solch komische Sachen? Kein Wunder, dass er nicht will, dass du darüber redest.«

»Ich weiß nicht. Er sagt vieles, wenn er betrunken ist. Einiges davon macht mir Angst, weil ... weil ich fürchte, dass es wahr sein könnte.« Sie errötete. »Er ist nun einmal mein Vater, wisst Ihr, auch wenn er ein Trunkenbold ist und nicht gut angesehen im Dorf. Töchter glauben ihren Vätern, oder nicht?«

»Aber ja, Marie. Das tun sie«, bestätigte Natalia.

Nach einer Weile erhob sie sich. »Ich muss jetzt gehen. Also bis Morgen zur gleichen Stunde. Und denk an die Zeilen für Nini!«

»Wie könnte ich die je vergessen, Prinzessin? Ich werde mir die Zeit dafür schon stehlen.«

Natalia warf ihr ein dankbares Lächeln zu, dann lief sie den Hang hinunter zu Alba, die unten am Wegrand auf sie wartete.

 

***

 

Gierig machte er sich über den kleinen Vogel her oder das, was nach dem Rupfen der Federn noch von ihm übrig war. Immerhin bereicherten einige Steinpilze seine heutige Mahlzeit.

Kurz darauf begann es in seinem Bauch zu grummeln.

»Geschieht mir ganz recht«, sprach Nicolae laut zu sich selbst. »Das ist die Rache des Vögelchens. Mein Pfeil durchbohrte es just in dem Moment, als es mir auf einem der unteren Äste sein Abendlied sang. So eine Gemeinheit! Zur Strafe werde ich noch nicht einmal davon satt und obendrein pickt es mich ins Gedärm.«

Frate schaute aufmerksam zu ihm hin.

»Nein, Frate, mit dir habe ich nicht geredet. Es muss ja auch mal jemand mit mir reden, nicht wahr?«

Er nahm einen Schluck Kräutertee und starrte anschließend minutenlang in den Becher.

»Verdammt!«, rief er plötzlich, indem er die Ferse in den Erdboden stieß. »Dieser verfluchte Wald muss doch irgendwann ein Ende nehmen! Wer weiß, vielleicht bin ich wie ein Idiot immer im Kreis geritten und habe mir nur eingebildet, dass es stetig bergab ging.«

Frate senkte seinen Kopf und stupste ihn an die Schulter.

»Führ mich hier raus, Frate! Führ mich raus, ja? Ab morgen bestimmst du den Weg, fratele meu*!« Erschöpft lehnte er seinen Kopf an dessen Hals und streichelte ihm, wie sich selbst zum Trost, über die Nüstern. Um sich herum sah er es huschen, doch hören konnte er wie immer nichts.

»Haben die Nachtwachen wieder Stellung bezogen, ja?«, rief er in die Dunkelheit. »Gut, dann können wir unbesorgt zur Ruhe gehen.«

Das schwere Haupt auf kühles Moos gebettet, wartete er auf die Stimme aus der Vergangenheit. Schon bald würde er keine Kraft mehr finden, sie abzuwehren, ebenso wenig wie die verführerischen Schleier, die täglich schillernd seinen Weg kreuzten.

 

***

 

Natalia lenkte Alba zur Schmiede. Vor dem Tor saß sie ab und schlich sich leise auf den Hof. Die Schmiede war um die Mittagsstunde leer. Rosemarie stand wie immer am Trog und spülte Geschirr. Als Natalia sich ihr näherte, sah diese ihr mit einem dünnen Lächeln entgegen.

»Grüß dich, Marie«, rief Natalia ihr flüsternd zu. »Bist du bereit?«

Die Schmiedstochter nickte und holte ihren Knicks nach.

»Na, dann komm!«

Eilig wischte sich diese die nassen Hände an der Schürze ab, lief zum Schuppen und holte ein Schreibheft unter einer losen Bohle hervor. Dann zogen sich beide hinter die Schuppenwand zurück.

»Zeig her, was hast du diesmal geschrieben, Marie?«

Eilfertig reichte Rosemarie ihr das Heft. Sie lief rot an, als Natalia ihre mühevoll geschriebenen Zeilen überflog.

»Das hast du gut gemacht«, lobte Natalia. »Deine Schrift wird immer besser. Die paar Schreibfehler sind nicht der Rede wert, denn es kommt ohnehin nur auf den Inhalt an und der klingt sehr schön. Wenn das sein Herz nicht erweicht, dann hat er keines mehr und er soll nicht länger mein Bruder sein!«

Erschrocken blickte Rosemarie zu ihr auf.

»Das mein ich doch gar nicht so. Ich meine nur, dass deine Worte einem das Herz zerdrücken. – Willst du auch meine lesen?«

Freudig nahm Rosemarie den sauber gefalteten Schreibbogen entgegen. Nachdem sie ihn zu Ende gelesen hatte, reichte sie ihn mit Tränen in den Augen zurück.

»Komm, Marie! Jetzt gehen wir unsere Botschaften verbrennen.«

Resolut riss sie die Seite aus dem Schreibheft und machte Anstalten zu gehen. Rosemarie aber hastete zurück auf den Hof und spähte durchs Fenster in die Wohnstube.

Verständnislos schüttelte Natalia den Kopf. »Warum tust du das, Marie? Wir können doch sein Schnarchen bis hier heraus hören!«

Daraufhin huschten sie aus dem Tor.

Sie stiegen die Anhöhe hinauf. Oben angelangt schauten sie für einen Moment über das unter ihnen liegende Dorf hinweg zu dem in diesiger Ferne flimmernden Gebirgszug. Schließlich kramte Marie Zündhölzer aus ihrer Schürzentasche. Sie legten ihre Briefe in den Steinring, beschwerten sie an einer Ecke mit einem Stein, damit der Wind sie nicht vorzeitig davonwehte, und setzten ihre Botschaften feierlich in Brand. Die beiden Mädchen nahmen sich an die Hand und schauten mit bewegten Gesichtern dem aufsteigenden Rauch hinterher, der ihre Herzenszeilen in sich barg und zu ihm trug. Er sollte wissen, jeden Tag aufs Neue, dass sie ihn schmerzlich vermissten und ihn sich sehnlichst zurückwünschten.

 

***

 

Der Wald war lichter geworden, die Bäume standen in größeren Abständen. Frate schien mühelos seinen Weg zu finden. Er hätte es eher wagen sollen, sich seiner Führung zu überlassen, doch er hatte Sorge gehabt, Frate würde unverzüglich den Rückweg antreten.

Ein Stückchen weiter wuchsen Heidelbeeren in üppiger Fülle. Nicolae saß ab und stopfte sich sämtliche Behältnisse voll. In der Ferne hörte er ein Wasser plätschern.

Wenig später machte er an einem Bachufer Rast, wusch zunächst sein Hemd und dann sich selbst. Die mit Lammfell gefütterte Weste würde ihn zu dieser Stunde genug wärmen. Alles war besser als das schmutzig klamme Gefühl auf der Haut. Leise summend, füllte er beide Schläuche mit klarem Quellwasser. Wieso war er plötzlich so frohen Mutes, obwohl er gestern noch voller Verzweiflung gewesen war? Sein Magen war nach wie vor ungefüllt, sein Darm in Aufruhr und weit und breit kein Zeichen von Zivilisation erkennbar. Doch irgendetwas erfüllte ihn mit Zuversicht. Weil er die Last der Verantwortung, aus der Wildnis hinauszufinden, an Frate abgegeben hatte? Vertraute er seinem Pferd womöglich mehr als sich selbst? Oder lag es an dem Lichtschimmer, der erstmals nach Tagen durch den Wald brach und ihm nicht nur den Pfad, sondern auch das Gemüt erhellte? Oder streichelten die schillernden Schleier seine Seele, denen er am Vortage nicht mehr rechtzeitig hatte ausweichen können? Sanft wie Seide hatten sie ihn berührt und wohlig durch die Nacht getragen. Er war nicht allein gewesen, das hatte er deutlich gespürt.

Sein Herz war voll frischen Mutes und schlug kräftig in seiner Brust. Stolz bemächtigte sich seiner, weil er schon so lange in der Wildnis überlebt hatte, ohne schwach zu werden und an Rückkehr zu denken. Nicht ein einziges Mal war ihm dies in den Sinn gekommen. Er hatte es bereits geschafft. Er hatte seine Vergangenheit erfolgreich hinter sich gelassen. Zielbewusst setzte er seinen Weg fort, wo auch immer dieses Ziel liegen mochte.

 

***

 

Ein Fingerschnippen holte sie zurück in die Wirklichkeit. Hoffnungsvoll richtete sie ihren Blick auf den Grafen, der ihr zur Seite im Lehnstuhl saß. Im Hintergrund knisterte ein Feuer. Sein Gesicht verriet ihr sofort, dass sie ihren Neffen auch diesmal nicht erreicht hatte. Der Graf rieb sich die Nasenwurzel und schwieg.

Sie hatte also wieder den gleichen Traum gehabt; ein willkürlich herbeigeführter Traum, der sich ihrem Bewusstsein entzog. Wieso, wenn sie ihn willentlich herbeiführen konnte, unterlag es dann nicht auch ihrem Willen, sich an ihn zu erinnern? Nichts von dem, was sie unter Hypnose gesehen oder gesprochen hatte, blieb ihr in Erinnerung. Nach Aussage des Grafen stand sie jedes Mal in jenem verlassenen Raum und rief, nacheinander an allen Türen ruckelnd, Nicolaes Namen. Erschöpft ließ sie sich auf sein leeres Bett fallen. Bei einem erneuten Versuch fand sie die Türen plötzlich unverschlossen. Aber gleich, ob sie dahinter ins Helle oder Dunkle blickte, ob bunter Trubel oder stille Einsamkeit sie empfingen, sie konnte ihn nirgends entdecken. Schließlich vernahm sie eine Stimme. Sie werden Ihren Neffen nicht finden, Miss Woodward, sagte diese in einem belehrenden Ton. Warum nicht?, entgegnete sie und sah sich ungehalten nach der Quelle um. Weil er bei sich ist. – Bei sich? Was heißt das? – Er befindet sich an einem Ort, zu dem niemand außer ihm selbst Zugang findet, tief in seinem Innern. – Aber ich muss ihn dringend erreichen! – Er will nicht erreicht werden. Erst in dem Augenblick, in dem er sich selbst wieder verlässt, werden Sie mit ihm in Kontakt treten können. Wenn er aus sich herausgeht, verstehen Sie? Sobald er seine gegenwärtigen Gedanken loslässt, um seine Zukunft zu suchen, wird seine Vergangenheit ihn einholen und damit Ihre Stimme. Auf einmal stand ein fast kahlköpfiger Mann vor ihr, der sie über seine rahmenlose Halbbrille anblinzelte. In der Hand hielt er eine Krankenakte. Was steht darin?, fragte sie, obwohl sie wusste, dass dies der ärztlichen Schweigepflicht unterlag. Nicolaes Lebensweg, antwortete der Arzt. Möchten Sie einen Blick darauf werfen? – Gerne. Er schlug den Aktendeckel auf und entfaltete einen in Ziehharmonikaform gelegten, schier endlosen Papierstreifen, der sich bald in mehreren Bahnen über Bett und Fußboden wellte. Auf ihm waren wirre Linien mit unleserlichen Beschriftungen eingezeichnet, die sich verzweigten und kreuzten, plötzlich abrissen, um irgendwo neu zu beginnen, bis sie sich in schwindelerregenden Endlosspiralen im Nirgendwo verloren. Welch ein Chaos!, rief sie schockiert. Der arme Junge! – Darum sind wir bemüht, Ordnung in sein Leben zu bringen. – Wer ist wir? Wer sind Sie? Aber auf diese Frage erhielt sie nie eine Antwort.

Begütigend legte der Graf ihr seine Hand auf die Schulter und holte sie aus ihren trostlosen Gedanken.

 

***

 

Als das erste Tageslicht durch die Zweige brach, spürte Nicolae, dass irgendetwas anders war als sonst. Er brauchte eine Weile, bis er das an diesem Ort ungewöhnliche Geräusch einzuordnen wusste. Aus nicht allzu weiter Ferne krähte ein Hahn!

Eilig packte er sein Nachtlager zusammen, bestieg Frate und nahm zügig, aber aufmerksam das starke Gefälle entlang des Baches. Schon bald drang der Geruch kokelnden Holzes an seine Nase. Kurz darauf stieß er auf eine Lichtung, die alles andere als einladend wirkte. Das Wasser schlängelte sich dort durch ein breites Kiesbett, das, statt von einer grünen Böschung, von einem etwa drei Mann hohen, vor sich hin qualmenden Kegel gesäumt wurde, der alles in seiner Nähe mit einer grauen Rußschicht überzog. Nicht weit davon entfernt bedeckte ein Aschehaufen den kargen Boden. Rundherum lagerten mehrere Stapel Hölzer sowie Haufen von Erde, Moos und Grassoden. Zur Rechten des Meilers, im Schatten einiger Fichten, stand die rußgeschwärzte Hütte eines Köhlers. Dort, auf einem kleinen Misthaufen neben einem offenen Schweinepfuhl, krähte der Hahn aus Leibeskräften und versammelte glucksendes Hühnervolk um sich herum.

Ungläubig rieb sich Nicolae die Augen. Kaum war er sicher, keinem Trugbild aufzusitzen, kam ein kohlenschwarzer Hund auf ihn zugelaufen und blieb kläffend vor ihm und Frate stehen. Nicolae saß ab und näherte sich ihm behutsam. Der Hund begann aufgeregt mit dem Schwanz zu wedeln.

»Na, du bist mir vielleicht ein feiner Wachhund!«, zog er ihn auf, während er ihm den Kopf streichelte. Der Hund vergalt es ihm mit einem genießerischen Gähnen und legte sich ihm zu Füßen.

Nicolae lachte. »Führ mich lieber zu deinem Herrn!«

Hurtig erhob sich der Hund und lief schwanzwedelnd voraus. Nicolae ließ Frate am Waldrand zurück und folgte dem Hund über den staubigen Platz zur Hütte. Im Innern hörte er jemanden hantieren, während der Hund sie bellend ankündigte.

»Was ist denn los mit dir, Cărbune? Bist doch sonst nicht so lebhaft in den frühen Morgenstunden«, hörte Nicolae die tiefe Stimme des Köhlers brummen, bevor dieser mit einem Kaffeebecher in der Hand vor seine Hütte trat und erstarrte. Seine stahlblauen Augen, die unter buschigen Brauen hervorblitzten, musterten Nicolae misstrauisch. Alles andere an ihm – vom krausen Haarschopf bis zum langen Bart, von der behaarten Brust unter dem fleckigen Hemd bis zu den nackten Füßen in den Holzpantinen – war rußbedeckt.

»Entschuldigt bitte, guter Mann«, sagte Nicolae. »Euer Hund war so freundlich –«

»Freundlich!«, unterbrach ihn der Aschemann mit rauer Stimme. »Ja, das ist er. Nicht so wie sein Herr, der alte Griesgram.« Er spie aus und verzog angewidert das Gesicht. »Teufel auch! Noch nie hat es Hund und Herrn gegeben, die so wenig zueinandergepasst hätten wie Cărbune und der alte Costel. Welch Schande! Ein Wachhund soll er sein? Dass ich nicht lache! Zwar ist er schwarz wie Kohle, der scheinheilige Kläffer, aber wo bleibt das grimmige Knurren, wo das Zähnefletschen, damit die Halunken Reißaus nehmen, bevor sie nur einmal husten können? Was macht dieser dumme Köter stattdessen? Begrüßt jeden Fremden, der sich alle Jubeljahre hierher verirrt, mit einem freundlichen Schwanzwedeln, lässt sich hinterm Ohr kraulen wie das Schoßhündchen einer Madame. Und zack … hängt er einem am Rockzipfel, ohne dass man ihn je wieder loswürde, verflucht noch eins! Ja, so haben wir damals zueinander gefunden, diese Töle und ich. Hat sich einfach bei mir häuslich niedergelassen, ohne zu fragen, ob es mir überhaupt recht ist. Nicht wahr, Cărbune, alter Teufelsbraten? Und das Bürschchen hier? Hat es etwa dasselbe vor?! Sind die Häscher hinter ihm her, oder was treibt ihn sonst in diese gottverfluchte Gegend?«

Nicolae, von dem unerwarteten Abreißen des Redestroms überrascht, brauchte einen Moment, um seine Sprache wiederzufinden. Er verwünschte sich, dass er noch nicht einmal eine plausible Geschichte parat hatte.

»Nichts dergleichen, guter Mann«, beeilte er sich zu antworten und geriet ins Stottern. »Ich habe mich bloß ein wenig verirrt in den dichten Wäldern dort oben.«

»So. Aus den Wäldern von oberhalb kommt er also.« Abermals musterte der Köhler ihn argwöhnisch von oben bis unten. »Und was treibt ihn zu mir?«

»Eure Rauchsäule, die ich vor Tagen von der Anhöhe aus sah.«

»Soso, die Rauchsäule – verflixt noch eins, was für eine Schweinerei! Der Teufel soll ihn holen, den alten Grigorescu mit seinem vermaledeiten Fusel!«, fluchte der Köhler und spuckte aus. »Alles abgebrannt. In Nullkommanix. Wie Zunder. Konnt nur noch dabei zusehen, verdammich! – Und? Hat er auch einen Namen?«

Wieder brauchte Nicolae eine Weile, um zu begreifen, dass mit er er gemeint war.

»Gewiss ...«, setzte er zu einer Antwort an und stockte. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass es wohl besser wäre, seinen richtigen Namen nicht preiszugeben. Aber ein anderer kam ihm auf die Schnelle nicht in den Sinn. Nicht einmal den hatte er sich überlegt!

»Na, ich merk schon, das Reden scheint Gewiss in den Einsamkeiten dort droben abhandengekommen zu sein. Macht nichts. Das kommt schon wieder. Hol deinen Gaul, Gewiss, und komm erst mal frühstücken. Nachher kannst du mir mit dem Vieh und den Gemüsebeeten zur Hand gehen, damit ich in Ruhe nach meinem Meiler schauen kann.«

Erleichtert, aber reichlich verlegen wegen seines lausigen Auftritts, betrat Nicolae Augenblicke später die Hütte. Darinnen war es düster wie die Nacht.

»Gewiss schaut aus, als ob er ein kräftiges Frühstück vertragen könnte – was, Cărbune?«, sprach der Köhler zu seinem Hund und verschwand durch eine Seitentür.

Nicolae blieb allein zurück und sah sich in der kleinen Hütte um, in der von den Wänden bis zur Decke alles von Ruß geschwärzt war. An der hinteren Wand, mit Fensterblick zum Meiler, stand ein ungemachtes Bett, dessen Laken vor Urzeiten einmal weiß gewesen sein mochte, davor ein mit Krümeln und klebrigen Resten übersäter grob gezimmerter Tisch, und diesem zur Seite ein nicht gerade vertrauenserweckender Stuhl, über dessen Lehne allerlei Lumpen hingen. Linkerhand, gleich neben dem Eingang, befanden sich einige durchgebogene Bretter an der Wand, auf denen zwischen Krempel gesprungene Töpferwaren und angestoßene Tassen standen. Auf der rechten Seite dampfte ein zerbeulter kupferner Kaffeetopf auf einem Ofen, der als Einziges eine annähernd heimelige Atmosphäre schuf. Nicolae betrachtete die kargen Wände, die weder Heiligenbilder, Webteppiche noch die sonst üblichen Wandbehänge zierten, als der Köhler mit einem Stück Speck und sechs tatsächlich weißen Eiern zurückkehrte. Sie verliehen der Hütte einen seltsamen Glanz.

Kurz darauf ließ der köstliche Duft des in der Pfanne brutzelnden Specks Nicolae das Wasser im Mund zusammenlaufen. Taumelig ließ er sich auf einen klapprigen Schemel sinken.

»Kruzitürken aber auch, wenn das man nicht mit dem Teufel zugeht!«, fluchte der Köhler vor sich hin, während er mit seinen groben Händen die Eier in die Pfanne schlug. »Zwei Dotter in einem, das soll doch ... He, Gewiss, hol mal zwei Teller aus dem Regal!«

»Liviu. – Mein Name ist Liviu, guter Mann. Semilian Liviu.«

Bei Nennung des Namens breitete sich ein ungutes Gefühl in seiner Magengrube aus. Er war sich nicht sicher, ob es nicht Unheil brächte, den Namen eines Toten anzunehmen. Zudem fürchtete er, der Köhler würde ihm die Lüge an der Nasenspitze ansehen.

»So. Na, das nenn ich mal einen anständigen Namen«, merkte dieser jedoch zufrieden an und wendete den Speck in der Pfanne. Der beißende Kokelgeruch war längst in den Hintergrund getreten.

Als das Frühstück vor ihm auf dem Teller lag, musste Nicolae an sich halten, um nicht alles auf einmal gierig hinunterzuschlingen; der Köhler sollte nicht merken, wie ausgehungert er war. Darum bemühte er sich, jeden einzelnen Bissen möglichst gut durchzukauen. Der harte Brotkanten machte dies ohnehin unumgänglich.

»Musst schon entschuldigen, Semilian«, schmatzte der Köhler, der auf dem Bett Platz genommen hatte. »Frisches Brot gibt’s erst Ende nächster Woche, wenn der vermaledeite Grigorescu hier vorbeigekommen ist. Falls du Ziegenmilch willst, musst du hinten auf der Wiese meine Tusnelda melken gehen. Du weißt doch wohl, wie’s geht?«

Nicolae nickte und nahm aus dem ihm zugeschobenen Becher einen Schluck von dem bitteren Gebräu. Es schmeckte, als wäre es mit Kohlenwasser gekocht. Anscheinend hatte er dabei das Gesicht verzogen. Der Köhler ließ ein überraschend weißes Grinsen sehen.

»Ich mag den Kaffee halt schön stark, so wie die Muselmänner – verflucht seien sie alle miteinander!«, fügte er grunzend hinzu.

 

Nach dem Frühstück zäumte Nicolae Frate ab und führte ihn zu einem hinter der Köhlerhütte gelegenen kleineren Bachlauf, an dem erstaunlich fettes Gras wuchs. Genau dort fand er auch die Ziege, die zu melken ihm der Köhler aufgetragen hatte.

Etliche blaue Flecke und einen gerissenen Geduldsfaden später hatte er ihr eine kleine Schale Milch abgepresst.

Das angrenzende Gemüsebeet war freundlicher und ließ alles mit sich geschehen, sowohl das Aufhacken der Erde als auch das Zupfen des Unkrauts, das Absammeln der Schnecken und das Wässern des Bodens. Er hatte Order, alles zu ernten, was sie für eine deftige Ciorbă* benötigten. Er schöpfte aus dem Vollen.

Nur das Einfangen des Suppenhuhns bereitete ihm Schwierigkeiten. Cărbune tanzte bellend um die Hühnerschar herum, während Nicolae sich abmühte, eines von ihnen einzufangen. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, als es ihm endlich gelang. Doch der schwierigste Part stand noch bevor: das Umdrehen des Halses! Er hatte Mühe, das tobende Huhn festzuhalten. Da war es auch schon flatternd und zeternd entwichen. Die Jagd ging von vorne los.

»Nicht so zimperlich, Semilian!«, rief der Köhler ihm von seinem Meiler aus zu. »Du wirst doch wohl wissen, wie man dem Federvieh beikommt, oder?«

Das Misstrauen in des Köhlers Stimme ließ ihn sich zusammenreißen. Rigoros schnappte er sich ein anderes Huhn und drehte diesem, noch bevor er darüber nachdenken konnte, den Hals um. Er setzte sich damit auf die Bank vor der Hütte und begann es zu rupfen. Erst da wurde ihm flau im Magen. Das widerlich knirschende Geräusch beim Umdrehen des Halses, der jetzt schlaff herabhing, wollte ihm nicht aus dem Gehör. Er war froh, dass seine Hände etwas zu tun hatten, sonst wäre ihr Zittern bestimmt aufgefallen.

Cărbune saß mit hechelnder Zunge zu seinen Füßen und schaute den Federn nach, die er in einem Leinensack am Boden auffing.

»Du kommst wohl nicht vom Lande, was, Semilian? Trotz deiner Bauerntracht, zu der das vornehme Schuhwerk an deinen Füßen so gar nicht passen will.«

Erschrocken schaute Nicolae auf seine Lederstiefel.

»Sind ein Erbstück«, antwortete er knapp, und als er den Blick des Köhlers weiterhin forschend auf sich spürte, fügte er hinzu:

»Die Opanken* hab ich daheim gelassen. Ich komme schon vom Lande, aber für das Schlachten der Hühner war unsere Kö...«

Um Haaresbreite hätte er sich verraten! Er täuschte einen Hustenreiz vor. »… Großmutter zuständig«, beendete er seinen Satz.

»Jaja, die Großmütter! Immer gut, wenn’s ums Halsumdrehen geht, was?«, lachte der Köhler rau auf und stocherte im Meiler.

»Und womit verdient der werte Herr Vater sein täglich Brot, wenn man fragen darf?«

»Er ist ... gestorben vor ein paar Wochen. Drum bin ich auf dem Wege zu meinem Onkel. Vater war Gutsverwalter.«

»Gutsverwalter. Soso. Hat also im Namen seines Herrn die Bauern unter der Karbatsche* gehalten, wie? Ihnen in aller Regelmäßigkeit die überhöhte Steuer aus dem Leib gepeitscht, was? Und hernach kaum etwas zum Überleben gelassen, verflixt und eins!«

Nicolae stellte erschrocken fest, dass seine Antwort keine günstige gewesen war und mühte sich, den Schaden zu begrenzen.

»Naja, es war nur ein ganz kleines Gut. Niederer Landadel halt. Wegen der hohen Spielschulden hat unser Herr all seine Ländereien beizeiten verkaufen müssen. Zum Schluss blieben ihm gerade mal der Weinberg und ein Weizenfeld.«

Angewidert spuckte der Köhler aus. »Bojar bleibt Bojar, ob hoch oder niedrig. Im Gegenteil, je geringer, desto geringer das Erbarmen mit den Sklaven.«

»Auf dem Gut gab es keine Leibeigenen mehr. Zur Ernte wurden Helfer gedungen, alles andere hat mein Vater selbst ge–«

»Also war er der Ausgebeutete. Hat seinem ach so armen Herrn womöglich noch den ausstehenden Lohn erlassen, damit der sein lustiges Kasinoleben weiterführen kann, he?«

Nicolae wagte nichts mehr zu erwidern.

»Man sollte diese hochwohlgeborenen Blutsauger alle ausrotten«, fuhr der Köhler grimmig fort, »gleich mitsamt ihrer Brut! Machen sich seit Jahrhunderten ein schönes Leben auf Kosten der Armen, die ihr täglich Brot mit ihrer Hände Arbeit verdienen und dennoch Hunger leiden müssen. Glauben, die Welt gehört ihnen allein und teilen sie unter sich auf wie eine Sahnetorte, jeder hübsch darauf bedacht, das größte Stück abzubekommen. Die paar Krümel, die für unsereins dabei abfallen, stampfen sie mit ihren blank geputzten Stiefelspitzen auch noch tief in den Boden, damit wir uns danach bücken und vor ihnen im Dreck scharren müssen … Teufelspack!«

Wieder spuckte der Köhler angeekelt aus. Nicolae schluckte.

»Nun«, unternahm er einen letzten Versuch, den Köhler zu besänftigen, »unser Herr hat uns stets gut behandelt. Wir hatten genug zum Leben, und Vater wurde für seine treuen Dienste bestens –«

»Na, euer feiner Herr wird schon gewusst haben, von wem er sich die Spesen hat zahlen lassen«, fiel ihm der Köhler abermals ins Wort. »Vielleicht war er gar so schlau, es bei seinesgleichen zu versuchen, hahaha!«

Eingeschüchtert ließ Nicolae das Thema fallen und machte sich schweigend daran, das Huhn auszunehmen.

Mürrisch wandte sich der Köhler ab. Nicolae sah ihn im Wald verschwinden und kurz darauf mit einer Kiepe Moos zurückkehren.

»Kannst mir nachher mit dem Aufbau des neuen Kohlenmeilers helfen, Semilian«, rief dieser ihm zu, während er das Moos neben dem Aschehaufen ablud. »Muss einen neuen Quandel errichten.«

Nicolae warf die Innereien in den Pfuhl, woraufhin das Schwein sich mit einem zufriedenen Grunzen darüber hermachte. Danach suchte er sich in der Hütte das nötige Kochgeschirr zusammen und spülte dieses im Wassertrog vor der Hütte erst einmal gründlich aus.

Das Säubern des Gemüses ging ihm noch flott von der Hand. Längst vergangene Tage kamen ihm in den Sinn, als er im Cottage über dem Suppentopf geschwitzt hatte, in Sorge, sich und die Seinen nicht satt zu kriegen. Er hatte damals kaum etwas zum Füllen des Topfes gehabt. Ganz anders als hier, wo in der Vorratskammer fette Würste und Schinken vom Balken hingen und die Regale mit Gläsern voll Eingemachtem und Säcken voll Maisgrieß bestens gefüllt waren. Nicolae war erstaunt, wie gut es sich inmitten der Wildnis leben ließ. Auch an weißem Käse mangelte es nicht, der dem Geruch nach aus Tusneldas Milch hergestellt war.

 

Fast den ganzen Tag blieb der Köhler in der Nähe seines Meilers, stocherte in Abständen in ihm herum oder dichtete einzelne Löcher wieder ab, schichtete Hölzer nach und achtete darauf, dass die Rauchsäule weder zu stark noch zu schwach wurde, damit der Inhalt richtig gare, wie er Nicolae erklärte.

Um die späte Mittagsstunde holte er Speck und Zwiebeln aus der Vorratskammer und ließ es sich direkt neben seinem Meiler schmecken. Niemals zuvor hatte Nicolae in eine so köstliche Zwiebel gebissen. Der Saft tropfte ihm nur so vom Kinn.

»Siehste, Jüngelchen«, rief der Köhler belustigt, »deshalb wächst uns Männern ein Bart. Damit die Weste länger sauber bleibt.« Und dann ließ er abermals mit rauem Lachen seine Zähne blitzen.

Nach der Jause hatte er vom Köhler den Auftrag erhalten, auf den Meiler zu achten, damit dieser ein Schläfchen halten konnte. Pflichtbewusst umkreiste Nicolae den Minivulkan und wandte seine Blicke nicht von der Rauchsäule ab. Wenn sie zu stark werde, hatte der Köhler gesagt, sei dies ein Zeichen dafür, dass eine zu hohe Luftzufuhr im Meiler herrsche und mit ihr zu viel Sauerstoff die Glut im Innern entfache. In dem Fall müsse schnellstens eines oder mehrere der Löcher auf dem Dach des Kohlenmeilers mit Grassode oder Moos abgedichtet werden, sonst könne es passieren, wie vor einigen Tagen geschehen, dass der ganze Meiler innerhalb kürzester Zeit abbrenne und mit ihm die bereits im Innern entstandene Holzkohle. Dann wäre die wochenlange Arbeit vergebens gewesen.

Nicolae war froh, als der Köhler endlich erwachte und ihm die Verantwortung für den Meiler wieder abnahm. Die durchgehende Aufmerksamkeit hatte ihn angestrengt, ohne dass er dabei groß hätte etwas tun müssen. Sodann machte sich der Köhler daran, an der Stelle des abgebrannten Kohlenmeilers einen neuen zu errichten, was normalerweise mehrere Tage in Anspruch nähme, wie er Nicolae wissen ließ. Mit seiner Hilfe würde es ihm nun schneller gelingen. Für den neuen Schacht brachten sie zunächst senkrechte Stangen in den Boden. Dann wurden rundherum meterlange Holzstücke aufgeschichtet. Erst als es zu dämmern begann, schickte der Köhler ihn in die Hütte zum Vorbereiten des Abendessens.

Nicolae war einigermaßen stolz, als er eine kräftige Ciorbă auf den Tisch stellte, doch wartete er vergebens auf lobende Worte.

»Wo ist die Mămăliga*, Semilian?«, fragte der Köhler stattdessen und schaute suchend auf dem Tisch herum.

»Die Mămăliga?«, fragte Nicolae verwirrt.

»Zu einer ordentlichen Mahlzeit gehört sie ja wohl immer noch dazu, wenn schon kein Brot mehr da ist, oder etwa nicht? Hattet ihr in Diensten eures Bojaren gar Feineres auf dem Tisch?«

»Ja, nein, also ... ich weiß nicht … Mutter hat immer –«

»Sei’s drum, dann werden sich unsere Mägen heute ohne Maisbrei zur Ruhe begeben müssen. Morgen zeige ich dir, wie man sie kocht. Hab ja schließlich kein Weib hier, das es machen könnte.«

»Warum eigentlich nicht?«

»Warum nicht?« Der Köhler füllte zwei Krüge mit Wein und schob einen davon Nicolae zu. »Warum nicht, fragt er. Na, der ist gut – was, Cărbune? Hahaha!«

Cărbune, der es sich unter dem Tisch bequem gemacht hatte, sah bei Erwähnung seines Namens kurz auf, dann legte er seinen Kopf wieder auf den Vorderpfoten ab und wartete geduldig, dass vom Abendessen etwas für ihn abfiele.

»Möchte die Frau wohl sehen, die es in dieser Einsamkeit lange mit mir aushielte«, knurrte der Köhler. »Alle zwei Wochen kommt Grigorescu mit seinem Karren, bringt Lebensmittel und etwas Geld im Tausch für die Holzkohle, die er für mich an die Schmiede und die Brennerei verkauft. So sieht’s aus. Der alte Costel lebt hier sommers wie winters und hält tagein, tagaus die Meiler am Brennen. Kein Weib, kein Nachbar, kein Pope. Keine Bettfreuden, kein Besäufnis, keine Beichte. Stattdessen Holz, Erde, Moos und viel Arbeit, weiter nichts. Das ist mein Leben, Semilian. Nur meine Tusnelda, das Schwein sowie der alte Hahn mit seinem Harem leisten mir, Petrea Costel und meinem Untermieter Cărbune Gesellschaft. Mehr nicht. Und nun lass uns in Ruhe essen, verflucht noch eins! Von dem ganzen Gequassel wird einem ja die Suppe im Mund kalt.«

Den Rest der Mahlzeit verbrachten sie also schweigend.

Als Petrea sich seinen Weinkrug zum dritten Mal nachfüllte, nippte Nicolae immer noch an seinem ersten.

»Was ist los mit dir, Semilian? Ist dir mein Wein etwa zu sauer? Bist wohl süßeren gewöhnt auf eurem vornehmen Weingut, was?«

»Nein, gar nicht«, widersprach Nicolae hastig und wollte zu einer Erklärung ansetzen, als der Köhler sich bereits lachend auf die kräftigen Schenkel klopfte.

»Schon gut, Semilian. Schon gut, Jüngelchen! Brauchst deinen Alten nicht mehr in Schutz zu nehmen. Er wird sich jetzt einem anderen gegenüber zu verantworten haben für sein Tun und Lassen zu Lebzeiten. Soll nicht mehr deine Sorge sein, du lebst fortan dein eigenes Leben. – Da, schnapp dir ein Laken«, fügte er auf eine Truhe deutend hinzu, »und mach es dir nebenan auf dem Heuboden bequem. Der erste Hahnenschrei wird dich früh genug wecken, haha!«

Das ihm zugewiesene Strohlager war trocken, sein Magen gefüllt und er hatte ein richtiges Dach über dem Kopf. Nicolae glaubte sich im Paradies. Er hätte gerne noch ein wenig länger über all das Neue, das ihm dieser Tag beschert hatte, nachgedacht, aber von der Arbeit erschöpft und dem Becher Wein beduselt fielen ihm vorzeitig die Augen zu. Frate war unten bei den Hühnern gleich neben der Stalltür untergebracht und hielt Wache.

 

***

 

Erwartungsvoll sahen sie nach der Begrüßung zu ihm auf.

»Ich muss die Damen leider enttäuschen. Es gibt keine Neuigkeiten«, hörte Natalia ihren Vater verkünden. »Ich habe Rektor Liebermann eine Notiz zukommen lassen, dass sich Nicolae noch auf Reisen befindet, was in gewisser Weise sogar zutrifft.«

Schwer seufzte er auf, nachdem er sich von Gábor den Umhang hatte abnehmen lassen. »Mit jedem Tag, der verrinnt ...«

Er verstummte, als er ihrer gewahr wurde. Dann kam er auf sie zu und hob sie zu sich auf den Arm.

»Sprichst du auch immer hübsch dein Gebet, mein Engel?«

»Natürlich, Papa!«, antwortete sie mit leichter Entrüstung in der Stimme und schaute ihm ernst in die Augen.

»Na, dann ist noch Hoffnung! Irgendwann müssen deine Gebete ja schließlich erhört werden, nicht wahr?«

Sein Lächeln sollte Zuversicht ausstrahlen, doch als er sie wieder abstellte, entging ihr nicht der Blick, den er Mama Marcela und Tante Judith zuwarf. Natalia wurde bang ums Herz.

 

Schon den ganzen Nachmittag saß sie an ihren Aufgaben, auf die sie sich einfach nicht konzentrieren konnte. Am Ende hatten so viele Fehler in ihrem Aufsatz gesteckt, dass sie ihn noch einmal hatte abschreiben müssen. Als auch der zweite Versuch zu missglücken drohte, schleuderte sie ihren Stift wütend beiseite.

»Natalia«, mahnte ihre Tante, »heb sofort den Stift wieder auf und sieh zu, dass du deine Arbeit diesmal fehlerfrei hinbekommst!«

Unwillig kam sie dem nach, doch der Stift war so unglücklich gefallen, dass die Bleistiftspitze immer wieder brach und sie überwiegend mit Anspitzen beschäftigt war. Es blieben ihr nur noch zehn Minuten und sie hatte noch nicht einmal die Hälfte zu Papier gebracht. Unter der Hast verschrieb sie sich nun noch häufiger.

Ungehalten strich ihre Tante auch diese dürftige Arbeit wieder durch. »Du wirst heute nicht eher zu Tisch gehen dürfen, als bis der Aufsatz sauber und fehlerfrei abgeschrieben ist. Hast du verstanden? Ich werde mich derweil umkleiden gehen.«

»Wie soll ich denn, wenn der Stift immerzu bricht?«

»Nun, das hast du dir selbst eingebrockt, nicht wahr?«

Ungerührt erhob sich ihre Tante und machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen. Noch vor Erreichen der Tür flog ihr das Aufsatzheft vor die Füße.

»Schreib ihn doch selbst, Tante Judith, damit du mal siehst –« Mit Schrecken sah Natalia ihre Tante zum Lineal greifen.

 

Als sie später schniefend in ihrer Schämecke stand, während die anderen zu Abend speisten, schmerzte sie ihr Verlangen nach ihrem Bruder und ihrer Leni weit mehr als ihre pochenden Handflächen. Sie wurde ohne Kuss zu Bett geschickt. Nur Mama Marcela warf ihr beim Gutenachtsagen einen mitleidigen Blick zu. Sie war die Einzige, die verstand, dass sie nicht aus Garstigkeit so gehandelt hatte.

 

***

 

Cărbune wich nicht mehr von seiner Seite. Ein paar Streicheleinheiten nebst freundlichen Worten hatten gereicht, ihn sich treu ergeben zu machen.

»Du bist ganz schön bestechlich, Cărbune, weißt du das?«

Mit einem treuherzigen Blick leckte der Hund ihm die Hand und rollte sich wie jeden Abend neben ihm zusammen. Eingangs hatte er unten an der Leiter zum Heuboden gestanden und so lange gewinselt, bis Nicolae sich seiner erbarmt und ihn die Leiter hinauf zu seiner Schlafstatt getragen hatte. Mittlerweile brauchte Cărbune nicht mehr zu betteln. Der Köhler schimpfte ihn jetzt bei jeder Gelegenheit eine untreue Seele und wünschte ihn mehrfach am Tag zum Teufel. Doch Nicolae konnte erkennen, dass Petrea seinem Hund diese Art Untreue in Wirklichkeit verzieh.

Der Strohsack staubte, als Nicolae ihn zurechtschüttelte, um sich sogleich darin zu verkriechen. Es ging ihm gut. Die Blasen an den Händen vom Stechen der Soden und vom Hacken des Holzes brannten nicht mehr, statt ihrer hatten sich dort harte Schwielen gebildet. An die häufigen Splitter vom Stapeln der Hölzer hatte er sich gewöhnt, ebenso an den starken Kaffee am Morgen und den Wein am Abend. Nur die blauen Flecke beim Melken Tusneldas zog er sich jeden Tag aufs Neue zu und fluchte dabei wie der Köhler persönlich. Von diesem hatte er inzwischen eine Menge über die Holzkohlenmeilerei gelernt und wusste, dass aus einhundert Kilogramm Holz etwa zwanzig Kilogramm Holzkohle gewonnen wurde, die als Heizmaterial begehrt war, aber auch zum Entfuseln von Schnaps und als Zahnpulver diente. Letzteres erklärte die auffallend weißen Zähne des Köhlers, der ansonsten nicht viel von Körperpflege zu halten schien. Ihr Tagesablauf war geregelt, die Aufgaben verteilt. Nicolae kümmerte sich am Vormittag um Haus und Hof, versorgte die Beete und das Vieh, wusch Wäsche und bereitete die Mittags- und Abendmahlzeiten vor. Am Nachmittag bis zum Abend half er bei den Meilern, holte Erde und Moos aus dem Wald und behielt den zweiten Meiler im Auge. Auch an die sprunghaften Launen des Köhlers hatte Nicolae sich gewöhnt. Befand sich dieser in seiner Erzähl- und Fluchlaune, so ließ er ihn erzählen und fluchen und hörte ihm aufmerksam zu. Schwieg er stattdessen, so hörte er ihm auch dabei zu. Petrea stellte keine Fragen. Alles, was er hatte wissen wollen, hatte er Nicolae gleich am Tag seiner Ankunft gefragt, alles andere schien ihn nicht zu interessieren.

Kurz bevor Nicolae sich zur Ruhe begeben hatte, hatte er Frate unten im Stall versorgt, der tagsüber in Bachnähe fettes Gras in Hülle und Fülle vorfand. Sein Gefährte schien dennoch gekränkt und äugte eifersüchtig zu Cărbune hoch, weil dieser es sich an Nicolaes Seite gemütlich machen durfte.

Nicolae verschränkte die Arme hinterm Kopf und starrte zum Spinnennetz zwischen den Dachbalken hoch. Er war zufrieden, und doch überfiel ihn seit einigen Tagen eine gewisse Unruhe. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er weiterziehen musste.

Als Grigorescu kürzlich mit einigen Lebensmitteln gekommen war, hatte Petrea diesem Nicolae als Lehrling vorgestellt. Grigorescu hatte eine Weile blöde geguckt, schließlich genickt, als hätte er verstanden, und sich wortlos eine Zigarette gedreht. Petrea hatte ihm dabei Gesellschaft geleistet. Auch Nicolae war eine Zigarette angeboten worden. Er hatte dankend abgelehnt, woraufhin Grigorescu wieder eine Weile blöde geguckt, anschließend genickt und dann einen tiefen Zug getan hatte. Nicolae hatte sich in die Hütte verzogen, um sich um das Abendessen zu kümmern, während die beiden Männer draußen auf der Bank vor sich hin gepafft hatten.

»Wo kommt der denn so plötzlich her?«, hatte er Grigorescu fragen hören, nachdem bereits eine Viertelstunde vergangen war. »Aus dem Wald«, hatte die kurze Antwort des Köhlers gelautet. »Aus’m Wald?« – »Mmh.« – »Einfach so?« – »Einfach so.«

Danach hatten sie wieder geschwiegen und wie nebenan die Meiler ihren Rauch in die Luft gepustet. »Ist mir quasi zugelaufen. Und geblieben«, hatte Petrea nach einer Weile hinzugefügt. – »Wie Cărbune?« – »Wie Cărbune.« Schweigend hatten sie weitergeraucht.

Schließlich hatte sich Grigorescu erhoben.

»Na, ich muss dann mal wieder. Will in dieser gottverdammten Gegend nicht von der Dämmerung überrascht werden.« –»Besser ist es.« – »Na, denn.« –»Na, denn.«

Grigorescu war auf seinen Karren gestiegen, hatte noch einmal blöde in Nicolaes Richtung geglotzt, dann genickt, als hätte er verstanden, und mit der Zunge geschnalzt. Das Pony hatte ebenfalls blöde geguckt, kurz genickt, als hätte es verstanden, und sich dann schwerfällig in Bewegung gesetzt.

Da hatte Nicolae gewusst, was er an Petrea hatte.

Zufrieden drehte er sich in seinem Strohbett auf die Seite. Unten gluckste ein Huhn im Schlaf. Das Schwein schnarchte leise vor sich hin. Cărbunes Muskeln zuckten, während er im Traum wohl wieder die Hühner jagte. Frate hielt an der Stalltür Wache. Draußen wusste er den Köhler bei seinen Meilern. Erst weit nach Mitternacht würde sich dieser für wenige Stunden ins Bett legen, ein aufmerksames Auge stets aus dem Fenster auf die Rauchsäulen gerichtet.

Wie Blei fuhr der Schlaf in Nicolaes Glieder und ließ ihn augenblicklich in tiefem Schlummer versinken.

 

***

 

»Er hat uns vergessen.«

»Nein.«

»Doch! Ich spüre es. Er ist woanders, wo es ihm besser geht.«

»Wo sollte es ihm denn besser gehen als bei uns, Prinzessin?«

»Dort, wo er nicht so viel lernen und immerzu gehorchen muss.«

»Gehorchen muss er woanders erst recht, gleich, wo er ist. Denn es weiß dort ja keiner, wer er ist. Dort ist er nur ein Jedermann.«

»Vielleicht ist man dort aber trotzdem nicht so streng mit ihm. Vielleicht hat man ihn dort lieber.«

»Das ist unmöglich«, hauchte Marie in die diesige Luft.

»Dann muss er wohl tot sein. Und wir ... wir sterben jetzt auch.« Natalias Hände ballten sich zu Fäusten.

»So dürft Ihr nicht denken, Prinzessin«, rief Rosemarie bestürzt. »Wenn nicht einmal Ihr mehr hofft, dann sind wir bald alle verloren. Dann wird mein Vater recht behalten mit seinen düsteren Prophezeiungen.«

»Was kann ich schon tun, Marie? Mein Vater müsste etwas tun, aber er ...« Tränen stiegen in ihr auf. Sie schluckte sie tapfer hinunter. »Irgendetwas muss passieren«, sprach sie entschlossen. »Jemand muss etwas unternehmen. Wir dürfen es nicht länger geschehen lassen. Ich will meinen Bruder zurück!«

»Was habt Ihr vor, Prinzessin?«

»Ich weiß es nicht, aber irgendetwas. Irgendetwas! Sonst sterben wir. Unsere Herzen schlagen ja kaum noch.«

 

***

 

Verwundert rieb er sich die Augen. Seit er beim Köhler lebte, war es noch nie vorgekommen, dass er mitten in der Nacht aufwachte. Von der schweren Arbeit und dem schweren Wein schlief er für gewöhnlich tief und fest und erwachte erst, wenn der verdammte Hahn beim ersten Tageslicht loskrähte, sodass er ihm am liebsten den Hals umgedreht hätte.