Niemand kann sie brechen - Dania Dicken - E-Book

Niemand kann sie brechen E-Book

Dania Dicken

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Beschreibung

Erstveröffentlichung des neuen Reihen-Titels!

Ein junger Mann hat seine schwangere Freundin brutal erstochen – weil er Wahnvorstellungen hatte. Profilerin Andrea und ihr Kollege Joshua sollen die Schuldfähigkeit des Mannes beurteilen, stoßen aber bald auf Ungereimtheiten. Währenddessen kündigt sich sehr zu Andreas Freude Besuch an: Katie Archer, die nach achtjähriger Gefangenschaft und ihrer Flucht Zuflucht bei Andrea fand, möchte sie und ihre Familie wiedersehen. Obwohl Katie sichtlich aufgeblüht ist, spürt Andrea, dass es etwas gibt, das Katie belastet. Ein Unbekannter stellt ihr nach und bedroht sie – und er ist ihr nach Norwich gefolgt …

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Mittwoch, 10. Mai
Donnerstag, 11. Mai
Freitag, 12. Mai
Samstag, 14. Mai
Montag, 16. Mai
Donnerstag, 24. März
Dienstag, 17. Mai
Mittwoch, 18. Mai
Mittwoch, 18. Mai
Donnerstag, 19. Mai
Donnerstag, 26. Mai
Freitag, 27. Mai
Samstag, 28. Mai
Sonntag, 29. Mai
Montag, 30. Mai
Dienstag, 31. Mai
Dienstag, 31. Mai
Mittwoch, 1. Juni
Donnerstag, 2. Juni
Freitag, 3. Juni
Samstag, 4. Juni
Montag, 18. September
Impressum

 

 

 

 

Dania Dicken

 

 

Niemand kann sie brechen

 

Profiler-Reihe 8

 

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

 

Erstveröffentlichung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Großen Seelen ziehen die Schmerzen nach wie den Bergen die Gewitter.

Aber an ihnen brechen sich auch die Wetter,

und sie werden die Wetterscheide der Ebene unter ihnen.

 

Jean Paul

 

 

 

Mittwoch, 10. Mai

 

„Das Profiling ist keine exakte Wissenschaft, allerdings ist es eine, die sich sehr auf empirische Daten stützt. Bei der Erstellung eines Täterprofils geht es immer um Wahrscheinlichkeiten. Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Täter ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal trägt? Sexualmörder beispielsweise wählen fast immer Opfer, die ihrer eigenen ethnischen Gruppe angehören; da gibt es nur sehr wenige Ausnahmen wie etwa den Nightstalker Richard Ramirez, dem völlig egal war, welches Opfer er vor sich hatte. Man kann auch immer davon ausgehen, dass ein Täter ein Opfer wählt, mit dem er fertig wird – eins, das kleiner, jünger und vor allem schwächer ist als er“, erklärte Andrea und machte eine Pause. Es freute sie immer wieder, zu sehen, dass ihre Studenten ihren Vorlesungen so aufmerksam folgten.

„Machen wir zur Abwechslung mal eine kleine statistische Erhebung hier im Hörsaal. Was glauben Sie, wer wird häufiger Opfer eines Verbrechens – Männer oder Frauen? Heben Sie die Hand, wenn Sie denken, dass es Frauen sind.“

Mindestens drei Viertel der Studenten hoben ihre Hand, was Andrea nicht sehr überraschte. Sie nickte und fuhr fort: „Ausgehend von dem, was ich zuvor sagte, sollte man meinen, dass das richtig ist – interessanterweise stimmt es nicht. Männer sind anderthalb Mal häufiger von schweren Straftaten betroffen als Frauen. Das hängt mit der Art der Delikte zusammen. Natürlich werden häufiger Frauen Opfer von Sexualdelikten, aber diese machen nur einen winzigen Prozentsatz aller – wohlgemerkt – zur Anzeige gebrachten Delikte aus. Wenn wir jetzt an Körperverletzung denken, dann sind Männer deutlich öfter von solchen Gewalttaten betroffen. Kneipenschlägereien, Raubdelikte, Totschlag – das alles betrifft mehr Männer. Sie sind also nicht nur häufiger Täter, sondern auch Opfer.“

Die Studenten wirkten überrascht und interessiert zugleich. Damit hatte Andrea gerechnet. Für einen Profiler war es wichtig, solche statistischen Fakten zu kennen, um Spuren und Hinweise richtig deuten zu können.

„Unter Straftätern allgemein gibt es etwa fünf Mal mehr Männer als Frauen. Theorien gehen unter anderem von einem höheren Aggressionspotenzial aus, gesteuert etwa durch das Geschlechtshormon Testosteron. Das deckt sich auch mit meiner persönlichen Erfahrung – während meiner Laufbahn als Profilerin bin ich deutlich häufiger mit männlichen Tätern konfrontiert worden. Wenn ich jedoch an Amy Harrow denke, stehen einzelne Frauen ihren männlichen Gegenparts nicht in viel nach. Dabei sind weibliche Serienmörder noch seltener, man schätzt, dass neunzig Prozent aller Serienmörder männlich sind. Im Übrigen gilt bei Serienmorden wie auch bei anderen Tötungsdelikten, dass der Täter im Umfeld des Opfers zu finden sein könnte. Auch Serienmörder beginnen verdammt oft mit ihnen bekannten Opfern.“

Ein Student hob die Hand und Andrea nickte ihm zu. „Bitte.“

„Ist es nicht so, dass das höchste Risiko für Frauen, ermordet zu werden, von ihren eigenen Männern ausgeht?“

„Das ist richtig“, erwiderte Andrea. „Als Frau glaubt man ja immer, dass es wahnsinnig riskant ist, im Dunkeln allein nach Hause zu gehen – dabei lauert, statistisch gesehen, die größte Gefahr für Frauen in den eigenen vier Wänden. Hauptverdächtiger für die Polizei im Fall einer ermordeten Frau ist häufig zunächst einmal der Ehemann oder Lebenspartner, kein namenloser Fremder. Die größte Gefahr, Opfer eines Tötungsdeliktes zu werden, besteht übrigens für Frauen in langjährigen nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Das hat etwas mit emotionaler Abhängigkeit zu tun, mit Verlustängsten. Verheiratete Frauen werden seltener Opfer eines Tötungsdeliktes.“

Bis zum Ende ihrer Vorlesung referierte Andrea noch ein wenig über Kriminalstatistik – immer in der Hoffnung, ihre Studenten nicht zu sehr zu langweilen. Sie fand diese Statistiken interessant, sie waren ihr täglich Brot. Als Profiler musste man das alles im Kopf haben.

Nach dem Ende der Vorlesung kamen noch zwei Studenten mit Fragen zu ihr, doch als sie fertig waren, schulterte Andrea ihre Tasche und verließ den Hörsaal. Das war an diesem Tag ihre letzte Veranstaltung gewesen, jetzt konnte sie sich auf den Heimweg machen. Auf dem Weg zum Aufzug zog sie ihr Handy aus der Tasche, das sie vor der Vorlesung stumm geschaltet hatte, und sah, dass Joshua Carter vor einer halben Stunde versucht hatte, sie anzurufen. Nachdem Andrea das Gebäude verlassen hatte, rief sie ihn zurück.

„Danke, dass du dich zurückmeldest“, sagte Joshua gleich statt einer Begrüßung.

„Was gibt es denn?“, erkundigte Andrea sich bei ihm.

„Vorhin bekamen wir eine Anfrage von der Polizei in Colchester. Vielleicht hast du in den Nachrichten von dem Fall gehört – am Wochenende wurde eine junge Frau ziemlich brutal ermordet. Eine Schwangere, sechundzwanzigste Woche.“

„Nein, das habe ich nicht mitbekommen.“

„Hauptverdächtiger ist ihr Freund und Vater des ebenfalls getöteten Ungeborenen. Alle Beweise sprechen gegen ihn, tatsächlich leugnet er die Tat nicht einmal.“

„Und warum braucht man dann Hilfe von Profilern?“

„Als Gutachter. Der Verteidiger will auf Schuldunfähigkeit plädieren und behauptet, zum Zeitpunkt der Tat hätte der Verdächtige unter akuten psychotischen Symptomen gelitten.“

„Klingt wie eine Schutzbehauptung.“

„Genau das sollen wir jetzt prüfen. In Colchester dachte man an uns, weil wir ja schon im Fall des Yorkshire Infant Rippers und im FutureLife-Fall in Glasgow Erfahrungen mit Psychosen und Paranoia gesammelt haben. Wir sollen jetzt die Schuldfähigkeit des Angeklagten beurteilen.“

Vor ihrem Auto angekommen, öffnete Andrea die Beifahrertür und warf ihre Tasche darauf, bevor sie stehen blieb. „Klingt auf jeden Fall spannend.“

„Begleitest du mich nach Colchester?“

„Gerne. Morgen habe ich keine Vorlesung, da könnte ich mitkommen. Ist er dort inhaftiert?“

„Im Augenblick ja, er sitzt in Untersuchungshaft. Ich würde dir dann gleich schon mal alle Unterlagen über den Fall mailen, damit du dich vorbereiten kannst.“

„Gute Idee, danke.“

„Ich habe zu danken. Deine Unterstützung wird da sehr hilfreich sein.“

„Dafür sind wir doch ein Team“, erwiderte Andrea mit einem Lächeln, bevor sie sich mit Joshua für zehn Uhr am nächsten Tag verabredete. Colchester lag etwa anderthalb Stunden von Norwich entfernt. Bis jetzt war Andrea noch nie dort gewesen, aber sie würde sich schon zurechtfinden.

Als sie das Gespräch beendet hatte, stieg sie ins Auto und fuhr los. An diesem Tag hatte sie keine besondere Eile, denn sie wusste, dass zu Hause noch niemand auf sie wartete. Immer, wenn sie ihre Nachmittagsvorlesung hielt, ging Julie nach der Schule mit zu ihrer Freundin Christy, die dafür umgekehrt auch einmal die Woche mit zu Julie kam.

Sie hatte es nicht weit von der Uni bis nach Hause. Dort angekommen, legte sie im Flur ihre Tasche ab, zog die Schuhe aus und holte sich zunächst in der Küche etwas zu trinken. Mit ihrem Laptop setzte sie sich an den Esstisch und schaute nach, ob Joshua ihr schon etwas geschickt hatte.

Tatsächlich hatte sie schon drei E-Mails von ihm im Posteingang. Sie öffnete die erste, in deren Anhang sie einige Bilder fand – Tatortfotos. Joshua hatte etwas dazu geschrieben. Achtung, die Bilder sind sehr blutig und unschön.

Andrea wusste, er zweifelte nicht daran, dass sie das aushielt, aber sie fand es nett, dass er sie vorwarnte. Im nächsten Augenblick kannte sie den Grund. Sie öffnete das erste Foto und verzog entsetzt das Gesicht.

Im Bett lag eine junge Frau, das Entsetzen war in ihren Gesichtszügen konserviert. Einer ihrer Arme hing kraftlos aus dem Bett, der andere lag blutverschmiert neben ihrem Körper. Ihre toten Augen starrten glasig an die Decke, ihr Mund hatte sich zu einem Schrei verzogen.

Doch das war gar nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war der Overkill, in dem der Täter sie ermordet hatte. Sie trug ein hellgelbes Nachthemd, das über und über blutverschmiert war. Die Flecken waren dunkelbraun. Das Blut hatte auch die Matratze unter ihr durchtränkt. Mit einem Messer hatte der Täter auf sie eingestochen – Andrea konnte nicht schätzen, wie oft er sie damit traktiert hatte, aber ihr gesamter Torso war voller Blut. Sie schien Stiche in der Brust zu haben, aber auch im Bauch. Damit hatte der Täter das ungeborene Baby getötet.

Das Ganze erinnerte sie so sehr an Silvia Leitner, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Jetzt wusste sie, warum Joshua sie außerdem gefragt hatte. Sie hatte so einen Fall schon gehabt – in der eigenen Familie. Gregs deutscher Cousin Matthias war verdächtigt worden, seine Frau und seine beiden Kinder getötet zu haben. Tatsächlich war jedoch Gregs anderer Cousin Thomas verantwortlich für die Bluttat – Motiv: Eifersucht.

Andrea betrachtete weitere Fotos. Anhand der Position der Toten war ersichtlich, dass sie noch versucht hatte, sich zu wehren. Andrea fragte sich, ob der Täter sie im Schlaf überrascht hatte. Und dann hatte er so oft auf sie eingestochen ...

Es gab ein Foto der noch blutverschmierten Tatwaffe – ein breites Küchenmesser, die Klinge hatte eine Länge von achtzehn Zentimetern. Daran schlossen sich Fotos aus dem Obduktionssaal an. Als die Tote unbekleidet auf dem Seziertisch lag, war besser zu sehen, wie viele Stiche der Täter ihr beigebracht hatte. Die übrigen Fotos scrollte Andrea schnell durch, weil sie merkte, wie sich Übelkeit in ihrem Magen zusammenballte.

Jetzt war sie schon so lang Profilerin und trotzdem berührte sie so etwas. Das war auch gut und richtig – sie hätte sich Sorgen gemacht, wäre das nicht mehr der Fall gewesen, denn sie war nur ein Mensch. Das gehörte dazu.

In der zweiten Mail öffnete sie den Obduktionsbericht, weil sie wissen wollte, was der Gerichtsmediziner geschlussfolgert hatte. Was sie las, entsetzte sie. Der Täter hatte achtzehn Mal auf sie eingestochen – fünf Stiche gingen in die Brust, doch alle übrigen hatten sich auf ihren Bauch konzentriert.

Das war wie bei Silvia Leitner. Der Täter hatte das ungeborene Kind töten wollen.

Was ihm auch gelungen war, denn das Kind hatte durch die Stiche schwere Verletzungen erlitten und war nach Schätzungen des Gerichtsmediziners fast sofort tot gewesen – anders als die Mutter. In ihrer Lunge war viel Blut gefunden worden, sie war also an ihrem eigenen Blut erstickt. Das war kein schneller, sondern ein grausamer Tod. Andrea schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch.

Aus dieser Tat sprachen Hass, Leidenschaft, intensive Gefühle. Das schloss eine Kurzschlusshandlung im wahnhaften Rausch nicht aus, im Gegenteil. Allerdings hätte Andrea dann erwartet, dass die Stiche sich nicht so sehr auf das Kind konzentriert hätten.

Der Gerichtsmediziner konstatierte Abwehrverletzungen bei der Toten. Sie hatte nach Kräften versucht, ihr Leben und das ihres Babys zu verteidigen, doch die ersten Stiche waren gleich in ihre Brust gegangen und hatten sie geschwächt. Während ihre Lunge sich mit Blut gefüllt hatte, hatte sie gespürt, wie der Täter ihr in den Bauch stach ...

Andrea schloss den Obduktionsbericht und atmete erneut tief durch. Nachdem sie sich gefangen hatte, las sie in der letzten Mail das Vernehmungsprotokoll des Täters – Joseph Payne, sechsundzwanzig. Die Tote war seine Freundin Elsie Burton, vierundzwanzig. Joseph war Automechaniker, Elsie hatte als Erzieherin gearbeitet. So weit, so normal. Allem Anschein nach hatte Joseph keine Vorgeschichte psychischer Erkrankungen.

Er selbst hatte nach der Tat die Polizei gerufen. Dem Vernehmungsprotokoll war eine Abschrift des Notrufs beigefügt, in dem er wohl kaum verständlich gestammelt hatte. Bitte kommen Sie ... ich glaube, sie ist tot, hatte er gesagt. Ich glaube, ich habe sie getötet.

Er hatte es schon beim Notruf zugegeben. Das fand Andrea interessant, doch sie beschloss gleich, am nächsten Tag in Colchester darum zu bitten, sich die Originalaufzeichnung des Notrufs anhören zu dürfen.

Joseph war noch vor Ort festgenommen worden, ohne Widerstand zu leisten. An seiner Kleidung und seinen Händen hatte Blut geklebt. Bei der Polizei hatte er ausgesagt, unter Halluzinationen gelitten zu haben. Er war mitten in der Nacht aufgewacht, weil Elsie aufgestanden war. Er habe Stimmen in seinem Kopf gehört, die ihm sagten, dass das ungeborene Baby ein Monster sei. Als Elsie im Bad zur Toilette gegangen war, habe Joseph Angst bekommen. Er war in die Küche geschlichen, hatte das Messer geholt und damit auf Elsie gewartet. Sobald sie wieder neben ihm lag, hatte er auf sie eingestochen und sie getötet.

Das erklärte – zumindest aus seiner Sicht – den Schwerpunkt der Angriffe auf das Baby. Was es nicht erklärte, waren die fünf Stiche in Elsies Brust. Andrea betrachtete noch einmal die Fotos von Elsies Leichnam. Nein, die Stiche waren gezielt gesetzt, die waren nicht aus Versehen zu hoch gerutscht. Drei davon befanden sich in der Herzgegend, sprachen also für eine gezielte Tötungsabsicht. Auch gegen Elsie.

Das war der erste Widerspruch, den sie fand. Sie griff nach ihrem Handy und rief Joshua an.

„Das ging schnell“, sagte er gleich.

„Ja, noch ist niemand zu Hause, deshalb habe ich mir direkt alles angeschaut.“

„Und was ist dir aufgefallen?“

Andrea holte tief Luft. „Dass mir klar ist, warum du mich und nicht Gordon gefragt hast.“

Joshua lachte kurz. „Ja, ich weiß. Ich gebe zu, das war durchaus ein Hintergedanke.“

„Du hättest ja ruhig was sagen können.“

„Ich wollte dich nicht zu sehr beeinflussen.“

„Verstehe. Also ... ich bin erstaunt, dass er selbst den Notruf gewählt hat.“

„Er weiß nicht mehr, wie viel Zeit zwischen seiner tödlichen Attacke auf seine Freundin und dem Notruf verstrichen ist. Er hat wohl ausgesagt, eine Weile wie betäubt neben ihr gesessen zu haben und dann wieder zur Besinnung gekommen zu sein. Die Beamten sagten mir auch, dass er wohl die ganze Zeit vollkommen aufgelöst und verzweifelt war.“

„Das kann man spielen“, sagte Andrea.

„Du glaubst, er spielt uns was vor?“

„Ich sehe Widersprüche.“

„Schieß los.“

„Er sagt, er hätte das Baby für ein Monster gehalten. Warum dann fünf Stiche in Elsies Brust, davon drei in die Herzgegend? Das ist eine klare Tötungsabsicht gegen sie, nicht das Kind.“

„Ist mir auch aufgefallen. Joseph hat ausgesagt, das wäre keine Absicht gewesen.“

„Das ist Quatsch. Man sieht eindeutig, dass es zwei Bereiche gibt, auf die sich die Stiche konzentrieren. Er hat nicht wahllos auf sie eingestochen.“

„Hab ich den Beamten auch so gesagt, ja. Interessant ist, dass er sogar selbst den Notruf gewählt und die Tat nicht abgestritten hat.“

„Ganz ehrlich, das würde ich auch so machen, falls ich so ein Massaker in meinem eigenen Schlafzimmer angerichtet hätte. Wenn er uns hier was vormacht, muss ihm klar gewesen sein, dass er die Spuren unmöglich beseitigen kann, ohne aufzufallen. Da würde ich dann auch alles zugeben und darauf plädieren, dass ich zum Tatzeitpunkt nicht wusste, was ich tue.“

„Okay ... ich sehe, du hast eine klare Tendenz.“

„Sagen wir, mich beschäftigt das.“

„Das ist auch gut so. Deshalb habe ich dir ja alles geschickt. Wir dürfen da morgen nicht voreingenommen rangehen, aber du musst ja die Sachlage kennen.“

„Alles gut. Ich bin mal gespannt, wie er morgen reagiert.“

„Ich auch. Also dann, wir sehen uns morgen. Grüß deine Familie.“

Andrea versprach es und legte auf. Sie klappte ihren Laptop zu und beschloss, in die Küche zu gehen und sich dem Kochen zu widmen. Nicht mehr lange und Greg und Julie würden nach Hause kommen.

Sie bereitete einen Sheperd’s Pie vor, den besonders Julie immer sehr mochte. Der Auflauf mit Kartoffeln, Gemüse und Lammhackfleisch war gerade im Ofen, als die Haustür ins Schloss fiel.

„Hallo“, rief Greg aus dem Flur. Andrea hörte hastige Schritte und hatte sich kaum umgedreht, als Julie sich ihr schon in die Arme warf und sie mit einem strahlenden Lächeln begrüßte.

„Mami“, sagte sie glücklich.

„Schön, dass du da bist.“ Andrea streichelte ihr mit einer Hand über den Kopf, während Greg hinter Julie erschien und an ihr vorbei versuchte, Andrea einen Kuss auf die Wange zu drücken. Dann schnupperte er neugierig.

„Hier riecht es aber gut“, sagte er. Julies Interesse war sofort geweckt und sie blickte an ihm vorbei in den Ofen.

„Sheperd’s Pie! Du bist die Beste.“ Julie umarmte Andrea erneut – diesmal so fest, dass Andrea beinahe die Luft wegblieb. Ihr kleines Mädchen war gar nicht mehr so klein. Sie wurde Ende des Monats acht Jahre alt und ging schon in die dritte Klasse. Sie war eine gute Schülerin, die in allen Fächern mit Ausnahme von Mathematik überdurchschnittliche Leistungen zeigte. Ihre Lehrerin hatte Andrea und Greg vor kurzem vorgeschlagen, mit Julie einen Intelligenztest zu machen, wovon Greg im Gegensatz zu Andrea noch nicht so ganz überzeugt war. Er befürchtete, dass man Julie einen Stempel aufdrücken würde, wenn sich der Verdacht auf Hochbegabung tatsächlich bestätigte, was er nicht in Zweifel zog. Andrea hingegen hätte gern gewusst, woran sie war, um gegebenenfalls die richtige Förderung ergreifen zu können.

„Wie war es in der Schule?“, erkundigte Andrea sich bei Julie.

„Gut“, kam es wenig erschöpfend zurück. Julie ging ins Wohnzimmer, wo sie sich an den Tisch setzte und begann, sich mit ihrem neuen Mal- und Rätselbuch zu beschäftigen.

„Und wie war dein Tag?“, richtete Andrea sich an ihren Mann.

„Auch gut“, erwiderte er. „Ich kann gar nichts Besonderes erzählen.“

„Ich schon. Joshua hat mich vorhin angerufen. Die Polizei in Colchester hat sich bei ihm gemeldet – sie brauchen ein psychologisches Gutachten in einem Mordfall.“

Interessiert zog Greg die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts.

„Der Täter behauptet, im Wahn gehandelt zu haben. Sein Anwalt will auf Schuldunfähigkeit plädieren“, erzählte Andrea weiter.

„Verstehe. Und jetzt sollt ihr beurteilen, ob das stimmt.“

„Genau. Ich habe keine Ahnung, wie lang ich morgen weg bin – machst du pünktlich Feierabend?“

„Denke schon“, erwiderte Greg. „Ich gehe mich mal umziehen.“

Andrea beschloss, ihn zu begleiten und nutzte die Gelegenheit, im Schlafzimmer allein mit ihm zu sprechen.

„Ich denke, wir sollten Julie durchaus mal testen lassen“, sagte sie. „Ich teile Mrs. Corbyns Ansicht, dass das sinnvoll sein könnte.“

„Ja, schon klar ... aber was, wenn dabei rauskommt, dass sie wirklich hochbegabt ist? Ich habe Angst, dass die anderen Kids sie ausgrenzen. Und welche Konsequenzen hätte es? Es gibt hier keine Schule, die sie passend fördern könnte.“

„Ich weiß. Dennoch denke ich, es wäre gut, zu wissen, woran wir sind. Mrs. Corbyn versucht ja schon, sie zu fördern.“ Julies Lehrerin gab ihr immer Zusatzaufgaben, damit Julie sich nicht langweilte. Häufig bearbeitete sie schon Stoff aus dem Folgeschuljahr.

„Eben. Sie ist eine tolle Lehrerin, sie kümmert sich gut“, sagte Gregory.

„Ich glaube, wir können dadurch nur gewinnen“, sagte Andrea.

Greg seufzte unentschlossen. „Du willst das unbedingt, oder?“

„Ich bin Psychologin. Es wäre absurd, wenn ausgerechnet ich das bei meiner Tochter nicht testen ließe.“

Er brummte unschlüssig und zuckte mit den Schultern. „Also schön. Wenn du meinst.“

Andrea drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Danke, Greg. Du bist der Beste.“

Nun lächelte auch er. Es war nicht, dass sie seine Sorge nicht verstehen konnte – er wollte Julie nur beschützen, sie war sein Ein und Alles. Dennoch glaubte Andrea, dass es besser war, Bescheid zu wissen, um Julie adäquat zu unterstützen. Sie teilte schon länger Mrs. Corbyns Eindruck, dass Julie in der Schule ein wenig unterfordert war – und das, obwohl sie wirklich jung eingeschult worden war. Von Anfang an hatte sie keinerlei Probleme in der Schule gehabt und hatte sich immer hervorgetan.

Gemeinsam gingen sie wieder nach unten und setzten sich zu Julie. Sie war mit einem Fehlersuchbild beschäftigt, das machte ihr viel Spaß. Irgendwann stand Greg auf und deckte den Tisch, denn kurz darauf war schon der Auflauf fertig.

Als sie alle zusammen beim Essen saßen, ließ Andrea ihre Blicke von Mann zu Tochter schweifen. Sie war so stolz auf Julie, hätte sie nicht missen mögen. Zwar wäre sie gern etwas später Mutter geworden, aber insgesamt war sie glücklich damit, wie sich alles entwickelt hatte. Andererseits hatte es auch seinen Reiz, noch nicht ganz Mitte dreißig zu sein und schon eine fast achtjährige Tochter zu haben. Sie beneidete ihren Schwager Jack kein bisschen darum, jetzt eine noch nicht ganz vierjährige Tochter und einen Sohn zu haben, der am Wochenende ein Jahr alt wurde.

Andrea war generell überrascht, dass ausgerechnet der bindungsscheue Jack inzwischen verheiratet und zweifacher Vater war. Und nicht nur das – er schien glücklich damit zu sein. Es hatte ihn geerdet. Sie freute sich schon auf das Wiedersehen mit der ganzen Familie am Wochenende. Zum Glück hatte sie jetzt wieder eine Familie, zu der sie gehörte.

 

Donnerstag, 11. Mai

 

Die Station der Essex Police in Colchester war ein zweckmäßiges, aber freundlich wirkendes quadratisches Gebäude am Rande des Stadtzentrums von Colchester. Als Andrea auf den Parkplatz fuhr, bemerkte sie Joshuas Vauxhall Insignia unweit des Haupteingangs und parkte in einer benachbarten Lücke. Joshua hatte sie kommen sehen und stieg gleich aus. Er lächelte ihr freundschaftlich zu.

„Schön, dich zu sehen“, sagte er und begrüßte sie mit einer Umarmung. „Bist du gut durchgekommen?“

„Ja, es war okay“, erwiderte sie. „Wartest du schon lang?“

„Ein paar Minuten“, behauptete er. Gemeinsam betraten sie das Gebäude und meldeten sich am Empfang, wo keine zwei Minuten später ein Mann in Joshuas Alter erschien.

„Detective Inspector Atkinson“, stellte er sich unumwunden vor. „Danke für Ihr Kommen, Dr. Carter. Und Sie sind ...?“

„Andrea Thornton“, stellte sie sich selbst vor. „Ich lehre Psychologie und Kriminologie an der University of East Anglia und bin seit mehreren Jahren Mitglied im Profiler-Team des Birkbeck College in London.“

„Angenehm.“ Atkinson schüttelte ihr selbstbewusst die Hand. „Dann kommen Sie mal mit. Payne und sein Anwalt erwarten uns schon.“

„Eine Frage hätte ich“, sagte Andrea gleich.

„Nur zu.“

„Könnte ich mir vorab den Mitschnitt des Notrufs anhören, den Payne abgesetzt hat?“

Erstaunt runzelte Atkinson die Stirn. „Sicher ... oder kann das bis nachher warten?“

„Tatsächlich würde ich das gern vorher machen“, sagte Andrea.

„Okay.“ Atkinson gab sich geschlagen und führte die beiden in ein Zweierbüro. Er bot ihnen Stühle an, schloss die Tür und suchte an seinem Computer eine Datei heraus, die er schließlich abspielte.

„Notrufzentrale, was möchten Sie melden?“, schallte eine Frauenstimme aus den Lautsprechern.

Die Antwort ließ auf sich warten. Erst hörten sie nur Atemzüge, dann die zitternde Stimme eines jungen Mannes.

„Bitte kommen Sie, ich brauche hier Hilfe.“

„Was ist passiert?“

„Bitte kommen Sie ... Ich glaube, sie ist tot.“ Seine Stimme zitterte, er schnappte nach Luft. „Ich glaube, ich habe sie getötet.“

„Wie lautet Ihr Name, Sir?“

Er schluchzte. „Joseph ... Joseph Payne. Es ist meine ... Freundin ... Elsie.“

„Sie sagten, sie sei tot?“

„Hier ist so viel Blut ...“

„Können Sie mir Ihre Adresse nennen?“

„Bawtree Way, Nummer 31 ... oh Gott, was habe ich getan?“ Jetzt schrie er fast.

„Sir, Sie sagten, Sie hätten Ihre Freundin getötet?“

„J-ja, ich ... ich dachte ... ich ...“ Er wimmerte leise. „Ich weiß nicht, was mit mir los war ... ich dachte, das Baby ...“

„Ist noch ein Kind bei Ihnen, Sir?“

„Nein, Elsie ... sie ... sie war schwanger ... oh Gott ...“ Nun schien Joseph endgültig zusammenzubrechen. Andrea registrierte, dass er von Elsie bereits in der Vergangenheit sprach.

„Es ist Hilfe unterwegs. Ich schicke die Polizei und einen Krankenwagen. Fühlen Sie bei Elsie einen Puls?“

„N-nein ... es ist alles voller Blut. Alles. Ich ... ich habe sie getötet ...“

In dieser Manier ging es noch vier Minuten weiter, bis die Polizei bei ihm eintraf. Andrea hörte aufmerksam zu und spürte schließlich Atkinsons fragenden Blick auf sich.

„Und?“, sagte er dann.

„Mir ist da gestern ein Widerspruch aufgefallen“, erklärte sie. „Er hat in seiner Vernehmung angegeben, sein ungeborenes Kind für ein Monster gehalten zu haben. Da sollte man doch annehmen, er würde nicht noch Elsie fünfmal in die Brust stechen, oder?“

„Dem würde ich mich anschließen“, sagte Joshua.

„Ja, da sagen Sie was. Ich habe keine Ahnung, womit ich es hier zu tun habe. Er ist kooperativ, aber er wirkt völlig durch den Wind. Ich habe ihn hier schon von unserem Polizeipsychologen begutachten lassen, der sich nicht sicher war und vorgeschlagen hat, Sie ins Boot zu holen. Sie kennen sich besser mit so etwas aus. Ich kann das nicht beurteilen, ich weiß nicht, ob er uns was vorspielt. Bis jetzt habe ich ihm seine Trauer abgenommen“, sagte Atkinson.

„Am Telefon klingt er zutiefst erschüttert“, stimmte Andrea zu. „Von dem, was ich da gehört habe, würde ich auch nicht an seiner Trauer zweifeln. Merkwürdig finde ich nur, dass er keine entsprechende Vorgeschichte hat. Wahnhafte Psychosen, in denen man Menschen ersticht, bekommt man üblicherweise nicht aus heiterem Himmel.“

„Das denke ich auch. Na ja, sehen Sie ihn sich mal an. Tatsache ist, dass wir bislang kein Motiv ermitteln konnten, weshalb er Elsie hätte töten sollen.“

„Das heißt nicht, dass keins da ist“, gab Joshua zu bedenken.

Atkinson nickte und führte sie den Gang hinunter bis zu einem Befragungsraum. Darin saßen bereits ein junger Mann in Handschellen und sein Anwalt. Als sie den Raum betraten, blickten beide gespannt auf.

„Nun, Mr. Yates, hier sind die Experten“, sagte DI Atkinson. „Dr. Joshua Carter und Andrea Thornton von den Profilern aus London.“

„Haben Sie vielen Dank“, sagte der Anwalt. Andrea und Joshua setzten sich den Männern gegenüber, Atkinson nahm etwas abseits Platz. Gespannt musterte Andrea Joseph Payne, der erst zu Boden starrte, sie dann kurz ansah und den Blick wieder abwandte. Er knetete seine Finger und wackelte mit dem Fuß. Auf sie wirkte er nervös, aber nicht unbedingt psychisch krank.

„Wie sollen wir Sie nennen – Joseph oder Mr. Payne?“, fragte Joshua.

„Joseph“, erwiderte der junge Mann leise, ohne aufzublicken.

„In Ordnung. Erzählen Sie uns von Elsie, Joseph. Seit wann waren Sie mit ihr zusammen?“

„Seit vier Jahren“, sagte Joseph. Er starrte auf seine Füße.

„Wollten Sie heiraten?“

Es dauerte, bis Joseph reagierte. Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht schon, ja. Wäre ja gut für das Baby gewesen.“

„Haben Sie sich auf das Baby gefreut?“

Nun blickte Joseph mit schmerzerfülltem Blick auf und nickte. „Ja. Sehr sogar. Es war ein Mädchen. Wir wollten sie Willow nennen.“

Andrea beobachtete ihn sehr aufmerksam. Er wirkte zutiefst bestürzt auf sie, regelrecht gebrochen. Er war auch nicht ganz anwesend.

Aber war er krank?

„Das ist ein sehr schöner Name“, sagte Joshua.

Plötzlich begann Joseph zu schluchzen und schlug die gefesselten Hände vors Gesicht. Er weinte für einen Moment, bevor er verzweifelt hervorstieß: „Was habe ich nur getan?“

„War Willow ein Wunschkind?“, fragte Joshua.

Joseph wischte sich mit zitternden Händen über die Augen. „Na ja ... sie war nicht geplant. Nicht so ganz. Aber ja, sie war gewünscht und willkommen. Wir haben uns so gefreut.“

„Beide?“

„Ja. Elsie sowieso. Ich aber auch. Man konnte die Tritte des Babys schon durch die Bauchdecke spüren, wissen Sie?“

In diesem Moment nahm Andrea ihm seine Trauer ab. Er schien tatsächlich zutiefst verzweifelt zu sein.

„Joseph, hatten Sie in der Vergangenheit schon jemals psychische Probleme?“, fragte Joshua. „Depressionen vielleicht? Halluzinationen? Irgendwas in der Art?“

„Nein, ich ... nicht, dass ich wüsste. Keine Ahnung. Ich hatte in letzter Zeit Stress bei der Arbeit und die Aussicht, Vater zu werden, war irgendwie auch ein bisschen angsteinflößend. Ich hätte mich ja um die beiden kümmern müssen, ich meine ... das hätte ich auch gewollt, aber trotzdem ist das ja eine ziemliche Verantwortung.“

„Können Sie mir von Sonntagabend erzählen?“

„Was genau wollen Sie hören?“

„Wie Sie den Abend mit Elsie verbracht haben. Was haben Sie gemacht? Hatten Sie etwas getrunken?“

Während Joseph den Kopf schüttelte, sagte Atkinson von der Seite: „Wir haben zwar noch keinen endgültigen toxikologischen Bericht, aber Alkohol hatte er keinen getrunken. Es wurden auch keine Hinweise auf andere Drogen gefunden.“

„Elsie und ich haben Serien geschaut, bis wir müde geworden und ins Bett gegangen sind“, berichtete Joseph. „Elsie ist in letzter Zeit schnell müde geworden. Die Schwangerschaft war anstrengend für sie.“

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte nun Andrea, die ihre Chance gekommen sah, sich einzuklinken. Joshua lehnte sich zurück. „Hatten Sie Probleme, einzuschlafen? Sie oder Elsie?“

„Elsie ein wenig, glaube ich. Keine Ahnung, ich schlafe meistens zuerst ein.“

„Was hat Sie geweckt?“

„Das war auch Elsie. Sie ist aufgestanden, um zur Toilette zu gehen. Sie hat nichts gesagt, sie hat nicht gemerkt, dass ich wach bin. Sie stand auf ... und ...“ Joseph ließ den Kopf hängen und raufte sich die Haare. Er schniefte leise, als er weitersprach. „Das klingt jetzt sicher verrückt, aber in dem Moment dachte ich, sie sei von einem Monster besessen. Ich hab das regelrecht vor mir gesehen. Sie ging ins Bad und als ich sie so von der Seite gesehen habe ... da war es, als wäre alles klar. Als hätte ich einen Röntgenblick, mit dem ich sehe, dass da ein Monster in ihrem Bauch ist.“

Als er eine Pause machte, fragte Andrea vorsichtig: „Ein Monster?“

„Ja ... Es klingt absurd, ich weiß. Jetzt ist mir das klar. Aber in diesem Moment ... Es war, als hätte sie so ein Monster aus Alien in ihrem Bauch. Haben Sie den Film mal gesehen?“

Andrea nickte. „Ich kenne ihn.“

„So ein Chestburster, der sich im Körper seines Wirtes entwickelt und dann aus seiner Brust hervorbricht, wie bei Ellen Ripley. Das war ... es war so real. Ich war in Panik und dachte, ich muss sie retten. Sie beschützen. Ich hab das nicht eine Sekunde in Zweifel gezogen. Ich bin aus dem Bett gesprungen und in die Küche gelaufen, wo ich das Messer geholt habe. Ich habe mich beeilt, wieder ins Bett zurückzukommen, weil sie nicht merken sollte, dass ich auf war. Sie kam zurück ins Bett und ich habe mich schlafend gestellt, das Messer unter der Decke. Ich hab gewartet, bis sie zurück im Bett war und dann noch ein paar Minuten, bis sie wieder eingeschlafen war ... und dann hab ich ihre Decke zurückgeschlagen und auf sie eingestochen. Auf den Bauch. Auf das, was ... was ich für ein Alien gehalten habe ...“ Mit schmerzerfülltem Blick hob Joseph den Kopf und starrte an die Decke. „Ich bin verrückt. Total verrückt.“

Nun schaltete Joshua sich wieder ein. „Joseph, hatten Sie das Gefühl, gar nicht ganz wach zu sein?“

„Im Gegenteil, ich habe mich hellwach gefühlt. Ich war voller Adrenalin. Ich dachte, da hätte ein Monster Besitz von meiner Freundin ergriffen und ich müsste sie befreien.“

„Haben Sie sich denn nicht gefragt, was passiert, wenn Sie ihren Bauch mit dem Messer verletzen?“

„Ganz ehrlich? So weit habe ich nicht gedacht. Ich wollte bloß dieses Alien töten. Völlig irre ...“

„Elsie hat sich gegen Sie gewehrt“, sagte Andrea. Es war mehr eine Frage als eine Feststellung.

„Ja, gleich beim ersten Stich hat sie aufgeschrien und um sich geschlagen. Sie wollte mich wegschlagen. Natürlich wollte sie das ... Sie hat meinen Namen gerufen, aber ich habe nicht hingehört. Ich habe immer nur gesagt, dass ich sie retten muss, und weiter auf sie eingestochen.“

„Warum in die Brust?“

Joseph gestikulierte wild. „Weiß nicht. Um sie zu schwächen.“

„Also ist das nicht aus Versehen passiert?“, hakte Andrea nach.

„Keine Ahnung ... Nichts davon ergibt irgendeinen Sinn, oder? Ich habe einfach weitergemacht. Sie hat dann aufgehört, sich zu wehren, lag nur noch da und hat Blut gespuckt. Sie hat mich angesehen und meinen Namen gesagt, immer wieder. Hat mich gefragt, warum ich das tue. Hat gesagt, dass ich einen Arzt rufen soll. Das ist gar nicht zu mir durchgedrungen. Ich war wie im Rausch ...“

„Aber Sie wollten doch nicht Elsie töten, sondern nur das Monster.“

„Ja, sicher. Aber ich hab nicht mehr nachgedacht. An nichts. Ich hab ihr einfach beim Sterben zugesehen. Einfach so. Ich ...“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hasse mich so dafür.“

„Wie kam es dazu, dass Sie dann die Polizei gerufen haben?“

„Ich habe irgendwann einfach das Messer fallen gelassen und bin mir mit der Hand durchs Gesicht gefahren. Da habe ich gemerkt, dass ich mir ihr Blut durchs Gesicht schmiere. Es war, als würde sich ein Nebel lichten ... und dann habe ich gesehen, was ich angerichtet habe. Ich habe ihren Puls gefühlt, obwohl ich wusste, dass sie tot ist.“

„Also konnten Sie sich daran erinnern, was Sie getan haben.“

„Ja, im Nachhinein war ich völlig klar. Nur während es passiert ist, hatte ich keine Ahnung, was ich da tue. Und ... und ich war am Boden zerstört. Ich meine, ich hatte gerade meine Freundin getötet ... und mein Baby ...“ Joseph sank in sich zusammen und begann, hemmungslos zu schluchzen. Andrea tauschte einen Blick mit Joshua, der nicht ganz so skeptisch wirkte, wie sie sich fühlte.

Andrea glaubte Joseph nicht. Sie wusste, dass er log. Sie wusste nur noch nicht, warum.

„Und Sie haben das wirklich nicht kommen sehen?“, fragte Joshua. „Hatten Sie Schlaf- oder Konzentrationsprobleme? Litten Sie unter Antriebslosigkeit? Waren Sie irgendwie angespannt? Depressiv gestimmt?“

Joseph zögerte kurz, bevor er sagte: „Kann sein ... ein bisschen vielleicht.“

„Was denn?“, fragte Joshua.

„Ich war öfter unkonzentriert ... und angespannt, ja. Schlecht geschlafen habe ich auch manchmal, aber eher wegen Elsie ... weil sie dauernd auf war.“

„Sind bei Ihnen in der Familie Personen von psychischen Problemen betroffen?“

Joseph schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste.“

Joshua wandte sich an DI Atkinson. „Wenn es sich hierbei nicht um eine akute, vorübergehende psychotische Störung handelt, könnten wir es noch mit einer organisch bedingten Psychose zu tun haben. Möglich wären Durchblutungsstörungen des Gehirns, Veränderungen des zentralen Nervensystems, Infektionen oder etwas in der Art. Wurde das schon geprüft?“

Atkinson schüttelte den Kopf. „Das wäre jetzt der nächste Schritt.“

„Ist seit Ihrer Verhaftung noch mal so eine wahnhafte Episode aufgetreten?“, fragte Joshua an Joseph gewandt.

„Ja ... Das war in der Nacht nach meiner Verhaftung. Da lag ich in meiner Zelle auf der Pritsche und dachte, die Wände kommen näher.“

Atkinson nickte zustimmend. „Man hat mir am Morgen davon berichtet. Er hat ziemlich in der Zelle randaliert, weil er in Panik war. Wir haben dann einen Krankenwagen gerufen und er hat ein Beruhigungsmittel bekommen, dadurch hat er sich beruhigt.“

Andrea versuchte, sich ihre Skepsis nicht anmerken zu lassen. „Seither noch irgendwas?“

Joseph schüttelte den Kopf. „Wenn man davon absieht, dass ich meine Freundin und meine Tochter getötet habe ...“ Seine Kiefer mahlten. „Jetzt bin ich ziemlich depressiv.“

„Gab es Schwierigkeiten in Ihrer Beziehung zu Elsie? Irgendwelche Streitpunkte? Unsicherheiten? Ihnen stand ja eine große Veränderung bevor“, sagte Joshua.

„Nein ... es war alles okay. Da können Sie jeden fragen.“

„Hatten Sie oder Elsie Ängste bezüglich der Schwangerschaft oder der Geburt?“

„Elsie war ein wenig unsicher wegen der Geburt, aber das fand ich normal ... und über die Schwangerschaft hat sie sich gefreut.“

„Wann haben Sie denn zum ersten Mal die Bewegungen Ihrer Tochter durch die Bauchdecke gespürt?“, fragte Joshua.

„Hm ... ich glaube, das war so etwa fünf oder sechs Wochen vorher.“

„Haben Sie sich da gefreut?“

„Natürlich habe ich mich da gefreut!“

„Und Sie fanden das nicht unheimlich?“

Joseph schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Meinen Sie, weil ich später Angst hatte, dass da ein Alien in ihrem Bauch ist?“

„Genau das. Irgendwo muss das ja herkommen.“

„Ich weiß es nicht, Dr. Carter. Ehrlich nicht. Ich hatte gehofft, Sie könnten es mir vielleicht erklären ...“

„Nicht auf Anhieb“, sagte Joshua. Er stellte Joseph noch zahlreiche weitere Fragen, die dazu dienen sollten, Josephs Neigung zu psychischen Störungen abzuklären. Er fragte ihn auch nach seiner Beziehung zu Elsie, seiner Einstellung zur Elternschaft und anderen Dingen. Andrea unterstützte ihn immer wieder, hörte aber häufig nur zu und beobachtete Josephs Reaktion.

Schließlich nickte Joshua Joseph zu. „Nun, fürs Erste habe ich keine weiteren Fragen mehr, aber ich würde mich gern mit meiner Kollegin und dem Inspector besprechen.“

Atkinson nickte und ließ Andrea den Vortritt auf dem Weg nach draußen. Sie war froh, dass Joshua das Bedürfnis hatte, sich ein wenig auszutauschen, denn ihr ging es nicht anders.

Der Inspector führte sie in einen Besprechungsraum und sah die beiden nacheinander fragend an. „Und? Was ist Ihr Eindruck?“

„Ich bin nicht sicher“, sagte Joshua. „Ich würde definitiv noch die organische Abklärung durch einen Neurologen abwarten, bevor ich mich da endgültig festlege.“

„Aber haben Sie eine Tendenz?“, fragte Atkinson.

„Ich bin noch unschlüssig“, sagte Joshua.

„Ehrlich? Ich nicht“, sagte Andrea deutlich offensiver.

„Rein von dem, was ich gehört habe, würde ich auch zu dem Schluss kommen, dass Joseph die Psychose erfunden hat, um die wahren Motive für die Tat zu verschleiern. Aber mit Sicherheit ausschließen kann man es nicht.“

„Ich glaube, er macht uns etwas vor“, sagte Andrea. „Bleibt die Frage nach dem Grund. Wenn er Elsie nicht in einem psychotischen Wahn getötet hat, warum hat er es dann getan? Was war sein Motiv?“

„Das fragen wir uns auch“, sagte Atkinson.

„Ist die Vaterschaft des ungeborenen Kindes schon geklärt?“, fragte Joshua.

„Ja, das Ergebnis des DNA-Tests kam gestern. Joseph ist der Vater, das ist erwiesen.“

„Hm“, machte Joshua unschlüssig und Andrea sagte: „Inspector, werden die Arrestzellen hier videoüberwacht?“

Der Inspector nickte. „Ja, warum fragen Sie?“

„Weil ich mir gern ansehen würde, was hier in der besagten Nacht nach seiner Festnahme passiert ist. Das könnte Aufschluss geben.“

„Das ist eine gute Idee“, stimmte Joshua zu, deshalb gingen sie wieder ins Büro des Inspectors, der die Überwachungsaufnahme erst suchen musste. Schließlich hatte er sie gefunden und spielte sie an seinem Computer ab.

Zunächst war im Dämmerlicht der Zelle nicht viel zu erkennen. Josephs Umrisse waren schemenhaft auf der Pritsche erkennbar, anfangs lag er ruhig da. Der Inspector suchte die Stelle heraus, ab der Joseph sich bemerkbar machte.

Er sprang abrupt von der Pritsche auf und drehte sich immer wieder hektisch um. Schließlich rannte er erst an die linke Wand und stemmte sich dagegen, dann versuchte er es bei der rechten. Über eine Tonspur verfügte die Aufnahme nicht, aber sie konnten sehen, dass Joseph schrie. Irgendwann hämmerte er an die Tür und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie geöffnet wurde. Joseph wollte aus der Zelle stürmen, wurde jedoch zurückgehalten. Ein Polizist kümmerte sich um ihn, ein weiterer telefonierte. Allerdings schien Joseph sich nicht zu beruhigen, weshalb sie ihm irgendwann Handschellen anlegten und ihn vorerst aus der Zelle brachten.

Atkinson sprang zu der Stelle, an der Joseph in Begleitung von zwei Sanitätern zurück in die Zelle geführt wurde. Nun wirkte er schon erheblich ruhiger, legte sich wieder auf die Pritsche und ließ alles widerstandslos mit sich geschehen.

„Deckt sich mit seiner Aussage“, sagte Joshua. „Es wirkt so, als sei er in Panik geraten.“

„Klar, aber auch das kann man spielen“, erinnerte Andrea ihn.

„Sicher. Ich finde es gerade sehr schwer, mich festzulegen.“

„Ich nicht, ehrlich gesagt. Ich hatte schon hautnah mit jemandem zu tun, der eine wahnhafte Episode durchgemacht hat. Das war anders. Vorhin war er rational und kontrolliert. Das Einzige, was ich ihm wirklich abnehme, ist seine Trauer um Elsie und das Kind.“

„Okay, aber dann sag mir, warum hätte er sie töten sollen? Ein Motiv wäre die Vaterschaft gewesen – wenn er nicht der Vater gewesen wäre, meine ich. Aber das fällt ja aus.“

Andrea blickte zu Atkinson. „Was haben Ihre Ermittlungen im Umfeld ergeben? Stimmt es, was Joseph sagt – dass er und Elsie sich auf das Kind gefreut haben?“

Atkinson nickte. „So haben sich jedenfalls die Familien und Freunde der beiden geäußert. Das ist eben mein Problem – ich finde auch kein Motiv. Mir ist nicht klar, aus welchem Grund Joseph Elsie hätte töten sollen.“

„Er wirkt einfach nicht wie jemand, der psychotisch ist“, sagte Andrea.

„Wenn er gerade eine normale Phase hat, lässt sich das auch nicht feststellen. Wir müssen jetzt tun, was wir nicht können, und seine psychische Verfassung zum Tatzeitpunkt beurteilen. Das können wir nur, wenn seine wahnhaften Episoden sich wiederholen oder vielleicht der Neurologe feststellt, dass alles organische Ursachen hat.“

„Zugegeben, du warst damals bei Angus MacLachlan nicht dabei – aber du hast Jamie Parker erlebt“, sagte Andrea. „Der war selbst in seinen wahnfreien Phasen irgendwie nicht ganz normal.“

„Jamie Parker ist aber auch schizophren, das ist Joseph auf keinen Fall“, widersprach Joshua.

„Ich glaube absolut, dass er jetzt um Elsie und das Baby trauert und bereut, was er getan hat. Ich frage mich nur, was ihn dazu bewogen hat, wie von Sinnen auf sie einzustechen. Wann ist der Notruf eingegangen?“

„Um 0.48 Uhr in der Nacht“, sagte Atkinson.

„Okay ... und wie lang war sie da schon tot?“

„Der Gerichtsmediziner schätzte etwa zwei Stunden.“

„Joseph will also zwei Stunden neben ihr gesessen haben, bevor er wieder klar genug war, um Hilfe zu rufen“, sagte Andrea und schüttelte skeptisch den Kopf. „Ich kann Ihnen noch kein Motiv nennen, aber ich kaufe ihm nicht ab, dass das so gelaufen ist. Konnte festgestellt werden, ob Elsie wirklich im Bett getötet wurde?“

„Unseren Forensikern zufolge stimmt das wohl. Bei der Obduktion wurden die Stichkanäle begutachtet und die passen zu Josephs Aussage, dass er im Bett über ihr gehockt haben soll.“

„Okay ... Ich hatte kurz überlegt, ob das Ganze vielleicht aus einem Streit entstanden ist, aber wenn es woanders angefangen hätte, hätte man dort ja Spuren finden müssen“, murmelte Andrea nachdenklich.

„Ja, darüber hatten wir auch schon nachgedacht. Aber es spricht alles dafür, dass Elsie tatsächlich im Bett lag, als Joseph auf sie losgegangen ist“, sagte Atkinson.

Joshua blickte zu Andrea. „Wenn du ihm nicht glaubst – was vermutest du dann?“

„Das weiß ich eben nicht, aber es muss einen Grund geben. Er lügt uns an, aber ich weiß noch nicht, warum. Haben die Nachbarn Streit gehört?“

„Die waren nicht zu Hause“, sagte Atkinson schulterzuckend.

„Ich glaube, dass es Streit gab. Keine Ahnung, wieso. Joseph hat die Fassung verloren und auf Elsie eingestochen. Auf sie und vor allem auf das Baby, um das geht es hier in der Hauptsache. Er war definitiv in einem Rausch – einem Blutrausch. Und als er gesehen hat, was er angerichtet hat, stand er unter Schock. Er hat zwei Stunden gebraucht, um sich zu überlegen, was er jetzt tun soll. Wenn er Elsie tatsächlich im Bett erstochen hat, hatte er ja ein Problem – überall war Blut. Er hätte Elsie und die blutgetränkte Matratze ungesehen fortschaffen müssen und ihm muss klar gewesen sein, dass er das nicht schafft. Ihm muss auch klar gewesen sein, dass er sie generell nicht einfach verschwinden lassen kann. Bei einer jungen Frau in einem stabilen sozialen Umfeld werden Fragen gestellt – bei einer Schwangeren sowieso. Und irgendwann ist ihm eingefallen, dass er behaupten könnte, er wäre durchgedreht.“

„Charmante Erklärung, das gebe ich zu“, sagte Atkinson. „Klingt auch plausibel. Da gibt es eben nur ein Problem ...“

„Das fehlende Motiv“, vervollständigte Joshua seinen Satz.

„Dass das Baby von Joseph war, beweist aber nicht, dass Joseph nicht vielleicht dachte, es sei nicht seins“, gab Andrea zu bedenken und wandte sich an Atkinson. „Gibt es Hinweise darauf, dass Joseph eifersüchtig war, ganz egal, ob er nun Grund dazu hatte oder nicht?“

„Bis jetzt nicht“, sagte Atkinson. „Ich werde da noch weiter nachforschen.“

„Ich hatte schon so einen ähnlichen Fall“, sagte Andrea. „Da wurde auch das ungeborene Baby noch im Mutterleib mit Messerstichen verletzt, deutlich heftiger als hier. In dem Fall hat der Täter fast die gesamte Familie ausgelöscht und dem verwitweten Familienvater den Mord in die Schuhe geschoben, weil die Ehefrau seine Avancen zurückgewiesen hat. Ein extremer Fall von Narzissmus und Eifersucht.“

„Hört sich so an“, sagte Atkinson.

„Joseph hat ohne Unterlass auf Elsies Bauch eingestochen. Darum geht es hier. Und Chestburster ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist eine nette Metapher, aber ich nehme ihm das nicht ab.“

„Ich sehe das nicht ganz so rigoros“, schaltete Joshua sich ein. „Ich hege auch Zweifel, aber ich habe keine so klare Tendenz. Es ist immer noch möglich, dass er einfach durchgedreht ist.“

„Akute Psychosen gehen aber üblicherweise nicht so aus“, widersprach Andrea.

„Ja, das mag sein. Auszuschließen ist es dennoch nicht.“

„Ist denn irgendjemandem am Tattag aufgefallen, dass Joseph sich ungewöhnlich verhalten hat? Seinen Arbeitskollegen vielleicht?“, fragte Joshua.

„Nein, da war er normal“, sagte Atkinson.

„Inspector, haben Sie schon Elsies Handy überprüft? Hatte sie einen Laptop? Hat sie Tagebuch geführt?“, fragte Andrea.

„Die Techniker stecken noch mittendrin. Wir gehen natürlich ihre Nachrichten und ihre Browser-History durch, aber bis jetzt wurde da noch nichts Verdächtiges gefunden“, antwortete Atkinson.

„Ich würde gern in Ruhe über die Sache nachdenken und noch mal wiederkommen.“

„Gute Idee.“ Joshua nickte zustimmend und Atkinson war einverstanden. Man konnte ihm zwar die Enttäuschung ansehen, denn er hatte auf ein schnelleres Ergebnis gehofft, aber so lief das eben nicht immer.

„Hätte nicht gedacht, dass deine Tendenz so schnell in eine Richtung geht“, sagte Joshua.

„Doch ... das ist so ein Gefühl. Nenn es Erfahrung. Keine Ahnung. Aber dieser Mann hat seine Freundin nicht im psychotischen Wahn erstochen. Jetzt müssen wir nur herausfinden, was der wahre Grund war“, sagte Andrea.

„Dass du dich da schon so festlegst.“

„Ja, das tue ich. Deshalb sollte ich doch mit, oder? Weil ich in dieser Richtung Erfahrungen gesammelt habe.“

„Sicher ... trotzdem geht mir das zu schnell.“

„Das verstehe ich. Ich will da auch nicht voreingenommen sein, ich höre nur auf mein Bauchgefühl.“

„Und das lag eigentlich noch nie falsch“, sagte Joshua.

 

Auf dem Heimweg dachte Andrea noch über ihr Gespräch mit Joshua nach. Hatte sie sich zu schnell festgelegt? Vielleicht. Sie wusste, dass sich bei Psychosen klare Phasen mit wahnhaften Zuständen abwechselten. Vermutlich hätte sie Joseph seine Behauptung abgenommen, wäre die Spurenlage eindeutiger gewesen. Aber so gab es einfach zu viele Ungereimtheiten.

Es war um das Kind gegangen. Das war bei Silvia Leitner schon der Fall gewesen. Aber wieso? Hätte Joseph das Kind nicht gewollt, hätte er jetzt nicht so getrauert. Hatte er Anlass gehabt, zu glauben, dass er nicht der Vater sein könnte? Das war es im Fall von Thomas Leitner gewesen – Eifersucht. Krankhafte, tödliche Eifersucht.

Sie fand es auch unglaubwürdig, dass die Psychose bei Joseph wirklich völlig aus dem Nichts gekommen sein sollte. Das ergab keinen Sinn. Nichts daran ergab irgendeinen Sinn. Alien ... nein.

Zu Hause angekommen, war sie allein und nutzte die Gelegenheit, ihre Nase noch einmal in ihre Fachliteratur zu stecken. Bei Psychosen handelte es sich um Bewusstseins- und Wahrnehmungsstörungen, bei denen typischerweise Wahnvorstellungen und Halluzinationen auftraten. Vor diesem Hintergrund erschienen Josephs Behauptungen, er hätte mit einem Röntgenblick ein Alien im Bauch seiner Freundin gesehen, durchaus nachvollziehbar. Betroffene bildeten sich ein, Dinge zu sehen, zu hören oder anders wahrzunehmen, die gar nicht existierten. Kognitive Störungen und Beeinträchtigungen des Denkens waren typisch.

Psychosen wurden nach primären, funktionellen Psychosen und sekundären, organischen Psychosen kategorisiert. Wahnzustände im Fall einer vorliegenden Schizophrenie gehörten zur ersten Kategorie ebenso wie verschiedene andere Formen. Es gab Mischformen von Wahnzuständen, die zwischen schizophrenen und affektiven Zuständen schwankten, es gab anhaltende Wahnideen, schizotype Wahnideen mit Tendenzen zu selbstisolierendem Verhalten. Bei den induzierten wahnhaften Störungen, häufiger als folie à deux bekannt, handelte es sich um Wahnideen, die sich von einer Person auf eine andere, ihr nahestehende Person übertrug.

Nein, das war es alles nicht. Bei Joseph war vermutlich die Rede von akuten vorübergehenden psychischen Störungen. Laut Definition konnten sie plötzlich auftreten und verschwanden meist auch genau so schnell wieder. Andrea wusste das – aber sie kannte keinerlei Fälle, in denen die Betroffenen so schwer in Mitleidenschaft gezogen wurden, dass sie sogar aus heiterem Himmel töteten.

Oder handelte es sich bei ihm vielleicht wirklich um eine sekundäre Psychose mit organischen Ursachen? Gehirnerkrankungen, Infektionen, Durchblutungsstörungen oder Verletzungen konnten eine Psychose auslösen. Psychosen traten aber auch nach Narkosen oder durch Alkoholmissbrauch auf.

Sie kannte Fälle, in denen schizophrene Paranoia dazu geführt hatten, dass jemand tötete. Aber Schizophrenie konnte es nicht sein, denn die trat nicht aus heiterem Himmel auf. Das waren Menschen, die unter Verfolgungswahn litten – oder, wie Jamie Parker, davon fantasierten, einen Menschen aus den Körperteilen anderer Menschen zu basteln, um die eigene Mutter wieder fröhlich zu sehen.

Nein, so etwas war es bei Joseph auf gar keinen Fall. Das hätte Atkinson ermitteln können. Allerdings stieß Andrea beim Lesen auf einen wichtigen Hinweis: Wahnvorstellungen und Halluzinationen deuteten eher auf eine primäre Psychose hin, Verwirrtheit-, Bewusstseins- und Gedächtnisstörungen bei einer sekundären Psychose.

Das konnte es also auch nicht sein.

Ihr Verdacht festigte sich, dass Joseph ihnen etwas vormachte. Ja, es war möglich, aus heiterem Himmel an Wahnvorstellungen zu erkranken, weil man eventuell die Frühsymptome übersah. Aber tötete man dann gleich?

Es überzeugte sie einfach nicht. Hätte eine Störung vorgelegen, die einen Gewaltakt solchen Ausmaßes rechtfertigte, dann hätte man es Joseph auch später noch anmerken müssen. Sie hielt es für ausgeschlossen, dass er zwei Stunden nach dem Mord klar genug war, um dann die Polizei zu rufen.

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie ließ das Buch sinken und lächelte, als sie sah, wer sie anrief.

„Katie“, sagte sie zur Begrüßung. „Wie schön, dass du anrufst! Wie geht es dir?“

„Hallo, Andrea. Störe ich dich?“, fragte Katie Archer. Sie klang selbstbewusster – das war Andrea in letzter Zeit, wenn sie mit Katie telefoniert hatte, schon öfter aufgefallen.

---ENDE DER LESEPROBE---