Nie wieder schwach - Arne Kruse - E-Book

Nie wieder schwach E-Book

Arne Kruse

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Beschreibung

Diktaturen und Extremisten treten weltweit immer selbstbewusster und aggressiver auf. Ob Russland, die Volksrepublik China, Rechts- und Linksextremisten oder Islamisten: Sie alle lehnen Freiheit, Menschenrechte und Demokratie ab. Freie Gesellschaften versäumen es, erhobenen Hauptes für demokratische Grundwerte einzustehen. Ihnen fehlt die Klarheit im Umgang mit den Feinden der Freiheit. Sie verzetteln sich in ideologischen Grabenkämpfen. Sie setzen das Trennende vor das Verbindende. Das alles schwächt sie. Mit der Zivilisations-Formel wirbt Arne Kruse für eine selbstbewusste Leitkultur der Freiheit. Sein Buch ist Debattenbeitrag, Hymne und Lösungsvorschlag zugleich. Damit freie Gesellschaften stark sind – und nie wieder schwach. „Ich wollte ein Dafür-Buch schreiben. Ein Buch für Demokraten, die genug haben von Frust, Hass, Nörgelei und Spaltung. Ein Buch für einen intelligenten und wehrhaften Weg, Freiheit, Demokratie und Wohlstand zu erhalten.“

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Arne Kruse

Nie wieder schwach
Wie Demokratienmit der Zivilisations-Formelfrei und stark bleiben

Imprint

Copyright: © 2022 Arne Kruse

Wilhelm-Schech-Str. 20

76829 Landau

[email protected]

Lektorat: Isolde Kraml

Satz: Erik Kinting / buchlektorat.net

Covergestaltung: © Chris Gilcher / Buchcoverdesign.de

unter Verwendung von Adobe Stock ID 272688143

published by: tolino media GmbH & Co. KG, München

Vorwort

Keine Macht den Diktaturen und Extremisten. Das denke ich, wenn ich mir unsere Welt ansehe. Leider haben sie Macht! Das liegt nicht nur, aber auch an einer freien Welt, die schwach ist. Es ist daher mein tiefer Wunsch, dass die freie Welt innerlich und äußerlich stärker wird – und nie wieder schwach ist. Denn sie ermöglicht mir und allen ein Leben in Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. Diktaturen, ihre Regime und ihre unterdrückerischen Ideologien sollen keine Macht haben.

Während ich dies schreibe, bombardieren die Truppen Putin-Russlands die Ukraine und begehen schwere Kriegsverbrechen. Die Ukrainer stellen sich ihnen heldenhaft entgegen. Sie kämpfen für ihre Heimat und ihre Freiheit.

Auf einmal merken wir in Europa: Freiheit, Demokratie und Wohlstand sind keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil, eine Mehrheit der Menschen auf der Welt muss ohne sie leben. Ich wünsche mir, dass diese Errungenschaften erhalten bleiben, wo es sie schon gibt. Wo es sie nicht gibt, sollen sie zunehmen. Ich wünsche mir ebenso, dass Menschen in freien Gesellschaften selbstbewusst auftreten. Die Welt braucht das! Deswegen habe ich die Zivilisations-Formel verfasst.

Sie richtet sich an alle Menschen, insbesondere aber an solche, die in freien Gesellschaften leben oder dies tun wollen. Ich wollte ein Dafür-Buch zu schreiben. Ein Buch für Demokraten, die genug haben von Frust, Hass, Nörgelei und Spaltung. Ein Buch für einen intelligenten und wehrhaften Weg, Freiheit, Demokratie und Wohlstand zu erhalten.

Viel Spaß bei der Lektüre!

Ihr Arne Kruse

Einleitung

Wer „A“ sagt, muss auch „B“ sagen, heißt es oft. Aber stimmt das auch? Ich denke: Wer „A“ sagt, hat bereits wertvolle Arbeit geleistet. Es ist okay, wenn jemand anderes „B“ sagt. Unzählige engagierte und mutige Persönlichkeiten haben schon „A“ gesagt. Sie taten und tun es jeden Tag aufs Neue. In Deutschland, in Europa, weltweit – auf unterschiedlichste Art und Weise. „A“-Sager weisen auf Gefahren für freie Gesellschaften hin, die von Politik und Gesellschaft gerne verdrängt werden. Es würde den Rahmen des Buches sprengen, sie alle hier zu erwähnen. Ich beziehe mich auf viele von ihnen: Islamkritiker, Wissenschaftler, Aufklärer, Freiheitsdenker und Demokraten. „A“-Sager schlagen auch Lösungen vor, um Freiheit und Demokratie zu erhalten.

In ihren Lösungsvorschlägen fordern sie immer wieder das Gleiche: Freie und demokratische Gesellschaften müssen ihre Werte verteidigen. Sie müssen ohne Scheuklappen auf das blicken, was in ihnen und um sie herum passiert. Freie Gesellschaften benötigen eine offene Debatte darüber, was sie ausmacht, was sie zusammenhält, was sie stärkt und wo sie hinwollen. Alles muss auf den Tisch! Demokratisch und mit Respekt, aber auch deutlich.

Denn: Die freie Welt ist in Gefahr. Ob Russland, die Volksrepublik China, Rechts- und Linksextremisten oder Islamisten: Sie alle lehnen Freiheit, Menschenrechte und Demokratie ab. Sie sind Feinde der Freiheit. Sie treten weltweit immer selbstbewusster und aggressiver auf. Politik und Gesellschaft in freien Ländern versäumen es hingegen, erhobenen Hauptes und konsequent für demokratische Grundwerte einzustehen. Menschen in Demokratien haben meist viel zu wenig Selbstbewusstsein. Ihnen fehlt es an Klarheit im Umgang mit sich selbst und mit den Feinden der Freiheit. Sie verzetteln sich in ideologischen Grabenkämpfen.

Ich habe versucht, dem etwas entgegenzusetzen. Die Zivilisations-Formel ist das „B“. Sie fasst das in Worte, was freie Gesellschaften im Innersten ausmacht, zusammenhält und stärkt. Die Formel ist Basis von und Rezept für freie und wohlhabende Gesellschaften. Viele Menschen halten die aus unserer Gesellschaftsform resultierende Freiheit für selbstverständlich. Doch es ist unerlässlich, die zugrunde liegenden Werte dieser Freiheit in aller Deutlichkeit zu benennen.

Bassam Tibi und Hamed Abdel-Samad haben erklärt, worum es geht: um eine „aufgeklärte Leitkultur“. [1] Sie ist in der deutschen Verfassung bereits grob enthalten. Allerdings wird sie im öffentlichen Diskurs und im politischen Alltag oft sträflich vernachlässigt.

Die Zivilisations-Formel beschreibt eine Leitkultur, die von jedem akzeptiert werden kann. Deswegen nenne ich sie „inklusiv“. Ohne eine inklusive und selbstbewusst vertretene Leitkultur droht jeder Gesellschaft Spaltung und Zersplitterung. Hamed Abdel-Samad sagt, dass eine aufgeklärte Leitkultur die „Voraussetzung für eine gelungene Willkommenskultur“ ist. [2] Wir sollten seinen Rat beherzigen. In Deutschland werden jährlich Hunderttausende Babys geboren. Hunderttausende Kinder werden eingeschult. Hunderttausende junge Erwachsene starten ins Berufsleben und ins Studium. Sie sind die Menschen, die unsere Gesellschaft in Zukunft tragen, leiten und lenken werden. Hinzu kommen zehn- bis Hunderttausende Zuwanderer jedes Jahr. Lernen sie alle in der nötigen Klarheit, was unsere freie und humane Gesellschaft zu dem macht, was sie ist? Wird die Akzeptanz von zivilisatorischen Grundwerten eingefordert? Wird insbesondere jungen Menschen und Zuwanderern vorgelebt, was es heißt, Demokrat zu sein? Ich denke: Nein. Nicht in der nötigen Klarheit!

Wenn freie Gesellschaften sich dauerhaft gegenüber Diktaturen und Extremisten behaupten wollen, wenn Nachwuchs und Einwanderung freie Gesellschaften dauerhaft stärken sollen, – dann müssen sowohl jene, die kommen, als auch die aufnehmenden Gemeinschaften Grundlegendes beherzigen. Hiervon handelt dieses Buch.

Meine Gedanken zum Thema habe ich in eine kleine Geschichte verpackt. Diese entfaltet sich in Form eines Dialogs zwischen zwei Menschen: Ein junger Student der Politikwissenschaften ­­– er heißt Erik – interviewt die ehemalige Dozentin und Deutsch-Taiwanesin Isabelle Wang, nachdem sie ihn dafür beauftragt hat. Sie möchte die Zivilisations-Formel zu Papier bringen.

Sie können die folgenden zehn Kapitel einfach von vorne bis hinten durchlesen. So erhalten Sie das ganze Bild. Es ist aber auch möglich, einzelne Kapitel zu überspringen und die Zivilisations-Formel als Nachschlagewerk zu betrachten. Jedes Kapitel hat ganz eigene Schwerpunkte:

Im ersten Kapitel lernen Sie Frau Wang kennen: Eine resolute Frau, die weiß, worauf es im Leben ankommt. Kapitel 2 beschreibt, was Zivilisation ausmacht und was die freie Welt überhaupt ist. In Kapitel 3 geht es darum, was Selbstverantwortung, Liebe und Vernunft mit einer freien Gesellschaft zu tun haben. In Kapitel 4 erklärt Frau Wang die Grundlagen einer freien Gesellschaft: Die Freiheit, ihre Grundpfeiler und ihre Widersacher. Kapitel 5 beleuchtet das Thema Frauenrechte mit einem kritischen Blick auf die islamische Tradition – ein brisantes Thema und dennoch lösbar. In Kapitel 6 finden Sie erhellende und befriedende Standpunkte zum demokratischen Miteinander. Kapitel 7 enthält Tipps für mehr Gemeinsinn und weniger Spaltung – ein Thema, das täglich dringlicher wird. Kapitel 8 verrät Ihnen die Vorteile und Geheimnisse der Marktwirtschaft. Denn: ohne Moos nix los. Kapitel 9 dringt auf Grenzen setzen. Gerade in Zeiten von Angriffskriegen ist das brandaktuell. Kapitel 10 liefert schließlich das Rüstzeug, um selbstbewusst für Freiheit einzutreten in einer Welt, die uns von sich aus nichts schenkt, aber unseren Mut und unsere Einsatzkraft reichlich belohnt.

Ich wünsche Ihnen nochmals viel Vergnügen!Los gehts!

Wer ist Frau Wang?

Isabelle Wang

Der Student schaute auf das Klingelschild an der Mauer: „Isabelle Wang“ stand da. Er hatte auf eine Job-Annonce am Schwarzen Brett seines Instituts geantwortet und war auf dem Weg zum ersten Treffen. „Nebenjob zu vergeben: Interviewer für ein Buchprojekt über Zivilisation gesucht. Bezahlung nach Vereinbarung. Bitte telefonisch melden. Isabelle Wang“ lautete der Text. Der Student hatte angerufen und den Job auf Anhieb bekommen. „Hier wohnt also die exzentrische Alte“, dachte er. Neben dem Namen war das Symbol eines Drachen zu sehen. Zwischen der Mauer und dem Häuschen dahinter erstreckte sich ein Garten. Er war nach japanischem Muster angelegt. Vor dem Häuschen befand sich eine kleine Terrasse. Sie grenzte an einen Teich. Dort standen Gartenstühle und ein kleines Tischchen. Auf einem Stuhl saß eine immer noch attraktiv wirkende Frau mittleren Alters mit asiatischen Gesichtszügen und telefonierte. Ihre Haare waren blau. „Scheiß auf die AfD, darum geht es doch nicht gerade!“, schrie sie und gestikulierte dabei wild mit ihren Händen.

Frau Wang war kein unbeschriebenes Blatt. Der Student wusste, dass sie ein bewegtes Leben hinter sich hatte. Sie wurde in Taipeh als Kind eines Diplomatenpaares geboren. Ihr Vater stammte aus Taiwan, ihre Mutter aus den Vereinigten Staaten. Ihre Kindheit und Jugend hatte sie in verschiedenen Staaten in Asien und Europa verbracht. Dazu zählten unter anderem Israel, Iran und Dänemark. Studiert hatte sie in den USA und in der Volksrepublik China.

Das war fast 30 Jahre her. Seitdem lebte sie in Deutschland. Frau Wang hatte früher eine Zeit lang als Dozentin am Institut für Politikwissenschaften gearbeitet. Das war, bevor sie in den Augen der Öffentlichkeit „verrückt“ geworden war. Sie habe eines Tages plötzlich alles hingeschmissen, erzählte man sich am Institut. Ihr damaliger Ehemann war Chefredakteur der überregionalen Tageszeitung gewesen. Frau Wang hatte ihm per Leserbrief energisch auf seinen Leitartikel zur Flüchtlingspolitik widersprochen. Kurz darauf ließ sie sich scheiden. Es folgte eine Wut-Vorlesung, nach der sie das Institut verließ. So wurde sie zum Stadt- und Campusgespräch. Von da an ist sie nur noch um die Welt gereist. Ihre Haare hat sie sich erst blond und dann blau gefärbt. Sie hat eine Weile in einem Zen-Kloster in Frankreich gelebt. Später heiratete sie eine Social-Media-Influencerin aus Polen. Am Institut des Studenten titulierten sie manche als „Nazi-Lesbe“ und „Rechtspopulistin“. All das und noch einiges mehr hatte der Student über Frau Wang gehört.

Im Garten von Frau Wang standen Skulpturen aus aller Herren Länder. Der Student erblickte auf die Schnelle zwei Miniatur-Freiheitsstatuen. Eine schien eine Nachbildung der Statue aus New York zu sein. Die andere ähnelte dieser, trug aber keine Krone. Neben dem Teich sah er eine Nachbildung der Meerjungfrau aus Kopenhagen. Er erblickte außerdem eine steinerne Statue, die den Schriftzug „Al-Lat“ im Sockel eingraviert hatte.

„Hallo junger Mann!“ Frau Wang winkte dem Studenten zu. „Schön, dass Sie gekommen sind. Sie haben Mut! Ich weiß, was die Leute über mich erzählen. Hören Sie nicht auf die! Die haben keine Ahnung! Bitte setzen Sie sich doch. Hier! Möchten Sie einen Tee trinken? Ich bin Isabelle Wang. Und Sie sind Erik, oder?“ Der Student wusste nicht so recht, was er ob der Direktheit seiner Auftraggeberin sagen sollte. Er setzte sich zu Frau Wang auf den freien Stuhl und trank etwas Kräutertee. „Ja, mein Name ist Erik. Guten Tag, Frau Wang.“ Diese fuhr unmittelbar fort.

Kennenlernen

Frau Wang: Ich erzähle Ihnen am besten gleich, wie ich mir die Sache vorstelle. Also: Wir beide werden uns unterhalten. Ihr Job ist es, Fragen zu stellen. Mein Job ist es, zu antworten. Das Gespräch zeichne ich auf. So weit, so einfach. Später will ich das Ganze als Buch veröffentlichen. Alles klar?

Erik: Ja, alles klar. Wonach genau soll ich Sie denn fragen? Sie sagten etwas von Zivilisation und Freiheit am Telefon.

Frau Wang: Sie fragen mich nach der Zivilisations-Formel und ich werde Ihnen antworten. Okay?

Erik: In Ordnung. Soll ich irgendetwas beachten?

Frau Wang: Ja. Ich würde das Ganze gerne strukturiert aufziehen. Also fragen Sie mich bitte zuerst nach den Faktoren der Zivilisations-Formel. Die teile ich Ihnen dann in Kurzform mit. Dann haben Sie schon mal einen Überblick. Machen Sie sich gerne Notizen. Und dann stellen Sie bitte Fragen über Zivilisation an sich, um danach jeden Faktor einzeln durchzugehen. Verstanden? Seien Sie ganz natürlich! Entspannen Sie sich! Wir schauen einfach, wie sich das spontan entwickelt. Sie studieren doch Politik, oder? Dann sollte unser Gespräch schnell in Fahrt kommen.

Erik: Ich werde mein Bestes geben ...

Frau Wang: Das weiß ich zu schätzen! Haben Sie noch weitere Fragen?

Erik: Ja, also, es ist mir unangenehm, das anzusprechen, – bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Sie das frage, – aber an meinem Institut gibt es Leute, die bezeichnen Sie als „Nazi-Lesbe“ und „Rechtspopulistin“. Woher kommen die Vorwürfe? Was sagen Sie dazu?

Frau Wang: Tja. Ich kann nicht in die Köpfe der Leute reingucken, die so etwas erzählen. Ich weiß nur, dass diese Art des Umgangs einer der Gründe für mich war, die Zivilisations-Formel zu entwickeln. Ich habe während der Flüchtlingskrise im Jahr 2016 meinem Ex-Mann widersprochen. Davon haben Sie sicherlich schon gehört. Er war Chefredakteur unserer Tageszeitung und als solcher ein Befürworter offener Grenzen. Ich lehne offene Grenzen ab. Es kam zum Streit zwischen uns. Soweit, so normal. Er hat mir dann gesagt, ich könne ja einen Leserbrief an seine Zeitung schreiben. Das habe ich dann auch getan. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Ich tat das in einer Weise, die ihm nicht gefiel! Auch viele Leute an Ihrem Institut teilten meine Meinung nicht. Sie beschimpften mich in diversen E-Mails. Einige demonstrierten sogar gegen mich. Und dann waren da meine ehemaligen Kollegen, die sich einfach weggeduckt haben, anstatt mich zu verteidigen. Mir war das zu blöd. Deswegen habe ich in meiner letzten Vorlesung Tacheles gesprochen. Danach habe ich gekündigt. Alles zusammen war wohl der Anlass dafür, dass Leute an Ihrem Institut so über mich reden.

Erik: In Ordnung. Ist nun etwas dran an den Vorwürfen gegen Sie? Vertreten Sie extremistische Ansichten?

Frau Wang: Nein, natürlich nicht. Ich tat es nie und werde es nie tun. Sie werden das im Laufe unseres Gesprächs hoffentlich erkennen. Allerdings liebe ich eine Frau. Ich hoffe, damit kommen Sie klar.

Erik: Äh … ja, kein Problem. Wie verdienen Sie denn nun Ihren Lebensunterhalt?

Frau Wang: Ich bin Motivationstrainerin, Moderatorin für Großgruppen-Events und Tai-Chi-Lehrerin. Ich rede also viel und gerne. Ich unterstütze Organisationen dabei, an einem Strang zu ziehen. Ich helfe Menschen, mit sich und ihrer Umwelt in Einklang zu sein.

Erik: Wie passt das mit Ihrem Interesse für Politik zusammen?

Frau Wang: Das ist eine gute Frage. Mir wurde schon früh bewusst, dass ich ohne vernünftige Politik nicht tun kann, was ich liebe. Und das gilt ja für alle Menschen. Ich habe in freien Ländern gelebt, in unsicheren Ländern und in Diktaturen. Ich kenne die Unterschiede. Ich weiß, was es bedeutet, wenn der große Rahmen Tyrannei ist und nicht Freiheit.

Erik: Woran glauben Sie?

Frau Wang: Ich glaube daran, dass jeder Mensch ohne Ausnahme einzigartige Fähigkeiten und Talente besitzt. Ich glaube an Lebensfreude, Freiheit, Sport, Liebe und Vernunft. Ich glaube daran, dass Menschen lernfähig sind. Ich glaube daran, dass das Glück in uns liegt. Reicht Ihnen das?

Erik: Also sind Sie nicht religiös?

Frau Wang: Eher nicht. Aber alle sollen von mir aus glauben, was sie wollen. Hatten Sie etwas anderes erwartet?

Erik: Ich habe gehört, Sie hätten mal in einem Zen-Kloster gelebt. Also dachte ich, Sie wären Buddhistin. Sind Sie Buddhistin?

Frau Wang: Sagen wir es so: Ich interessiere mich für vieles. Vor allem für Dinge, die mich und andere glücklicher machen. Ich habe auch schon christliche Veranstaltungen besucht. Macht mich das zu einer Christin? Ich betrachte mich einfach als Frau und Bürgerin und nicht als Buddhistin, Christin oder Atheistin. Ich halte Religion für eine nette Privatsache. Mit ihnen möchte ich über Politik sprechen.

Erik: Dann können wir von mir aus mit der Zivilisations-Formel beginnen.

Frau Wang: Gut! Vorab hab‘ ich noch was für uns beide. Das ist so eine Marotte von mir. Hier, nehmen Sie das.

Frau Wang reicht Erik und sich selbst jeweils einen Glückskeks, den sie selbst gebacken hat. Auf dem Zettelchen von Erik steht: „Hake nach!“. Frau Wang liest auf ihrem Zettelchen: “Hau es raus!“.

Frau Wang: Was sagen Sie zu Ihrem Spruch? Ich finde meinen Klasse!

Erik: (lacht) Ich werde dann mal nachhaken.

Frau Wang: Super! Und ich haue es raus!

Die Zivilisations-Formel: Worum es geht

Was ist die Zivilisations-Formel?

Erik: Frau Wang, bitte erklären Sie mir: Was ist die Zivilisations-Formel?

Frau Wang: Junger Mann, hören Sie gut zu! Ich möchte dies nicht zweimal sagen. Eine Gesellschaft, die frei bleiben will oder frei werden will, muss die Zivilisations-Formel befolgen. Sie ist die Grundlage für Freiheit, Demokratie und Wohlstand. Die Zivilisations-Formel ist die Lösung für die größten Probleme menschlicher Gesellschaften. Sie besteht aus sieben Faktoren.

Erik: Okay. Wie lautet die Zivilisations-Formel?

Frau Wang: Selbstverantwortung, Liebe und Vernunft sind Faktor Nummer eins. Individuelle Freiheit als höchster Wert und höchstes Ziel ist Faktor Nummer zwei. Freie Frauen und Mädchen sind Faktor Nummer drei. Viertens folgt die demokratische Grundhaltung, fünftens die säkulare Bürger-Identität, sechstens Marktwirtschaft und der siebte Faktor sind Grenzen. Zusammen bilden sie die Grundpfeiler für Freiheit, Demokratie und Wohlstand. Das ist die Zivilisations-Formel. Sie ermöglicht Zivilisation.

Erik: Was für eine Bürger-Identität war das? „Sekular“? Das Wort kenne ich nicht.

Frau Wang: Die säkulare Bürger-Identität. Mit „ä“. Säkular heißt verweltlicht im Gegensatz zu religiös. Ich erkläre Ihnen die Details gerne später!

Erik: Ach so, ok! Wie sind Sie auf die Formel gekommen?

Frau Wang: Sie ist über die Jahre in meinem Geist entstanden, – aber ohne dass ich sie als eine Formel erkannt hätte. Die Aufenthalte in Diktaturen und Demokratien haben meine Sinne geschärft. Ich habe mich schon immer für Politik interessiert. Mir ist aufgefallen, dass sowohl Wissenschaftler als auch Politiker, Journalisten und viele „normale“ Bürger die Formel oder Teile von ihr missachten. Das wurde mir immer dann besonders klar, nachdem ich aus unfreien Ländern zurück in freie Gesellschaften kam. Das ganze Theater um die Flüchtlingskrise hat mich dann in meinem Vorhaben bestärkt, einfach mal aufzuschreiben, wie die Dinge meiner Meinung nach politisch sind und sein sollten. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat mich final in meinen Überlegungen bestätigt. Sie helfen mir dabei, das zu Papier zu bringen!

Inspirations-Formel und Dafür-Botschaft

Erik: Ich versuche es. Bitte erklären Sie mir jetzt: Warum und wofür braucht es die Zivilisations-Formel?

Frau Wang: Es ist völlig klar, warum und wofür es sie braucht. Menschen in freien Gesellschaften haben zu wenig Selbstbewusstsein, zu viel Angst und wissen zu wenig über sich selbst. Daraus resultieren jede Menge Probleme. Die Zivilisations-Formel ändert das. Sie ist eine Inspirations-Formel für freie Menschen und Gesellschaften – und für solche, die es werden wollen.

Erik: Welche Probleme meinen sie?

Frau Wang: Die Kräfte der Freiheit dürfen nicht schwach sein. Das sind sie aber! Schauen Sie doch, wie es heute auf der Welt zugeht. Egal, wo Sie hinsehen: Gesellschaftliche Spaltung und Konflikte nehmen in demokratischen Ländern zu. Es gibt Probleme mit der Integration ganzer Bevölkerungsgruppen. Einige Diktaturen werden reicher und mächtiger, viele Demokratien ärmer. Russland überfällt die Ukraine! Populisten, schrille Töne, apokalyptische Hysterie, ideologisch agierende Fundamentalisten und Extremisten haben in freien Gesellschaften Auftrieb. Es wird Hass verbreitet, moralisiert und gemeckert. Vernünftige und nüchterne Ansätze haben es schwer. Die Ursache ist, dass die Zivilisations-Formel nicht oder nicht genügend befolgt wird. Daraus folgt, dass Freiheit, Demokratie und Wohlstand abnehmen – oder sich gar nicht erst entwickeln. Ich will dem entgegenwirken. Deswegen habe ich die Zivilisations-Formel entwickelt. Sie soll all jene bestärken, die die Freiheit lieben. Sie ist die Lösung für unsere größten Probleme und Herausforderungen. Und sie ist eine Dafür-Botschaft.

Erik: Was meinen Sie mit Dafür-Botschaft? Wofür ist sie?

Frau Wang: Ich trete ein für Freiheit, für Demokratie und für Wohlstand. Für den Lebensstil, wie er in der westlichen und sonstigen freien Welt mittlerweile Usus ist. Für individuelle Menschenrechte. Für das Grundgesetz, wie wir es in Deutschland kennen. Für den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Für den liberalen Rechtsstaat. Für eine weltoffene Gesellschaft, in der jeder frei und sicher leben kann – so, wie es ihm oder ihr gefällt. Für den Lebensstil der freien Welt. Ich trete ein für eine Leitkultur der Freiheit. Ich werbe für die rechtsstaatliche, säkulare und wehrhafte Demokratie. Ich nenne diese Umstände Zivilisation. Und das, was sie ermöglicht und erhält, ist die Zivilisations-Formel. Ich nenne sie eine Dafür-Botschaft, weil sie sich auf das fokussiert, was freie Gesellschaften ausmacht und am Leben hält.

Erik: Wen meinen Sie mit „freien Gesellschaften“?

Frau Wang: Alle freien Gesellschaften dieser Welt.

Erik: Vielleicht bleiben wir erst mal hier in Deutschland. Es gibt bereits Institutionen, die für Demokratie und Grundgesetz werben. Es gibt zum Beispiel die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung. In den Schulen wird in mehreren Fächern vermittelt, was Freiheit und Demokratie ausmachen. Parteien und Politiker werben regelmäßig für unsere Grundwerte. Auch die meisten Medien und Journalisten sprechen sich für die Demokratie aus. Wo liegt Ihrer Meinung nach das Problem? Warum braucht es Ihre „Dafür-Botschaft“?

Frau Wang: Sie stellen gute Fragen! Weiter so! Ich habe erstens den Eindruck, dass viele Menschen in freien Gesellschaften sich auf das „Dagegen“ fokussieren. Das ist zwar auch wichtig, aber es reicht nicht! Für viele Menschen ist das Glas ständig halb leer. Einige schütten das Kind mit dem Bade aus. Sie übertreiben. Andere verharmlosen gefährliche Entwicklungen. Allgemein fehlt der Fokus auf das, wofür man eintritt. Zweitens habe ich nicht den Eindruck, dass all das, was es zum Beispiel an politischer Bildungsarbeit schon gibt, ausreicht. Viel Gutes ist dabei. Aber es erreicht nicht alle Menschen. Wissenschaftler zum Beispiel drücken sich oft unverständlich aus. Ich war selbst mal Wissenschaftlerin. Ich weiß, wovon ich spreche! Politiker verhalten sich oft parteiisch und angepasst. Medien bauschen auf, sind an Klicks interessiert oder wollen erziehen. Unserer Gesellschaft und den Menschen in ihr mangelt es an Selbstbewusstsein. Um das alles zu ändern, oder sagen wir besser – positiv zu beeinflussen, – braucht es eine klare, deutliche und kompakte Dafür-Botschaft!

Erik: Warum gibt es Ihrer Meinung nach einen „Dagegen-Fokus“ und zu wenig Selbstbewusstsein?

Frau Wang: Es scheint so zu sein, dass Menschen mit den besten Bedingungen oft nicht sehen, wie gut ihre Umstände sind. Sie erleben ihre Umstände als selbstverständlich, als normal. Das ist tragisch! Denn gute Bedingungen sind in der Regel etwas sehr Kostbares und hart Erkämpftes. Sie sind überhaupt nicht selbstverständlich. Das ist nur nicht immer sofort sichtbar.

Was bedeutet Zivilisation?

Erik: Bitte erklären Sie, was genau Sie mit den guten Bedingungen meinen, die Sie Zivilisation nennen. Wie äußert sich Zivilisation ganz praktisch?

Frau Wang: Was haben Deutschland, die Vereinigten Staaten von Amerika, Australien und Kanada gemeinsam? Was haben Neuseeland, Japan, Litauen und Chile gemeinsam? Was haben Polen, Israel, Finnland, Taiwan und Italien gemeinsam? Es gibt vieles, was diese Länder voneinander unterscheidet. Sprache, Kultur, Religion, Geschichte, Geografie, ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung, Sitten und Gebräuche. Und doch gibt es einige zentrale Aspekte, die sie gemeinsam haben. Menschen, die in diesen Ländern leben, sind grundsätzlich frei. Sie dürfen glauben, woran sie wollen. Sie dürfen wählen, wen sie wollen. Sie dürfen lieben, wen sie wollen. Sie dürfen so leben, wie sie wollen. Wenn Sie die Polizei rufen, hilft sie Ihnen und nicht den Gangstern, die Sie bedrohen. Diese Länder sind demokratisch, entwickelt und relativ wohlhabend. Das meine ich mit Zivilisation. Freiheit, Demokratie und Wohlstand sind zentrale Merkmale von Zivilisation. Ich behaupte nicht, dass in all den oben genannten Ländern alle Aspekte von Freiheit, Demokratie und Wohlstand perfekt verwirklicht sind. Das ist sicher nicht der Fall! Es gibt immer Defizite. Dennoch sind diese Gesellschaften im Vergleich zu vielen anderen Ländern der Welt äußerst zivilisiert.

Erik: Ist das Ihre persönliche Definition von Zivilisation?

Frau Wang: Ja. Mir ist bislang noch kein besserer Begriff dafür eingefallen. Natürlich gibt es andere Definitionen von Zivilisation.

Erik: Zum Beispiel?

Frau Wang: Der Begriff Zivilisation wird oft als Synonym für Kultur, Kulturraum oder Kulturkreis verwendet: Demnach gab es früher sumerische, ägyptische oder römische Zivilisationen. Heute gibt es westliche, islamische und konfuzianische Zivilisationen, um nur einige zu nennen. Samuel Huntington hat in seinem Buch „Clash of Civilizations“, zu Deutsch „Kampf der Kulturen“, darauf Bezug genommen.

Erik: Ich kenne das Buch. Das ist aber nicht das Verständnis, das Sie meinen, oder?

Frau Wang: Nein. Ich fasse den Begriff Zivilisation weiter: Meine Definition von Zivilisation meint einfach ein Mindestmaß an Freiheit, Demokratie und Wohlstand – unabhängig davon, in welchem Kulturraum dies verwirklicht wird. Zivilisation kann nach meinem Verständnis überall verwirklicht werden. In jeder Kultur. Sie ist damit suprakulturell.

Erik: Ich habe den Begriff Zivilisation als Gegenteil von Wildnis kennengelernt.

Frau Wang: Ja. Zivilisation bedeutet demnach von Menschen gebaute und bereitgestellte Infrastruktur. Dazu zählen solide Gebäude im Gegensatz zu Strohhütten oder Jurten. Dazu zählen Strom, fließend Wasser, Heizung, befestigte Straßen, ein funktionierendes Gesundheitssystem und W-Lan. „Ohne Zivilisation“ zu sein bedeutet dann, dass man als Mensch in der Natur auf sich gestellt ist. Haben Sie das schon erlebt, zelten in der Wildnis?

Erik: Klar. Jetzt fällt mir noch der Gegensatz von Zivilisation und Barbarei ein ...

Frau Wang: Genau! Zivilisierte Menschen gehen „gesittet“ miteinander um. In Streitfällen argumentieren sie oder nehmen sich einen Anwalt. Barbaren hingegen setzen die Fäuste oder Schlimmeres ein. Dazu passt der Ausspruch: „Derjenige, der zum ersten Mal anstelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation.“ Zivilisation bedeutet nach diesem Verständnis „kultiviert“. Aber wie ich schon sagte: Wenn ich von Zivilisation spreche, meine ich das, was Menschen in der sogenannten freien Welt heute erleben und bereitstellen: ein Mindestmaß an Freiheit, Demokratie und Wohlstand. Gegen kultiviertes Auftreten und W-Lan habe ich natürlich nichts einzuwenden!

Wer ist die freie Welt?

Erik: Wer zählt denn zur freien Welt aus Ihrer Sicht? Für Sie scheint dies ganz klar zu sein.

Frau Wang: Na klar ist das klar! Passen Sie auf, dass Sie kein verkopfter Mensch an der Uni werden. Sie benötigen Ausgleich. Machen Sie Sport? Haben Sie eine Freundin? Ihre wertvollste Gabe ist die gesunde Vernunft, merken Sie sich das. Aber zurück zum Thema. Zur freien Welt zählt die „westliche Welt“, aber nicht nur. Ich hatte Ihnen eben schon ein paar Staaten genannt.

Erik: Wer gehört noch dazu?

Frau Wang: Auf der Erde leben aktuell rund 7,8 Milliarden Menschen in 206 Staaten. [3] Bitte nageln Sie mich jetzt nicht auf die Zahlen fest. Also: Nur 20 Prozent der Erdbewohner – das sind ca. 1,56 Milliarden Menschen – leben in Staaten, die als politisch frei gelten, in denen also liberale Demokratien existieren. So berichtet es die Nichtregierungsorganisation Freedom House in ihrem Jahresbericht 2021. [4] Schauen Sie sich mal deren Webseite an. Die Anzahl der als frei eingestuften Länder sinkt leider seit Jahren.

Erik: Und was ist mit dem Wohlstand?

Frau Wang: Der Status „Liberale Demokratie“ sagt noch nichts darüber aus, wie entwickelt und wohlhabend diese Gesellschaften sind. Den Wohlstand und das Entwicklungsniveau von Staaten misst unter anderem der Human Development Index, abgekürzt HDI. Laut HDI zählen 66 Staaten zu den am höchsten entwickelten Ländern der Welt. [5] Die Länder mit den höchsten HDI-Werten liegen größtenteils in Nord-Amerika, Europa, Australien und Ostasien.

Erik: Was sagt das aus?

Frau Wang: Das Besondere ist: Wenn man beide Karten übereinanderlegt, – die von Freedom House zum Freiheitsgrad und die der Vereinten Nationen zum Index der menschlichen Entwicklung, – dann stellt man fest, dass die entwickeltsten Länder der Welt gleichzeitig liberale Demokratien sind. Ausnahmen wie Saudi-Arabien bestätigen die Regel.

Erik: Und was bedeutet das?

Frau Wang: Das heißt mit anderen Worten: Weniger als 20 Prozent der Weltbevölkerung leben in Staaten und Regionen, die politisch frei und zugleich wohlhabend sind. Deutschland ist eines dieser Länder. Im Gegensatz dazu lebt die Mehrheit der Menschen unter Bedingungen, die entweder bescheidener oder unfreier sind – meistens jedoch beides.

Erik: Ich verstehe. Gibt es Ausnahmen?

Frau Wang: Verstehen Sie das wirklich? Natürlich gibt es Ausnahmen. Es gibt regionale und lokale Ausnahmen: Auch in weniger entwickelten und undemokratischen Staaten gibt es Menschen, die unter Bedingungen leben, die denen in freien und entwickelten Ländern ähneln. Das können Angehörige bestimmter Gesellschaftsschichten sein. Denken Sie an Diplomaten. Oder es gibt vielleicht Regionen oder Städte, die im Vergleich zum Rest des Landes freier und wohlhabender sind. Genauso gibt es in den freien Ländern dieser Welt Menschen, die nicht das gleiche Maß an Freiheit und Wohlstand erleben, wie der Rest der Gesellschaft.

Erik: In freien Ländern gibt es Menschen, die unfrei sind? Dass es Arme gibt, leuchtet mir ein. Aber unfreie Menschen? Die Sklaverei wurde abgeschafft. Das Grundgesetz gilt für alle Menschen. Wen meinen sie?

Frau Wang: Sie haben gut aufgepasst in der Schule. Ich denke dabei vor allem an Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, deren familiäres und soziales Umfeld intolerant gegenüber ihrer persönlichen Freiheit eingestellt ist. Sie leben zwar in einem freien Land, erleben jedoch die Diktatur ihres sozialen Milieus.

Erik: Wie kann die Zivilisations-Formel diesen jungen Menschen helfen?

Frau Wang: Wenn Eltern, Verwandte und das soziale Umfeld akzeptieren, dass Kinder freie menschliche Wesen sind, die ein Recht auf ihr eigenes Leben und Lieben haben, würde das Kindern enorm helfen.

Erik: In Ordnung. Bevor wir da jetzt tiefer einsteigen, beginnen wir am besten mit den sieben Faktoren. Als ersten Faktor der Zivilisations-Formel haben Sie Selbstverantwortung, Liebe und Vernunft genannt. Ist es in Ordnung, wenn wir dort weitermachen?

Frau Wang: Einverstanden! Ich bin ganz begeistert von Ihrer Fragetechnik. Man könnte fast meinen, Sie machen das öfter. Und Sie lassen sich auch nicht von meinen Kommentaren aus der Fassung bringen. Ich schlage vor, dass wir morgen weitermachen.

Erik: In Ordnung! Bis morgen, Frau Wang!

Selbstverantwortung, Liebe und Vernunft – die Grundbedingungen

Frau Wang und Erik sitzen auf der Terrasse. Auf einem kleinen Tisch zwischen ihnen steht eine lächelnde Buddhafigur. Es gibt Kräuter-Tee und frisches Obst.

Selbstverantwortung statt Ohnmacht

Erik: Warum ist Selbstverantwortung ein Faktor der Zivilisations-Formel?

Frau Wang: Weil Menschen ununterbrochen ihre soziale Lebenswirklichkeit erschaffen. Von nichts kommt nichts. Von etwas kommt etwas. Eigentlich ganz logisch! Selbstverantwortung beginnt damit, zu akzeptieren, dass weder Gott, der Zufall noch andere Mächte unsere Realität erschaffen. Wir Menschen machen das selbst. Der Einzelne ist verantwortlich für sein Handeln. Gesellschaften sind verantwortlich für ihr Handeln. So einfach ist das! Menschliche Gesellschaften unterscheiden sich. Manche sind frei, manche sind unfrei. Manche sind arm, manche sind wohlhabend. Warum? Die Antwort darauf ist fundamental wichtig. Sie lautet: Wer Äpfel sät, erntet Äpfel. Wer Birnen sät, erntet Birnen. Das Prinzip dahinter heißt Ursache und Wirkung. Merken Sie sich das gut.

Erik: Was bedeutet das für die Zivilisation?

Frau Wang: Wer glaubt, dass sich die Welt natürlicherweise in Richtung Freiheit, Demokratie und Wohlstand entwickelt, der irrt. Freie Gesellschaften gibt es, weil Menschen sich dafür eingesetzt haben und es immer noch tun. Unfreie Gesellschaften gibt es, weil Menschen dort andere Ideen als Freiheit verfolgen. Oder anders gesagt: In unfreien Gesellschaften herrschen andere Prioritäten. Freiheit hat eine Ursache – genau wie Unfreiheit. Die Ursache für Freiheit ist, dass Menschen sich kollektiv für sie einsetzen. Und zwar auf eine Weise, die Freiheit tatsächlich ermöglicht und erhält. Wer über Jahrhunderte trotz katastrophaler Rückschläge immer wieder für Freiheit und Demokratie eintritt; wer diese Werte immer wieder lebt und danach strebt, – der erntet irgendwann Freiheit und Demokratie.

Erik: Sie meinen also, dass Gesellschaften selbst dafür verantwortlich sind, wie sie beschaffen sind?

Frau Wang: Ganz genau! Sie sind selbst für ihre Situation verantwortlich. Wer sollte es sonst sein?

Erik: Vielleicht andere Gesellschaften? Andere Länder? Was ist, wenn zum Beispiel Länder oder Regionen von anderen Staaten militärisch erobert werden und die vor Ort ansässigen Menschen unterdrückt werden? Sind sie auch dafür selbst verantwortlich? Das kommt doch immer wieder vor.

Frau Wang: Selbstverantwortung gilt immer und überall. Ihr Beispiel ist ein Extrembeispiel. Die unterdrückten Menschen sind natürlich nicht verantwortlich für das Handeln der fremden Macht. Sie sind aber verantwortlich dafür, wie sie damit umgehen. Ich erkläre Ihnen am besten einmal die drei Aspekte von Selbstverantwortung.

Erik: Ja, bitte!

Frau Wang: Den ersten Aspekt – Ursache und Wirkung – hatten wir schon. Wer frei sein will, muss Freiheit säen und zwar so, dass sie tatsächlich gedeiht. Das heißt: Wer Freiheit will, aber Tyrannei sät, bekommt keine Freiheit. Der Wille allein reicht nicht. Es muss das Richtige getan werden. Zweitens bedeutet Selbstverantwortung, dass Menschen und Gesellschaften Entscheidungsfreiheit haben. Sie können jeden Moment aufs Neue entscheiden, in welche Richtung sie sich bewegen. Richtung Freiheit und Versöhnung? Oder Richtung Tyrannei und Rache? Drittens heißt Selbstverantwortung, dass Menschen über Entscheidungsgewalt verfügen. Nicht andere entscheiden! Ultimativ entscheiden jeder Mensch und jede Gesellschaft selbst. Sogar wenn einem jemand eine Pistole an den Kopf hält, entscheidet man selbst, wie man darauf reagiert. Das alles bedeutet Selbstverantwortung.

Erik: Das klingt logisch. Ist das nicht selbstverständlich? Warum betonen Sie Selbstverantwortung in dieser Weise?

Frau Wang: Ich habe nicht den Eindruck, dass Selbstverantwortung allgemein akzeptiert wird. Ganz im Gegenteil. Es gibt Menschen und Gesellschaften, die Selbstverantwortung fundamental ablehnen. Sie reden und verhalten sich so, als gäbe es Ursache und Wirkung nicht. Sie fordern zum Beispiel Freiheit oder Wohlstand, während sie das, was dafür nötig ist, nicht tun wollen. Sie lehnen ihre Entscheidungsfreiheit ab, indem sie behaupten, dies und jenes sei alles nicht möglich. Tatsächlich ist es aber möglich, – wenngleich es einen Preis haben kann. Sie lehnen ihre Entscheidungsgewalt ab, indem sie ständig andere zu Schuldigen erklären für Dinge, die sie selbst zu verantworten haben. Sie legen ihr Schicksal also in die Hände eines Gottes, des Zufalls oder von anderen Menschen und Ländern.

Erik: Was passiert, wenn Menschen und Gesellschaften Selbstverantwortung ablehnen?

Frau Wang: Das hat gravierende Konsequenzen. Zum einen verlieren sie die Macht und die Motivation, etwas zu verändern. Sie stagnieren also in ihrem Status quo. Sie verfolgen weiterhin untaugliche Ideen oder sie entwickeln sich zurück. Stillstand und Lethargie machen sich breit. Zweitens begeben sich Menschen und Gesellschaften, die Selbstverantwortung ablehnen, in Abhängigkeit. Sie werden zum Beispiel Opfer von Extremisten. Drittens werden sie anfällig für Hass, kollektivistische Ideologien, Verschwörungsglauben und Unvernunft. Ohne Selbstverantwortung sind ja immer andere schuld! Viertens besteht eine Tendenz zu verantwortungslosem Verhalten. Nihilismus greift um sich. Mit der Akzeptanz von Selbstverantwortung steht und fällt daher alles. Nur Menschen und Gesellschaften, die selbst die Verantwortung für ihre Gegenwart und Zukunft in die Hand nehmen, können Zivilisation errichten und bewahren. Selbstverantwortung heißt Freiheit – die Freiheit, zu gestalten. Wer Selbstverantwortung ablehnt, bleibt ein Spielball anderer.

Erik: Warum lehnen Menschen und Gesellschaften Selbstverantwortung ab?

Frau Wang: Gute Frage! Selbstverantwortung ist nicht leicht zu akzeptieren. Insbesondere dann, wenn sich bereits die Gewohnheit gebildet hat, anderen die Schuld zu geben. Es ist bequem, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Es ist unbequem und verlangt einiges an Ehrlichkeit und Mut, sich entgegen der Gewohnheit selbst zu hinterfragen und Verantwortung zu übernehmen. Übernehmen Sie Verantwortung für Ihr Leben und Ihre Handlungen?

Erik: Ähm ja, ich denke schon. Also sollte man Menschen und Gesellschaften immer wieder daran erinnern, dass sie selbst verantwortlich für ihr Leben und den Zustand ihrer Gesellschaften sind?

Frau Wang: Ja, genau! Das kann gar nicht oft genug betont werden.

Erik: Was springt für mich dabei raus, wenn ich Selbstverantwortung akzeptiere?

Frau Wang: Sie werden der Boss sein. Sie werden ein Creator Ihres Lebens sein. Wissen Sie, was ein Creator ist? Ein Creator ist ein Erschaffer, ein „Schöpfer“. Statt ein Blatt im Wind zu sein, gestalten Sie ihr Leben. Dadurch werden Sie eine Stütze und Inspiration für andere sein.

Liebe statt Hass

Erik: Warum ist Liebe ein Faktor der Zivilisations-Formel? Ist das nicht etwas kitschig? Was hat Liebe mit Politik zu tun? Gehört sie nicht eher in die Partnerschafts-Formel?

Frau Wang: Liebe ist die Grundlage allen Lebens und insbesondere von Zivilisation. Ohne Liebe ist alles nichts, junger Mann. Mit Liebe ist alles möglich. Alles funktioniert besser mit Liebe. Der Mensch hört nicht auf, Mensch zu sein, wenn er zum Beispiel beruflich, politisch, ehrenamtlich oder wissenschaftlich tätig ist. Liebe hilft! Sagen Sie das Ihren Kommilitonen!

Erik: Was genau meinen Sie mit Liebe?

Frau Wang: Liebe beginnt mit einem grundsätzlichen ja. Ja zum eigenen Leben genau wie ja zum Leben der anderen. Ja zum eigenen Glück genau wie ja zum Glück der anderen. Ja zur eigenen Freiheit genau wie ja zur Freiheit der anderen. Ja zum eigenen Wohlstand genau wie ja zum Wohlstand der anderen. Liebe bedeutet ja zum Schönen, ja zur Lebensfreude, ja zur Vernunft und ja zu Fortschritt und Entwicklung. Wer wünscht, dass es einem selbst und anderen gut und besser geht, der liebt. Wer seine Existenz wertschätzt, der liebt. Liebe umfasst die Liebe zu sich selbst genau wie die Liebe zu anderen und zum Leben an sich. Liebe bedeutet auch Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut. Liebe kann sich auf vielfältige Weise ausdrücken.

Erik: Bitte erklären Sie mir, wie Sie darauf kommen.

Frau Wang: Ja, wie komme ich darauf? Liebe ist viel mehr als das, was im Duden dazu erklärt wird. Liebe wird vom Duden als „starkes Gefühl des Hingezogenseins“, als „im Gefühl begründete Zuneigung zu einem Menschen“ definiert. [6] Ein treffendes Synonym für Liebe ist meiner Meinung nach Wohlwollen. Am allerbesten gefällt mir die buddhistische Definition von Liebe: Liebe ist demnach der Wunsch, dass andere glücklich sind. Diese Definition erscheint mir für die Zivilisations-Formel relevant, da es bei Politik und Zusammenleben ja nicht nur um einen selbst, sondern immer auch um andere geht. Wer wünscht, dass es allen gut geht, der wird sich automatisch verantwortungsbewusster verhalten. Um Liebe zu verstehen, hilft es, sich das Gegenteil anzusehen.

Erik: Den Hass?

Frau Wang: Genau. Hass ist das Gegenteil von Liebe. So oft, wie heute über Hass gesprochen wird, so oft wird Hass meiner Meinung nach missverstanden oder fälschlicherweise unterstellt. Echter Hass vergiftet einen selbst, unsere Welt, alle Gesellschaften und zwischenmenschliches Miteinander. Der Duden definiert Hass als „starkes Gefühl der Ablehnung und Feindschaft gegenüber einer Person, Gruppe oder Einrichtung“. Mir geht das nicht weit genug. Ich selbst definiere Hass als eine auf Schaden von anderen oder einem selbst ausgerichtete, angewöhnte und destruktive Überzeugung und Motivation. Hass ist kein bloßes spontanes Gefühl, wie Wut. Hass ist, wenn ich Schaden zufügen will, weil ich überzeugt bin, dass die Adressaten es verdienen. Und zwar auch dann, wenn ich sie gar nicht kenne. Hass will verletzen und sogar töten. Hass will, dass Menschen leiden. Hass betrachtet bestimmte Personen, Menschengruppen und ihre Angehörigen als minderwertig, nicht würdig und wertet sie pauschal ab. Hassverbrechen beruhen auf Hass. Hass kann sich aber ebenso gegen Ideen und Errungenschaften richten.

Erik: Bitte unterscheiden Sie Liebe und Hass einmal in so kurzer Form wie möglich.

Frau Wang: Sie machen das ganz hervorragend, wirklich! Die kürzeste Erklärung für Liebe und Hass ist vielleicht: Wer Menschen liebt, wünscht, dass es ihnen gut geht. Wer Menschen hasst, wünscht, dass es ihnen schlecht geht. Das ist kurz, oder? Ergänzen könnte man: Liebe bedeutet Zuneigung. Hass beruht auf Abneigung. Liebe verzeiht, versöhnt und lässt los. Hass ist nachtragend und sinnt auf Rache. Deswegen kann Liebe Konflikte lösen und Menschen verbinden. Hass verlängert und vergrößert Konflikte und trennt die Menschen.

Erik: Was bedeutet das nun für die Zivilisation? Warum ist Liebe gut für Zivilisation und Hass schlecht?

Frau Wang: Hass ist das Problem und Liebe ist die Lösung. Hass ist die Ursache für alle Formen von Unterdrückung und Unheil. Nichts ist schwächender, zerstörerischer, einengender und destruktiver als der Hass, die blinde Wut, der Wunsch zu töten, zu unterdrücken, anderen zu schaden und Rache zu nehmen. Und nichts ist präziser, wirkungs- und kraftvoller als der Wunsch, Leben und Freiheit zu schützen. Ich behaupte, dass Menschen und Gesellschaften Verantwortung dafür tragen, ob sie eher Liebe kultivieren oder eher Hass. Wenn in Gesellschaften der Hass und die unkontrollierte Wut überwiegt, führt dies in der Regel dazu, dass Ideen abgelehnt oder bekämpft werden, die Freiheit, Demokratie und Wohlstand ermöglichen. Überwiegt die Liebe, besteht mehr Offenheit für zivilisationsfreundliche Ideen. Liebe allein heißt jedoch nicht, dass automatisch sinnvolle Ideen verfolgt werden. Schließlich kann Liebe blind machen. Die Wahrscheinlichkeit für Vernunft ist nur größer. Auch kann Wohlwollen den Hass anderer nicht mit Sicherheit beseitigen. Es ist aber die Grundlage und Garantie dafür, dass wenigstens im eigenen Land oder bei einem selbst Feste gefeiert werden können.

Erik: Jesus hat gesagt: „Liebet eure Feinde!“ Was sagen Sie dazu?

Frau Wang: Passen Sie jetzt gut auf! Feindesliebe heißt nicht, sich dem Feind zu unterwerfen. Sie halten nicht die andere Wange hin! „Liebe Deinen Feind“ bedeutet, dass Sie ihm Glück wünschen, statt ihn zu hassen. So behalten Sie den Kopf frei. Sie machen weiter Ihr Ding. Das nutzt Ihnen selbst und es nutzt den Mitmenschen, für die Sie sich einsetzen.

Erik: Sie meinen also, dass Hass nicht nur den anderen schadet, sondern auch einem selbst?

Frau Wang: Auf jeden Fall. Haben Sie schon mal einen hassenden Menschen gesehen, der glücklich ist? Hass zerfrisst einem die Seele. Kennen Sie Gesellschaften, die Hass kultivieren, in denen Lebensfreude, Freiheit, Demokratie und Wohlstand florieren? Das gibt es nicht. Wer hasst, macht sich das eigene Leben und Erleben zur Hölle. Er schneidet sich von den Möglichkeiten und der Fülle des Lebens ab. Deswegen ist es auch nicht nötig, jemanden zu bestrafen, der hasst. Der Hass selbst wirkt wie Gift für den Einzelnen und die Gesellschaft. Wollen Sie glücklich sein? Dann lieben Sie!

Erik: Macht es Sinn, jene zu hassen, die andere hassen?

Frau Wang: Nein, das macht überhaupt keinen Sinn. Es ist völlig stupide. Es ist ein Pfad, der ins Verderben führt. Hass vergiftet einen immer – auch dann, wenn er sich gegen Menschen richtet, die erwiesenermaßen furchtbare Ideen vertreten und Dinge tun.

Erik: Wenn jemand meinen Lieben etwas antut, hasse ich ihn. Was ist falsch daran, Diktatoren, Mörder, Extremisten und Terroristen zu hassen?

Frau Wang: Das ist menschlich, junger Mann! Gefühle sind menschlich. Sie fühlen, also sind Sie ein Mensch. Hass wird Ihnen Ihre Lieben aber weder zurückbringen, noch wird es den Übeltätern schaden. Ganz im Gegenteil: Je mehr Sie eine Person hassen, desto mehr Macht verleihen Sie ihr – über sich selbst. Wollen Sie das?

Erik: Nein, natürlich nicht.

Frau Wang: Dachte ich mir. Die Frage ist nicht, was richtig oder falsch ist, sondern was sinnvoll oder sinnlos ist. Wenn Sie Menschen hassen, verleihen Sie ihnen Macht. Sie werden an nichts anderes mehr denken als an diese Person oder Gruppierung. Es macht daher keinen Sinn, andere Menschen zu hassen. Selbst dann nicht, wenn sie einem Übel wollen oder tun. Gerade im sozialen und politischen Bereich, also in der Öffentlichkeit, spielt es eine Rolle, ob Sie hassen oder nicht. Wenn Sie dort in Wort und Tat hassen, auch zu einem „guten Zweck“, hat das negative Konsequenzen: Erstens verleihen Sie dem Objekt ihres Hasses Macht. Zweitens werden Sie Fehler machen, die Ihrem Gegner noch mehr Macht verleihen. Drittens werden Sie wertvolle Unterstützer verlieren – Gleichgesinnte, die keine Lust auf Hass-Laune haben. Die verlieren sie, obwohl Sie sie brauchen! Viertens werden Sie neue, aber ungute Freunde gewinnen – „Hater“, also hasserfüllte Menschen. Die werden Sie in Ihrem Hass bestätigen. „Hater“-Freunde machen es wahrscheinlicher, dass Sie weiterhin hassen. Somit werden Sie auch in Zukunft nichts oder nur wenig ausrichten können. Fünftens schaffen Sie sich neue Feinde, da ihr Hass nicht nur andere Hasser trifft, sondern auch Menschen, die gar keine Hasser sind. Sie beschuldigen sie fälschlicherweise. Im Endeffekt führt Ihr Hass, selbst wenn er einem guten Zweck dienen soll, ins Desaster. Deswegen kann Hass niemals das Mittel der Wahl sein.

Erik: Was sind Ihrer Meinung nach die größten Defizite in puncto Liebe und Hass in freien Gesellschaften?

Frau Wang: Ich glaube, dass es vor allem Missverständnisse gibt. Viele Menschen haben erkannt, dass Hass wie Gift in Gesellschaften wirkt. Das ist schon mal gut. Während sie aber gegen den Hass anderer vorgehen, greifen sie selbst auf Hass zurück, wie ich soeben beschrieben habe. Sie bekämpfen Hass mit Hass. Zweitens gibt es Menschen, die sich selbst, ihre Heimat, ihre Herkunft und ihre Kultur oder die Menschheit an sich hassen, um damit vermeintliche Verbesserungen herbeizuführen. Das ist ebenso völlig sinnlos. Selbsthass richtet sich gegen das Leben und hilft niemandem. Drittens gibt es viele Menschen, die Wut mit Hass verwechseln. Sie beschuldigen jeden, der wütend ist, ein Hasser zu sein. Sie gestehen sich selbst ihre eigene Wut nicht zu. Wer Wut als Hass missversteht, der blockiert den Fluss des Lebens. Ich bin ab und zu wütend! Aber hassen? Niemals!

Erik: Was ist denn der Unterschied zwischen Wut und Hass?

Frau Wang: Hass ist destruktiv. Bei Wut entscheidet der Abstand zu ihr, ob sie sich zerstörerisch oder heilsam auswirkt. Wut ist, wenn ich innerlich aufgebracht bin. Wut tritt unabhängig davon auf, ob wir eher hasserfüllt oder liebevoll auf die Welt blicken.

Erik: Also kann Wut etwas Positives sein?

Frau Wang: Mit Abstand zu ihr, definitiv ja. Wut an sich ist Energie. Das heißt: Sie kann in die eine oder andere Richtung kanalisiert werden. Jeder kann lernen, mit Wut umzugehen. In Wut wohnen Qualitäten wie Kraft, Wachheit und Präzision. Kennen Sie jemanden, der bei einem Wutanfall eingeschlafen ist?

Erik: Nein.

Frau Wang: Sehen Sie? Man ist dann voller Eifer und Tatkraft. Es gehört allerdings viel Übung dazu, die eigene Wut zu zähmen. Beschimpfen Sie nicht Ihre Freundin. Räumen Sie stattdessen die Küche auf oder machen Sie Sport! Das ist sinnvoll eingesetzte Wut. Zurück zur Politik: Pauschale Hass-Vorwürfe wirken sich doppelt destruktiv aus: Erstens grenzen sie Menschen aus, die nur wütend sind – die also gar nicht hasserfüllt sind. Zweitens verunsichern sie Menschen und hier insbesondere junge Menschen. Ich erzähle Ihnen dazu eine Geschichte.

Erik: Gerne.

Frau Wang: Stellen Sie sich vor, ein Kind übersieht einen LKW und läuft auf die Straße. Die Mutter erfasst die Situation. Sie reagiert blitzschnell: Sie schreit ihr Kind an, während sie es mit Gewalt am Rucksack festhält und auf den Gehsteig zieht. Was sagen Sie als Beobachter jetzt? Hasst die Mutter ihr Kind? Sie schreit und wendet körperliche Gewalt an!

Erik: Nein, sie liebt ihr Kind. Sie will ihr Kind nur beschützen.

Frau Wang: Genau! Sie hat ihm gerade das Leben gerettet. Das ist es, was ich meine. Nur weil jemand wütend ist oder so wirkt, heißt das nicht, dass er hasst.

Erik: Gibt es noch weitere Missverständnisse in Bezug auf Liebe und Hass?

Frau Wang: Ja, noch eines. Es betrifft die Liebe. Viele Menschen in freien Gesellschaften betrachten Mitleid, Selbstaufopferung und Gefühlsduselei als Liebe. Sie schämen sich dafür, dass sie gute Bedingungen erleben, während andere leiden.

---ENDE DER LESEPROBE---