Nicolae - An der Quelle - Aurelia L. Porter - E-Book
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Nicolae - An der Quelle E-Book

Aurelia L. Porter

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Beschreibung

DAS FINALE: Siebter und letzter Band der Nicolae-Saga.

Das ausgehende 19. Jahrhundert zieht Nicolae und seine Familie in einen Strudel aus Aufbruch- und Endzeitstimmung. Die Londoner und Bukarester Kreise, in denen sie sich bewegen, zeugen vom Zerfall einer Epoche und der verzweifelten Suche nach neuen Werten.

Familiäre Veränderungen und Enthüllungen konfrontieren Nicolae immer wieder mit seiner Vergangenheit – und mit seiner Schuld. Die Dämonen sind noch lange nicht besiegt. Mit aller Macht kämpft er um sein Glück und den Erhalt seiner Familie.

Mit der nächsten Generation wird die Geschichte der da Larucs weitererzählt. Sichtweisen verändern sich, Schleier heben sich.

»Es braucht nur einen, der an uns glaubt; nur einen, dem Du diese Geschichte erzählen kannst …«

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Nicolae

An der Quelle

Familiensaga 19. Jahrhundert

(1893 bis 1907ff)

 

Band 7 der Nicolae-Saga von

Aurelia L. Porter

 

© 2022 Aurelia L. Porter

Umschlaggestaltung: Saeed Maleki, Hamburg

Umschlagmotiv: Unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock

 

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Neuauflage der Printausgaben

ISBN 978-3-347-56569-2 (Paperback)

ISBN 978-3-347-56571-5 (Hardcover)

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist nur mit schriftlicher Zustimmung des Autors zulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Zur Nicolae-Saga gibt es Musik!

Hören Sie kostenlos in den Soundtrack hinein.

Info: www.aurelia-porter.de

 

 

Oh, could I feel as I have felt,

or be what I have been,

Or weep as I could once have wept,

o’er many a vanished scene …

 

Lord Byron

 

 

Reisenotizen

 

~ Tag 1 ~

 

Was für eine Bruchbude!

Und ich werde sie nicht einmal verkaufen können. Dafür gibt mir doch keiner auch nur eine Zehn-Pfund-Note!

Bestimmt ist der Wurm drin. Es knackt im Gebälk.

 

Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, allein herzukommen. Und auch noch hier zu nächtigen! Es zieht durch jede Ritze, die Dielen knarren zum Gotterbarmen und von den Wänden bröckelt der Putz.

Sicher, ich hätte das für mich reservierte Zimmer im PalaceHotel beziehen können, aber ich fühlte mich dort fehl am Platz. Zu vornehm, zu viele steife Oberlippen – und das bereits an der Rezeption! Ich reise schließlich ohne Golfschläger.

Also habe ich mich mit der Adresse und dem Schlüssel in meiner Tasche auf die Socken gemacht. Ich musste mehrfach nach dem Weg fragen. Die meisten schüttelten nur bedauernd den Kopf und rieten mir, beim Postamt nachzufragen.

 

Was Wunder? Die heruntergekommene Bude ist von der Landstraße aus nicht zu sehen, da vollständig von Wildnis umwuchert. Sie muss seit Jahrzehnten unbewohnt sein. Als ich sie endlich entdeckte, weil ein kleiner Junge, der hier öfters mit seinen Freunden zum Spielen herkommt, mir den Weg wies, dämmerte es bereits.

Noch nicht einmal elektrisches Licht gibt es hier! Immerhin fand ich ein paar Kerzen in einer verzogenen Tischschublade, die ich nur mit Mühe aufbekam. Ein Feuerzeug hatte ich selbst dabei.

 

Die Nacht habe ich auf dem durchgesessenen Sofa verbracht. Jetzt tut mir jeder Knochen einzeln weh.

Zum Frühstück hatte ich zwei Hände voll frisch gepumptes Brunnenwasser, einen zerdrückten Mars-Riegel, den ich noch in meiner Tasche fand, und eine Zigarette – den Duft der großen weiten Welt. Ein Passagier auf dem Fährschiff bot sie mir an. „Willst ‘ne Lulle?“, versuchte er mich einzulullen. Ihm gefiel wohl mein wippender Pferdeschwanz, oder die Art, wie ich an der Reling stand und mein Gesicht in die Sonne hielt, auf dass die Sommersprossen auf meiner Nase aufblühen wie Buschwindröschen. Ich begrabe sie jeden Morgen unter einer dicken Schicht Puder. Auch wenn Doris Day sie salonfähig gemacht hat, mich stören sie. Ich hab Peter Stuyvesant eingesteckt und den Typen stehen lassen. Mutti sagt, ich darf nicht mit fremden Männern sprechen.

 

In der Küche fand ich später eine Büchse mit Scottish Shortbread – hart wie Stein. Ein paar Krümel schwarzer Tee waren auch noch da, aber woher soll ich wissen, ob nicht Mäusekötel dazwischen sind? Der runde Deckel in der eckigen Dose war zwar festgerostet, sodass ich ihn nur gewaltsam mit einem ebenso angerosteten Schraubenzieher aus einer der Küchenschubladen aufbekam, aber man kann ja nie wissen …

 

Nachher werde ich in den Ort gehen, mir etwas zu essen kaufen und eine Telefonzelle suchen, damit ich zu Hause Bescheid geben kann, dass ich gut angekommen bin. (Die sind hier übrigens rot statt gelb.) Danach werde ich die Nummer meiner englischen Tante wählen, von deren Existenz ich erst seit ungefähr einer Woche weiß. Es war so etwas wie ein Überraschungsgeschenk zur bestandenen Prüfung an der Höheren Handelsschule. Hurra!

Ich will nicht undankbar erscheinen, aber wer in meinem Alter träumt nicht eher von einer Vespa? Stattdessen kam ein Brief, auf der Marke Queen Elizabeth II. Er enthielt eine Hotelreservierung, die Abschrift eines Erbscheins, einen Schlüssel mit Adresse und die Telefonnummer meiner bis dahin unbekannten Tante.

 

Nachmittags

Ich soll sie Nelly nennen, und sie will versuchen, am Wochenende anzureisen – jedenfalls ist es das, was ich verstanden habe. Mein Schulenglisch ist doch nicht so gut, wie ich dachte. Außerdem hat der Schlitz im Telefonapparat die Münzen nur so gefressen, sodass das Klimpern Auntys Stimme übertönte.

Tante Nelly. Na, so was! Bin gespannt, aus welcher Versenkung sie plötzlich aufgetaucht ist. Mutti hat sich dazu ausgeschwiegen. Meine Tante würde mir alles erklären. Damit überreichte sie mir eine Fahrkarte für die Bahn und eine für die Fähre. Ab Dover fahre ein Zug.

 

Ich staune immer noch, dass sie mich hat alleine reisen lassen, denn bis vor Kurzem durfte ich kaum einen unbegleiteten Schritt außer Haus setzen, weil einem jungen Mädchen wie mir überall Gefahren drohen. Kein Wunder bei den engen Röhrenhosen, in die ihr euch zwängt. Das muss die Kerle ja ganz wild machen. Und dann all diese Rocker heutzutage! Sagt die mit der geblümten Kittelschürze und den Lockenwicklern im Haar. Aber sie kann auch auf chic mit ihrem Cocktailkleid und den spitzen Pumps mit Pfennigabsätzen, die auf dem Straßenpflaster so laut klappern, weil sie sie der längeren Haltbarkeit wegen mit Metall hat beschlagen lassen. Sie sind ihr ganzer Stolz. Ebenso wie ihre Zigarettenspitze, aus der sie damenhafte Züge nimmt, wenn wir mal in Gesellschaft sind, was selten genug vorkommt.

 

Abends

Es ist herrlich am Wasser. Aber ich mochte mich dort vorhin nicht im Bikini zeigen, sonst habe ich, so allein und unbeschützt, gleich zwei Tommies an jeder Backe kleben. Lieber warte ich, bis der Strand sich leert. Es ist ohnehin eine schönere Stimmung dann.

 

Stattdessen habe ich die Bude gelüftet und alles verspakte Gerümpel in den Garten geschleppt. Viel ist nicht zurückgeblieben an brauchbarem Mobiliar, vom Inhalt ganz zu schweigen. Man müsste die Hütte plattmachen und neu bauen. Aber wovon?

 

Der Garten ist gar nicht mal so übel. Verwildert zwar, aber es ließe sich bestimmt etwas daraus machen, wenn man was davon versteht. Ich verstehe nichts davon, denn ich bin in einer Mietswohnung groß geworden. Einen Balkon haben wir, mit Geranientöpfen am Geländer. Sie erinnern Mutti an Italien und den azurblauen Himmel dort, obwohl sie den nur aus Caterina Valentes Schlagern kennt.

 

Eine weitere Nacht auf diesem furchtbaren Sofa steht an. Vielleicht sollte ich lieber auf dem Fußboden schlafen …

Es gibt noch zwei winzige Schlafräume mit richtigen Betten, aber in den Matratzen wohnen die Motten. Igitt!

Mutti hatte mich gewarnt, die Engländer hätten es nicht so mit der Reinlichkeit. Okay, ich muss nicht vom Fußboden essen können wie zu Hause, wo Mutti alles mit Ata scheuert und mit Sagrotan nachbearbeitet, dass nicht der winzigste Keim eine Überlebenschance hat, aber das hier …? Zumutung lautet das Wort, das mir dazu einfällt.

 

Naja, ich hätte es im Hotel wesentlich luxuriöser haben können. Aber hier kann ich wenigsten tun und lassen, was ich will, ohne dass ich mich an irgendwelche Anstandsregeln halten muss, von denen ich ohnehin wenig Ahnung habe. Es ist sehr angenehm, mal ohne Muttis ewige Ermahnungen einfach nur in den Tag hineinzuleben.

Sitz gerade, sonst kriegst du einen Buckel! Nimm den Kaugummi aus dem Mund! Stell die Beine beim Sitzen zusammen! Mach den Mund zu, es zieht! Und vor allem: Lächle, sonst kriegst du keinen Mann!

 

Warum hat mir mein unbekanntes Tantchen nicht einfach ein Bed & Breakfast an der Promenade gebucht, mit einer typisch englischen Landlady, die mich nach Strich und Faden verwöhnt? Das hätte mir gefallen! Orange juice und ham and eggs zum Frühstück kenne ich nur aus dem Englischbuch in der Schule. Zu Hause gibt’s immer Marmeladenbrot zum Caro-Kaffee, sonntags ein gekochtes Ei und Rosinenstuten. Klöben, sagt Mutti dazu, und zum Kaffee Muckefuck. Echten können wir uns nicht leisten, den gibt’s nur an Feiertagen.

 

Zum Abendbrot werde ich mir eine kalte Fleischpastete reinwürgen und sie mit Cola runterspülen. – Wenn das Mutti wüsste!

 

 

~ Tag 2 ~

 

Ich bin völlig gerädert. Und aufgeregt!

Gestern Abend, als ich mich aufs Sofa hauen wollte, bin ich über die Teppichkante gestolpert. Sie blieb umgeschlagen liegen. Als ich sie wieder richten wollte, fiel mein Blick auf eine lose Bodendiele unterhalb des Sofas. Darum schob ich es zur Seite. Etwas Helles schimmerte aus dem Spalt hervor, und als ich die Diele anhob, erblickte ich drei Bündel Briefe und ein Tagebuch.

Logisch, dass ich sie aus ihrem Versteck holte, eingestaubt und vergilbt, wie sie da wer weiß wie lange schon lagen und darauf warteten, gelesen zu werden. Ich habe mir zunächst das Tagebuch vorgenommen. Es ist in rotbraunes Leder gebunden, mit Goldschnitt, prall gefüllt mit hauchfeinen Seiten und einer energischen, ebenmäßigen Handschrift. Es stammt noch aus dem letzten Jahrhundert und beginnt mit dem 16. Februar 1882. Fast achtzig Jahre ist das jetzt her! Die unbekannte Schreiberin ist anscheinend eine schon etwas ältere Londoner Wissenschaftlerin, die kurz vor der Hochzeit steht. Doch dann bringt ein plötzlich auftauchender ausländischer Graf, den sie von früher kennt und das Mysterium nennt, ihre Gefühle kolossal durcheinander. Er ist von einer seltsamen Macht umgeben und manipuliert sein Umfeld, ohne dass dieses es bemerkt. Nur sie durchschaut ihn und kann sich ihm trotzdem nicht entziehen. Schlimmer noch, sie fühlt sich zu ihm hingezogen, obwohl sie sich mit aller Kraft dagegen wehrt.

Der Graf stellt sich ein paar Zeilen später als Vater ihres Neffen und ihrer Nichte heraus, dem sie einst geholfen hat, diese großzuziehen. Doch das war in einem anderen Leben, mit dem sie abgeschlossen zu haben glaubte. Ein ominöses Amulett – welches sie in einer Silberschatulle vergraben hatte, die sie wieder ans Licht holt – scheint der Schlüssel zu allem zu sein. Es birgt all ihre Erinnerungen, die in ihrem neuen Leben keinen Platz mehr haben dürfen. Sie weiß: wenn sie die Schatulle öffnet, öffnet sie eine Tür zur Vergangenheit – und damit zu ihm, den sie ebenso verabscheut wie begehrt. Der Zwiespalt, in dem sie steckt, ist furchtbar und droht sie zu zerreißen. Selbst ihre Heirat mit einem Neurologen, den sie zärtlich liebt, kann diesen Spuk nicht beenden. Immer größer wird ihre Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Grafen …

Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, wie es weitergeht! Ich wünschte nur, ich könnte schneller lesen. Aber erstens habe ich Mühe, die geschwungene Handschrift im Kerzenschein zu entziffern, und zweitens muss ich viele Wörter in meinem Langenscheidt nachschlagen. Das hält ziemlich auf. Letzte Nacht habe ich gelesen, bis mir die Augen zufielen. Da wurde es schon wieder hell.

 

Später am Tag

Ich habe in einem Tea-Room eine Tasse Tee getrunken und ein Sandwich gegessen. Anschließend bin ich auf der Promenade spazieren gegangen, denn es ist heute ein herrlicher Sommertag.

Ich sollte mir einen Strohhut kaufen. Zu viel Sonne bekommt mir nicht. Das habe ich mit den Engländern gemein. Sie laufen hier rot wie die Krebse herum.

Ich habe mir den Guardian mitgebracht. Die heutige Schlagzeile lautet: Das Ober- und das Unterhaus stimmen dem Beitritt Großbritanniens zur EWG zu. – Na, also. Wir wachsen zusammen, zumindest wirtschaftlich. Dafür droht in Berlin die Zonengrenze geschlossen zu werden, wie ich dem Dreizeiler auf der letzten Seite „Aus aller Welt“ entnehme. Die Flüchtlingszahlen von Ost nach West sollen weiterhin drastisch angestiegen sein.

Komisch, diese Meldung scheint mit mir nicht mehr das Geringste zu tun zu haben. Berlin ist auf einmal so weit weg, nicht nur geografisch …

Ich muss zurück zu Judiths Tagebuch! So heißt meine Tagebuchschreiberin.

 

Am Nachmittag

Was für Wechselbäder der Gefühle. Die Ärmste!

Alles ist wieder im Lot, schrieb Judith am 4. März 1883. Sie hatte beschlossen, die Finger von der Schatulle zu lassen, und schien ihren Seelenfrieden wiedergefunden zu haben. Ein ganzes Jahr lang erfolgte kein Eintrag. Man kann also davon ausgehen, dass sie zu jener Zeit eine glückliche Ehe mit ihrem Edward führte, in der ihr entweder nichts Außergewöhnliches widerfuhr oder in der sie einfach nicht zum Tagebuchschreiben kam. Seiten wurden jedenfalls keine herausgerissen.

Zu meiner Überraschung hat sie schließlich doch noch die Schatulle geöffnet – und damit all ihre Erinnerungen und Sehnsüchte freigelassen.

Warum tat sie das? Sie wusste doch um die Gefahr …

 

Etwas später

Sie wolle Gewissheit, schreibt sie, denn sie sei eine Frau der Wissenschaft – ungewöhnlich für die Zeit, in der sie lebte.

Und prompt beginnt sie an ihrer Ehe zu zweifeln. Wie eine Droge wirkt das Amulett, sie kann einfach nicht davon lassen. Je häufiger sie es zur Hand nimmt, desto größer wird ihr Verlangen danach – und natürlich nach IHM, dem ominösen Grafen. Eine unbändige Liebe entbrennt in ihr, aufregend und verboten!

Aber dies ist kein kitschiger Liebesroman aus viktorianischen Zeiten. Es ist das Tagebuch einer vernunftbegabten Frau Ende des letzten Jahrhunderts. Sie hat tatsächlich existiert.

Wie können Erinnerungen so viel Macht über einen haben? Wie kann überhaupt etwas oder jemand so viel Macht über einen haben?

Judith quält sich mit dieser Sünde und glaubt, ihren Mann jeden Tag gedanklich und in ihren Träumen zu betrügen, was er – der beste Ehemann aller Zeiten – nicht verdient habe. Trotzdem kann sie nicht anders. In ihrer Not wendet sie sich an ihre Freundin Jane, die in einem Cottage in der Grafschaft Kent wohnt.

Mir stockte der Atem, als ich von einer losen Bodendiele las, unter der einst die Briefe ihrer Schwester versteckt gehalten worden waren. Sollte etwa dieselbe Diele gemeint sein, in der ich nach achtzig Jahren ihr Tagebuch und die mir noch unbekannten Bündel Briefe gefunden habe? Hat sich die Szene zwischen den beiden Frauen womöglich genau hier, in dieser Bruchbude zugetragen? Und heißt die Kirche in diesem Ort nicht ebenfalls St. Mary’s? Davon ist in dem Tagebuch nämlich die Rede.

Höchste Zeit, dass ich mir die Füße vertrete!

 

Viel später

So ist es! Ich habe einen Rundgang über den Friedhof gemacht und mir die Gräber angeschaut. Aber die Steine sind alle verwittert, die Inschriften teilweise kaum zu lesen. Jedenfalls habe ich keine Judith Williams darunter entdeckt. Ein junger Vikar lief mir über den Weg. Er war so freundlich, mich einen Blick ins Innere der Kirche werfen zu lassen. Sie ist prachtvoll, besonders der Altar. Stolz hat er mir von ihrer langen Historie erzählt. Ich konnte sein Englisch gut verstehen. Er fragte, ob ich hier Badeurlaub machen würde und woher ich käme. Ich bejahte, sagte ihm, dass ich aus Deutschland bin, und log, dass ich im Palace Hotel wohne.

Keine Ahnung, warum ich das tat. Ich hatte plötzlich das Gefühl, mich verbotenerweise im Cottage aufzuhalten. Als wäre es ein geweihter Ort. Oder als würden die Geister aus alten Tagen darin wohnen und ich sie in ihrem Frieden stören. Das Tagebuch ist schließlich nicht für meine Augen bestimmt!

 

Anschließend trieb mich mein knurrender Magen hinunter zum Hafen. Dort fand ich eine Fish 'n' Chips Bude. Panierter Fisch mit Pommes in Zeitungspapier. Und dann kippen die Engländer auch noch Essig über das Ganze. Nun ja, ich muss zugeben, dass mir das fettige Zeug verdammt gut schmeckte. – Keine Kraftausdrücke! Entschuldige Mutti. – Auf jeden Fall dürfte es eine Weile vorhalten.

Das Essen gerät allmählich zum Problem. Hätte ich einen Kühlschrank, könnte ich mir Milch kaufen und mich von Cornflakes ernähren. Aber so etwas Modernes hat diese Hütte hier noch nie zu sehen bekommen. Irgendwie sympathisch!

Ich fange an, den alten Schuppen mit anderen Augen zu sehen. Das ging schnell.

 

Abends

Ich habe Judiths irische Großmutter Granny Bridget kennengelernt und ihren Vater, den Vikar, sterben sehen. Er soll ihre Schwester getötet haben. Du lieber Himmel, was für eine Familie!

Das Kerzenlicht flackert in einer Tour. Als ob Geister hier umherschleichen.

Ich kann kaum noch die Augen offen halten und sollte besser zu Bett gehen. Nur noch ein paar Zeilen …

Sie tut’s! Judith verlässt Edward!!! Nach drei Jahren Ehe und Selbstquälerei gesteht sie sich endlich ihre wahre Liebe ein und reist zu ihm. GOTT SEI DANK.

Nun kann ich mich beruhigt schlafen legen.

 

 

~ Tag 3 ~

 

Letzte Nacht hatte ich seltsame Träume, obwohl ich den Eindruck hatte, nicht ein Auge zugetan zu haben. Es knackte überall und der Wind pfiff durch die Fensterritzen. Ringsumher sind nichts als Wiesen und Weiden sowie ein Wäldchen.

Wenn Mutti wüsste, dass ich hier so ganz abgeschieden hause, dazu noch in einem fremden Land …

Ich muss verrückt sein! Wenn mir etwas passierte, könnte ich nicht mal Hilfe holen. Das Cottage liegt total im Abseits. Um in den Ort zu gelangen, muss ich einen strammen Fußmarsch von fünfzehn Minuten hinlegen. Tagsüber ist es hier richtig idyllisch. Ich könnte splitterfasernackt sonnenbaden, wenn ich nicht so eine helle Haut hätte. Aber nachts … Vielleicht lag es auch bloß an dem fettigen Fisch, der mir im Magen lag, oder an meiner Bettlektüre, die mich so unruhig schlafen ließ.

 

Judith ist wieder zu Hause, bei ihrem Edward! In ihrem Tagebuch klafft zu meiner großen Enttäuschung eine Lücke von sage und schreibe fünf Jahren. Ich werde also niemals den Grund für ihre Rückkehr erfahren.

Erst Ende 1890 erfolgt der nächste Eintrag. Nichte und Neffe samt dem Grafen weilen zu jener Zeit wieder in London, bzw. in Hampstead Heath, wo sie ein altes Herrenhaus im Tudor-Stil bewohnen. Judith spricht von Güte und Harmonie – von Liebe kein Wort!

Wodurch sie wohl wieder zur Besinnung gekommen ist? Und doch trauert sie immer noch heimlich ihrer wahren Liebe nach.

 

Ein paar Seiten weiter schildert sie etwas Unfassbares: Ein Attentat wurde auf ihre Familie verübt! Glücklicherweise konnten sich alle in Sicherheit bringen und in ihrem Heimatland untertauchen, wo auch immer das sein mag. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, zumindest einen Tagebucheintrag wert, deckt Judith Ungeheuerliches am Tatort auf, an dem nur ein kläglicher Rest an Dienerschaft zurückgeblieben ist. Die meisten sind vor Entsetzen geflohen.

Es wird stellenweise so abstrus, dass ich die Zeilen mehrfach lesen musste, weil ich dachte, etwas missverstanden zu haben. Demnach gab es bei dem Überfall – Judith spricht von einem hinterlistigen Anschlag – zwei Tote: der alte Gärtner und ein Stallknecht. Sie hatten ihrer Herrschaft wohl zu Hilfe eilen wollen. So ganz habe ich die Zusammenhänge allerdings nicht begriffen. Es las sich, als ob ein Kind der Familie entführt worden wäre. Der geschockte Gärtnersohn, der seinen Vater hat sterben sehen, spricht Judith gegenüber von Reitern mit Fackeln und Schwertern, wildem Gemetzel und einem Wald von Gepfählten.

Na, er wird wohl zu viele Horrorfilme im Kino gesehen haben. Obwohl es damals so etwas bestimmt noch nicht gab, oder?

Judith war jedenfalls unerschrocken genug, den Ort des Grauens in Augenschein zu nehmen. Wie nicht anders erwartet, konnte sie nichts entdecken – keinen einzigen Pfahl, keine einzige Leiche. In seiner Panik hatte sich der arme Junge das wohl bloß eingebildet.

Gepfählte, also bitte! Warum nicht gleich Scheiterhaufen? Sie lebten doch nicht mehr im Mittelalter.

Aber wer weiß, was für ein Zeugs der Junge gelesen hatte, dass ihm dermaßen die Phantasie durchging. Wahrscheinlich fehlte ihm eine Mutter wie die meine, die ihn ständig ermahnt, zur Abwechslung mal etwas Anständiges zu lesen. Was das bitte schön sei?, habe ich Mutti unlängst gefragt. Na, so was wie Der Schimmelreiter von Theodor Storm oder Der Mann im Strom von Siegfried Lenz. Nur weil sie im Bertelsmann-Lesering ist! Komisch, sie selbst habe ich noch nie mit der angepriesenen Lektüre vor der Nase angetroffen, die zieren lediglich unser Bücherregal. Umso häufiger blättert sie in Illustrierten, wenn über irgendwelche Skandalgeschichten von Liz Taylor berichtet wird oder Sophia Loren auf dem Titelblatt prangt. Die Hören und Sehen gehört ohnehin zu ihrer Lieblingslektüre, sobald Lieselotte Pulver mit ihrem Bubikopf vom Titelblatt lächelt. Dabei haben wir nicht einmal einen Fernseher! Zum Fernsehen gehen wir immer zu ihrer Freundin rüber, die im Nebenhaus wohnt. Deren Mann hat oft Nachtdienst, dann dürfen wir seinen Platz einnehmen. Aber jetzt bin ich völlig vom Thema abgekommen.

Jedenfalls kamen Judith nach dem geschilderten Horrorszenario verstörende Bilder in den Sinn, als hätte sie etwas Derartiges schon einmal selbst mit eigenen Augen gesehen. In einem Traum? In einer Vision? Auf ihrer Reise? Auf jeden Fall in einem Wald. Deshalb war sie geneigt, dem Jungen zu glauben.

 

Erst ein halbes Jahr später folgt der nächste Tagebucheintrag. Von einer Miss Farrell ist dort die Rede, der Judith zur Flucht verhelfen soll, weil die Attentäter nun auch hinter ihr her seien, da sie eine Freundin des Hauses gewesen sei und um die Natur der Familie wisse. Was soll das denn heißen?

Dann wird es immer verworrener. Zwei Absätze weiter verdächtigt Judith plötzlich ihren Ehemann – wessen, begreife ich allerdings nicht. Des Verrats! Verrat an wem? An der Familie? An ihr? Und wieso? Worum geht es da eigentlich?

Ich glaube, ich war zu müde, um dem folgen zu können. Ich werde die Passagen nachher noch einmal lesen.

 

Mein ewig knurrender Magen holt mich in die Gegenwart zurück. Es ist heiß heute. Ich habe es mir unter dem grünen Dach der Linde gemütlich gemacht, wozu ich erst einmal mit einer kleinen Sichel, die ich im Schuppen fand, den Urwuchs bekämpfen musste. Scharf ist sie natürlich nicht mehr, darum konnte ich mein Plätzchen damit nur plattklopfen.

Vorhin war ich einkaufen und habe mich mit einer Schachtel Pall Mall Blue, einem Schokoriegel – Cadbury’s Dairy Milk für die Extraportion Milch! – und einer Tüte Lakritz ausgestattet. Obendrein eine Packung Kaugummi. Das muss eine Weile vorhalten.

 

Am Nachmittag

Ich war unter der Linde eingeschlafen. Kein Wunder, viel Schlaf habe ich in diesem Land bisher nicht bekommen.

Gleich werde ich auf die Promenade gehen und mir in einem dieser überteuerten Hotels ein Abendessen gönnen. Irgendwann muss ich ja mal etwas Vernünftiges zwischen die Zähne bekommen, sonst falle ich noch ganz vom Fleisch, wie Mutti sagen würde. Nur Süßigkeiten und Zigaretten sind auf Dauer auch keine Lösung – obwohl Zucker ja zaubern soll!

 

Spät am Abend

Ich wünschte, meine mir unbekannte Tante wäre schon da! Gleich, wie steif ihre Oberlippe auch sein mag, und selbst wenn sie mir das Kaugummikauen und Rauchen verbieten sollte, ich nähme alles in Kauf, um nicht länger alleine zu sein.

Nein, mir ist kein Tommy über den Weg gelaufen, der mir auf den Leib gerückt wäre – leider nicht! Aber vielleicht ein Geist.

 

Ich habe unten am Strand gesessen, in einer kleinen Bucht abseits des öffentlichen Badebetriebs. Es war sehr schön dort. Von einem ins Wasser ragenden Felsen habe ich zugesehen, wie die letzten Sonnenstrahlen im Meer versanken – echt romantisch! Sie tauchten die Kreidefelsen von Dover, die man in der Ferne sehen kann, in ein rosa Licht. Meine Freundin Gisela wäre ausgeflippt vor Begeisterung. Sie hat’s nämlich mit der Malerei und ein Faible für kitschige Postkartenmotive. Ich darf nicht vergessen, ihr eine zu schicken.

Jedenfalls wurde das Rauschen der Brandung allmählich leiser. Der Wind hatte nachgelassen und eine friedvolle Stille breitete sich aus. Eine Möwe, die an der Wasserkante nach Nahrung suchte, flog auf einmal wie aufgescheucht davon. Da war mir, als summte jemand ein Lied. Ich sah mich suchend um. Aber der Strand war leer. Schon dachte ich, ich hätte es mir nur eingebildet, da vernahm ich die Töne wieder. Und selbst jetzt bekomme ich die Melodie nicht aus meinem Kopf. Das Eigenartige daran ist, dass sie mir bekannt vorkommt, obwohl ich schwören könnte, sie nie zuvor gehört zu haben!

Was hat das zu bedeuten?

 

Als es dunkel wurde, habe ich den Strand verlassen. Für den Weg die Klippen hinauf reichte das Tageslicht gerade noch aus. Oben am Küstenweg hatte ich hinter einem Ginsterbusch ein Fahrrad deponiert, das ich vorhin im Schuppen unter einer Plane gefunden hatte. In einem der Regale lag sogar noch eine eingesponnene Luftpumpe. Es muss ein furchtbar altes Vehikel sein, so schwer, wie es sich treten lässt. Aber immerhin fährt es, trotz rostiger Kette. Gerade als ich für den Heimweg den alten Drahtesel besteigen wollte, überkam mich das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Wieder ließ ich meine Blicke schweifen, aber es war rein niemand zu sehen.

Ich bin wohl noch niemals zuvor so schnell in die Pedale getreten. Kurz vor dem Cottage wäre ich fast von einem Auto erfasst worden, weil ich in meiner Aufregung vergessen hatte, auf der linken Seite zu fahren. Die Straßen hier sind echt eng und kurvig.

 

Kurz vorm Schlafengehen

Zurück zu Judith. Sie ist im Besitz von begehrlichem Wissen und hat ihren Mann in Verdacht, ihr Tagebuch gelesen zu haben. Immer wieder geht es dabei um die Natur ihres Neffen und dessen Familie. Einem namens Dorin, der bei ihnen ein- und ausging und am selben Institut wie ihr Mann arbeitete, hatte man anscheinend ebenfalls nach dem Leben getrachtet und ihn mitten auf der Straße niedergestochen. Ich weiß nicht, in welch verwandtschaftlichem Verhältnis er zur Familie steht, das ging aus den Notizen nicht hervor. Das Seltsame ist, dass Dr. Williams hinterher niemals mit seiner Frau über dieses schreckliche Erlebnis geredet hat, dabei war er derjenige, der Dorin als Erster zu Hilfe geeilt war, als dieser blutend am Boden lag. Wann immer Judith darauf zu sprechen kommen wollte, gab Edward vor, sich nicht zu erinnern. Das ist schon etwas seltsam. So etwas vergisst man doch nicht! Aber dann wird Judith bewusst, dass sie selbst etwas erfolgreich verdrängt hat, und zwar ihre Erinnerungen an den Ausbruchversuch aus ihrer Ehe, als ich dachte, sie wäre zu ihrer wahren Liebe, dem Grafen, zurückgekehrt. Dieser hat nicht nur eine Lücke in ihrem Tagebuch hinterlassen, sondern anscheinend auch in ihrem Gedächtnis. Erst die Stätte des Überfalls auf dem Anwesen der Familie hat offenbar eine Tür zu dieser Vergangenheit geöffnet. Das Einzige, was ich daraus entnehmen kann, ist, dass sie seinerzeit in Rumänien war.

 

 

~ Tag 4 ~

 

Er hat es tatsächlich getan! Judith hat ihren Mann im Januar 1892 inflagranti erwischt, als er in ihrem Tagebuch gelesen hat. Um das Ganze noch absonderlicher zu machen, soll er dabei unter Hypnose gestanden haben, wurde also von Unbekannten dazu angestiftet, um an interne Informationen über DIE FAMILIE zu kommen.

Was ist denn mit ihnen? Was macht sie so besonders oder interessant oder gefährlich oder was weiß ich?

Nun wird alles furchtbar traurig. Dieser Tabubruch zerschmettert Judiths Ehe mit einem einzigen Hieb. Sie kann sich ihrem Mann nicht mehr anvertrauen, steht allein mit ihrem Kummer, weiß nicht mehr, wem sie noch trauen kann und wem nicht.

Ihr ehemaliger Schwager Peter taucht auf. Er scheint der Ehemann ihrer vom Vater ermordeten Schwester Becky gewesen zu sein und Vater ihres Neffen und ihrer Nichte. Versteh ich nicht, ich dachte, der ominöse Graf sei der Vater der beiden. Sie schreibt jedoch, dass Natalia einen Teil von Beckys Liebe zu Peter in sich trägt.

Und dann schleicht sich da plötzlich dieser eine Satz ein, so ganz unbemerkt von der Seite, sodass man ihm zunächst gar nicht so viel Beachtung schenkt. Ich zitiere Peter: Sie sind Seelenfänger, Judith. Man versucht ihnen schon seit Jahrhunderten das Handwerk zu legen.

Wie bitte? Was habe ich mir denn darunter vorzustellen? Sind sie eine Art Sekte oder was?

 

An der Stelle konnte ich letzte Nacht leider nicht weiterlesen, weil ich meinte, ein Geräusch im Garten gehört zu haben. Schnell pustete ich die Kerze aus und stierte aus dem Fenster. Aber ich konnte nichts erkennen. Wahrscheinlich war es nur der Wind gewesen, der in den Ästen geächzt hatte, obwohl es total windstill war!

Nach einer Weile zündete ich die Kerze wieder an, um weiterzulesen. Da hörte ich das Geräusch wieder, diesmal deutlicher, wie ein Flattern. Aber die Vögel schliefen längst. Nicht einmal der Ruf eines Käuzchens war zu hören – dabei weiß ich ehrlich gesagt gar nicht, wie der überhaupt klingt, weil ich in der Stadt aufgewachsen bin. Also pustete ich die Flamme wieder aus und wickelte mich fest in die muffige Wolldecke ein. Ich kann nicht gerade behaupten, geschlafen zu haben, es war mehr ein Hin- und Herwälzen. Ich war froh, als der Morgen endlich dämmerte.

 

Das Alleinsein bekommt mir nicht. Es wird Zeit, dass Aunty Nelly übermorgen kommt! Dabei dachte ich, es wäre klasse, mal ein paar Tage allein zu sein und machen zu können, was man will: Kaugummiblasen zerplatzen lassen, so oft ich lustig bin, Cola direkt aus der Flasche trinken und eine nach der anderen paffen, bis mir schlecht wird. Als Betthupferl Karamellbonbons – nach dem Zähneputzen, Mutti! –, auf das ich hier sowieso verzichte. Falls ich es noch nicht erwähnte: diese Bude hat nicht einmal ein Badezimmer! Dafür ein Plumpsklo in der hintersten Gartenecke, da, wo sich die Fliegen auffällig tummeln, seit ich von dem Örtchen Gebrauch mache. Naja, es gibt Schlimmeres: unser Etagenklo daheim zum Beispiel. Das ist nämlich, wenn’s am dollsten pressiert, von Nachbarn besetzt, die dort stundenlang nur laue Luft ablassen.

 

Nachmittags

Heute Vormittag war ich auf der Promenade und habe mir einen Sonnenhut und ein Eis gekauft. Endlich Ferienfeeling!

Es stimmt nicht, dass nur Italiener gutes Eis machen. Das Flake 99 war himmlisch schmelzig-vanillig mit einem Stück knackiger Borkenschokolade on top.

Ich sollte in Reklame machen! Das sagt Mutti auch immer, weil ich die so gerne schaue, wenn wir bei ihrer Freundin Lilo fernsehen.

 

Als ich später in einem Lokal an der Promenade eine Limo trank, sprach mich ein Herr an, jung oder alt, weiß ich nicht zu sagen.

Ob er sich mit an meinen Tisch setzen dürfe, fragte er, nachdem er mich höflich um Verzeihung gebeten und seinen Hut vor mir gezogen hatte.

Sämtliche Tische waren belegt. Da konnte ich es ihm ja schlecht abschlagen, oder? Außerdem sah er fesch aus in seinen hellen Shorts und den Leinenslippern, in denen er barfuß steckte. Er bestellte sich irgendwas mit Eiswürfeln in einem breiten Glas und einer Scheibe grüne Zitrone obenauf. Dann zückte er ein silbernes Zigarettenetui und bot mir eine an.

Und was tat ich dumme Gans? Ich lehnte höflich ab und behauptete, nicht zu rauchen! Warum? Es wäre doch die Gelegenheit für ihn gewesen, mir beim Feuergeben unauffällig näherzukommen.

Während ich mich noch über mich selbst ärgerte, lehnte er sich entspannt in seinem Stuhl zurück und nahm, still in sich hineinlächelnd, einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, wobei er genüsslich aufs Meer hinausschaute. Obwohl ich das so genau nicht sehen konnte, denn er trug eine Sonnenbrille.

Linkisch griff ich nach meinem Glas und schlürfte den Rest Limo durch den Strohhalm. Es machte dieses peinlich laute Geräusch, das Kinder so gerne fabrizieren. Ich kam mir vor wie ein Teenager, keinesfalls wie eine neunzehneinhalbjährige Erwachsene.

Warum nur hatte ich mir, bevor ich herkam, nicht die Lippen nachgezogen und die Nase gepudert?

Wie lässig er dasaß, das eine Bein über das andere geschlagen, einen Arm angewinkelt auf der Rückenlehne des Stuhles ruhend, sodass seine Hand entspannt in der Luft hing, während er mit der anderen die Zigarette zu seinen wohlgeformten Lippen führte. Sein Gesicht war glatt rasiert, bestimmt mit der Klinge mit dem Doppelschwert, und doch konnte man einen kräftigen dunklen Bartwuchs erahnen.

Zu spät merkte ich, dass er mir eine Frage gestellt hatte. Ich musste nachfragen und mir Mühe geben, nicht zu erröten. Er machte ein wenig Small Talk, das Übliche: Wetter, die diesjährige Badesaison, woher ich käme. Really? From Germany? Also ein Fräuleinwunder? Wieso ich ausgerechnet hier meine Ferien verbrächte. Und wie es komme, dass ich so gänzlich ohne Begleitung …

Meine mir immer noch unbekannte Tante musste herhalten: Ich würde bei ihr den Sommer über wohnen, sie sei schon alt und etwas gebrechlich und freue sich über meine junge Gesellschaft …

Die Unterhaltung wurde zusehends anstrengend. Gerade als ich beschloss zu zahlen, schob er seine Sonnenbrille auf die Nasenspitze und zwei unsagbar tiefblaue Augen schauten mich darüber hinweg an. Blau wie das Meer, dachte ich und ärgerte mich über den Kitsch in meinem Kopf. Schnell wandte ich den Blick ab. Er hielt es wohl für Schüchternheit, denn ich bemerkte noch ein belustigtes Zucken in seinem Mundwinkel, bevor er erneut von seinem Getränk nippte.

Mein Gott, hatte dieser Mann schöne Lippen! Sie waren irgendwie perfekt: nicht zu breit, nicht zu schmal, nicht zu blass, nicht zu rot, nicht zu fest, nicht zu weich – obwohl ich Letzteres natürlich nicht beurteilen kann.

Was soll diese Schwärmerei? Und seit wann sind die Lippen eines Mannes von Belang? Erwähnte ich schon das Grübchen an seinem Kinn? Oje, ich bin anscheinend doch noch ein Teenager!

Ob er mich auf ein weiteres Getränk einladen dürfe.

Oho, das hätte ich eher von einem Italiener oder Franzosen erwartet, aber doch nicht von einem steifen Engländer! Seit wann rauschen die so ran?

Bedaure, antwortete ich ihm mit einem wohlerzogenen Lächeln, aber meine Tante würde mit dem Essen auf mich warten.

Wenn ich jetzt sagen würde, dass sein Blick mich gefangen nahm, würde es zwar zutreffen, aber furchtbar abgedroschen klingen.

Im Geiste sah ich bereits die Schlinge um meinen Hals. Daher bedankte ich mich höflich für sein freundliches Angebot, gab aber vor, nun gehen zu müssen.

Die mahnenden Worte meiner Mutter dröhnten mir in den Ohren: Denk dran, Kind, Männer wollen immer nur das eine! – was genau das eine aber sein soll, hat sie mir nie gesagt, diese geheime Information musste ich mir selbst beschaffen.

Ich spürte seine bedauernden Blicke in meinem Rücken, als ich ging, und verfluchte mich für meine Blödheit. Was wäre denn dabei gewesen, es ging doch lediglich um eine Limo!

 

Stattdessen hocke ich jetzt wieder in dieser modrigen Hütte und vergrabe mich in die abstruse Geschichte fremder Leute von früher.

 

Abends

Ich kann mich kaum auf Judith konzentrieren. Es ist total schwül. Bestimmt zieht noch ein Gewitter auf.

Immer wieder sehe ich diese blauen Augen vor mir. Eigentlich ganz schön dreist. Ich meine, man lädt doch nicht ein wildfremdes junges Mädchen so mir nichts, dir nichts auf ein Getränk ein! Ist das etwa die feine englische Art? Und ich hätte mich auch gar nicht dazu einladen lassen dürfen! Meine Ablehnung war daher überhaupt nicht so kindisch, wie sie mir zunächst vorgekommen war, sondern die einzig vernünftige und erwachsene Art, auf so ein unverschämtes Angebot zu reagieren. – Lackaffe! Auch wenn er Leinenschuhe trug, die ziemlich teuer aussahen.

Gott, diese verdammten Augen! – Keine Kraftausdrücke! – Ich weiß, Mutti, ich weiß. Aber in diesem Fall sind sie zutreffend.

 

Spät in der Nacht

Unglaubliches trug sich zu, während Judith sich bei ihrer Freundin Jane, in genau diesem Cottage, vom Verrat ihres Mannes zu erholen versucht. Sie ist völlig niedergeschlagen, umso mehr, da Jane ihr die Leviten liest, weil Judith in ihrem Tagebuch Geheimnisse über ihre Familie ausgeplaudert habe. – Ja, was denn, bitte schön?

Vom Bann des Vergessens sei darin die Rede. Was soll ich mir darunter vorstellen? Und vom Amulett. Ach du Schreck! Na und? Ist doch bloß Hokuspokus. Und schließlich werde sogar der Wächter mit dem Schlüsselbund in Verkörperung des mysteriösen Grafen erwähnt, von dem ich lediglich weiß, dass er aus Rumänien kommt, einem Land mit tiefen dunklen Wäldern und Bergen, in denen Drachen hausen. So soll es zumindest früher gewesen sein, bevor die Kommunisten ganz Osteuropa in Besitz nahmen, alles Märchenhafte daraus vertrieben und die Länder zu Bauern- und Arbeiterstaaten machten – so haben sie es uns jedenfalls in der Schule erzählt. Der Graf aber stammt aus alten Zeiten, als es noch Adlige gab, welche die Welt wie eine Sahnetorte unter sich aufteilten und Dienstboten für’n Appel und ’n Ei für sich schuften ließen. Seine Macht sei fast unbegrenzt, schreibt Judith.

Echt irre. Wenn das nicht den Stoff für einen spannenden Roman abgibt!

Daraufhin rät Jane Judith doch tatsächlich, das Tagebuch zu verbrennen! Was diese Gott sei Dank nicht getan hat. Auch schreibt sie davon, die verfänglichen Seiten heraustrennen zu wollen, was sie offenbar ebenso unterlassen hat. Stattdessen hat sie – oder Jane? – es hier versteckt.

Anfang Februar reist Judith nach Irland zu ihrer Granny Bridget, die inzwischen schon steinalt ist. Diese feiert mit ihr und den Bewohnern des Fischerdorfs, in dem sie lebt, das Lichterfest Imbolc. Und nun erfahre ich endlich, dass Judiths Großmutter die Hohepriesterin eines alten Druidenordens ist und Judith als Nachfolgerin bestimmt war. Doch diese fand mit ihrem wissenschaftlich geprägten Verstand keinen Zugang zu der Welt ihrer keltischen Ahnen, weswegen ihre jüngere Schwester auserkoren wurde, die es – wie bereits ihre Mutter zuvor – mit dem Leben bezahlen musste. Der Graf – das Mysterium, der Wächter mit dem Schlüsselbund, der dakische Hohepriester – hatte den Auftrag, nun Judith auf diese Aufgabe vorzubereiten. Es wäre ihm fast gelungen, wenn sie sich ihm nicht kurz zuvor wieder entwunden hätte, aus Furcht vor dem Unbegreifbaren. Aus Furcht vor sich selbst.

So stand es dort natürlich nicht, aber so ungefähr. Es ist alles etwas nebulös. Immerhin habe ich eine vage Idee bekommen.

An genau der Stelle ist mir das Tagebuch aus der Hand gerutscht und zu Boden gefallen. Dabei haben sich einige, anscheinend nachträglich eingefügte Seiten gelöst. Ich bin zu müde, um sie zu sichten und zu ordnen, das muss bis morgen warten. Jetzt will ich nur noch schlafen.

 

 

~ Tag 5 ~

 

Ich habe lauter wirres Zeug geträumt und bin mit dem Gefühl aufgewacht, nicht eine Sekunde geschlafen zu haben. Wie immer.

Alles purzelte heute Nacht durcheinander: Meeresrauschen, blaue Augen, das Lichterfest – Letzteres so klar und deutlich, als wäre ich selbst dabei gewesen. Ich meine, wir haben Sommer, es war heute Nacht extrem stickig in der Bude, und doch stand ich an einem eisigen Februarmorgen frierend am Strand, umgeben von einem Lichterkranz, um gemeinsam mit meinen Brüdern und Schwestern das erste Frühlingslicht zu begrüßen, das sich langsam über den Horizont erhob, sich fast unmerklich über dem Meer ausbreitete und schließlich über uns ergoss. Ich sah die vor Frost zitternden Zweige, lauschte den Gesängen der Weißgewandeten, vernahm ihre alte Sprache und erkannte sie wieder, die Melodie, welche ich tags zuvor unten in der Bucht gehört hatte – hier in dieser Welt und in diesem Jahrhundert! Wie kann das sein? Und ich blickte in Granny Bridgets Augen, die von einem irisierenden Blau waren, so wie die des Lackaffen! Ich bin ein paarmal völlig verschwitzt aufgewacht und habe den Kopf aus dem Fenster gesteckt. Da war mir, als hörte ich wieder dieses Flattern. Aber ich konnte nichts erkennen, weil der Mond immer wieder hinter den schnell ziehenden Wolken verschwand.

 

Wenig später zog Sturm auf und fegte brausend durch die Bäume, sodass ich schon Sorge hatte, er würde das Dach abtragen. Aber es ist ja mit Reet gedeckt und hält bestimmt den stärksten Seewinden stand. Beruhigt döste ich wieder ein und träumte von allerlei, an das ich mich nicht mehr erinnere. Bis ich in der Ferne das erste Grummeln vernahm. Der Schreck hierüber ließ mich senkrecht vom Sofa hochfahren. Einen Blitzableiter hat diese Bude nämlich nicht und das Reetdach brennt bestimmt wie Zunder! Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Der Mond war inzwischen weitergewandert. Aber es hätte ihn ohnehin nicht gebraucht, denn das Wetterleuchten tauchte die grüne Hölle da draußen für Sekunden in ein unwirklich grelles Licht. Auf einmal stand da ein Schäferhund, direkt unter der Linde, und äugte zu mir her. Mir wurde ganz anders. Ich prüfte sofort, ob die Haustür richtig verschlossen war, und machte vorsichtshalber sämtliche Fenster zu. Wie sollte ich wissen, ob er nicht hereinkäme, falls der Hunger ihn dazu triebe. Ich habe keine Erfahrung mit Hunden. Mutti kann sie nicht ausstehen, diese Kläffer, die überall ihr Bein heben und alles ansabbern.

Kurz darauf glaubte ich zu ersticken, während sich draußen die Luft auf ein erträgliches Maß abkühlte. Also sah ich mich gezwungen, das Fenster wieder einen Spaltbreit hochzuschieben. Dabei hielt ich nach dem Hund Ausschau, aber er war nicht mehr da. Ich legte mich wieder hin und versuchte mir einzureden, dass ich ihn mir nur eingebildet hatte.

Ob ich mich dafür verfluche, dass ich nicht im Palace Hotel abgestiegen bin? Ja doch!

 

Nach dem Frühstück

Also Frühstück ist nun wirklich zu viel gesagt. Es war eine Packung Biscuits mit Custard Cream.

So langsam rebelliert mein Gedärm. Es weigert sich, den Kram zu verdauen, den ich seit Tagen in mich hineinstopfe. Wie bei unseren Nachbarn daheim kommt nur noch laue Luft.

 

Draußen ist alles nass und es ist merklich abgekühlt. Aber die Sonne tut ihr Bestes, um die aufsteigenden Dunstschichten zu durchdringen. Es dampft von allen Seiten. Die Vögel singen nicht, sie schrillen vor Entzücken. Offenbar fühlen sie sich wie neu geboren. Ich hingegen bin von dieser chaotischen Nacht völlig zerschlagen.

Die Wassermassen, die in den frühen Morgenstunden unaufhörlich heruntergerauscht kamen, ließen mich schon befürchten, dass aus meiner Bude eine Arche Noah würde und ich mich am Morgen auf dem Berge Ararat wiederfände.

Also werde ich mich jetzt erst mal eine Runde aufs Sofa hauen und mir den Rest von Judiths Tagebuch vornehmen … und die herausgefallenen Blätter sortieren.

 

Gegen Mittag

Die Sonne hat den Kampf gegen den Dunst verloren. Draußen ist inzwischen alles zugezogen und es fällt ein feiner Regen – ein frischer Landregen, würde Mutti dazu sagen und hinzufügen: gut für die Vegetation. Als ob diese hier es nötig hätte, es ist das reinste Gewächshaus!

Aber jetzt will ich schnell von Judith berichten, bevor ich mich auf den Weg in den Ort mache. Ich brauche nämlich dringend eine anständige Mahlzeit, mir ist schon ganz blümerant. – Ja, Mutti, du hast mal wieder recht behalten!

 

Anfang März kehrt Judith nach London zurück, hält es an der Seite ihres Gatten aber nicht aus und fährt wieder hierher zu Jane. Sie sprechen viel über Granny Bridget und die Weisen der Altvorderenzeit. Diese hätten in steter Zwiesprache mit der Natur und mit Gott gestanden, der in allem wohne und alles beseele.

Judith erhält damit eine Erklärung für ihre nächtlichen Träume. Sie sind etwas tief in ihr Verwurzeltes, das an die Oberfläche drängt und ein längst vergessenes Wissen freisetzt, ein Wissen um bestimmte Kräfte und den großen universellen Zusammenhang.

Aber dann folgt die Tragödie schlechthin. Judith bekommt ein Telegramm: Edward hat sich umgebracht, mit irgendeinem Zeugs, das sie damals bei jedem kleinen Wehwehchen geschluckt haben. Judith begreift dies als Schuldeingeständnis. Ihre bisherige Welt bricht zusammen. Sie glaubt, an Edwards Seite ein Leben in Lüge geführt zu haben. Am Boden zerstört ruft sie nach ihrem rettenden Engel. Dieser kniet plötzlich neben ihr – in Gestalt des Grafen! Er hilft ihr, wieder auf die Beine zu kommen, und nimmt sie zu sich.

Das sind die letzten Zeilen, geschrieben im Mai 1892, die mit der Frage schließen, ob nun alles wieder gut wird. Das frage ich mich auch!

Aber was ich mich noch viel mehr frage, ist, ob das Amulett wohl noch immer an den Wurzeln der alten Eiche begraben liegt, wo Jane es einst vor Judith versteckt gehalten hatte, damit diese nicht in Versuchung geriete. Denn die Schatulle, nach der Judith zuletzt immer häufiger gegriffen hatte, war leer!

Ich hätte nicht übel Lust, mich auf die Suche zu machen. Ob ich besagte Eiche wohl finde?

 

Irgendwann zwischen spätem Nachmittag und frühem Abend

Es bringt keinen Spaß, bei Regen im Wald herumzuspazieren und Bäume zu suchen, darum hatte ich mich dazu entschieden, lieber in den Ort zu radeln, um in einer Teestube eine Kleinigkeit zu essen. Ich kam völlig verschwitzt dort an, meine Regenjacke klebte eklig auf der feuchten Haut. Die Promenade war wie ausgestorben. Wo sind die Badegäste nur alle hin? Wahrscheinlich sitzen sie in ihren Hotels und Pensionen und spielen Scrabble oder Memory.

Das haben Mutti und ich damals auch getan, als wir für eine Woche nach Büsum an die Nordsee gefahren sind. Ich fand’s stinklangweilig, den ganzen Tag in einem dämlichen Strandkorb rumzusitzen und ab und zu durch Matsch zu waten … Schlick, hat Mutti mich korrigiert. Es soll sehr gesund sein, barfuß im Schlick zu laufen! Und sich die große Zehe an einer scharfkantigen Muschelschale kaputt zu schneiden, habe ich gedanklich hinzugefügt. Das Beste an dem Urlaub – unser bisher einziger! – waren die Krabben auf Schwarzbrot. Die haben wir unten im Hafen fangfrisch vom Kutter gekauft und selbst gepult. Wie die Finger danach stanken! Die halbe Woche war Land unter. Wir saßen den ganzen Tag in dem kläglichen Fremdenzimmer und haben gescrabbelt, was das Zeug hielt. Gut, dass wir überhaupt Spiele mitgenommen hatten, sonst wäre ich umgekommen vor Langeweile! Ich glaube, ich war damals die einzige Dreizehnjährige dort weit und breit.

Während ich in einem stickigen Tea-Room lustlos ein labberiges Sandwich kaute – wie ich unser Schwarzbrot vermisse! – und dazu heißen Tee mit Milch schlürfte, wurde mir bewusst, dass ich ab morgen wieder unter ständiger Aufsicht stehe. Dann hat das Lotterleben ein Ende. Ich versuchte mir Tante Nelly vorzustellen. Von der Stimme her klang sie jünger als Mutti. Ich bin sehr gespannt auf sie!

 

Als ich für den Rückweg das Fahrrad besteigen wollte, hielt ein Auto neben mir. Der Fahrer kurbelte die beschlagene Scheibe runter, weswegen ich ihn erst da erkannte. Natürlich, der Lackaffe! Heute aber mit langer Hose – naja, bei dem Wetter. Ob er mich ein Stück mitnehmen könne?

Wie käme ich wohl dazu, zu einem Fremden ins Auto zu steigen? Was bildete er sich denn ein? Und mein Fahrrad? Das könne ich doch nicht so einfach dort stehen lassen.

Und wie ich das konnte! Zack, saß ich in einem roten mit schwarzen Ledersitzen ausgestatteten Sportwagen, ein Austin Healey 3000, wie ich erfuhr. Er trug Autofahrerhandschuhe aus feinstem Wildleder, beige. Sie saßen wie angegossen. Sein bestimmt teures Eau de Toilette mischte sich mit der Feuchtigkeit, die von meinen nassen Klamotten aufstieg. Mit einem Tuch musste er die sich immer wieder beschlagende Windschutzscheibe frei wischen. Es machte kaum einen Unterschied, der Ausblick blieb grau. Mir war es peinlich, dass ich Sitz und Fußraum seiner Nobelkarosse nässte. Never mind!, lachte er,als hätte er mir meine Gedanken von der Stirn abgelesen. Sein Garagist würde sich nachher darum kümmern.

Ich kann immer noch nicht fassen, dass ich genau das getan habe, wovor mich Mutti stets gewarnt hat. Wie konnte ich nur?

Mir wurde ziemlich ungemütlich zumute mit ihm allein auf so engem Raum. Er spürte es und verwickelte mich in ein Gespräch. Meine Anspannung wollte jedoch nicht weichen und ich blieb einsilbig. Mit dem Auto sind es nur wenige Minuten bis zum Cottage, versuchte ich mich zu beruhigen. Und wenn er mich an der Straße absetzte, könnte er nicht sehen, wo ich wohne. Er soll keinesfalls mitkriegen, dass ich hier ganz alleine hause! Wenn ich heil ankäme, so schwor ich mir, würde ich so etwas nie wieder tun. Einfach zu einem völlig Unbekannten ins Auto zu steigen, also wirklich!

Do you like a fruit drop? Erschrocken sah ich auf die dargebotene Dose, die er mir mit einem liebenswürdigen Lächeln hinhielt. Tja, kleine Mädchen lockt man eben mit Bonbons! Dankend lehnte ich ab und bemerkte, dass ich immer mehr zu frösteln begann. Außer einer Tasse Tee hatte ich ja wieder nichts Warmes in den Magen bekommen. Doch mehr kann ich mir beim besten Willen nicht leisten, mein Geld ist fast aufgebraucht. Ich hätte mir den Sonnenhut nicht kaufen dürfen, der bei dieser Wetterlage ohnehin überflüssig geworden ist. Abgesehen davon hätte ich mich auch gar nicht allein in ein richtiges Restaurant getraut.

Das eintönige Hin und Her der Scheibenwischer sowie das unaufhörliche Plattern des Regens aufs Verdeck ließen meine Lider immer schwerer werden, kaum dass ich Lackäffchens Worten noch folgen konnte, der locker daherplapperte, um mir die Scheu zu nehmen. Einlullen nennt man das. Und leider gelang es ihm. Mein Schlafmangel rächte sich zum ungünstigsten Zeitpunkt.

Would you fancy a nice cup of coffee?I can’t do without one in the afternoon. Irgendetwas ließ mich vermuten, dass er nicht aus England stammt, obwohl er das reinste Oxford English spricht, mit leichter Dehnung der Vokale, wie es hier im Süden des Landes üblich zu sein scheint. Ich höre dieses akkurate Englisch gern, das keinen einzigen Konsonanten am Wortende verschluckt. Nicht so wie die Franzmänner, die in ihrer Kehle drei Buchstaben auf einmal zu einem einzigen Laut vermengen und als undefinierbaren Klumpen wieder ausspucken. Außerdem weist die hiesige Sprachmelodie eine deutlich umfangreichere Tonleiter auf als die unsere. Wie monoton und hart im Vergleich dazu das Deutsche doch klingt. All das ging mir durch den müden Kopf, während ich seinen von einem vagen Lächeln umspielten Worten lauschte. Mein Blick wurde dabei immer wieder von seinem Grübchen am Kinn angezogen. Ich kann kaum fassen, dass ich so etwas überhaupt bemerkte und auch noch hier notiere!

Erst seine fragend gehobene Augenbraue machte mir bewusst, dass ich ihm noch keine Antwort auf seine Einladung zum Kaffee gegeben hatte. I am sorry but … stotterte ich und hatte vor, abermals mein imaginäres Tantchen vorzuschieben. Yes, please. It would be lovely! – Hatte ich das wirklich geantwortet? Ich muss völlig verrückt geworden sein!

 

Dieser Lackaffe verwirrt mich. Warum sonst habe ich etwas anderes gesagt – und getan – als beabsichtigt? Als Entschuldigung kann ich nur meine Müdigkeit anführen. Wieso aber habe ich dann so nebensächliche Dinge wahrgenommen wie seine Schuhe? Echte Dandy-Schuhe, zweifarbig, braun-weiß mit Lochmuster im Übergang – und diesmal tatsächlich aus Lack! Ich starrte auf sie, als er mir mit aufgespanntem Regenschirm die Wagentür aufhielt und mir beim Aussteigen behilflich war. Wie schaffte er es nur bei diesem Mistwetter, die Hosenbeine seines hellen Sommeranzugs frei von jeglichen Dreckspritzern zu halten?

 

Wir waren bei einem französischen Café angekommen. Es lag ein ganzes Stück außerhalb des Ortes, eingebettet in einem lauschigen, von Hortensien umsäumten Garten, in dem es von den Blättern nur so tropfte. Die Front war verglast, sodass wir den herrlichen Blick auf die blühenden Beete nicht zu entbehren brauchten. Der Garçon brachte ihm einen café noir und mir einen café au lait, dazu frisch gebackene Madeleines. Allein der Duft war überwältigend. Richtiger Kaffee mit noch warmem Gebäck!

Mein Dandy spricht übrigens perfektes Französisch – auch das noch!

Es sei vermutlich nicht gerade das, was dem Fräulein aus Germany vorschwebe, wenn es das Vereinigte Königreich besuche, aber die Nähe zu Frankreich könne man nun einmal nicht leugnen. Immerhin befänden wir uns hier an der fast engsten Stelle zum Kontinent.

Er plauderte ungezwungen und charmant. Er liebe diese kleinen versteckten Oasen. Die Ferienausflügler fänden hier so gut wie nie hin. Sie seien zufrieden mit dem Strand und der Promenade, den Spielhallen und Vergnügungspavillons. Er aber liebe das Abgeschiedene und Ursprüngliche. Es seien übrigens echte Franzosen, die das kleine Café hier betrieben, wahrscheinlich die Nachkommen irgendwelcher Schmuggler oder Piraten, ergänzte er augenzwinkernd, während ich mir ungeniert das französische Gebäck einverleibte.

Ich muss auf ihn wohl einen ziemlich ausgehungerten Eindruck gemacht haben. Ob die Frau Tante nicht gut für mich sorge?

Doch, doch, versicherte ich ihm, sie könne nur nicht mehr so lange am Herd stehen, darum schicke sie mich hin und wieder zum Essen holen in den Ort. Vielleicht auch, um ungestört ihren Mittagsschlaf halten zu können, fügte ich haspelnd hinzu.

Die Antwort rettete mich keineswegs. Er lud mich zum Abendessen ein. Keine Sorge, er würde sich natürlich zuvor die Erlaubnis der verehrten Frau Tante einholen.

Völlig perplex starrte ich ihn an. Dann zog ich die Notbremse. Ich glaube kaum, antwortete ich ihm, dass Tante Nelly mich mit einem wildfremden Mann ziehen lässt …

Da stutze er. Er bitte vielmals um Verzeihung, beeilte er sich zu erwidern, er habe nichts Unschickliches im Sinn. Es bereite ihm lediglich Freude, einer Touristin Schutz vor dem englischen Wetter zu bieten und ihr etwas Gesellschaft zu leisten. Und was das Wildfremde anbelange … Sinclair, Percival Theodore Sinclair, seine Freunde würden ihn Percy rufen. Dabei erfassten mich seine Meeresaugen mit einer Treuherzigkeit, die jegliche Zweifel mit einer einzigen Woge hinwegspülte. Schon zappelte ich im Netz.

Und nun? Wie sollte ich mich da wieder hinauswinden? Wie konnte ich jetzt noch ablehnen? Schlimmer: Wie sollte ich ihm meine nicht anwesende Tante erklären und meinen Wohnort geheim halten?

Ich errötete unter seinem Blick. Er sah zwar nicht aus wie ein Massenmörder oder Mädchenentführer, aber was heißt das schon? Er blieb ein Fremder, selbst wenn ich nun seinen Namen kannte.

Es tue ihm furchtbar leid, füllte er die Stille zwischen uns und legte mir betroffen seine Hand auf den Unterarm, es habe nicht in seiner Absicht gestanden, mich derart in Verlegenheit zu bringen. Er bitte aufrichtig um Verzeihung. Er werde mich sogleich nach Hause fahren. Und falls ich es mir anders überlegen sollte, so würde ich ihn im Palace Hotel finden. Ich bräuchte dort nur anzurufen und für Zimmer 107 eine Nachricht zu hinterlassen, dann werde er sofort kommen und mich abholen. Er werde rein vorsichtshalber einen Tisch für acht Uhr reservieren. Damit zückte er ein schwarzledernes Etui und reichte mir eine Visitenkarte des Hotels, in dem ich ebenfalls hätte absteigen sollen und in dem ich ihm eventuell sowieso über den Weg gelaufen wäre, sodass man bereits von Schicksal sprechen könnte. Unsere Wege sollten sich wohl kreuzen. Nur ob er in der Nobelunterkunft überhaupt auf mich aufmerksam geworden wäre, ist die Frage. Höchstens wegen meiner schäbigen Aufmachung, denn das Hotel ist für unsereins mindestens drei Nummern zu groß.

 

Jetzt sitze ich hier am wackligen Küchentisch mit knurrendem Magen. Draußen schüttet es immer noch wie aus Kübeln. Mir ist wieder fröstelig geworden, denn es ist klamm in der Bude. Daher könnte ich mir momentan nichts Schöneres vorstellen, als mit diesem charmanten und unverschämt gut aussehenden Engländer – oder Nichtengländer, völlig egal! – eine warme Mahlzeit einzunehmen. Wir wären in dem großen Hotel ja unter vielen Menschen, was soll also passieren? Außerdem ist er durch und durch ein Gentleman.

Die Versuchung ist groß. Sehr groß!

Ich müsste mich allerdings zuvor aufs Fahrrad schwingen und durch den strömenden Regen zur nächsten Telefonzelle radeln, um besagtes Telefonat zu tätigen. Die Vorstellung ist wenig verlockend, aber immer noch besser, als den restlichen Abend Kohldampf zu schieben und vollends durchzuklappern.

 

Ich werde es tun!

Ich werde ihn anrufen, zurückradeln, mich trocknen, und mein einziges Kostüm anziehen, das ich mitgenommen habe, denn eines der Sommerkleider wäre bei diesem Wetter und zu dieser Stunde unpassend. Und meine Dreiviertelröhre trage ich nun schon seit meiner Ankunft hier.

Er soll mich an der Stelle aufpicken, an der er mich vorhin abgesetzt hat. Denn darauf hatte ich bestanden und es rundweg abgelehnt, dass er mich unter seinem Regenschirm bis zum Haus geleitet. Mein Wunsch sei ihm Befehl, hatte er kleinbeigegeben und mich am Straßenrand mit einem Handkuss verabschiedet. Ganz schön old school mein gelackter Dandy.

 

Kurz nach Mitternacht

Zu Hause kam ich mir so chic vor in meinem rosa Jackie-Kennedy-Kostüm, dessen Jacke mit einem einzigen großen Knopf asymmetrisch geschlossen wird. Ich hatte es mir von meinen Ersparnissen zur Abschlussfeier an der Höheren Handelsschule gekauft. Sogar weiße Handschuhe hatte ich mir dazu geleistet und einen dieser modischen kleinen Hüte. Eigentlich trage ich den letzten Schrei! Meine sonst zum Pferdeschwanz gebundenen Haare hatte ich mir vorhin locker aufgesteckt und dazu einen seitlichen Audrey-Hepburn-Pony gekämmt. Warum auch nicht? Ich habe wie sie eine Knabenfigur, wie Mutti dazu sagt, wenn eine Frau nicht so viel Holz vor der Hütte hat wie sie selbst. Nur dass ich mit meinem Straßenköter-Blond und der Wischiwaschi-Augenfarbe aus einem Grüngraugelbgemisch nicht ganz so apart aussehe wie die brünette Audrey mit ihren großen dunklen Augen. Ich hatte sogar meine Perlenkette umgelegt, die ich von meiner Patentante zur Konfirmation geschenkt bekommen habe, und fand mich zusammen mit den weißen Pumps und der gleichfarbigen Handtasche ziemlich flott.

 

Das änderte sich jedoch schlagartig, als ich mit meinem „Rendezvous“ das Foyer des Palace Hotels betrat. Die dortige Damenwelt war in gedeckten Farben erschienen, die meisten in einem figurbetonten Etuikleid mit lässiger Jacke oder in einem schicken schwarzen Cocktailkleid. Zwischen ihnen nahm ich mich aus wie ein rosa Marzipanschweinchen. Mir brach augenblicklich der Schweiß aus und ich verfluchte mich dafür, dass ich die Abendeinladung angenommen hatte. Für so etwas bin ich einfach nicht ausgerüstet und musste es bisher auch nicht sein – schon gar nicht in dieser Preisklasse! Zum Glück trug Mr. Sinclair keinen Smoking wie die meisten dort anwesenden Herren, sondern „lediglich“ einen Nadelstreifenanzug, als wollte er den Standesunterschied zwischen uns nicht noch mehr betonen.

Ich hegte die Hoffnung, dass wir möglichst unbemerkt zu unserem Platz geleitet würden. Das Gegenteil war der Fall. Mr. Sinclair schien sämtlichen Gästen wohlbekannt zu sein, sie grüßten ihn von allen Seiten mit großer Ehrerbietung, wie mir schien, und nahmen seine Begleitung – also mich – genau unter die Lupe. Auf die neugierigen und überraschten Blicke erklärte Mr. Sinclair nonchalant, dass ich ein deutsches Fräulein auf Verwandtschaftsbesuch sei, das erste Mal im Vereinigten Königreich und sehr am britischen Lebensstil interessiert. Sofort entspannten sich die Mienen und schenkten mir ein nachsichtiges bis mitleidiges Lächeln. Mein Ausländerstatus erklärte und verzieh anscheinend einiges.

So viel Glanz und Eleganz wie in jenem Speisesaal kannte ich bisher nur aus Filmen. Wir wurden zu dem schönsten Tisch geleitet. Noch nie habe ich von so edlem Porzellan und mit so schwerem Tafelsilber gespeist, die Tischdecke war von einem geradezu beängstigenden Weiß. Trotz der höflichen Behandlung fühlte ich mich völlig fehl am Platz. Mr. Sinclair schien es zu bemerken. Hitze stieg mir ins Gesicht. Ich wäre am liebsten aufgestanden und weggelaufen, selbst wenn ich den ganzen Weg im strömenden Regen hätte zurücklegen müssen. Da legte er mir seine Hand auf die meine. Die Berührung tat gut. Ich atmete auf und versank in seinen Augen wie auf eine rettende Insel.

Er bestellte uns zwei Aperitifs, irgendwas in einem Cocktailglas mit einem kleinen grünen Ding auf einem Zahnstocher. Ich traute mich nicht nachzufragen, um was für einen Drink es sich handelte, ich wollte mir nicht noch mehr Blöße von Weltunerfahrenheit geben. Ob mir der Martini zusage, fragte er mich schmunzelnd. Er trinke ihn immer gerne mit einem Spritzer …, es folgte irgendwas Französisches. Oh ja, auch ich würde ihn so bevorzugen, beteuerte ich. Meine Antwort schien ihn prächtig zu amüsieren. Ich hätte ihn dafür schlagen mögen. Der Ober näherte sich unserem Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Panisch versenkte ich meinen Blick in die Speisekarte, deren Gerichte ich auf die Schnelle nicht zu identifizieren vermochte. Don’t worry, my little sunshine, raunte er mir zu und bestellte für uns beide.

 

Nach der Suppe wollte er endlich meinen Namen erfahren, den ich ihm bis dahin erfolgreich vorenthalten hatte. Er war nur zu höflich gewesen zu fragen, nachdem er sich mir heute Nachmittag in dem französischen Café offiziell vorgestellt hatte.

Doris, antwortete ich. Doris Ottensen, from Hamburg.

Er schien es mir abzunehmen. Warum auch nicht?

Wir hatten einen französischen Wein zum Essen. Und mit jedem warmen Bissen im Bauch – er hatte Traditional English Roastbeef mit Gartengemüse und Röstkartoffeln für uns bestellt – ging es mir besser. Der Wein wird auch einiges dazu beigetragen haben, schließlich bin ich nicht an Alkohol gewöhnt. Zu Hause trinken Mutti und ich nur zu Weihnachten ein Gläschen. Erben Spätlese.

Ich glaube, ich hatte einen Schwips. Jedenfalls wurde mir wunderbar leicht zumute, und je später es wurde, desto mehr konnte ich den Abend tatsächlich genießen. Die anderen Gäste, die hin und wieder zu unserem Tisch hinüberschielten, waren mir auf einmal schnuppe, ebenso mein Marzipanschweinchenkostüm, das ich beim Dessert mit warmem Schokokuchen vollkrümelte.

 

Bei der abschließenden Tasse Kaffee warfen die Kerzen auf unserem Tisch einen hellen Schimmer auf Mr. Sinclairs volles pomadisiertes Ebenholzhaar. Er nahm die Serviette, um sich die Mundwinkel zu tupfen, da fiel mein Blick auf seinen Fingerring. Es war nicht einer dieser üblichen Siegelringe, wie einige Herren sie passend zu ihren Manschettenknöpfen tragen. Es war ein Rubin in einer antiken Fassung, es muss ein sehr altes Schmuckstück sein.

Ein Familienerbstück, erklärte er, als er meinen Blick bemerkte. Er wisse nicht aus welchem Jahrhundert, auf jeden Fall sehr sehr alt.

Demnach komme er aus gutem Hause, erkundigte ich mich, was selten dämlich war, weil es offenkundiger ja nicht mehr ging. Gleich welchen Zwirn er trägt, er ist unverkennbar edel und teuer.

Wieso interessiert er sich überhaupt für ein so unscheinbares Ding wie mich? Aus purer Gastfreundschaft? So behauptet er jedenfalls. Er wolle, dass ich einen guten Eindruck von England mit nach Hause nähme. Sorry, für das Wetter könne er nichts. Aber alles andere versuche er mir so angenehm wie möglich zu gestalten. Weswegen er mich für den morgigen Tag auf einen Ausflug nach Canterbury einlade. Die Frau Tante müsse schon entschuldigen, aber er könne das Fräulein keinesfalls ziehen lassen, bevor es nicht die berühmte Kathedrale besichtigt habe – Sitz des Erzbischofs!

Ob es derselbe Ort sei, wo das gleichnamige Gespenst hause, wollte ich wissen, nicht wenig stolz auf meine Kenntnisse englischen Kulturgutes.

Ich sah ihn stutzen. Ich würde wohl Gespenstergeschichten lieben, stellte er belustigt fest. Nun, die Engländer – er sagte nicht: wir Engländer! – lieben sie auf jeden Fall. Schließlich gebe es von hier bis hinauf nach Schottland genug alte Burgen, Schlösser und Herrenhäuser, wo sie ihr Unwesen treiben könnten. Nur habe Oscar Wilde sein berühmtes Gespenst in Canterville spuken lassen, was ein altes Schloss sei, nicht in Canterbury.