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„Zwei Perspektiven, ein Leben im Wandel. Emilia, 13, flieht vor einem Zuhause, das sie nicht mehr erträgt. Kathi Klein, Sozialpädagogin, muss ihr helfen – doch auch sie steht vor der Herausforderung, sich selbst nicht zu verlieren. In dieser bewegenden Geschichte über den schmalen Grat zwischen Hoffnung und Resignation erleben wir die Welt von Emilia und Kathi. Während Emilia verzweifelt nach einem Ausweg sucht, kämpft Kathi mit den Grenzen ihrer Arbeit und der Belastung ihrer eigenen Gefühle. Zwei Frauen, deren Leben sich auf unerwartete Weise überschneiden, in einem System, das nicht immer die Antworten bietet, die sie brauchen. „Zwei Leben, zwei Perspektiven, eine Welt der Möglichkeiten und Herausforderungen.“ Eine packende Erzählung über die Grauzonen der Sozialen Arbeit und die Suche nach einem Platz im Leben.“
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Seitenzahl: 164
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nirgends ganz
Autorin: Julia Winkler
Jahr: 2025
„Triggerwarnungen, weil durchaus notwendig.”
Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion, eine künstlerische und literarische Interpretation basierend auf allgemeinen Erfahrungen aus der Arbeit und gleichzeitig der Fantasie.
Die dargestellten Szenarien und Erlebnisse sind nicht als genaue Wiedergabe realer Fälle zu verstehen, sondern spiegeln extreme, aber mögliche Situationen wider, die in ähnlichen Kontexten auftreten könnten.
Die Entscheidung, ein solches Thema in einem fiktionalen Kontext zu behandeln, dient dazu, einen allgemeinen Eindruck von der Tiefe und Tragweite dieser Erfahrungen zu vermitteln und auf die komplexen, oft unsichtbaren Herausforderungen aufmerksam zu machen, die im Kontext der Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen auftreten. Denn diese Herausforderungen betreffen nicht nur die Jugendlichen selbst, sondern auch die Einrichtungen und Fachkräfte, die sich mit den emotionalen, psychischen und oft auch physischen Folgen von belastenden Erfahrungen auseinandersetzen müssen.
Es geht darum, Empathie und Verständnis für Menschen in schwierigen Lebenslagen zu entwickeln und zu erkennen, dass soziale Probleme vielschichtig und oft von individuellen Schicksalen geprägt sind.
Zudem lädt die Autorin die Lesenden dazu ein, über die gesellschaftlichen Fragen nachzudenken, die das Thema aufwirft.
Wie etwa die Verantwortung der Gesellschaft im Umgang mit diesen verletzlichen Menschen und die Notwendigkeit einer Reform der Unterstützungssysteme.
Vorab soll auf mögliche belastende Inhalte hingewiesen werden. Einige Passagen könnten für die Lesenden emotional herausfordernd sein. Diese Erlebnisse und Geschichten sind nicht ohne, aber das Ziel ist es, den Schmerz und die Belastungen, die viele Jugendliche und Fachkräfte erfahren, spürbar zu machen.
Die Erzählung enthält dramatische, aber auch hoffnungsvolle und schöne Momente.
Die Geschichte thematisiert folgende Aspekte:
Gewalt in der Familie – körperlicher, emotionaler oder psychischer Missbrauch.
Vernachlässigung – mangelnde Fürsorge durch Erziehungsberechtigte.
Prostitution von Minderjährigen – direkte oder indirekte Erwähnung von Ausnutzung und Ausbeutung.
Drogenmissbrauch – Darstellung oder Erwähnung von Drogenkonsum bei Jugendlichen oder im familiären Umfeld.
Alkoholmissbrauch – problematischer Alkoholkonsum, insbesondere in Familien.
Selbstverletzung – Erwähnung oder Beschreibung von selbstverletzendem Verhalten.
Traumata – allgemeine oder spezifische Traumata durch Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch.
Angstzustände und Panikattacken – Erwähnung von psychischen Gesundheitsproblemen, wie z. B. schwere Angstzustände.
Heim- oder Fremdunterbringung – Verlust des Zuhauses und der Eltern und die emotionale Belastung, die damit einhergeht.
Elternkonflikte – destruktive Beziehung zwischen den Erziehungsberechtigten.
Ablehnung durch die Familie – Themen wie Verstoßung oder emotionale Distanz der Familie gegenüber dem Kind.
Lies das Buch deswegen am besten in kleinen Häppchen, tausche Dich viel mit anderen darüber aus und sieh dir begleitende Dokumentationen und Filme an, um dir passende Bilder dazu zu holen.
Wenn Du Probleme mit Deinen Eltern hast, oder jemanden kennst, dem oder der es so geht, wende Dich an Dein ortsansässiges Jugendamt, das steht Dir mit Rat und Tat zur Seite.
Ich starre auf die Scherben am Boden, mein Herz schlägt bis zum Hals. Die Vase – ich weiß nicht mal, wie sie mir aus der Hand gerutscht ist. Es war nur ein kleiner Ruck, und dann hörte ich das laute Klirren, das jetzt noch in meinen Ohren nachhallt.
„Was hast du gemacht?!“ Die Stimme meiner Mutter schneidet durch die Luft wie ein Messer. Sie steht in der Tür, die Augen auf die Scherben gerichtet, als wäre etwas unersetzlich Wertvolles zerstört worden.
„Es tut mir leid, Mama. Es war ein Versehen,“ beginne ich, doch sie unterbricht mich sofort.
„Ein Versehen? Ein Versehen?! Das sagst du immer, wenn du etwas kaputt machst!“ Sie geht einen Schritt auf mich zu, ihre Augen blitzen wütend, als sei ich das Schlimmste, was in ihrem Leben passiert ist. Sie wird immer lauter und kommt mir gruselig nah: „Du bist so ungeschickt! Kannst du nicht einmal aufpassen?“ Sie hebt die Hand vor mir, als würde sie mir eine Schelle geben wollen.
„Ich wollte sie nur kurz abstauben …“, versuche ich zu erklären, aber es bringt nichts. Sie hört mir nicht zu, sie hat schon entschieden, dass ich schuld bin.
„Das ist nicht dein Ernst.“ Sie senkt die Hand wieder, aber ihre Stimme ist nun eiskalt, voller Abscheu. „Diese Vase hat ein Vermögen gekostet. Aber dir ist das ja egal, oder? Du hast ja keine Ahnung, wie viel Arbeit es ist, für solche Sachen zu schuften!“ „Du chillst ja nur den ganzen Tag und wirfst dein Geld für Drogen raus.“
Ich will etwas erwidern, aber ich kann nicht und bleibe stumm. Klar, ich hätte vorsichtiger sein sollen, aber es ist doch kein Weltuntergang. Trotzdem stellt sie es so dar, als wäre ich der schlimmste Mensch auf Erden.
„Du denkst nie nach! Immer machst du alles kaputt, du bist zu nichts zu gebrauchen!“ Ihre Worte sind scharf wie Nadeln, jedes sticht tiefer. „Weißt du, wie peinlich es ist, dass du nicht mal so etwas Einfaches hinkriegst?“
Die Tränen schießen mir in die Augen, aber ich will nicht vor ihr weinen, mir nicht die Blöße geben, das habe ich schon zu oft. Nicht jetzt. „Es war doch nur eine Vase…“, flüstere ich, aber kaum sind die Worte ausgesprochen, bereue ich sie.
„Nur eine Vase?“ Sie lacht kalt auf. „Du hast absolut keine Ahnung, oder? Natürlich ist es dir egal. Du musst auch nie die Konsequenzen tragen! Ich bin diejenige, die ständig alles reparieren muss, alles ersetzen muss – weil du nicht aufpassen kannst!“
Es ist, als ob jedes Wort von ihr mich weiter in den Boden drückt. Ich will sagen, dass es mir leidtut, dass es wirklich ein Versehen war, aber in diesem Moment weiß ich, dass es egal ist, was ich sage. Sie ist wütend, und in ihrer Wut gibt es keinen Platz für Entschuldigungen.
„Weißt du was? Ich habe es satt, immer deine Fehler auszubügeln. Irgendwann musst du mal erwachsen werden und Verantwortung übernehmen. Aber offensichtlich bist du noch weit davon entfernt.“
Meine Worte bleiben mir im Hals stecken. Egal, was ich jetzt sagen würde, es wäre falsch. Sie dreht sich um und verlässt den Raum, und ich stehe da, allein, mit den Scherben zu meinen Füßen, fühlend, als wäre ich selbst in tausend Stücke zerbrochen.
Meine Tränen fallen zu den Scherben auf den Boden, während ich sie einsammle und in meine Handtasche stopfe, um sie schnellstmöglich aus meinem Sichtfeld zu entfernen.
Ich gehe aus dem Haus, meine Mutter würdigt mich keines Blickes mehr.
Der Zug ruckelt, während er sich durch die Vororte schiebt. Ich lehne den Kopf ans Fenster, spüre das Vibrieren des Glases an meiner Schläfe und sehe hinaus. Reihenhäuser, leergefegte Spielplätze, Graffiti auf Lärmschutzwänden – immer dieselbe Strecke, immer dieselben Bilder. Und doch fühlt sich jeder Morgen anders an. Manche Tage beginnen mit einem Kloß im Hals, andere mit einer resignierten Müdigkeit. Andere höchst motiviert. Heute ist es irgendetwas dazwischen. Ich hatte nun zwei Wochen Urlaub. Es war privat viel los. Zwei Wochen reichen dann oft gar nicht, um richtig zu regenerieren.
Ich nehme meinen Thermobecher, nippe daran und verziehe das Gesicht. Lauwarm. Zu lange ist die Zugfahrt schon.
Mein Handy vibriert. Ich ziehe es aus meiner Tasche, entsperre den Bildschirm. Eine Nachricht von Anna, meiner Kollegin aus dem Nachtdienst, die ich gleich ablösen werde: Eine weitere Kollegin ist krank und wird heute nicht kommen. Bedeutet, ich bin den Vormittag über allein … Ich seufze leise und tippe eine knappe Antwort. „Bin gleich da.“ Dann lasse ich das Handy in die Tasche gleiten und betrachte mein Spiegelbild im Fensterglas. Ich sehe müde aus, kein Wunder, ich hatte viel zu verkraften die letzten zwei Wochen. Meine Tante ist nach kurzer, aber schwerer Krankheit im Krankenhaus verstorben. Jetzt in die Arbeit zu gehen und sich mit anderen Problemen, statt meinen eigenen zu beschäftigen, fühlt sich nur halb gut an, aber irgendwann muss es ja weiter gehen. Eine Träne rollt über meine Wange. Ich setze meine Kopfhörer auf und starte eine Playlist, die ich seit Jahren höre, wenn ich mich sammeln muss. Für einen Moment bin ich allein mit meinen Gedanken. Die Menschen um mich herum verschwimmen, Gesichter, die ich nicht kenne, Gespräche, die mich nicht betreffen. Der Technobeat durchströmt meinen Körper.
Als der Zug wenig später in den Bahnhof einfährt, atme ich tief durch und schiebe die Gedanken beiseite. Ich greife nach meinem Rucksack und steige aus.
Vom Bahnhof aus laufe ich nur noch kurz, denn wir sind mit unserer Einrichtung mitten im Bahnhofsviertel.
Ich halte meine Chipkarte an die Tür, sie springt automatisch auf. Der Wachdienst nickt mir grüßend zu. Ich schaue nach hinten in den langen Flur. Das Gebäude ist wie ein Schlauch aufgebaut und immer zur Seite weg, gehen dann die einzelnen Gruppen. Jeder Flur, und damit jede Gruppe, ist mit einer Tür abgetrennt, die nur vom Betreuungspersonal geöffnet werden kann. Es erinnert mich schon immer etwas an ein Gefängnis, denn ohne unsere Chipkarte, sind wir hier aufgeschmissen.
Direkt am Eingang zum ersten Flur begegnen mir schreiende Kinder und eine zerschlagene Scheibe, die gab es auch schon vor meinem Urlaub. Ob sie wohl zwischenzeitlich mal repariert war?
Ich ziehe meine Rucksackträger enger und atme tief durch, ich gehe einen Gang weiter. Hier begegnet mir ein syrischer Junge, er zeigt mir, dass er neue Schuhe bräuchte, seine wären kaputt. Ich versuche ihm mit der Übersetzer-App auf meinem Handy zu erklären, dass ich nicht für ihn zuständig bin und er die Betreuer*innen aus seiner Gruppe fragen muss. Er will, oder kann es nicht verstehen. Er schaut mich mit einer Mischung aus Verzweiflung und Wut an und schlägt mir die Tür vor der Nase zu.
Ich gehe nochmal weiter. Mir begegnet ein 13-jähriger Junge. Er fuchtelt mit einem Stock vor meinem Gesicht und schreit mich direkt an. „Was macht die blöde Nutte wieder hier? Du dumme Nutte, verpiss dich. Dich will sowieso keiner hier haben. Dich mag sowieso keiner.“
„Was eine nette Begrüßung“, denke ich mir nur und mache die Tür zu meiner Gruppe auf.
Ich gehe ins Büro und schließe die Tür hinter mir.
Wie ich, sieht auch meine Kollegin müde aus, begrüßt mich aber dennoch herzlich. Warme Heizungsluft erwartet mich.
Wir haben einen kleinen Raum, mit einem großen Fenster und zwei Schreibtischen. Meistens liegt viel zu viel Kram auf den Tischen, sodass ich mir erstmal meinen Schreibtisch für den heutigen Tag zurechtmache. Ich brauche die Ordnung, denn wenn ich die Ordnung hier nicht habe, dann kann ich sie auch im Kopf nicht haben. Mein nächster Weg geht zur Kaffeemaschine. Ich schnappe mir meine Lieblingstasse und drücke auf Start. Der angenehme Duft verteilt sich im Raum.
Mit der gefüllten Tasse setze ich mich an den Schreibtisch, nehme noch einen kleinen Schluck von dem noch viel zu heißen Kaffee, zücke mein Notizbuch und wir beginnen mit der Übergabe.
Meine Kollegin versucht gleichzeitig die letzten zwei Wochen, aber auch die vergangene Nacht zusammenzufassen.
Sie erzählt davon, dass gerade eine Krankheitswelle herumgeht. Sowohl Mitarbeitende als auch die Jugendliche liegen überwiegend flach. Es gibt diverse Dienstausfälle. Dementsprechend ist einiges an Papierkram liegen geblieben.
Mir wird erzählt von einer Jugendlichen, die heute Nacht den Feueralarm mit ihrem Deo ausgelöst hat, weswegen gegen 02:00 Uhr nachts das ganze Haus geräumt werden musste. Nach dem Alarm haben mehrere Jugendliche den Moment genutzt und haben die Nacht zum Tag gemacht, sie wollten nicht mehr schlafen gehen und haben Party auf ihrem Zimmer gemacht. Es hat einiges an Zeit gebraucht, die Meute zu bändigen.
Sie erzählt von einem Anruf der Polizei heute Nacht, die eine Gruppe geflüchteter Menschen aufgegriffen hat, darunter einige allein reisende Jugendliche. Diese wurden dann allesamt in unserer Partnergruppe für Geflüchtete aufgenommen.
Sie berichtet von einer Neuaufnahme. Ein Mädchen, welches gestern Nacht von daheim weggelaufen ist und Hilfe suchend vor unserer Tür stand. Meine Kollegin gähnt, während sie zu Ende erzählt. Sie sieht fertig aus, es war eine anstrengende Nacht. Sie muss sich jetzt erstmal daheim hinlegen, denn heute Abend hat sie schon wieder Nachtdienst.
Sie geht und ich bleibe allein zurück im Büro.
Ich sehe in mein Notizbuch, ein ToDo reiht sich an das nächste. Ich muss mich nun erstmal sortieren, wo ich anfange.
Es ist Wochenende, das heißt alle schlafen noch, oder sind eben auch krank, eine gute Zeit, um all den Haushaltskram zu erledigen, bevor ich wahrscheinlich mit Jugendlichen-Anfragen überrollt werde.
Ich nippe an meinem mittlerweile kalt gewordenen Kaffee und versuche mir erstmal irgendwie einen Überblick zu verschaffen.
Ich mache eine Runde durch alle Zimmer, um zu sehen, ob alle da sind und um ihnen hallo zu sagen.
Es ist eigentlich noch alles wie vor meinem Urlaub. Obwohl wir nur eine Übergangseinrichtung sind, wurde für keine*n der Jugendlichen in der Zwischenzeit eine alternative Einrichtung gefunden. Nur einer ist weg, der ist jetzt aber im Gefängnis. Ob das besser ist, weiß ich auch nicht.
Wir haben da immer noch das Mädchen, welches wir vor einer schwer alkoholabhängigen Mutter gerettet haben, das aber eigentlich auch immer noch zur Mutter will und dies nur nicht darf.
Wir haben das Mädchen, welches wir aus der Prostitution gerettet haben.
Der Junge, der seine Mutter geschlagen hat und seine Familie dadurch gefährdet.
Das Mädchen, deren Mutter und Vater beide gleichzeitig ins Gefängnis gekommen sind und sie keine anderen Verwandten hat.
Und noch einige mehr. Mittlerweile so viele, dass man manchmal den Überblick verliert, wer welche Vergangenheit hat.
Ich kehre wieder ins Büro zurück und lasse mir meinen zweiten Kaffee des Tages heraus. Eigentlich bin ich kein Fan von Vorurteilen, aber das Vorurteil, dass Sozialpädagog*innen viel Kaffee trinken, das trifft wohl vollkommen auf mich zu. Ich halte die warme Tasse in beiden Händen und sehe aus dem Fenster, sehe das bunte Laub von den Bäumen segeln. Ein Eichhörnchen klettert einen Baum hinauf.
Der restliche Tag bleibt dann ruhig, die Jugendlichen sind geplättet von der Party gestern Nacht und einfach noch zu angeschlagen. Ich kann die Ruhe wirklich genießen, denn ruhig ist es hier selten, das wirst Du im Folgenden sehen.
„Manchmal ist der größte Mut, sich endlich einzugestehen, dass man nicht länger bleiben kann.“
Mein einziger Zufluchtsort in solchen Momenten ist der nah gelegene Jugendtreff. Die Betreuer*innen dort sind nett und ich fühle mich dort so viel wohler als bei meinen Eltern. Klar bin ich nicht immer einfach, aber so, wie meine Mutter vorhin reagiert hat, das kann ich einfach nicht länger ertragen. Ich ziehe meine Kapuze etwas tiefer in mein Gesicht, dass die Leute nicht meine verweinten Augen sehen können, und laufe schnellen Schrittes in die Computer-Ecke. Hier stehen in gemütlicher Atmosphäre vier Computer, die von allen Jugendlichen frei genutzt werden können.
Es ist ein großes Glück, dass es hier diese Computer gibt. Mama und Papa erlauben mir nämlich keinen Computer, sie sagen, ich wäre noch zu jung dafür, und seitdem ich einmal ein T-Shirt meiner Lieblingsband auf Mamas Kreditkarte bestellt habe, ohne vorher zu fragen, darf ich auch nicht mehr an den Computer von Mama und Papa. Sie sagen, ich würde da ja auch nur dumme Dinge anschauen und Sachen bestellen, die keiner braucht.
Ich kuschele mich in den gemütlichen Sessel und scrolle etwas im Internet, ich schaue nach Hilfsangeboten für Jugendliche, die nicht mehr mit ihren Eltern leben wollen, denn ich habe einen Entschluss gefasst. Ich kann nicht mehr daheimbleiben.
Ich finde eine Telefonnummer des Jugendamtes. Um dort anzurufen, habe ich aber zu viel Angst und sie haben gar nicht mehr geöffnet.
Nach noch mehr Suchen finde ich ein Kontaktfeld von einer Einrichtung, die angibt, rund um die Uhr erreichbar zu sein und Kindern und Jugendlichen zu helfen. „Das hört sich doch genau nach dem an, was ich suche.“, denke ich mir und fühle mich etwas erleichtert, dass es so eine Option überhaupt gibt.
Ich sehe mich um, überall laufen hier Jugendliche herum. Ich komme ins Nachdenken: all diese Jugendlichen haben bestimmt tolle Familien und ich sitze hier und will nicht mehr nach Hause. Das Leben ist so unfair, ich will doch einfach nur nette Eltern haben.
Ich widme mich wieder meinem Bildschirm. Man kann hier scheinbar mit der Einrichtung chatten, dafür braucht man aber eine E-Mail-Adresse, dass sie einem antworten können. Ich lege mir also extra dafür eine eigene an, denn die darf ich eigentlich auch nicht haben. Ich schreibe hektisch drauflos, da ich Angst habe, dass jemand bemerkt, was ich hier mache:
Betreff:
Bitte um Hilfe
Hallo,
mein Name ist Emilia und ich bin 13 Jahre alt.
Ich habe lange mit mir gekämpft, aber ich muss es jetzt endlich tun. Ich kann nicht mehr bei meiner Familie bleiben.
Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Ich kann das nicht mehr aushalten. Zu Hause ist es einfach nur noch schlimm. Meine Eltern schreien mich die ganze Zeit an, und ich habe so Angst. Es ist ständig laut, und wenn ich versuche, mich zu verstecken oder ruhig zu bleiben, wird alles noch schlimmer.
Manchmal packen sie mich fest oder stoßen mich weg, wenn sie sauer sind, und ich weiß gar nicht, was ich falsch gemacht habe. Ich versuche, alles richtigzumachen, aber es ist nie genug. Ich habe ständig Bauchschmerzen vor Angst, dass sie wieder wütend werden. Ich kann das alles nicht mehr!
Ich darf oft nicht raus und meine Freunde sehen. Sie sagen, ich sei faul oder undankbar, obwohl ich einfach nur Ruhe haben will. Ich weine oft, aber es hilft nichts, sie hören mir nicht zu. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Bitte, ich will einfach nur weg von hier!
Ich habe niemanden, dem ich das so richtig sagen kann, deshalb schreibe ich euch diese Nachricht. Ich hoffe, ihr könnt mir helfen, dass ich nicht mehr zu Hause wohnen muss.
Bitte helft mir. Ich habe solche Angst, dass es noch schlimmer wird, wenn ich bleibe. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Bitte meldet euch schnell.
Liebe Grüße
Emilia
Jugendtreff Sonnenstrahl
Dietmeier Str. 17
Während ich das tippe, kullern mir die Tränen die Wangen runter. Es kostet mir so unfassbar viel Überwindung. Je mehr ich schreibe, umso mehr fällt mir ein, was mir daheim Angst bereitet und weswegen ich mir ein künftiges Leben bei meiner Familie nicht mehr vorstellen kann. Ich tippe auf Senden.
Ich habe so große Angst, was nun passiert.
Wird sich überhaupt jemand bei mir melden? Oder steht sofort die Polizei bei meinen Eltern vor der Tür und nimmt sie fest? Werde ich meine Eltern nie mehr sehen?
Ich habe keine Ahnung, welches Ausmaß so eine Nachricht haben kann. Noch nie habe ich mitbekommen, dass jemand sich an so eine Einrichtung gewendet hat. Eigentlich müsste ich jetzt warten, ob eine Antwort kommt, aber ich kann den Druck nicht ertragen. So schnell ich kann, verlasse ich den Jugendtreff. Hoffentlich hat das keiner gesehen, dass ich am Computer war. Ich muss erstmal eine Runde um den Block gehen, um wieder einen freien Kopf zu bekommen.
Am ersten Mülleimer, der mir begegnet, entleere ich meine Tasche, die Scherben müssen jetzt einfach weg. Eine Scherbe bleibt an einem Faden hängen, ich schüttele kurz, sie bleibt einfach da. „Ist mir jetzt auch egal, dann ist da halt noch eine Scherbe, ich habe dafür keine Kraft, die jetzt herauszuzerren.“, denke ich mürrisch.
Ich entferne mich etwas vom Jugendtreff. Es ist kalt, der Wind peitscht mir ins Gesicht.
Ich habe nun die Nachricht abgeschickt – es ist endgültig. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Eigentlich sollte ich mich erleichtert fühlen, aber stattdessen spüre ich nur Angst. Was, wenn sie mich nicht ernst nehmen? Die Nachricht vielleicht gar nicht beantwortet wird. Oder wenn sie es tun und alles nur schlimmer wird? Oder wenn ich jetzt nicht mehr zurückschreibe, die Nachricht einfach im Sande verläuft?
Ich laufe in Richtung des nahegelegenen Parks. Der Kies unter meinen Füßen knirscht, der Park ist wie immer menschenleer. Meine Gedanken springen zurück zur Nachricht und dann weiter zu meinem Leben. Wie es aktuell ist, aber auch, wie es früher war. Ich kann mich gar nicht mehr so genau erinnern, wie alles angefangen hat, aber eigentlich war es nie wirklich gut. Es hat sich nie wirklich ganz angefühlt.