Nicolae - Jenseits der Wälder - Aurelia L. Porter - E-Book
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Nicolae - Jenseits der Wälder E-Book

Aurelia L. Porter

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Beschreibung

Band 3 des mystischen Familienepos:

"Hüte dich davor, an eine einzige Wahrheit zu glauben, denn wissen tut der Mensch in Wirklichkeit nichts ..."

Nicolae muss ein neues Leben fern seiner Familie antreten. Die Schule in Transsilvanien – jenseits der Wälder – ist eine eigene Welt, in der die Sprösslinge der Siebenbürger Sachsen den Ton angeben und die Lehrer ihr Deutschtum pflegen. Erneut erfährt Nicolae Misstrauen und Ablehnung, aber auch erste Freundschaften.

Daheim treten immer mehr Geheimnisse zutage und entzaubern seine einst magische Welt. Der Ruf aus der Vergangenheit wird lauter. Jahrhundertealte Mythen und Legenden durchdringen seine Wirklichkeit. Schon bald ist nichts mehr, wie es ihm erschien. Ein Kampf um Wahrheit und Vertrauen entbrennt.

"Jenseits der Wälder" ist ein Füllhorn an berührenden Schicksalen, phantastischen Episoden und brisanten Enthüllungen.

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Nicolae

Jenseits der Wälder

Familiensaga 19. Jahrhundert

(1871 bis 1875)

 

Band 3 der Nicolae-Saga von

Aurelia L. Porter

 

© 2021 Aurelia L. Porter

Umschlaggestaltung: Saeed Maleki, Hamburg

Umschlagmotiv: Shutterstock

 

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Neuauflage der Printausgaben

ISBN 978-3-347-06033-3 (Paperback)

ISBN 978-3-347-25097-0 (Hardcover)

Verlag & Druck: tredition GmbH,

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

 

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung ist nur mit schriftlicher Zustimmung des Autors zulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Zur Nicolae-Saga gibt es Musik!

Hören Sie kostenlos in den Soundtrack hinein.

Info: www.aurelia-porter.de

 

 

Gleich, wie unrealistisch unsere Träume auch sein mögen,

gleich, wie einfältig und märchenhaft,

keiner darf sie uns nehmen,

auch wir selbst nicht.

 

(Nicolae)

 

 

Teil 1 – 1871

 

Sie stand allein, umschlossen von undurchdringlichem Nebel. Nicht das geringste Geräusch war zu hören, selbst ihr Herzschlag war verstummt. Furchtsam rief sie nach Vater und Bruder, doch ihre wimmernden Worte versickerten ungehört. Angst packte sie mit eisigen Klauen. Sie war gefangen in dieser grauenvollen Einsamkeit.

Ein leises Schluchzen drang an ihr Gehör. Hoffnungsvoll hob sie ihr Gesicht. Der Nebel begann sich aufzulösen.

Augenblicke später sah sie sich von Finsternis umgeben. Wie ein schweres Tuch drückte diese sie zu Boden und suchte jeden Laut in ihr zu ersticken. Das Weinen war jetzt deutlicher zu hören.

Papa! Nini!

Sie verharrte in Reglosigkeit – bangend, hoffend.

Da tauchte aus dem Nichts eine Kutsche auf. Im Inneren saß ihr Vater und sprach zu ihr im ernsten Ton. Doch sie konnte ihn nicht verstehen. Dann fuhr die Kutsche wieder davon.

Papa, warte! Nimm mich mit!

Wider Erwarten hielt die Kutsche an. Freudig lief sie los, aber mit jedem Schritt sanken ihre Füße in dicke Lagen weicher Watte ein. Keuchend erreichte sie das Gefährt und blickte in die strenge Miene ihres Vaters. Sie bat ihn erneut, sie mitzunehmen, doch er schien sie ebenso wenig zu verstehen wie sie ihn. Abermals gab er das Zeichen zur Abfahrt. Die Kutsche verschwand im Dunkel der Nacht. Sie blieb allein zurück in dieser grenzenlosen Finsternis.

 

Hinter Schleiern verborgen sah sie die Morgenröte aufsteigen. Farblose Gestalten huschten um sie her. Sie sprachen mit ihr, aber es war nur ein Murmeln. Eine warme Hand ergriff die ihre und führte sie fort. Kurz darauf erklang ein Wiegenlied, während sie sanft geschaukelt wurde. Das war schön. Wo ist Papa?, gelang es ihr zu fragen. Er ist auf Reisen, Prinzessin, antwortete ihr eine vertraute Stimme, die als einzige zu ihr durchdrang. Wann kommt er zurück? – Wenn es ihm beliebt. Zärtlich strichen Finger durch ihr Haar. Und wo ist Nini?, hörte sie sich weiterfragen. Er ist in einer anderen Welt. – Wann kommt er zurück? – Weihnachten. – Wann ist Weihnachten? – In neun Wochen und drei Tagen, Prinzessin. – Das hast du gestern schon gesagt! Und vorgestern! Und den Tag davor! Verzweiflung stieg in ihr auf. Ihr täuscht Euch, Prinzessin, Ihr habt mich dies vor zehn Minuten, vor einer halben Stunde und heute Morgen bereits gefragt. Heute ist noch lange nicht vorbei. – Nini soll aber jetzt kommen, nicht erst in einer Ewigkeit! – Das geht nicht, Prinzessin. – Ich will es aber! – Das wollen alle, gab die sanfte Stimme seufzend zurück.

 

Sie zuckte zusammen. Der erhobene Zeigefinger ihres Vaters gebot ihr zu essen. Widerwillig nahm sie den Löffel auf und tunkte ihn in den klumpigen, zähen Brei auf ihrem Teller. Er schien aus dem dicken grauen Nebel gekocht zu sein, der sie ständig umgab. Als sie den Löffel zum Mund führte, war ihr Hals wie zugeschnürt. Ängstlich linste sie zu ihrem Vater, der sie fest im Blick behielt. Sie zwang sich, den Brei gut zu kauen, aber er schwoll zu einem großen Klumpen an. Sie musste ihn ausspucken, um nicht daran zu ersticken.

Im nächsten Moment spürte sie einen heißen Schmerz auf ihrem Gesäß, der mit jedem Atemzug ärger wurde. Sie schrie, doch keiner eilte ihr zur Hilfe. Sie hatte Angst, furchtbare Angst. Wieso wollte Papa, dass sie erstickte? Wieso kam Nini nicht, sie zu retten? Er hatte doch versprochen, immer auf sie aufzupassen, sein Leben lang! Warum nur hatte Papa ihn fortgeschickt? Sah er nicht, wie sehr die noch nicht vergossenen Tränen sie innerlich überschwemmten, sodass nicht ein einziger Krümel mehr Platz in ihr fand?

Getrieben von schrecklicher Furcht rannte sie davon und suchte nach etwas, das sie beruhigte, das ihr Trost und Halt gab, etwas vor Kurzem noch Dagewesenem. Ihre Hände tasteten wild umher und griffen in etwas Weiches. Ein vertrauter Duft stieg ihr in die Nase. Gierig raffte sie ihn an sich und barg ihn an einem geheimen Ort. Die dort herrschende Finsternis war wohltuend und gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Sie legte all ihre Kleider ab und umhüllte sich mit dem Duft. Dann schlief sie ein und träumte, dass es am Morgen endlich wieder hell und klar um sie wäre. Ein glückliches Lächeln huschte über ihr verweintes Gesicht, während sie ihren kostbaren Schatz mit trockenen Schluchzern an sich drückte.

 

***

 

Liebe Mama,

seit unser junger Herr fort ist, ist nichts mehr, wie es einmal war. Eine dumpfe Traurigkeit hat sich auf alles gelegt; kein Stern erhellt mehr den nächtlichen Himmel, und auch die Sonne zeigt nur noch verschleiert ihr Gesicht. Die tief hängenden Wolken des einziehenden Winters scheinen unsere Gemüter erdrücken zu wollen. Lulu singt nur noch Lieder voller Schwermut und Sehnsucht, sodass Frau Kirschner ihr das Singen in der Küche bereits verboten hat.

Das Herz Seiner Exzellenz ist wieder erstorben, wie vor der Ankunft unseres jungen Herrn. Er zeigt sich von unnachgiebiger Strenge und erschreckender Kälte. Es schmerzt mich, ihn wieder so zu sehen. Ich bin geradezu froh, dass er die Wochen bis Weihnachten vorwiegend auf Reisen verbringt. Sein Töchterchen hat er in unserer Obhut gelassen. Es ist besser so für das Kind, um das wir uns alle große Sorgen machen.

Unsere kleine Prinzessin leidet schrecklich unter der Abwesenheit ihres Bruders und scheint ihren Vater nur noch zu fürchten. All ihre Fröhlichkeit und kindliche Unbefangenheit sind verschwunden. Sie spricht und isst kaum noch und wird von Tag zu Tag weniger. Frau Kirschner kocht ihr süßen Grießbrei mit Zimt, den sie für gewöhnlich gerne isst, doch selbst diesen verweigert sie inzwischen. Ihr Kinn ist schon ganz spitz, und ihre dunklen Augen liegen tief. Lulu und ich tun alles, um sie aufzuheitern, doch nicht der leiseste Hauch eines Lächelns streift ihr Gesichtchen. Gelegentlich stehle ich mich am späten Abend in ihr Gemach und streichle ihre tränennassen Wangen, denn nur im Schlaf vermag sie zu weinen.

Neulich, kurz vor der erneuten Abreise unseres Herrn, haben wir einen großen Schreck erfahren. Als ich vor dem Schlafengehen noch einmal nach der Prinzessin sehen wollte, fand ich ihr Bett leer vor. Auch in den restlichen Räumen war sie nicht zu finden. Ich traute mich kaum, meinem Herrn Meldung hierüber zu machen, doch was blieb mir anderes übrig?

Ich spürte seinen auflodernden Zorn und betete inständig, die Kleine vor ihm zu finden, was ich gottlob tat. Es war nur ein Zufall, dass ich – nach erfolglos verlaufener Suche in Haus und Hof – noch einmal in ihr Gemach zurückkehrte, um unter dem Bett nachzusehen, in Erinnerung daran, wo ich mich selbst als Kind verkrochen hatte, wenn Angst und Traurigkeit mich überkamen. Dort entdeckte ich zwar nicht unsere Prinzessin, wohl aber all ihre Spielsachen, die sie normalerweise in der Truhe verwahrt. Als ich deren Deckel anhob, tat sich ein Bild des Jammers auf. Da lag das unglückliche Kind ganz nackt, Nachthemd und Kopfkissen ihres Bruders an sich gepresst, und murmelte im Schlaf seinen Namen.

Der Anblick ergriff mich dermaßen, dass ich nicht bemerkte, wie mein Herr das Zimmer betrat. Erst als er plötzlich neben mir stand, schrak ich zusammen und trat knicksend zur Seite. Ungerührt starrte er auf sein Töchterchen, dann befahl er mir, es aus der Truhe zu heben und ins Bett zu legen. Fassungslos schaute ich ihm ins Gesicht. „Eure Tochter trauert um ihren Bruder, Exzellenz!“, wagte ich ungefragt das Wort an ihn zu richten und sah seine Kiefermuskeln sich gefährlich spannen. „Dazu besteht kein Grund“, entgegnete er mir kalten Tones. „Nicolae ist schließlich nicht gestorben, sondern nur vorübergehend abwesend. Und nun lege sie endlich zu Bett, oder muss ich es selber tun?“ Entsetzt über seine Gefühllosigkeit erwiderte ich: „Mit Verlaub, Exzellenz, aber für Eure Tochter macht dies kaum einen Unterschied. Sie war niemals zuvor ohne ihn. Er fehlt ihr so sehr, dass –“ Weiter kam ich nicht. „Was erdreistest du dich?“, fuhr er mich zornig an, während ich mir die brennende Wange hielt. „Mir fehlt mein Sohn auch. Das ist jedoch kein Grund, seinen Pflichten nicht nachzukommen!“ Mit diesen Worten hob er die Kleine selbst aus der Truhe und legte sie zu Bett. Ich stand da und weinte. Nicht wegen der Ohrfeige, die ich durchaus verdient hatte, sondern weil sein Herz wieder zu Stein geworden ist. Mit einer ärgerlichen Geste scheuchte er mich aus dem Zimmer, als wäre ich nicht mehr als ein lästiges Insekt.

 

Ich war untröstlich in jener Nacht. Viele Stunden lang habe ich in meine Kissen geweint, fast so wie unsere Prinzessin. Mein Herz ist ebenso schwer wie das des armen Kindes. Sie hat Bruder und gleichsam Vater verloren. Zwar nur vorübergehend, aber für Kinder ihres Alters ist Zeit doch noch nicht messbar! Der Lichtblick auf Weihnachten ist ihr kein rechter Trost, denn er liegt für sie in unfassbarer Ferne. Die Minuten verrinnen ihr so langsam wie Stunden. Und jede Minute im Leid schwillt bekanntlich zur Ewigkeit an.

Wie sehr sehne auch ich mich nach einem Lichtschimmer und dem verloren gegangenen Herzen, das mir warm entgegenschlägt. Nur die Hoffnung auf einen kurzen Moment der Wiedereinkehr von Wärme und Güte hält uns aufrecht.

Ich bete viel dieser Tage, Mama, denn ich habe große Sorge um das Wohl unserer hoheitlichen Familie. Auch wenn mein Herr grausam zu mir war, so werde ich ihm dennoch treu ergeben bleiben. Meine Liebe wird niemals erlöschen und muss sie noch so viele Prüfungen bestehen. Irgendetwas muss schließlich Bestand haben in Zeiten, wo alles vergeht, sonst sind wir nicht mehr zu retten.

 

Deine Elena

 

 

Liebe Mama,

letzte Nacht hatte ich einen sonderbaren Traum. Ich war ins Schlafgemach derweinenden Prinzessin gegangen, um ihr wie so oft etwas nächtlichen Trost zu spenden. Ich kniete neben ihrem Bett und streichelte lange ihr Gesichtchen, bis sie mit einem erleichterten Seufzer in einen ruhigen Schlaf fiel. Ich blieb noch eine Weile bei ihr und lauschte ihren regelmäßigen Atemzügen. Dann müssen auch mir die Augen zugefallen sein. Wenig später fühlte ich mich neben die Prinzessin gebettet. Ihre Finger umklammerten noch die Bänder meines Nachtkleids, mit denen sie im Halbschlaf gespielt hatte, und ihr süßer Atem streichelte mein Gesicht. Ich spürte Augen über uns wachen. Als ich zu ihnen aufblickte, legten sie sich wie Samt auf meine Haut. „Schlaft, meine beiden Engel“, hörte ich ein trauriges Flüstern. Augenblicklich versank ich in tiefem Schlummer.

Als ich erwachte, lag ich in meiner Kammer und hing lange diesem tröstlichen Traum nach. Später kam unsere kleine Prinzessin zu mir und sagte: „Leni, ich habe heute Nacht von dir geträumt! Du hast neben mir in meinem Bett geschlafen, sodass ich gar keine Angst mehr hatte!“ Glücklich habe ich das Kind an mich gedrückt.

 

Deine hoffnungsfrohe Elena

 

***

 

Meterdick lag der Schnee auf dem Schulhof, zu unordentlichen Haufen zertrampelt. Fast dreihundert Paar Füße waren im Laufe des Vormittages hindurchgestiefelt, um am großen Tor von ihren Eltern oder Kutschern in Empfang genommen zu werden. Zwei-, vier-, sogar sechsspännige Schlittenkutschen waren vorgefahren, auch einige von Ponys oder Ochsen gezogene einfache Schlitten. Mit Letzteren waren die fast fünfzig rumänischen Schüler dieser Schule abgeholt worden. Nur wenige von ihnen hatten in eleganten Pferdeschlitten Platz genommen; so wie der kleine Liviu aus seiner Klasse, dessen Vater ein angesehener Gutsverwalter nördlich von Hermannstadt war, oder wie Cosmin, Sohn eines Physikprofessors. Die meisten stammten aus eher bescheidenen Verhältnissen, obwohl ihre Väter allesamt ehrenwerte Berufe ausübten, wie sie oft und gern betonten in dem Verlangen, mit den sächsischen Schülern mithalten zu können. Deren Väter schienen allesamt Amtsräte, Anwälte, Ärzte oder reiche Kaufleute zu sein. In seiner Klasse gab es sogar einen Ungarn, dessen Vater einen hohen Posten bei der Gendarmerie innehatte; trotzdem war László bei seinen achtundzwanzig sächsischen Mitschülern ebenso wenig gelitten wie die fünf rumänischen Kameraden, was diesen mächtig erboste.

Zum wiederholten Male wanderte Nicolaes Blick zur großen Uhr in der Eingangshalle, von wo rechter und linker Hand die Flure zu den Klassenräumen abzweigten. Eine breite Treppe mit barockverschnörkeltem Geländer führte zum oberen Stockwerk, wo die älteren Schüler untergebracht waren. Eine Etage höher befand sich die Aula, in der sie sich allmorgendlich zur gemeinsamen Bibel- und Gesangsstunde versammelten.

In der Nacht war sehr viel Schnee gefallen; wahrscheinlich war der Gebirgspass zugeschneit. Bei dem Gedanken bemächtigte sich seiner bereits eine gewisse Enttäuschung.

Pedell Krüger lief vorüber, wie immer das linke Bein leicht nachziehend, und warf ihm einen grimmigen Blick zu. Ihm ging es offenbar nicht schnell genug, die letzten internen Schüler loszuwerden. Einige Klassenkameraden, so wie er selbst, deren Familien weit entfernt lebten, wohnten während des Schultrimesters im angrenzenden Pensionat. Stammten sie aus der näheren Umgebung, durften sie zumindest am Wochenende nach Hause fahren. Die meisten Schüler jedoch waren Hermannstädter und gingen jeden Tag nach Schulschluss heim. Wie sehr Nicolae sie darum beneidete!

Knurrend warf auch Pedell Krüger einen Blick zur Uhr und verschwand grußlos in seinem Kabäuschen neben dem Eingangsportal. Nicolae stellte seine Ellbogen auf die hohe Fensterbank und stützte seufzend seinen Kopf in die Hände. Mit ihm warteten noch sieben weitere Schüler auf ihre Abholer. Sie rangelten auf der langen Bank in der Wandnische hinter ihm und beachteten ihn nicht weiter.

Der Minutenzeiger wurde immer träger. Wenn keiner ihn abholen käme, würde er Weihnachten mit Adrian und Aaron verbringen müssen, obwohl Aaron gar kein Weihnachten feierte, weil er Jude war. Eigentlich komisch, ging es Nicolae durch den Kopf, wo doch Jesus selbst Jude war. Sein Blick wanderte zu dem großen Adventskranz mit den roten Schleifen, der im Eingangsportal hing, danach zu den bunten Sternen aus Transparentpapier, welche die Fensterscheiben entlang der beiden Flure im Parterre schmückten. Ob in der Gesindestube wohl wieder ein Christbaum mit roten Äpfeln und Lebkuchenfiguren stand so wie im vorletzten Jahr? Er musste an Traudls bunte Teller denken; sofort lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Vielleicht aber würde er dieses Jahr gar nicht erst in den Genuss kommen! Wo blieb Heinrich nur?

Laut ausatmend wandte er sich vom Fenster ab. Sein Blick fiel auf den Umschlag auf seinem Koffer. Er war an seinen Vater adressiert und versiegelt. Wenigstens bliebe ihm dann das Vorzeigen des Zeugnisses erspart …

Der penetrante Geruch von Bohnerwachs stieg ihm in die Nase. Am hinteren Ende des Flures hatten zwei Frauen bereits damit begonnen, den Boden zu wienern.

Als er erneut aus dem Fenster schaute, rührte sich draußen endlich etwas. Vor dem Tor hielt eine offene Schlittenkutsche, gezogen von vier prächtigen Schimmeln. Einen Augenblick später rief Pedell Krüger gleich zwei Namen auf. Sofort erhoben sich Albert und Johann, die Zwillinge aus seiner Klasse, die sich glichen wie ein Ei dem anderen. Sie gaben sich oftmals einer für den anderen aus und sorgten damit für viel Verwirrung bei den Lehrern.

Sittsam verließen die beiden das Schulgebäude. Nicolae schaute ihnen durchs Fenster nach, wie sie schwerfällig hinter ihrem Kutscher durch den aufgewühlten Schnee stapften und sich ihre Gymnasiastenmützen festhielten, damit der Wind sie ihnen nicht von den Köpfen fegte. Dann hatten sie das Schultor erreicht; sie waren frei! Er sah sie umringt von Vater und Mutter, die sehr elegant gekleidet waren. Etwas steif begrüßten sie einander, so wie gute Bekannte, denen man zufällig auf der Straße begegnet. Dann stiegen sie ein. Groß schien die Wiedersehensfreude nicht gerade zu sein.

Vielleicht ist das so, wenn man lange Zeit von der Familie getrennt leben muss, überlegte Nicolae, denn er wusste, dass die Zwillinge schon seit der Primarschule im Pensionat wohnten. Vielleicht wird man sich dann von Mal zu Mal fremder, bis das Herz sich nicht mehr groß rührt bei der Aussicht auf Zuhause. Der Gedanke legte sich dumpf auf seinen Magen.

Im nächsten Moment sah er ein Pünktchen im Schnee vorwärtsstolpern, dem ein stattlicher Mann mit zotteligem Fellmantel folgte. Das Pünktchen geriet vor lauter Eifer ins Straucheln und fiel hin. Unbeeindruckt rappelte es sich wieder auf und rannte, ohne sich groß die Mühe zu machen, den Schnee von der Kleidung zu klopfen, weiter. Erst als es den halben Schulhof überquert hatte, erkannte Nicolae in ihm seine Schwester.

Da gab es kein Halten und keine Schulordnung mehr, und auch die ihn ermahnenden Worte des Pedells, der ihn entrüstet zur Disziplin rief – denn Rufen und Rennen war auf dem gesamten Schulgelände strikt untersagt! –, fanden kein Gehör mehr. Nicolae stürzte nach draußen und schon kam ihm Natalia in die Arme geflogen.

»Nini! Mein Nini!«, rief sie immer wieder und schlang ihre Ärmchen so fest um seinen Hals, dass er kaum Luft bekam.

»Nana, ich hätte dich ja fast nicht wiedererkannt!« Er presste sie an sich und stellte sie erst wieder ab, als Heinrich sich ihm näherte. In dessen dienstbeflissenen Blick schlich sich ein freudiges Funkeln.

»Verzeiht meine Verspätung, junger Herr, aber auf der Passstraße ging es nur mühsam voran. Ich hole Euer Gepäck.«

»Tu das, Heinrich. Jetzt seid ihr da, jetzt hat es keine Eile mehr.«

Ungeduldig zog Natalia ihn zum Schultor hinaus. Bei der geschlossenen Schlittenkutsche angekommen, begrüßte Nicolae die vier Kutschpferde. Fidelia, die mit Marona in vorderster Reihe angespannt war, forderte wiehernd eine zusätzliche Liebkosung.

Erst nachdem Heinrich seinen Koffer verstaut hatte und ihm den Wagenschlag aufhielt, vermochte er von den Pferden zu lassen. Als er sich umwandte, erstarrte er. Ungläubig blickte er auf die vor ihm stehende Person.

»Tante Judith«, keuchte er fassungslos. »Ich dachte ...«, rang er nach Worten. »Ich glaubte ... Was machst du denn hier? Wieso bist du nicht in Boston?«

»Na, das ist ja eine reizende Begrüßung!«, zog sie ihn schmunzelnd auf. Erst da war es ihm möglich, einen Schritt auf sie zuzutun und sie zu umarmen.

»Nun sag schon«, forderte er sie auf, nachdem er sich wieder von ihr gelöst hatte. »Wieso bist du noch hier? Ist etwas passiert?!«

»Keine Sorge, Nicolae«, erwiderte sie matt. »Es ist nichts passiert, außer, dass ich das unerklärliche Gefühl hatte, noch nicht abreisen zu dürfen.« Betreten raffte sie ihren Umhang. »Ich weiß, es klingt lächerlich, da ich es ursprünglich gar nicht hatte abwarten können, in mein altes Leben zurückzukehren. Aber ich habe schon einmal etwas Unerklärliches getan. Ob es nun richtig war oder nicht, ist nicht weiter wichtig, nur, dass ich es habe tun müssen. Und so ist es nun wieder.«

Nicolae nickte verständnisvoll, obwohl er rein gar nichts begriffen hatte. »Schön, dass du da bist, Tante Judith«, sagte er, und bestieg nach ihr die Kutsche. Heinrich hob Natalia zu ihm in den Wagen und schloss den Schlag.

Seine Schwester umklammerte ihn so fest, als fürchtete sie, er könnte ihr wieder entschlüpfen. Selig lehnte sie ihren Kopf an seine Brust. Er küsste ihre kalte Wange, die ihre pelzumsäumte Mütze freigab, woraufhin sie einen wohligen Seufzer ausstieß.

Als Nicolae aufblickte, meinte er Tränen in den Augen seiner ihm gegenübersitzenden Tante schimmern zu sehen.

»Ist doch etwas nicht in Ordnung?«, fragte er alarmiert.

Sie setzte ein angestrengtes Lächeln auf.

»Es ist nichts, Nicolae«, versicherte sie ihm erneut. »Es war nur der Anblick deiner Schwester, der mich rührte.«

Fragend sah er ihr ins Gesicht.

»Es ist das erste Mal«, fügte sie zögernd hinzu, »dass Natalia wieder glücklich ist, seit du von Zuhause fort bist.« Mitleidig streichelte sie dieser über die Wange.

So froh Nicolae auch war, seine Schwester wieder in den Armen zu halten, seine Tante unerwartet wiederzusehen und endlich nach Hause zu fahren, so sehr legte sich das soeben Vernommene auf sein Herz. Nachdenklich schaute er aus dem Kutschfenster.

Hinter den Toren von Hermannstadt tat sich ihnen eine matt schimmernde Winterlandschaft auf, umwölbt von einem Himmel aus Perlmutt. Ein silbriger Taler lag dahinter verborgen und ließ das filigrane Geäst der Bäume und Sträucher entlang der schneebedeckten Wiesen und Felder wie Scherenschnitte wirken. Nicolae klappte die Scheibe des Kutschfensters herunter und atmete tief den Duft frisch gefallenen Schnees ein, der außerhalb der Stadt um so viel intensiver roch. Das Schellengeläut und gelegentliche Schnauben der Pferde ließen ihn beruhigt in seinen Sitz zurücksinken. Endlich war der Augenblick gekommen, auf den er so lange gewartet hatte: Es ging heimwärts!

»Was hast du die ganze Zeit ohne mich getrieben, Nana?«, fragte er seine Schwester, als ihm bewusst wurde, dass sie seit ihrer stürmischen Begrüßung kein Wort mehr gesprochen hatte.

»Ich habe auf dich gewartet, Nini«, antwortete sie, ohne ihren Kopf von seiner Brust zu heben.

»Du kannst doch aber nicht die ganze Zeit nur auf mich gewartet haben«, entgegnete er amüsiert.

»Doch.« Damit verfiel sie wieder in Schweigen.

Er sah seine Tante einen bekümmerten Blick auf Natalia werfen.

»Und du. Nicolae?« Interessiert richtete sie ihre Augen auf ihn. »Wie ist es dir auf dem Gymnasium ergangen? Ein reger Briefwechsel war ja zur schnelleren Eingewöhnung nicht erwünscht, aber ein paar Zeilen hatten wir uns schon von dir erhofft!«

Betroffen senkte er den Blick. »Nun ja, was hätte ich groß schreiben sollen?«, antwortete er ausweichend. »Es ist wie auf jeder Schule: freundliche und boshafte Lehrer, nette und gehässige Klassenkameraden, interessanter und langweiliger Unterricht und ein Kinderhasser als Pedell. Über allem schwebt ein vorbildlicher und vaterlandsliebender Rektor, dessen oberste Gebote Fleiß und Disziplin heißen und der die Lehranstalt für ihre deutschen Tugenden über die Stadtgrenzen hinaus berühmt gemacht hat. Darum wird von uns auch außerhalb des Schulgeländes und der Stadtmauern ein mustergültiges Auftreten in der Öffentlichkeit erwartet. Schließlich sollen die Schüler später ihrem Vaterland, womit natürlich das Deutsche Reich gemeint ist, alle Ehre machen. In der Aula hängen darum gleich neben den Büsten von Cicero und Sophokles Porträts von Fürst Bismarck und Kaiser Wilhelm. Wir, die speziellen Schüler, wie die Lehrer uns fünf Rumänen und einen Ungarn in meiner Klasse nennen, müssen dankbar sein, dass wir der deutschen Tugenden teilhaftig werden dürfen. Hast du sonst noch Fragen, Tante Judith?«

»Ich wollte eigentlich nur erfahren, wie es dir dort ergangen ist«, entgegnete sie perplex.

»Ich habe gewartet«, antwortete er leise. »Genauso wie Nana.«

 

Beklommen überreichte er seinem Vater den Umschlag und bekam schwitzige Hände, als dieser ihn öffnete. Es waren nicht nur schlimme Erinnerungen und die mögliche Reaktion seines Vaters auf die Schulnoten – von denen er keine Ahnung hatte, wie sie ausgefallen sein mochten –, die ihm ein mulmiges Gefühl in der Magengegend verursachten. Es war etwas in der generellen Haltung seines Vaters, das ihn befremdete. Gewiss, er hatte sich erfreut gezeigt, ihn, seinen Sohn, endlich wieder ans Herz drücken zu können, und doch vermisste Nicolae etwas an ihm, nach dem er sich die ganze Zeit über gesehnt hatte und das er nicht zu benennen wusste.

»Ich bin stolz auf dich, Nicolae«, vernahm er die unerwarteten Worte. »Das ist ein sehr anständiges Zeugnis in Anbetracht des hohen Niveaus dieser Schule und der Tatsache, dass dir die deutsche Sprache erst seit Kurzem vertraut ist.« Sein Vater schenkte ihm ein wohlwollendes Lächeln. »Sogar ein Sehr gut im Fach Deutsch, das erfreut mich außerordentlich.«

»Herr Hansemann mag mich.«

»Nun, daran allein wird es wohl nicht gelegen haben.«

»Naja, im Diktat hatte ich selten Fehler, und auch in der Grammatikstunde habe ich immer alles richtig zu deklinieren gewusst. Ansonsten müssen wir fast nur Gedichte auswendig lernen, was mir ohnehin leichtfällt. Nur mit der Aussprache hapert es noch etwas. Dann lachen die anderen über mich. Aber Herr Hansemann ruft sie sofort zur Ordnung und erteilt ihnen eine Rüge.«

»Ein guter Lehrer also. In Altgriechisch und Latein hast du ebenfalls gute Noten erreicht. Lediglich in Körperliche Ertüchtigung hast du ein Genügend bekommen.« Fragend blickte er auf.

»Das liegt daran, dass ich kein Deutschstämmiger bin, Papa. Lehrer Schulze sagt, für einen Schüler, der aus einem von Natur aus faulem und undiszipliniertem Volk stammt, sei es unmöglich, in diesem Fach eine gute Leistung zu erbringen, denn es besteht überwiegend aus Marschieren, Strammstehen und sogenannten Freiübungen.«

»Hm, mir war schlechterdings nicht bewusst, dass ich dich auf eine Militärakademie geschickt habe«, antwortete sein Vater verblüfft.

»Tja, die meisten sind mit Begeisterung dabei. Schulsport am Gymnasium ist etwas ganz Neues, das wir Bismarck zu verdanken haben. So können uns die Lehrer zudem noch besser disziplinieren. Wer am Morgen seinen Bibelvers nicht konnte oder in Latein nicht richtig zu übersetzen wusste, wird beim Exerzieren umso härter rangenommen und es hagelt Liegestütze bis zum Umfallen. So mancher würde den Gang zum Zuchtmeister bevorzugen.«

»Von der Seite hast du hoffentlich nichts zu befürchten, oder?«

»Ich gottlob nicht, Papa, aber der kleine Liviu aus meiner Klasse schon, auf den haben sie es nämlich abgesehen.«

»So geht es nun einmal zu. Das Schulleben ist davon nicht ausgenommen, es spiegelt die Gesellschaft im Kleinen wider. Bloß nicht unterkriegen lassen, lautet die Devise, und dabei die eigenen Stärken herausbilden. Bist du ansonsten zufrieden mit deiner Beurteilung?«

»Ja, Papa.«

»Gut, dann haben wir das erledigt und können uns nunmehr angenehmeren Dingen widmen.«

Nach dieser überraschend kurzen Unterredung, die gleich nach dem Abendessen stattgefunden hatte, beschlossen sie auszureiten. Nicolae bat darum, Natalia mitnehmen zu dürfen, denn so schnell wollte er sich an seinem ersten Tag daheim nicht von ihr trennen.

 

Wenig später hob Nicolae seine dick eingepackte Schwester zu sich in den Sattel, wo sie sich eng an ihn schmiegte. Schweigend ritten sie die altvertrauten Wege, und Nicolae merkte, wie sich sein Herz beim Anblick der heimischen Winterlandschaft öffnete. Den kleinen Körper Natalias vor sich und den kräftigen Frates unter sich, trabte er voll stiller Freude neben seinem Vater her.

Zurück im Schloss vertrieben sie sich den restlichen Abend mit Brettspielen, an denen, sehr zu Nicolaes Freude, auch seine Tante teilnahm. Das Feuer im Kamin prasselte behaglich und erfüllte den kleinen Salon mit wohliger Wärme. Bis Natalia zu Bett gebracht wurde, wich sie nicht von seiner Seite.

 

Als Nicolae schlafen gehen wollte, entdeckte er seine Schwester unter seiner Bettdecke. Er hatte sich bereits behutsam zu ihr gelegt, als sein Vater noch einmal nach ihm sah. Umgehend schickte dieser sie zurück in ihr eigenes Bett. Enttäuscht blickte Nicolae Natalia hinterher, die gesenkten Hauptes davonschlich.

»Warum darf sie nicht bei mir schlafen, Papa? Sie hat mich doch lange genug entbehren müssen – und ich sie!«

»Genau darum, Nicolae, denn sie wird dich in Kürze wieder entbehren müssen. Es ist darum nicht gut, wenn sie sich wieder zu sehr an dich gewöhnt.«

Nicolae wusste dem nichts entgegenzusetzen. Bald darauf erhob sich sein Vater von der Bettkante, ihm eine gute Nacht wünschend. Und obwohl dieser ihn wie üblich küsste, lag in seiner Zärtlichkeit etwas Kaltes, das Nicolae frösteln ließ. Er rollte sich fest in seine Decke ein, nachdem er Mr. Tom an seine gewohnte Stelle zwischen die Kissen gesetzt hatte. »Schlaf gut, Mr. Tom«, schloss er tonlos.

Lange lag er wach, mit weit geöffneten Augen. Sein vom Kaminfeuer schwach beleuchtetes Zimmer sah genauso aus, wie er es verlassen hatte, fast, als wäre er gar nicht fortgewesen. Und doch wirkte es auf einmal irgendwie fremd und düster. Nur die Lichtblicke seiner Mutter an der Wand erfüllten es mit einiger Wärme. Mit ihnen vor den Augen schlief er schließlich ein.

 

Beim Erwachen spürte er die Blicke seiner Schwester auf sich. Sie war unbemerkt unter seine Decke geschlüpft und lag ganz still. Er hätte den Moment gerne hinausgezögert, aber als ihr Atem seine Nase kitzelte, konnte er ein Grinsen nicht verhindern. »Nini«, hörte er sie flüstern. Da schlug er die Augen auf und begegnete ihrem tiefen Blick. Sie turnte nicht wie sonst auf ihm herum und forderte ihn auch nicht zum Umhertollen auf, sondern wartete geduldig ab.

»Guten Morgen, mein Schneewittchen«, sagte er und fuhr ihr behutsam über ihr gekringeltes Haar. »Hast du gut geschlafen?«

»Letzte Nacht schon.«

»Was soll das heißen? Hast du die Nächte zuvor nicht gut geschlafen?«

Ihr Gesicht wurde sehr ernst, bevor sie den Kopf schüttelte.

»Warum nicht?«

»Ich hatte schlimme Träume«, antwortete sie betrübt und schlug die Augen nieder.

»Deshalb bin ich noch hier, Nicolae!«

Leise war seine Tante, noch im Morgenrock, in sein Zimmer getreten und schaute ihn mit einem traurigen Lächeln an. Sie bat um Erlaubnis, sich zu ihnen aufs Bett setzen zu dürfen, dann begann sie mit einem leichten Seufzer zu sprechen.

»Seit du fort bist, Nicolae, wird deine Schwester von schweren Albträumen geplagt. Es war heute die erste Nacht, in der sie nicht weinend erwacht ist.« Mit einer liebevollen Geste strich sie Natalia die zerzausten Locken aus der Stirn. »Elena und ich haben uns, so gut es ging, mit der Nachtwache abgewechselt. Aber über all das sollten wir besser später reden.« Damit erhob sie sich.

»Ist gut, Tante Judith«, antwortete Nicolae und sah verwundert, wie sie sich Richtung Flurtür wandte. »Warum gehst du nicht wie sonst durch die beiden Verbindungstüren in dein Zimmer zurück?«

Die Hand bereits auf der Klinke, wandte sie sich zu ihm um. »Die Verbindungstür zwischen deinem und Natalias Zimmer ist verschlossen, Nicolae, ebenso wie es diese Tür bis gestern noch war.«

 

Sein Besuch im Gesindetrakt wurde mit großer Freude aufgenommen. Und doch schien es Nicolae, als läge darin etwas Verhaltenes, auf das er sich keinen Reim machen konnte. Tereza schnitt sich vor Aufregung in den Finger, wofür sie von Traudl einen Nackenschlag und von Leni ein sauberes Taschentuch bekam. Nach vielen Fragen und Antworten begann sich endlich eine etwas gelöstere Stimmung auszubreiten. Ioana summte eine Colinde, während sie Teig ausrollte, und blickte lächelnd zu ihm auf. Unterdessen wartete Natalia geduldig darauf, Plätzchen ausstechen zu dürfen, und als sie nach einer Weile anfing, Ioanas Lied leise mitzusummen, meinte Nicolae so etwas wie eine allgemeine Erleichterung zu spüren.

Nachdenklich schlenderte er hinüber zum Stall, wo er Florin beim Ausmisten antraf. »Sag einmal, mein heimlicher großer Bruder, was ist eigentlich hier los?«

Verwundert hielt dieser inne. »Wie meint Ihr das, junger Herr?«

»Nun tu nicht so, Florin, du weißt doch sonst immer alles!«

»Was soll schon los sein? Weihnachten steht vor der Tür, das ist los. Und wir werden viel Schnee kriegen. Mihai hat es heute Morgen ganz deutlich in seinem hohlen Zahn gespürt.«

Gleichmütig fuhr Florin fort, die Pferdeäpfel aufzuschaufeln.

»Dann frag ich eben Heinrich.«

»Der ist nicht da!«

»Ach nein? Wo ist er denn?«

»Weiß nicht genau.«

»Aber ich. In seiner Werkstatt ist er. Das Sägen und Hämmern ist doch gar nicht zu überhören!«

Damit machte Nicolae Anstalten, zur Werkstatt hinüberzugehen, als Florin sich ihm dreist in den Weg stellte.

»Das geht leider nicht, junger Herr. Sperrgebiet!«

»Noch mehr Geheimnisse?«

»So ist das nun mal kurz vor Weihnachten«, grinste Florin, und doch fehlte etwas von seiner sonstigen Schalkhaftigkeit.

 

Also machte Nicolae Mihai seine Aufwartung. Doch auch diesen traf er eher wortkarg an. Seine Augen seien schlechter geworden, so klagte der alte Mann, sodass er immer öfter zur Lupe greifen müsse, aber so sei das eben im Alter, irgendein Sinn ließe immer nach, und man müsse dankbar sein, wenn es nicht gleich mehrere wären.

Nicolae schaute ihm eine Weile beim Schreiben zu, dann fragte er ihn geradeheraus, warum er alle so verändert anträfe.

»Verändert?«, fragte Mihai verständnislos. »Findet Ihr uns verändert, junger Herr? Worin äußert sich das?«

»Das kann ich nicht genau sagen, aber ich spüre es. Alle sind so seltsam still und verhalten, als wäret ihr gerade erst aus einem Dornröschenschlaf erwacht.«

»Still und verhalten? Wenn mich nicht sämtliche Sinne täuschen, geht es hier schon seit Tagen alles andere als das zu. Das ständige Zischen des Küchendrachens schallt bis zu mir herauf, ebenso das ewige Sägen und Hämmern aus der Werkstatt. Über Stille kann ich mich jedenfalls nicht beklagen, junger Herr. Manchmal wünschte ich, es wären die Ohren statt der Augen, die nachließen.«

Dann wandte er sich wieder demonstrativ seiner Arbeit zu.

 

Natalia ließ sich ungewöhnlich artig zum Mittagsschlaf hinlegen. Nicolae nutzte die Zeit, seine Tante in ihrem Zimmer aufzusuchen, um mit ihr unter vier Augen zu sprechen.

»Du wolltest mir noch etwas über Natalias Albträume erzählen, Tante Judith. Aber zunächst hätte ich gerne gewusst, wieso die Verbindungstür zwischen unseren Zimmern verschlossen ist? Ich hatte mich gestern Abend schon gewundert, dass Nana über den Flur zurück in ihr Zimmer gegangen war.«

Mit einer stummen Geste forderte seine Tante ihn auf, im Sessel Platz zu nehmen, während sie selbst vor dem Kamin stehen blieb. Nervös begann sie ihre Hände zu kneten.

»Dein Vater hat die Türen von Gábor verschließen lassen, damit deine Schwester nicht weiterhin ihre Tage damit verbringen kann, reglos in deinem Zimmer zu sitzen und vor sich hin zu starren.«

Erschrocken sah Nicolae zu ihr auf. »Das hat sie getan? Warum hast du sie nicht abgelenkt, sie beschäftigt, mit ihr gespielt?«

»Das habe ich versucht, Nicolae, ebenso Elena und Ludwina, aber deine Schwester war zu nichts zu bewegen.«

»Und Papa? Er hatte doch Zeit für sie, nachdem ich fort war.«

»Er war oft auf Reisen.«

»Aber ... das geht doch nicht! Sie darf doch nicht so traurig sein. Sonst war sie doch auch immer am Hüpfen und Plappern.«

»Daran sind sicherlich auch ihre Träume schuld.«

»Was sind das für Träume?«

»Ich weiß es nicht, sie spricht nicht darüber. Vielleicht kann sie sich auch nur nicht daran erinnern. Sie weint oft im Schlaf und ruft nach dir und eurem Vater. Auch Elena bringt nichts aus ihr heraus. – Ich habe in Kronstadt einen Bekannten, der sich mit Nervenheilkunde beschäftigt. Er hält es für denkbar, dass Natalia erst jetzt, durch deinen Fortgang, den Verlust eurer Mutter erlebt und eine schreckliche Angst vor dem Alleingelassenwerden entwickelt hat. Sie war damals noch zu klein, um den Tod eurer Mutter zu begreifen. Doch die Trauer hat stets in ihr geschlummert und nur auf einen günstigen Zeitpunkt gewartet, sich Bahn zu brechen, was vermutlich jetzt geschehen ist. Mit deinem Verlust erfährt Natalia nun den eurer Mutter – so lautet zumindest die These meines Bekannten. Dein Vater hatte es damals gottlob geschafft, deine Trauer an die Oberfläche zu holen, die auch du nicht zulassen wolltest. Damit hat er die meisten deiner Schreckgespenster verscheuchen können. Aber bei einem so kleinen Kind wie deiner Schwester funktioniert das nicht. Mein Bekannter meint, dass derart einschneidende Erlebnisse in frühester Kindheit immer ihre Spuren hinterlassen, selbst wenn sie sich der bewussten Erinnerung entziehen. Sie drücken sich später in Träumen und Ängsten aus. Diese wurden zudem dadurch begünstigt, dass dein Vater oft nicht da war. Wenn auch ich noch abgereist wäre ... «

Nicolae nickte verständnisvoll. »Was sagt Papa zu alledem?«

»Das wirst du ihn schon selber fragen müssen.«

Nicolae erhob sich und umarmte seine Tante stillschweigend.

 

Am Nachmittag ritt er zusammen mit seiner Schwester hinunter ins Dorf. Es stellte sich heraus, dass sie, außer zum Erntefest, niemand zu Gesicht bekommen hatte.

»Aber Prinzesschen«, rief Iolanda bestürzt aus, »Ihr seid ja ganz schmal geworden!« Sogleich setzte sie ihr eine Schüssel in Sahne gekochter Mămăliga vor, die Natalia folgsam aß.

Zu Nicolaes Enttäuschung versteckte sich die kleine Emilia hinter den Beinen ihres Vaters. Er war ihr fremd geworden. So übte er sich in Geduld und machte immer wieder einen neuen Versuch, sich ihr zu nähern. Schließlich ließ sie sich sogar von ihm aufnehmen. Schon bald kam sie von selbst angelaufen und bat um: »Mila Arm!« Nicolae trug sie zu ihrem Vergnügen überall hin und übergab sie später ihrem Vater.

»Ist Papa Vasiles Liebling nicht groß geworden?« und »Ist Papa Vasiles kleiner Goldschatz nicht wunderschön?«, fragte dieser immerzu und ließ sein Töchterchen ihm tüchtig am Bart zupfen, das über jeden seiner prompten Wehklagen in Glucksen ausbrach.

»Du solltest auf deine Worte achten, Vasile«, zog Nicolae den begeisterten Vater auf, »sonst wird Iolanda noch ganz eifersüchtig! Ist sie nicht auch noch dein Liebling und dein kleiner Goldschatz?«

»In der Tat, da habt Ihr recht, junger Herr!«, rief Vasile, erstaunt über diesen völlig neuen Gedanken. »Ich habe jetzt ja zwei Goldschätze! Was bin ich doch für ein reicher Mann!«

Mit diesen Worten packte er seine Iolanda mit der freien Hand um ihre fülliger gewordene Hüfte und drückte sie fest an sich, um sie mit einem dicken Schmatz auf die Wange wieder freizugeben.

»Wie ich sehe, steht noch alles zum Besten bei euch, Vasile, das freut mich sehr«, stellte Nicolae zufrieden fest.

»Gewiss, junger Herr, so schnell ändert sich hier oben nichts. Alles fließt wie eh und je in ruhigen geordneten Bahnen, denn so haben wir es gern. – Aber jetzt möchte ich etwas von Eurer höheren Gelehrtenanstalt hören und von dem Leben unten in der Stadt. Behandelt man Euch auch gut und bekommt Ihr dort genug zu essen?«

»Das sind exakt dieselben Fragen, mit denen mich schon Traudl und die Mädchen gleich nach meiner Ankunft traktiert haben!«, lachte Nicolae. Und dann erzählte er von seiner Lieblingsbäckerei, wo es die leckeren Streuselschnecken und Schweinsohren gab, sowie von dreien seiner sieben Stubenkameraden: dem verträumten Liviu, dem großtuerischen Aaron und dem Schauergeschichten erzählenden Adrian. Danach berichtete er ausführlich von seinen Lehrern und deren Unterricht.

Er begann mit dem fast kahlköpfigen Schulze und machte vor, wie dieser seine Befehle über den Schulhof brüllte, wenn sie Aufstellung zu nehmen hatten, sodass dessen mächtige Schnurrbartenden nur so zitterten – wobei Natalia ganz erschrocken zu ihrem Bruder aufsah und die kleine Emilia sich wieder hinter den Beinen ihres Vaters verkroch. Leider hielt Lehrer Schulze seine Lateinstunde im selben Kasernenton ab. Und auch die Bibelverse in der Morgenandacht, die er sich mit einem anderen Lehrer teilte, hatten sie auf Kommando und in strammer Haltung aufzusagen.

Dann beschrieb er den freundlichen Hansemann, der beim Rezitieren von Gedichten feuchte Augen bekam und dessen bartloses, blasses Gesicht ihm den Spitznamen das Gespenst eingebracht hatte, denn auch sein Haupthaar trug nicht viel zur Farbgebung bei.

Danach sprach er von dem zerstreuten Brückner, dem stets vor Verwunderung über sein eigenes Genie das Monokel aus dem Gesicht fiel und der sie in Geographie und Mathematik unterrichtete. Eine mathematische Formel nach der anderen schrieb dieser an die Tafel, ohne sich darum zu kümmern, ob seine Schüler ihm folgen konnten. Sie brauchten nichts weiter zu tun, als die Formeln abzuschreiben und auswendig zu lernen. Dies handhabte er ebenso im Fach Geographie, wo er die Längen der Flüsse eines Landes addierte, sie durch deren Anzahl wieder dividierte, um so die durchschnittliche Flusslänge eines Landes zu ermitteln. Desgleichen ließe sich auch prima mit Städten und deren Einwohnerzahlen vornehmen, wonach man die Wasser- und Landmenge ins Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl und ihrer durchschnittlichen Stadtgröße setzen könne oder so ähnlich. Jedenfalls lasse sich alles und jedes auf dieser Welt mathematisch errechnen und ins rechte Verhältnis setzen, weswegen er Leonardo da Vinci so sehr verehre, denn dieser habe als Erster den Menschen in seiner Verhältnismäßigkeit vermessen. Und das alles sei eine ganz wunderbar einfache und logische Sache, die keinerlei großer Erklärungen bedürfe, weswegen er diese seinen Schülern denn auch erspare.

Von „Aristoteles“, ihrem Griechisch- und Philosophielehrer, war anschließend die Rede, der in Wirklichkeit Herr Anders hieß und darum getrost so genannt werden konnte – nämlich anders, wie sie gleich zu Anfang einstimmig beschlossen hatten. Dieser ließ mit seinem tiefen Bass die alten Griechen aufleben, während sich sein respektabler Körper nicht einen Millimeter hinter dem Pult bewegte. Die ganze Spannung erreichte er lediglich durch die Modulation seiner Stimme. Einzig seine Finger, mit denen er während des Erzählens auf seinem vorgewölbten Bauch so etwas wie Klavier spielte, verriet ihnen den Moment, in dem die Geschichte ihren Höhepunkt erreichte, dann nämlich kamen sie auf seiner Weste zu ruhen, indes sich der kleine Finger seiner rechten Hand himmelwärts spreizte. Danach konnte man im Klassenzimmer eine Stecknadel zu Boden fallen hören, so sehr vermochte er alle in seinen Bann zu ziehen. Leider gab Aristoteles immer reichlich Schularbeiten auf.

Zuletzt berichtete Nicolae von dem allseits gefürchteten Lorenz, den sie in Geschichte und – im Wechsel mit Lehrer Schulze – in der morgendlichen Bibel- und Singstunde hatten und der stets einen kurzen, aber nicht minder schmerzhaften Rohrstock mit sich führte, den er gerne und oft zum Einsatz brachte. Er war ein hagerer Mann mit äußerst verkniffenem Gesicht, dessen Argusaugen leider nichts entging. Er schnappte immer im denkbar ungünstigsten Moment ein ungehöriges Wort oder einen dreisten Blick auf, und schon konnte man sein Stöckchen durch die Luft surren hören.

Der Pedell sei fies, wie es sich gehöre, und ein notorischer Anschwärzer; Rektor Liebermann hingegen ein überaus strenger, aber gerechter Mensch, soweit Nicolae dies nach so kurzer Zeit beurteilen könne. Alle hätten viel Ehrfurcht vor ihm, schon weil er wegen seines mächtigen Flügelbartes ein wenig wie Kaiser Wilhelm persönlich aussehe, nur dass der Rektor auch auf dem Kopf noch bemerkenswert viele Haare habe.

Am Ende seiner Schilderung des Schulalltags, der mit Aufstehen um sechs Uhr in der Früh, gemeinsamer Morgenandacht um sieben und Unterrichtsbeginn um acht begann und erst – nur unterbrochen von einer einstündigen Mittagspause – nach erledigten Schularbeiten und Stubendiensten am frühen Abend endete, hatte Vasile heiße Ohren und einen vor Verblüffung offen stehenden Mund.

»So viel Zeug müsst Ihr lernen und tun, junger Herr? Wozu soll das gut sein? Reicht es nicht, lesen und schreiben zu können und ein bisschen rechnen, damit Euch niemand übers Ohr hauen kann?«

Über diese durchaus ernst gemeinte Frage musste Nicolae ein wenig schmunzeln. »Aber Vasile, das Lesen, Schreiben und Rechnen lernt man doch bereits auf der Primarschule.«

»Und reicht das nicht zum Leben? Was wollt Ihr später mit irgendwelchen Formeln, mit denen Ihr womöglich unsere Berge und Bäche vermesst, oder mit den Sprachen, die keiner mehr spricht?«

»Es reicht bestimmt zum Leben, da hast du wohl recht. Aber ich muss später auf eine Universität gehen und dort studieren, wie es meinem Stande entspricht. Dann wird sich zeigen, ob und wozu das Ganze gut gewesen ist. Vielleicht aber ist alles pure Zeitverschwendung und ich verpasse derweil das wahre Leben! Dieser Gedanke ist mir schon oft unten in der Stadt zwischen all den Büchern gekommen. Ich glaube nämlich, dass weder im Hermannstädter Gymnasium noch in den Palästen der Hauptstadt das wahre Leben stattfindet. Das tut es nur hier oben bei euch, Vasile. Zu der Erkenntnis bin ich schon jetzt gekommen, dazu brauche ich nicht erst zu studieren. Das hier ist das wahre Leben, mit all seinen Mühen und Plagen, aber auch mit all seiner Herrlichkeit und Herzlichkeit. Und ich vermisse es sehr.«

»Das habt Ihr schön gesagt, junger Herr«, erwiderte Vasile sichtbar gerührt. »Wir können von Glück sagen, einen so weisen jungen Herrn bekommen zu haben. Ihr werdet uns in der fernen Stadt jenseits der Wälder doch hoffentlich nicht eines Tages vergessen? Ich meine, jetzt, wo Ihr so viele gebildete Leute um Euch habt und viele kluge Dinge lernt, werden wir doch gewiss bald ganz unwichtig sein, denn wir wissen nicht viel von der Welt zu berichten und sind auch ansonsten nicht besonders gescheit, nur einfaches Volk halt.«

»Da täuschst du dich aber! Ihr alle seid etwas ganz Besonderes, und ich möchte keinen von euch missen. Weißt du, Vasile, die Dinge, die ich lesen und lernen muss, sind nur eine Zeit lang in meinem Kopf, genau so lange, wie ich sie brauche, danach können sie leicht wieder herausfallen. Aber ihr hier, ihr seid für immer in meinem Herzen, und da fällt so schnell nichts wieder heraus.«

Dieser kräftige Mann mit der Statur eines stattlichen Bären, der Dreh- und Angelpunkt der dörflichen Gemeinschaft, der für jeden einen gut gemeinten Rat zur Hand hatte, Streitigkeiten im Handumdrehen zu schlichten verstand und so manches Liebespaar zusammengebracht hatte, dem alle die gleiche Achtung entgegenbrachten, ob Bauer oder Bojar, ob Alt oder Jung, ob Männlein oder Weiblein, dieser gestandene Mann war auf einmal sprachlos.

Drei Atemzüge verstrichen, dann drückte er seinen jungen Herrn jäh ans Herz, um sogleich geschäftig seiner Arbeit nachzugehen.

Iolanda, die hinter der Theke mit dem Spülen von Weinkrügen beschäftigt war, lächelte Nicolae zu.

»Einen besseren Paten hätten wir für unsere Emilia nicht wählen können.« Daraufhin zupfte die Kleine Nicolae am Hosenbein und streckte erwartungsvoll ihre Ärmchen nach ihm aus.

 

Auf dem Heimweg erteilte Nicolae seiner Schwester einen Auftrag.

»Hör gut zu, Nana: Wenn ich nach Weihnachten zurück in die Schule muss, wirst du mich bis zu den Osterferien im Dorf vertreten. Mindestens zweimal die Woche musst du Vasile und Iolanda besuchen und mit der kleinen Emilia spielen, ja? Und du musst ihr immer etwas von mir erzählen, das ich euch zukünftig schreiben werde, denn ab dem neuen Jahr dürfen wir mit unseren Familien im Briefwechsel stehen. Und zeige ihr bitte hin und wieder die Photographie, die sie in der Schule von uns gemacht haben und die ich dir hierlassen werde, damit Emilia bis Ostern nicht wieder vergessen hat, wer ich bin. Das ist ganz wichtig, Nana! Nur über dich kann ich mit ihnen in Verbindung bleiben. Wenn du bei ihnen bist, werde ich das spüren, und dann weiß ich, dass es euch gut geht, verstehst du?«

»Ja, Nini.«

»Gut, Nana. Das macht mich sehr froh!«

 

Preot Ştefan begrüßte beide Kinder freudig und wollte von Nicolae alles über die morgendliche Bibelstunde in der Schule erfahren.

»Und besuchst du unten in der fernen Stadt auch regelmäßig die Sonntagsmesse, mein Sohn?«

»Das ist etwas schwierig, părintele Ştefan, denn ich wüsste nicht, in welche Kirche ich gehen sollte. Die beiden Lehrer habe ich mich nicht getraut zu fragen, weil sie so streng sind und uns Rumänen ohnehin nicht leiden können. Und unser Hausvater Albrecht wusste auch keinen Rat, als ich ihm sagte, dass ich eigentlich der anglikanischen Kirche angehöre, aber seit gut zwei Jahren den orthodoxen Gottesdienst besuche. Er meinte, wenn überhaupt, käme nur die katholische Kirche am Großen Platz infrage, denn die anderen beiden seien eine evangelische und eine reformierte, worunter ich mir nichts vorstellen konnte. Also bin ich eines Sonntags in die römisch-katholische Kirche gegangen. Aber dort habe ich mich sehr unwohl gefühlt, părinte, denn die anderen Kirchgänger haben mich argwöhnisch beäugt, und auch der Pfarrer hat keine Anstalten gemacht, mich in der Glaubensgemeinschaft willkommen zu heißen. Darum habe ich lieber im stillen Kämmerlein gebetet.«

»Das ist eine kluge Entscheidung gewesen, solange du deine Gebete dabei nicht vernachlässigt, mein Sohn.«

»Das tue ich gewiss nicht, părinte, keine Sorge. Jeden Sonntagmorgen, manchmal sogar an freien Nachmittagen, schleiche ich mich am Pedell vorbei ins Schulgebäude und suche den Dachboden über der Aula auf, wo lauter Schulgerümpel steht. Dort, zwischen all dem Staub und den Spinnweben, finde ich Ruhe und kann aus der halbrunden Dachluke direkt in den Himmel schauen, um mit Gott zu sprechen.«

Preot Ştefan schien zufrieden und segnete ihn.

 

»Wie war dein Tag, Nicolae?«, fragte der Graf, nachdem sie zu vorgerückter Stunde allein im kleinen Salon waren.

»Gut, Papa. Die Mädchen und Traudl freuen sich, dass endlich wieder jemand zum Töpfegucken kommt. Später bin ich mit Nana ins Dorf geritten. Petrus Großmutter hatte heißen Fliederbeersaft für uns, damit wir schön gesund bleiben. Alle haben sich sehr über unseren Besuch gefreut und wollten wissen, wie es mir in der fernen Stadt und Schule ergangen ist. Alle wollten das wissen, wirklich alle – nur du nicht, Papa. Du hast mich bisher kein einziges Mal danach gefragt. Wieso nicht?«

»Warum sollte ich? Ich weiß genau, wie es dir dort ergangen ist.«

Überrascht blickte Nicolae auf.

»Haben die Lehrer dich geschlagen?«

»Nein, Papa«, antwortete er leise.

»Haben die anderen Schüler dich geschlagen?«

»Nein, Papa.«

»Fühlst du dich anderweitig schlecht behandelt oder ungerecht beurteilt – bis auf die eine Note?«

»Nein.«

»Warum warst du dann so unglücklich? Du hattest es doch nach eigenem Bekunden weitaus besser als andere.«

Verlegen starrte Nicolae auf seine Schuhspitzen.

»Jeder von euch Internen vermisst sein Zuhause, Nicolae. Manch einer darf noch nicht einmal zu Weihnachten heim.«

Unruhig verlagerte Nicolae sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und traute sich nicht aufzuschauen.

»Egal, welche wissenschaftliche Erklärung deine Tante für Natalias Verhalten haben mag, ich weiß, dass auch sie deinen Kummer gespürt hat. Du meintest, sie mutterseelenallein in unserer Welt zurückgelassen zu haben und fühltest dich unendlich fern von uns. Genau so, Nicolae, hat es auch deine Schwester empfunden!«

Scham stieg in ihm auf.

»Hattest du meine Worte vergessen, die ich dir mit auf den Weg gab, oder hast du ihnen nur keinen Glauben geschenkt? Ich hatte eigentlich gehofft, sie würden dir Stärke verleihen.«

Seine Wangen begannen zu glühen.

»Wir sind miteinander verbunden, Nicolae«, hörte er seinen Vater in einem etwas milderen Ton fortfahren, »gleich, wie viele Meilen oder Welten zwischen uns liegen.«

»Aber ich habe mich so schrecklich allein gefühlt, alles war so fremd!«, brach es aus ihm heraus.

»Dann weißt du jetzt, was deine Schwester durchlitten hat, obwohl sie ihr Zuhause und die ihr vertrauten Menschen um sich hatte. Deine Gemütsverfassung hatte sich auf uns alle hier übertragen! Kannst du dir vorstellen, wie schlimm es für mich war, in Natalias Leid das deine zu erkennen? Jedwedes gute Zureden, jedwede Ermunterung blieben vergebens. Wir mussten mit ansehen, wie sie von Tag zu Tag weniger wurde, bis sie kaum noch war. Ich habe es aus lauter Verzweiflung mit Strenge versucht, was mir als Hartherzigkeit ausgelegt wurde. Letztendlich mit Flucht, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, damit mich der Schmerz nicht ebenso zerfrisst. – Tu uns das nie wieder an, Nicolae!«

Das Amulett auf seiner Brust wog plötzlich zentnerschwer. Voller Bestürzung blickte er in die funkelnden Augen seines Vaters und begriff, was er ausgelöst hatte. Da warf er sich ihm zu Füßen.

»Es tut mir leid, Papa, das wollte ich nicht! Es fällt mir nur so schwer, in der richtigen Welt, wie Tante Judith sie nennt, zu leben. Es ist nicht die meine. Ich bekomme kaum Luft in ihr. Sie erdrückt mich. Ich tue, was man mir sagt, versuche die Regeln zu befolgen, aber ... alles bleibt irgendwie grau und dumpf, als wäre ich ständig von dichtem Nebel umgeben. Nichts dringt wirklich zu mir durch. Ich höre meine Kameraden sprechen, doch ich verstehe sie kaum. Und auch ihre Gesichter sagen mir nichts, denn ich sehe sie nur verschwommen. Mein Herz schlägt nur schwach in jener Welt, weil nichts es wirklich berührt. Ich bin dort, weil du es wünschst, Papa, aber ich gehöre nicht dorthin! In jeder freien Sekunde hat sich mein Geist mit bunten Bildern aus dieser Welt gefüllt. Nur so kann ich die grauen Tage dort überleben. Es tut mir leid, wenn ich dich enttäusche, Papa, wenn ich nicht so stark bin, wie du es dir erhofft hast. Aber ich kann nichts dagegen machen.«

Brüsk packte sein Vater ihn bei den Schultern und zog ihn auf die Füße. »Doch, das kannst du!«

Nicolaes Tränen stockten.

»Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass du lernen musst, deine Gefühle zu beherrschen, damit sie nicht eines Tages dich beherrschen! Damit habe ich nicht gemeint, dass du sie leugnen oder unterdrücken sollst. Im Gegenteil, du musst sie zulassen, um sie genau betrachten zu können, denn nur das, was du gut kennst, kannst du kontrollieren. Und mit lernen meine ich versuchen, denn mit jedem Versuch wirst du an Sicherheit und Stärke gewinnen, und dann, mein Sohn, verlierst du auch bald deine Angst vor der dir fremden Welt und der Nebel wird sich lichten. – So wie deine Tante bisher nicht den Mut gefunden hat, unsere Welt zu betreten, so fehlt es dir an Mut, die ihre zu betreten. Sie hat es nicht geschafft, über ihren eigenen Schatten zu springen, aber du, Nicolae, du wirst es schaffen, denn dein Schatten ist noch nicht lang. – Trau dich, die Schwelle zu anderen Welten zu passieren, gleich welche es sind, und warte in Gelassenheit ab, was auf dich zukommt. Habe den Mut, hinter die Masken zu schauen, und lausche den Tönen zwischen den Worten. Dann wird auch jene Welt für dich bunt, die Menschen erhalten Konturen und du erkennst sie in ihrer Wahrhaftigkeit. Es ist dir in der Vergangenheit bereits gelungen, Nicolae, und es wird dir wieder gelingen. Deine Aufgabe wird es eines Tages sein, die wenigen unter ihnen, denen es nach unserer Welt verlangt, zu uns zu führen. Ich habe dir immer gesagt, dass es dich viel Kraft kosten wird, aber jede umherirrende Seele ist deines Bemühens wert. Suche sie, spüre sie auf! Doch das kannst du nur, wenn du deine Sinne der anderen Welt nicht verschließt, wie die Menschen dort es der unsrigen gegenüber schon lange tun. Lerne, dich in ihrer Welt zu bewegen, als gehörtest du zu ihnen. Du brauchst dich für diese Aufgabe weder zu verstellen noch dich zu ändern, ganz im Gegenteil, sei nur du selbst und zeige ihnen dein nacktes Antlitz, damit auch sie den Mut finden, ihre Maske abzulegen. Nur so kannst du sie von sich selbst befreien und ihnen den Weg in ihre Welt weisen, die sie ohne dich nicht finden. Sei ihr Türöffner, damit sie am Ende ihrer langen Reise auf sich selbst treffen. Deine Wege werden steinig sein, mein Sohn, und voller Hindernisse, doch zwischen den Welten wirst du mancher Seele begegnen, die dich stärken und beglücken wird.«

Nicolae entspannte. Dann tat er einen tiefen Atemzug.

»Ich habe Nana vorhin auch einen Auftrag erteilt, Papa. Den Auftrag, die Verbindung zwischen mir und dieser Welt aufrechtzuerhalten. Ich gab vor, sie möge mich davor bewahren, bei der kleinen Emilia nochmals in Vergessenheit zu geraten. In Wirklichkeit aber will ich vielmehr, dass Nana eine Aufgabe hat, die sie mir zuliebe regelmäßig ausführt, weil ich hoffe, dass sie dadurch ihre Lebendigkeit und Freude wiederfindet und, wenn ich Ostern nach Hause komme, wieder hüpft und plappert.«

Wortlos zog der Graf seinen Sohn an sein Herz, das vor Freude wieder angefangen hatte zu schlagen. Und Nicolae fand endlich, wonach er sich gesehnt hatte.

 

***

 

Am Morgen des 24. Dezembers schmückten Elena und Ludwina die Kinder für die Colinde. Sie bekamen Schellenriemen um ihre Stiefel gelegt, die bei jedem Schritt lustig klingelten, und bunte Bänder an ihrer Kleidung befestigt. Der alte Mihai war von seinem Wachturm herabgestiegen, um sie in ihrer Aufmachung zu bewundern. Bevor sie aufbrachen, gab es ein Probesingen im Gesindehof, und die ersten Leckereien wanderten in den bereitgehaltenen Sack.

Wenig später fuhr Florin sie im offenen Pferdeschlitten ins Dorf hinunter, wo sich auf dem Platz vor dem Wirtshaus bereits die Kinder versammelt hatten. Obwohl Nicolae das Weihnachtssingen aus seiner alten Heimat her kannte, war er furchtbar aufgeregt, denn es war das erste Mal, dass er und seine Schwester mitliefen.

Bei der Schmiede, an der sie auf Nicolaes Befehl zuerst vorbeigefahren waren, hatte keiner geöffnet. Darüber enttäuscht beschloss er, seinen Anteil an Gaben für Rosemarie und ihre Schwester zurückzulegen. Um Mitternacht, wenn die anderen in der Christmette waren, würde er sie ihr feierlich überreichen. Er malte sich bereits aus, wie ihre grauen Augen vor Freude strahlen würden, wenn sie all die guten Sachen erblickte. Er konnte es kaum erwarten.

Der Rundgang von Hof zu Hof dauerte Stunden. Am Ende wurden die Gaben in Vasiles Wirtsstube gerecht aufgeteilt. Darauf gab Ovidiu acht, der zusammen mit Nicolae zu den ältesten Kindern gehörte und genau wusste, wer von den Dorfkindern dazu neigte, sich heimlich mehr einzustecken. Nicolae ertappte den kleinen Petru, aber ein Blick genügte, damit dieser seine Hand grinsend zurückzog. Natalia freute sich dermaßen über ihren Anteil an Früchten und Nüssen, obwohl sie zu Hause ein Vielfaches davon erwartete, dass sie mit ihren Fußschellen einen Freudentanz aufführte. Zum Schluss bekamen alle Kinder von Iolanda ofenwarme Brezeln und Kräutertee als Dank für ihren Einsatz in frostiger Kälte.

Auf der Rückfahrt schlief Natalia zufrieden zwischen den Felldecken ein. Schroffe Berggipfel durchbrachen den blau-weiß marmorierten Himmel, der von weichen rosa Streifen durchzogen war.

Nicolae war glücklich. Er war in sein Refugium zurückgekehrt, um Kraft zu schöpfen und um die Menschen, die ihm am Herzen lagen, froh zu machen. Tief atmete er die klare Gebirgsluft ein und spürte eine wachsende Lebendigkeit seinen Körper durchströmen.

 

Abermals erhob er sich von dem Holzstapel und spähte in die stille Nacht. Die Christmette war seit einer halben Stunde in Gange und noch immer war Rosemarie nicht erschienen. Ob sie vergessen hatte, dass sie zu dieser Stunde hier verabredet waren? Nein, das konnte nicht sein. Immerhin hatte auch ihr diese Aussicht Hoffnung gegeben. Davon abgesehen, feierte sie jedes Jahr die Heilige Nacht in Gedenken an ihre Mutter vor der Kirche. Wenn sie ihn womöglich vergaß, aber ihre Mutter würde sie auf keinen Fall vergessen! War der Schmied dieses Jahr vielleicht zu Hause geblieben, sodass sie nicht fortkonnte? Aber nein, in der Schmiede war am Vormittag niemand gewesen. Oder sollte er seine Töchter gar mitgenommen haben? Aber auch das erschien ihm abwegig.

Nicolaes Enttäuschung wuchs. Er hatte sich so sehr auf das Wiedersehen gefreut.

Als er himmelwärts schaute, sah er die blinkenden Sterne nur noch verschwommen. Kälte kroch in ihm hoch. Er legte sich den für Rose mitgebrachten Pelz um. Die liturgischen Gesänge drangen zu ihm herüber und weckten Sehnsucht nach der engen Gemeinschaft in der Kirche. Vielleicht sollte er lieber der Messe beiwohnen, als hier draußen ohne Rose mit jeder verrinnenden Minute trauriger zu werden. Entschlossen erhob er sich.

Da überfiel ihn eine seltsame Unruhe. Statt hinüber zur Kirche zu gehen, schlug er die Richtung zur Schmiede ein. Niemand konnte es ihm verübeln, wenn er in der Heiligen Nacht süße Gaben vorbeibrachte, zumal Rosemarie auch dieses Jahr wieder nicht mit hatte Colindelaufen dürfen.

Beim Wohnhaus der Schmiede angekommen, klopfte er zaghaft an die Tür. Nichts regte sich im Inneren, alles blieb dunkel. Sollten sie zu Weihnachten etwa doch zusammen fortgegangen sein, ohne dass Rose eine Botschaft für ihn hinterlassen hatte? Erneut klopfte er, diesmal beherzter. Falls er den Schmied dadurch aus dem Schlaf reißen sollte, würde er sich für die Störung entschuldigen und ihm das Säckchen mit Leckereien überreichen – dieser würde ihm schon nicht den Kopf abreißen! Ein drittes Mal pochte er an die Tür.

Als sich immer noch nichts regte, ging er zum Fenster. In der Gewissheit, dass es vergebens sein würde, trommelte er gegen die Scheibe. Und richtig, es rührte sich auch diesmal nichts. Enttäuscht wandte er sich ab, als er ein gedämpftes Murmeln vernahm. Er stockte, und obwohl er glaubte, dass ihm sein Wunsch nur einen Streich spielte, ging er trotzdem zurück und presste sein Gesicht ans dunkle Fensterglas. Mit einem leisen Aufschrei fuhr er zurück. Das bleiche Gesicht Rosemaries war dahinter erschienen. Nur langsam erholte er sich von seinem Schreck, dann trommelte er wie besessen an die Tür, wobei er immer wieder ihren Namen rief. Die Unruhe, die ihn hergetrieben hatte, verschärfte sich.

Endlich hörte er, wie zaghaft der Riegel zurückgeschoben wurde. Ungläubig starrte Rosemarie ihn aus dem Türspalt an, als hätte sie jeden, nur nicht ihn erwartet.

»Rose!«, rief er aufgebracht. »Hast du vergessen, dass wir heute vor der Kirche verabredet waren?«

Verlegen schlug sie die Augen nieder. »Entschuldige bitte, ich kann nicht ...«

Sie schickte sich an, die Tür wieder zu schließen.

»Was soll das heißen?«, fragte er fassungslos und stellte flugs einen Fuß auf die Türschwelle. »Mehr weißt du nicht zu sagen? Rose, wir waren verabredet! Ich war über ein Vierteljahr von Zuhause fort und habe mich wie toll auf unser Wiedersehen gefreut.«

Sie verharrte in Schweigen.

»Wie kannst du nur so ruhig dastehen?«, fuhr er sie ärgerlich an, sodass sie zusammenzuckte.

»Bitte entschuldige«, wiederholte sie. »Aber ich kann wirklich nicht. Meiner Schwester geht es nicht gut. Ich muss bei ihr bleiben.«

»Was hat sie denn?«, schlug er einen etwas milderen Ton an. »Vielleicht kann meine Tante helfen.«

»Nein«, wehrte sie entschieden ab und blickte ihm das erste Mal in die Augen. »Es ist nichts, nur ein altes Frauenleiden. Wir dürfen ohnehin niemanden einlassen.«

»Und deswegen musst du bei ihr bleiben? Deswegen versetzt du mich? Deswegen versetzt du sogar deine Mutter?«

Das hatte gesessen! Beschämt schlug sie die Hände vors Gesicht.

»Diesmal ist es aber sehr schlimm«, schluchzte sie, »und es will auch gar nicht wieder aufhören. Magda ist schon ganz schwach davon.«

Von Furcht erschüttert, hatte sie ihm nicht mehr viel entgegenzusetzen. So verschaffte er sich Zutritt und nahm seine Freundin tröstend in die Arme.

»Hör zu, Rose, egal, ob ihr mich reinlassen dürft oder nicht, oder wie peinlich es euch ist, führe mich zu ihr. Ich will deine Schwester sehen.«

»Nein!«

»Doch! Denn du hast offensichtlich große Angst um sie.«