Nirgendwohin - Ines Bernt-Koppensteiner - E-Book

Nirgendwohin E-Book

Ines Bernt-Koppensteiner

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Beschreibung

Als im März/April 1945 Hitlers Großdeutsches Reich immer kleiner wurde, trieben die NS-Schergen Tausende ungarische Juden auf tagelangen 'Todesmärschen' quer durch Österreich in das Konzentrationslager Mauthausen und viele Nebenlager. Drei Autoren aus dem Großraum Steyr haben das bisher kaum erforschte Schicksal dieser Menschen thematisiert. Aus vielen Einzelinformationen entstand ein fast einheitliches Bild der Todesmärsche durch Oberösterreich. So zogen durch das Ennstal ein großer Transport und mindestens vier kleinere Kolonnen. Für den Raum Steyr–Sierning gelang es, das Rätsel um das Massengrab zu lösen. Die Autoren interviewten zahlreiche Zeitzeugen. Einige davon, damals noch Kinder, hatten noch nie öffentlich über ihre Beobachtungen gesprochen. Im Mittelpunkt des Buchs stehen auch jene Bürger, die Zivilcourage bewiesen. Es waren meist Frauen, die trotz strikten Verbots und persönlichen Risikos die Qualen der Gepeinigten zu lindern versuchten. Weiters im Fokus stehen Täter aus den Reihen der Zivilbevölkerung. Welche Auswirkungen haben Ereignisse des Nationalsozialismus auf nachfolgende Generationen? Was ist notwendig, um eine Gedenkkultur neuen Formats und ein neues Handeln zu ermöglichen? Auch diesen Fragen stellen sich die Autoren.

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Ines Bernt-Koppensteiner (Hg.)

nirgendwohin

Todesmärsche durch Oberösterreich 1945 Eine Spurensuche in die Zukunft

ENNSTHALER VERLAG STEYR

The European Commission support for the production of this publication does not constitute an endorsement of the contents which reflects the views only of the authors, and the Commission cannot be held responsible for any use which may be made of the information contained therein.

Gefördert im Rahmen des Europe for Citizens Programme – European Remembrance, Decision n° 2014-1555/​001-001, Reference n° 555328-CITIZ-1-2014-1-AT-CITIZ-REMEM.

Projekt »EINHALT – Retten von Erinnerung an den Todesmarsch 1945 ungarischer Juden und anderer Entrechteter und Ermutigung zur Zivilcourage in der regionalen Bevölkerung, ein ganzheitlicher Zugang«. www.einhalt.eu

www.ennsthaler.at

ISBN 978-3-7095-0055-2

Ines Bernt-Koppensteiner (Hg.) · nirgendwohin

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2015 by Ennsthaler Verlag, Steyr

Ennsthaler Gesellschaft m.b.H. & Co.KG, 4400 Steyr, Österreich

Titelbild: Figuren von Edgar Holzknecht, Garsten, www.edgarholzknecht.at

Umschlaggestaltung: Waltraud Neuhauser-Pfeiffer, Erwin Dorn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Das Projekt EINHALT

Vorwort

Einleitung

Ines Bernt-Koppensteiner

1 Jüdisches Leben in Ungarn 1919–1945 im Überblick

Ines Bernt-Koppensteiner

2 Evakuierungsmärsche ungarisch-jüdischer »SchanzarbeiterInnen« vom »Südostwall« ins KZ Mauthausen

2.1 Lager entlang des »Südostwalls«

2.2 Evakuierung der Lager entlang des »Südostwalls«

2.3 Todesmarsch ungarisch-jüdischer »SchanzarbeiterInnen« von Graz durch das Ennstal nach Steyr

2.3.1 Von Graz zur steirisch-oberösterreichischen Grenze bei Altenmarkt

2.3.2 Von der steirisch-oberösterreichischen Grenze bis Steyr

2.4 Todesmarsch von Graz-Liebenau über den Pyhrnpass nach Steyr

2.4.1 Von Graz-Liebenau bis Liezen

2.4.2 Von Liezen über den Pyhrnpass ins Teichl- und Steyrtal

2.4.3 Durch das Kremstal über Adlwang und Sierning nach Steyr

2.5 Todesmarsch von Steyr ins KZ Mauthausen

Alexander Schinko, Fritz Käferböck-Stelzer

2.6 Vom KZ Mauthausen ins KZ-Außenlager Gunskirchen

2.6.1 Der letzte Weg – Die Todesmärsche vom KZ Mauthausen ins KZ-Außenlager Gunskirchen

2.6.2 Das »Lager Gunskirchen«

Ines Bernt-Koppensteiner

3 Evakuierungsmärsche von KZ-Häftlingen von Außenlagern des KZ-Komplexes Mauthausen

3.1 Außenlager des KZ-Komplexes Mauthausen

3.2 Evakuierungen ins Stammlager KZ Mauthausen

3.2.1 »Arbeitserziehungslager« (AEL) Oberlanzendorf, ein KZ der Gestapo

3.2.2 KZ-Außenlager Mödling-Hinterbrühl – »Lisa« oder »Languste«

3.2.3 KZ-Außenlager St. Aegyd am Neuwalde/Bezirk Lilienfeld – Kraftfahrtechnische Lehranstalt der Waffen-SS – »Alfred«

3.2.4 KZ-Außenlager Wiener Neudorf

3.2.5 KZ-Außenlager Peggau – »Marmor«

3.3 Evakuierungsmärsche ins KZ-Außenlager Ebensee – »Zement«

3.3.1 KZ-Außenlager Aflenz/Leibnitz – »Kalkstein«

3.3.2 KZ-Außenlager St. Valentin – »OKH-Spielwarenwerk«

3.3.3 KZ-Außenlager Melk – »Quarz«

3.3.4 KZ-Außenlager Redl-Zipf – »Schlier«

3.4 Evakuierungen ins KZ-Außenlager Steyr-Münichholz

3.4.1 KZ-Außenlager in der »Serbenhalle« der Rax-Werke in Wiener Neustadt

3.4.2 KZ-Außenlager Kommando »Floridsdorf«

3.4.3 KZ-Außenlager Saurer-Werke Wien-Simmering – »Lager Wien West«

Resümee

Waltraud Neuhauser-Pfeiffer, Erwin Dorn

»erinnern – gedenken – handeln«

Ein Plädoyer für eine neue Erinnerungskultur

Literatur zu »erinnern – gedenken – handeln«

Quellen und Literatur zu »Evakuierungsmärsche ungarisch-jüdischer ›SchanzarbeiterInnen‹« und »Evakuierungsmärsche von Häftlingen von Außenlagern des KZ-Komplexes Mauthausen«

Abkürzungen

Rangtafel

Bildnachweis

Tabellenverzeichnis

Landkarte „Routen der Todesmärsche 1945“

Über die Autoren

Weiters im Ennsthaler Verlag erschienen

Fußnoten

Das Projekt EINHALT

»Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft!« Mit diesem Wort von Wilhelm von Humboldt ist wohl gemeint, dass wir aus der Vergangenheit lernen sollen. Dazu ist es notwendig, sie gut zu kennen. Sie kennenzulernen, wo sie uns noch unbekannt ist. Gerade ihre dunklen Seiten werden gerne vergessen, verdrängt, verleugnet. Wir verbauen uns selbst damit die eigene Zukunft.

Die vorliegende Arbeit wirft ein klares Licht auf die Geschichte der Todesmärsche durch Oberösterreich vor 70 Jahren. Ines Bernt-Koppensteiner und ihr Team haben mit Akribie, Geschick und Fleiß dieses Kapitel der Geschichte ausgeleuchtet. Ohne ihre Initiative und Beharrlichkeit wäre dieses Buch nicht entstanden. Allen Autorinnen und Autoren spreche ich hiermit großen Dank aus!

Unterstützt wurde die Forschungsarbeit durch einen Kreis von Partnern im europäischen Projekt »EINHALT – Retten von Erinnerung an den Todesmarsch 1945 ungarischer Juden und anderer Entrechteter und Ermutigung zur Zivilcourage in der regionalen Bevölkerung, ein ganzheitlicher Zugang«. Das Projekt erinnert an die Todesmärsche ungarischjüdischer Zwangsarbeiter sowie KZ-Häftlinge aus vielen Nationen durch die Bezirke Steyr und Kirchdorf im April 1945 und an die wenigen Menschen, die mutig genug waren, den Opfern dieser Märsche trotz massiver Drohungen zu helfen.

EINHALT wird vom Studienzentrum für internationale Analysen (STUDIA) mit Sitz in Schlierbach geleitet. Partner sind die Stadt Steyr, die Stadtgemeinde Kirchdorf, das Bundesrealgymnasium BRG/​BORG Kirchdorf, die Ökumenische Initiative (ÖKI), die Öffentliche Bibliothek der Evangelischen Muttergemeinde A.B. Kirchdorf an der Krems sowie der ungarische Verband der Opfer des Nationalsozialismus (Nácizmus Üldözötteinek Országos Egyesülete) und die christlich-soziale Organisation Lélek és Élet Alapítvány.

Mit ihrem Programm »Remembrance« fördert die Europäische Union eine Sensibilisierung für europäische Geschichte. Sie finanziert Projekte, die sich mit den Ursachen für das Bestehen totalitärer Regime in Europa und mit dem Gedenken an die Opfer beschäftigen. Toleranz, gegenseitiges Verständnis, interkultureller Dialog und Versöhnung sollen in diesen Projekten gefördert werden.

In der Hoffnung, dass dies auch in Oberösterreich gelingt, und mit Erwartungen an die Zukunft wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine anregende Lektüre.

Dipl.-Math. Wolfgang E. Baaske

Leiter der STUDIA

www.einhalt.eu

Vorwort

Der Titel dieses Buches »nirgendwohin« gibt die Ungewissheit Tausender Menschen über das Ziel ihres Weges und über ihr Schicksal wieder, mit denen sich die AutorInnen hier beschäftigen. Die Menschen wurden einen Monat lang zu Fuß wie Viehherden von brutalen Bewachern durch unbekannte Gegenden, Dörfer und Kleinstädte quer durch Österreich getrieben, ohne ihr Ziel zu kennen. Auch für die Leute, die diesen »Gespensterzügen« zufällig begegneten, oder für die Schaulustigen in den Orten zogen diese kaum enden wollenden Kolonnen entrechteter Menschen »nirgendwohin«.

Die BewohnerInnen entlang der Routen sahen nun die ganze Bestialität des Regimes mit eigenen Augen, und nicht wenige wurden als Dorfgendarmen oder Volkssturmmänner, die man kannte, zu Handlangern dieser Brutalität gemacht. Mitglieder der Zivilgesellschaft führten Misshandlungen und Morde widerspruchslos aus. Das ist auch der Grund für Heidemarie Uhls Befund:

»Die Todesmärsche bilden in der Topographie des Erinnerns und Vergessens, die die österreichische Gedächtnislandschaft seit 1945 strukturiert, eine spezifische Leerstelle. […] An die ermordeten ungarischen Juden entlang der Routen der Todesmärsche, deren Leichen nach dem Krieg exhumiert und in Massengräber verbracht worden waren, erinnert zumeist nichts.«1

Es gab zwar verschiedene Projekte von Künstlern, wie 2005 »Mobiles Erinnern. Gedenken an ungarisch-jüdische ZwangsarbeiterInnen 1944–45« von Christian Gmeiner an 40 Orten von Budapest bis Oberösterreich oder 2009 »Furchtbare Wege« in Kirchdorf von Wolfram Kastner, aber mit den Kunstprojekten verschwand das Interesse der Bevölkerung an der Erinnerung an die Todesmärsche sehr rasch wieder.

Gar nicht im Bewusstsein der Bevölkerung sind die »Evakuierungsmärsche« aus den KZ-Außenlagern des KZ-Komplexes Mauthausen unter ähnlich entsetzlichen Bedingungen auch nach Oberösterreich. Diese Häftlinge teilte man auf drei verschiedene »Aufnahmelager« auf. Der Großteil wurde ins Stammlager »rückgeführt«, einige kamen in die KZ-Außenlager Ebensee und Steyr. Dadurch war es sehr schwierig, in den Interviews diese beiden Arten von Todesmärschen zu unterscheiden.

Die Genese dieses Buches verdanke ich einem Zufall: Am 27. Jänner 2014 traf ich bei der Gedenkfeier zur Befreiung des KZ Auschwitz, welche die »Freunde von Yad Vashem« in Linz veranstalteten, Joachim Stöbis und Pfarrer Heribert Binder. Sie erklärten mir ihre Projektidee, 2015 an den Todesmarsch ungarischer Juden durch den Bezirk Kirchdorf zu erinnern, worauf ich spontan versprach, dazu die wissenschaftlichen Grundlagen beizusteuern. Sie unterstützten meine Arbeit all die Monate hindurch mit Rat und Tat, und Joachim Stöbis stellte mir all seine Interviews für seinen Film »Einhalt« im Rahmen des Projekts zur Verfügung.

Ich dachte an ein bloßes Zusammentragen bereits erforschten Wissens zu einer Gesamtdarstellung für Oberösterreich. Doch die Arbeit verselbstständigte sich bald. Fragen über Fragen traten auf. Der Versuch, einige davon zu beantworten, liegt hier vor. Als einfaches »Sammelwerk« bereits vorliegender Arbeiten konzipiert, wuchs es durch Archivfunde und die rege Beteiligung der Bevölkerung weit über den erwarteten Rahmen hinaus. Es entstand ein von vielen Menschen mitgetragenes Projekt.

Auf der Suche nach KoautorInnen fand ich in Waltraud Neuhauser-Pfeiffer und Erwin Dorn nicht nur verlässliche TeamkollegInnen. Ich bedanke mich bei ihnen auch für die streckenweise notwendige moralische Unterstützung, ohne die es dieses Buch nicht gäbe. Sie widmen sich der Frage, wie sich Erlebnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus auf die nachfolgende Generation auswirken, und begeben sich auf eine »Spurensuche in die Zukunft«. Mit ihrer Hilfe konnte ich auch Alexander Schinko zur Mitarbeit gewinnen, der sich seit Langem mit den Todesmärschen vom KZ Mauthausen ins KZ-Außenlager Gunskirchen beschäftigt. Unser Dank gilt auch Raimund Ločičnik, der versuchte, Licht in die »Steyrtal-Route« zu bringen, und dessen Erkenntnis, dass kein geschlossener Transport auf dieser Strecke nachzuweisen ist, auch einen Teil der Ergebnisse darstellt.

Aufrichtig danken will ich auch meinem langjährigen Freund, Anton Aschauer, der im Zuge des Kunstprojekts »Furchtbare Wege« bereits 2009 Grundlegendes über den Todesmarsch durch den Bezirk Kirchdorf erarbeitet hatte, aber nicht selbst die entsprechenden Kapitel schreiben konnte. Er stellte mir in selbstloser Weise alle seine Interviews für unser Projekt zur Verfügung. Ohne diese Vorarbeiten und sein profundes topografisches Wissen über den Bezirk Kirchdorf wäre mir vieles verborgen geblieben.

Ebenso bedanke ich mich bei Josef Wilhelm, der mich mit den örtlichen Gegebenheiten des mittleren Ennstals vertraut sowie mit Zeitzeugen bekannt gemacht und mir eigene Interviews für diese Arbeit zur Verfügung gestellt hat. Ohne die Ortskenntnis und die genauen Recherchen von Ludwig Hejze, der seine Kindheit in Ternberg verbracht hatte, wäre speziell die topografische Erforschung interessanter historischer Punkte in Ternberg nicht möglich gewesen. Er hat viel Zeit in dieses Projekt investiert, wofür ihm besonderer Dank gebührt.

Für die wochenlange geduldige Betreuung und Beratung im Oberösterreichischen Landesarchiv (OÖLA) sowie für viele anregende Gespräche danke ich Franz Scharf. Auch Doris Warlitsch und Ralf Lechner vom Archiv Mauthausen Memorial (AMM) in Wien halfen mir immer wieder bei der Materialsuche über die Evakuierungsmärsche. Mein Dank ergeht auch an Wolfgang Quatember vom Zeitgeschichtemuseum Ebensee und an Bertrand Perz vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, die mir immer wieder geduldig und schnell per E-Mail alle Fragen beantworteten.

Herzlicher Dank gilt selbstverständlich den vier Überlebenden der Todesmärsche, Míša Grünwald, Michael Kraus, Ernö Lazarovits (verstorben 2015) und Imre Weisz, die ich kennen- und schätzen lernen durfte und aus deren Erzählungen ich wichtige Informationen schöpfen konnte.

Dank gebührt auch den 90 Damen und Herren, die sich bereit erklärten, an dem Projekt mitzuarbeiten und von ihren Kindheitserinnerungen an die Todesmärsche zu erzählen.

Ohne diese vielen hilfreichen AnsprechpartnerInnen, BeraterInnen und ProjektteilnehmerInnen hätte ich dieses Buch nicht in 18 Monaten fertigstellen können. Auf diese Weise entstand aus den vielen kleinen Puzzleteilen – aus Dokumenten, Lebens- und Evakuierungsberichten sowie Interviews – diese Zusammenfassung über die verschiedenen Todesmärsche durch Oberösterreich im April 1945 mit einem Ansatz für zukünftige pädagogische Vermittlungsarbeit.

Ines Bernt-Koppensteiner

Autorin und Herausgeberin

Einleitung

Der Vorfrühling 1945 begann warm und sonnig. Das Gebiet des Großdeutschen Reiches war von den Alliierten bis auf einen schmalen Streifen, der von Tag zu Tag schmäler wurde, erobert. Aber die Unmenschlichkeiten und Grausamkeiten des Regimes verringerten sich dadurch nicht, im Gegenteil. Die Brutalität der um ihr Überleben kämpfenden NS-Elite schien nun grenzenlos, und Tausende ungarische Jüdinnen und Juden vom Schanzbau am Südostwall boten ein willkommenes Ziel für ihren Hass.

Die Todesmärsche der aus der Steiermark kommenden, völlig entkräfteten Menschen erreichten den »Gau Oberdonau« an der Südgrenze in Altenmarkt im Ennstal und am Pyhrnpass und führten alle zunächst in das durch bereits früher eingetroffene Evakuierungstransporte völlig überfüllte KZ Mauthausen. Nach wenigen Tagen wurden Tausende dieser ungarischen Jüdinnen und Juden – auch die per Donauschlepper und Viehwaggons aus den »Gauen Wien und Niederdonau« sowie die aus dem Gebiet um Sopron Evakuierten – vom Zeltlager des KZ Mauthausen auf einen weiteren Todesmarsch ins KZ Gunskirchen geschickt.

Sie waren aber nicht die Einzigen, die unter dem Sammelbegriff »Evakuierungsmärsche« in den damaligen »Gau Oberdonau« getrieben wurden. Da die Ziele aller Evakuierungen der KZ-Außenlager das Stammlager und die Sammellager Ebensee und Steyr waren, führten alle diese Elendstransporte auch durch Oberösterreich. In diesem Zusammenhang wird die Landesgrenze zu Niederösterreich negiert, weil sich schon durch die Steyr-Daimler-Puch AG und ihre damaligen Werke in Ostösterreich und St. Valentin grenzüberschreitende Gemeinsamkeiten ergeben.

Andererseits muss man auch die Todesmärsche der ungarischen Jüdinnen und Juden von ihrem Ausgangspunkt am Südostwall nachzeichnen und deren Situation in ihrer Heimat vor der Deportation erklären, sodass in groben Zügen auch die Wege bis zur oberösterreichischen Grenze skizziert werden.

Die Frage, ob die Todesmärsche vom April 1945, eines der großen Tabuthemen der Nachkriegsgeschichte, nicht inzwischen schon zur Genüge erforscht seien, muss für Oberösterreich verneint werden. Eine zusammenfassende Darstellung der Todesmärsche durch Oberösterreich gibt es – im Unterschied zum Burgenland, zur Steiermark und zu Niederösterreich – nicht. Für die Streckenführung von Graz bis zur oberösterreichischen Landesgrenze bzw. in Niederösterreich und über die sogenannten »Straßhofer Juden« liegen grundlegende Forschungen von Heimo Halbrainer und Eleonore Lappin vor.2

Für Oberösterreich sind einzelne Strecken sehr gut, andere kaum bis gar nicht untersucht. 2013 erschien eine bemerkenswerte Diplomarbeit über die Todesmärsche im Ennstal.3 Die Transporte durch den Bezirk Kirchdorf arbeitete Anton Aschauer im Rahmen des Festivals der Regionen 2007 auf.4 Die Biografie von Ernö Lazarovits, die 2009 in deutscher Übersetzung5 erschien, beschreibt den Weg des damals 18-Jährigen von Budapest zur Zwangsarbeit am »Südostwall« und den Todesmarsch von Graz über das KZ Mauthausen ins KZ Gunskirchen.

Mit den Todesmärschen durch das Enns- und Steyrtal beschäftigten sich auch Waltraud Neuhauser-Pfeiffer und Karl Ramsmaier eingehend in der Neuauflage der Geschichte der Juden in Steyr.6 Ihre gründlichen Recherchen wurden hier vor allem durch die Protokolle der Volksgerichtsprozesse am Landesgericht Linz und zahlreiche Interviews ergänzt.

Das große Verdienst, das Schweigen, das über dem entsetzlichen Geschehen lag, als Erster gebrochen zu haben, erwarb sich Peter Kammerstätter, der bereits in den 1960er-Jahren den Leidensweg der ungarischen Jüdinnen und Juden von Mauthausen nach Gunskirchen genauestens recherchierte und in einer Materialiensammlung dokumentierte.7

All diese Arbeiten und die vielen einzelnen Bemühungen engagierter LokalhistorikerInnen, Teilaspekte, lokale Befunde aufzuarbeiten, hier zusammenzuführen und durch eingehende Recherchen im OÖLA, AMM und DÖW8 sowie 58 Interviews mit Zeugen und Überlebenden der Todesmärsche bzw. die Aufarbeitung schriftlicher Berichte darüber wissenschaftlich zu untermauern, war das Ziel des vorliegenden Buches.

So soll eine Lücke im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung Oberösterreichs geschlossen werden, die von der »schweigenden Generation« (un)bewusst hinterlassen wurde. Eine »kollektiv geteilte Praxis von Verschweigen, Verdrängen und Vergessen« gehörte

»im Nachhall der NS-Propaganda zum pädagogischen Sozialisationsinstrumentarium für die Nachkriegszeit […] bisweilen optimiert durch aggressive NS-Apologetik, vor allem wenn Schuld- und Verantwortungsfragen der nachgeborenen Generation allzu vehement gestellt wurden.«Die Todesmärsche fanden sowohl »im Weiterwirken der NS-Propaganda [als auch] im Widerstand kein entsprechendes Narrativ.«9

Um ein geschlossenes Bild dieser menschenverachtenden Ereignisse am Ende des NS-Regimes zu erhalten, ist es nötig, auch die Tätergeschichte zu erforschen. Aus ihren Rechtfertigungsversuchen und gegenseitigen Anschuldigungen lassen sich teilweise Bilder der Geschehnisse zusammensetzen und die bisherigen Forschungen ergänzen. Lag lange Zeit der Fokus der Forschung auf den Opfern, so rücken seit einigen Jahren die Täter ins Zentrum. In dieser Arbeit sollen beide Perspektiven berücksichtigt werden.

In Oberösterreich fehlen Recherchen über die Täter unmittelbar nach Kriegsende, wie sie Benedikt Friedmann Anfang 1947 im Auftrag der britischen Besatzungsmacht in der Steiermark durchführte. Sie sind aber auch ein Beispiel dafür, dass selbst die Auftraggeber plötzlich nicht mehr an der lückenlosen Aufklärung der Verbrechen im Zusammenhang mit den Todesmärschen interessiert waren, sondern aus Furcht vor einer »von der britischen Besatzungsmacht unerwünschten Beunruhigung der österreichischen Bevölkerung«10 die Erkundungen einstellten und alle gesammelten Protokolle samt allen Kopien einforderten. Nur der Initiative Friedmanns, der einen Teil behielt,11 ist es zu verdanken, dass nicht alle Berichte verschwunden sind.

Diese »Beunruhigung« rührte daher, dass in die Verbrechen nur allzu viele »ganz gewöhnliche« Österreicher – Familienväter, honorige Bürger, fleißige Handwerker – involviert oder aktiv daran beteiligt waren.12 Damit ist die Frage nach den Ursachen und Motiven des Verhaltens der involvierten Bevölkerungsteile, eine Kernfrage in der Täterforschung, angesprochen: Warum werden unbescholtene Menschen zu Mördern an ihnen völlig unbekannten Wehrlosen, die sie nicht bedrohen, sondern deren physischer und psychischer Zustand nach Mitleid und Hilfeleistung schreien?

Nach Hannah Arendt besteht das Totalitäre in der alle Bereiche des gesellschaftlichen und privaten Lebens umfassenden Massenbewegung. »Das Totalitäre dieser Konzepte erweist sich […] darin, dass sie umfassend im wahrsten Sinn des Wortes sind.«13 Die schrecklichen Ergebnisse der Todesmärsche waren das Resultat kollektiven Wahns.

Bei der Darstellung von Grausamkeiten und abstoßendem Verhalten Einzelner darf aber nicht auf jene vergessen werden, die sich angesichts des Elends diesem System widersetzten, indem sie ihren menschlichen Emotionen entsprechend die ihnen in ihrem bescheidenen Rahmen mögliche Hilfe unter steter Eigengefährdung leisteten; nennen Sie es Nächstenliebe, Zivilcourage, Widerstand, auch das war – unter den bestehenden Gegebenheiten – möglich. Den immer wieder gehörten Relativierungen dieser kleinen Heldentaten, wie »Nun ja, es war am Ende des Krieges« und »Das Regime war schon am Ende« u.a., stehen die vielen gleichzeitig begangenen Gräueltaten durch Menschen aus demselben gesellschaftlichen Umfeld entgegen. Das zeigt, dass es letztendlich auf den Menschen selbst ankommt, dass man jede Entscheidung selbst zu verantworten hat.

Diese Arbeit soll keine moralische Anklage darstellen, sondern sie möge die historisch-wissenschaftlichen Grundlagen für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der unbequemen Frage »Wie hätte ich mich verhalten?« liefern. Wie oft erlebt man bei der Arbeit mit jungen Menschen, dass sie nur Fakten überzeugen können, stichhaltige Argumente, nicht moralisierende Aufgeregtheit.

In diesem Zusammenhang muss daher über das Erinnern dessen, was als Forschungsergebnis vorliegt, neu nachgedacht werden. Wie wirken sich die Erlebnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus auf die nachfolgenden Generationen aus? Und wie kann daran erinnert werden, damit aus der »Forschungsgegenwart« heraus Zukunft gestaltbar wird? Die vorliegenden Fakten bilden die Basis, auf der pädagogische Konzepte zu entwickeln sind, die Jugendliche bewegen. Diesen Fragen und Aspekten einer erneuerten Erinnerungskultur wird im Kapitel »erinnern – gedenken – handeln« besonderes Augenmerk geschenkt. 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist es Zeit für eine neue kollektive Gedenkkultur.

Obwohl sich all die Gräuel in der Öffentlichkeit vor den Augen von Zuschauern abgespielt haben, schweigen Augenzeugen auf Seiten der Täter- und Zuschauergeneration zum größten Teil heute noch. Nur wenige, die 1945 Kinder waren, erzählten ihre Erinnerungen. Einige von ihnen sprachen in den Interviews zum ersten Mal über ihre damaligen Beobachtungen. Als Kinder wurde ihnen oft das Fragen und Sprechen über das Gesehene untersagt, niemand wollte etwas darüber hören. Jetzt im Alter waren viele InterviewpartnerInnen froh, von ihren – manchmal traumatischen – Erinnerungen erzählen zu können.

Ihnen, die hier nicht alle namentlich erwähnt werden können,14 gilt mein besonderer Dank. Ohne ihren Mut, mit ihrer Erinnerung an die Öffentlichkeit zu gehen, wäre diese Forschungsarbeit unvollständig geblieben. Noch ist es nicht gelungen, alle erzählten Beobachtungen in einen historischen Kontext einzuordnen. Das zeigt aber auch, dass noch nicht alles bekannt ist, was sich in den chaotischen Tagen des Kriegsendes auf Oberösterreichs Straßen zutrug.

Manche aufgestellte Hypothese bezüglich nicht ausreichend erforschter Wegstrecken, im Speziellen im Steyrtal, mag – zugegeben – sehr vage klingen, vielleicht regt sie zu Widerspruch und dadurch zu Gedankenaustausch und weiteren Erkenntnissen an.

Ines Bernt-Koppensteiner

1 Jüdisches Leben in Ungarn 1919–1945 im Überblick

Die im März/​April 1945 in endlos scheinenden Zügen durch Ostösterreich getriebenen, ausgemergelten ungarischen ZwangsarbeiterInnen vom »Südostwall« hatten bereits zuvor etwa ein Jahr lang Sklavenarbeit in Österreich verrichtet oder als Angehörige des jüdischen Arbeitsdienstes jahrelang ihr Leben für die ungarische Armee eingesetzt.

»Eine schier endlose Menschenschlange wand sich entlang eines noch hart gefrorenen und von kahlen Bäumen gesäumten Feldweges. Nur an manchen Stellen schmolz schon der Schnee, ein Zeichen dafür, dass in jenen ersten Märztagen des Jahres 1945 der Winter sich dem Ende zuneigte«,

erinnert sich Ernö Lazarovits, ein Überlebender, an seine Zwangsarbeit am »Südostwall« und später an den Todesmarsch: »Wir waren Tausende, die sich in endlosen Reihen, von Hunger und Durst gequält, dahinschleppten.«1

In der deutschen, ungarischen und rumänischen Historiografie und Memoirenliteratur versuchte man lange Zeit (mit einigen Ausnahmen) die antisemitischen Maßnahmen als von der deutschen Politik aufgezwungen darzustellen, doch in der deutsch-ungarischen Diplomatie spielte die »Judenfrage« bis zum Sommer 1942 keine besondere Rolle. Béla Imrédy von Ómoravicza betonte vor dem ungarischen Volksgericht 1945, dass hinter den Judengesetzen keine deutsche Initiative gestanden sei, obwohl das Gericht gern das Gegenteil gehört und dies den Angeklagten selbst entlastet hätte.2 Zwar wurden die Deportationen aus Ungarn erst durch die deutschen Okkupanten ermöglicht, doch gab es überhaupt keinen Widerstand und die ungarische politische Elite des Jahres 1944 konnte hinsichtlich der Deportationen ungarischer Jüdinnen und Juden ihre Interessen in vielen Punkten gegenüber den Besatzern durchsetzen:

Das Tempo der Deportationen wurde entgegen deutschen Interessen von ungarischer Seite vorangetrieben.

Beschlagnahmte Wertgegenstände und Geld flossen in die ungarische Staatskasse.

3

Die deutschen Truppen wurden von einem Großteil der ungarischen Bevölkerung freundlich aufgenommen. Viele Ungarn profitierten 1944 von der Neuverteilung des Vermögens.4 Sándor Márai schrieb schon 1944 in sein Tagebuch:

»Das Land versinkt in Schuld. Es wird Generationen dauern, bis sein Ruf, seine Ehre wiederherstellt sind. Und wir können uns nicht einmal darauf berufen, dass all das unter äußerem Zwang geschehen sei; der Zwang war da, aber das Volk trug willig und spontan das Seine dazu bei, die Schande zu einer historischen Verantwortung zu machen.«5

Außerdem gab es Jahre vor der Okkupation Ungarns durch die deutsche Wehrmacht bereits eine antijüdische Gesetzgebung der ungarischen Regierung, die anfangs in Zusammenhang mit dem Engagement vieler jüdischer BürgerInnen für die ungarische Räterepublik von Béla Kun6 stand. Aber die diversen Regierungen unter dem »Reichsverweser« Miklós Horthy (1920–1944) verschärften die sogenannten »Judengesetze« immer mehr, bis es schließlich im Frühjahr 1944 zu den Deportationen ins KZ Auschwitz kam.7 Nicht das kleine SS-Sonderkommando unter Eichmann und seinen Helfern allein, sondern die reibungslos funktionierende Gendarmerie und Polizei der Horthy-Regierung organisierten die Deportation von 437.000 Jüdinnen und Juden innerhalb von nur sieben Wochen.8

Lage der Jüdinnen und Juden in Ungarn unter der Horthy-Regierung9

Nach der Niederschlagung der Räterepublik von Béla Kun (seit März 1919 bestehend aus Sozialdemokraten und Kommunisten, in der verhältnismäßig viele Juden vertreten waren) wütete der sogenannte »weiße Terror« unter dem Vorwand antibolschewistischer Säuberungen besonders gegen Juden (3000 der 5000 Todesopfer waren Juden). Im Februar 1920 beschloss die Nationalversammlung, alle republikanischen Gesetze seit 1918 zu annullieren, die Monarchie wieder einzuführen, und das Land wurde neben einem legitimierten Parlament (ohne Sozialisten und Kommunisten) mit beschnittenen Rechten von einem Reichsverweser regiert. Dieser war seit 1. März 1920 der letzte Konteradmiral der österreichisch-ungarischen Kriegsflotte, der Landadelige Miklós Horthy von Nagybánya.10

Die Träger der ungarischen Modernisierung waren zum größten Teil Juden.11 Der Antisemitismus basierte in Ungarn auf sozialen und politischen Gegensätzen, nicht auf rassischen. Er wandte sich gegen den »Judo-Bolschewismus« und das »jüdische Großkapital«, grenzte sich gegen Demokratie und Bolschewismus ab. Es handelte sich somit um einen sozial getarnten Antisemitismus.12 Im Laufe der Jahre radikalisierte sich der latent vorhandene Antisemitismus auch in Ungarn, was sich in einer »Judengesetzgebung« niederschlug, beginnend mit dem

»

Numerus-clausus-Gesetz«

(Gesetz XXV vom 22.09.1920), das für jüdische Studenten eine sechsprozentige Quote für Hochschulen entsprechend ihrem sechsprozentigen Anteil an der Bevölkerung vorsah.

Durch dieses Gesetz sank der Anteil der jüdischen StudentInnen von 34 Prozent (1917/​18) auf 8,3 Prozent (1935/​36).13 Auch durften Juden bis Ende der 1920er-Jahre ihre während des 1. Weltkrieges suspendierten Vereine, Gesellschaften und ihre Presse – das gesamte jüdische geistig-gesellschaftliche Leben (von Pfadfindern bis zur angesehenen literarischen Gesellschaft) – nicht wiederaufleben lassen.14 Eine wichtige Rolle spielte die Diskriminierung ohne gesetzliche Grundlage. Jüdinnen und Juden wurden aus dem Staatsdienst entlassen oder gar nicht aufgenommen.15 Trotzdem behielten sie eine positive Haltung zu dem autoritären ungarischen Staat, um zu zeigen, dass sie treue Magyaren seien.16 Nach der Weltwirtschaftskrise 1937 wurde die »wirtschaftliche Einschränkung« der Juden immer öfter diskutiert17 und man forderte »Judengesetze«. Die Regierung legte am 8. April 1938

das »Gesetz zum wirksameren Schutz des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gleichgewichts« (Gesetz XV/​1938 vom 29. Mai 1938) vor,

das definierte, wer Jude sei

, nach konfessionellen, nicht »rassischen« Kriterien, und setzte den jüdischen Anteil in gewissen ökonomischen Betrieben und intellektuellen Berufen mit 20

% fest. Aus dem Staatsapparat waren Jüdinnen und Juden bereits fast ganz verdrängt worden. Noch galt weiterhin nicht als Jude, wer vor dem 1. August 1919 aus der jüdischen Religionsgemeinschaft ausgetreten war.

18

Nach dem 1. Wiener Schiedsspruch19 der Achsenmächte am 2. November 1938, der Ungarn einen Gebietszuwachs auf Kosten der Slowakei brachte, nahmen der Druck aus Deutschland und das Gewicht des antisemitisch eingestellten Offizierskorps zu. Mit der Einführung des

militärischen Arbeitsdienstes

aufgrund des »Zweiten ungarischen Wehrgesetzes« im März 1939 wurden Juden vom Militärdienst mit der Waffe ausgeschlossen und stattdessen jüdische Männer zwischen 18 und (seit 1940) 48 Jahren zur zweijährigen Arbeitsdienstleistung eingezogen und kompaniemäßig erfasst.

20

Jüdische Soldaten, die bereits dienten, blieben bis 1941 allerdings bei ihren Einheiten, dann wurden alle im militärischen Arbeitsdienst der Honvéd (ungarische Armee) erfasst, mussten ihre Uniform ausziehen und ein Kennzeichen tragen: Konfessionsjuden eine gelbe Armbinde, Menschen jüdischer Herkunft eine weiße. Bezüglich ihrer unmenschlichen Behandlung machte das aber keinen Unterschied. Dadurch wurde die Lage der ca. 100.000 »Arbeitsdienstler« unerträglich. Sie waren den Schikanen antisemitischer Vorgesetzter schutzlos ausgeliefert. Sie mussten das ungarische Heer bis zur Katastrophe der 2. ungarischen Armee am Don begleiten.21

»Wir waren 17 Jahre alt, wir mussten zur ungarischen Armee gehen. Aber nicht als Soldaten, sondern als Zwangsarbeiter hinter der Ungarischen Armee. Wir mussten Schmutzarbeit verrichten, im Ungarischen »Munka Tabor« genannt, was in Ungarn so viel bedeutet wie Zwangsarbeit.«22

Ungenügende Verpflegung, mangelhafte Bekleidung, grausame Behandlung, sadistische Übergriffe ungarischer Soldaten, Befehle zum Minenräumen und gegnerischer Beschuss kostete ca. 15.000 junge Männer das Leben. Weitere 10.000 gerieten in sowjetische Gefangenschaft, was sie als »Erlösung« empfanden. Somit forderte dieser Zwangsarbeitsdienst für Juden noch vor dem Einmarsch der Deutschen bis zu 50.000 Opfer.23

Mitte März 1939 beim Zerschlagen der »Rest-Tschechei« durch das nationalsozialistische Deutschland kam auch die Karpato-Ukraine zu Ungarn. Unter Berufung darauf, dass mit den neuen Gebieten der Judenanteil gestiegen sei, kam es zum »zweiten Judengesetz«.24 Tatsächlich war der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung gesunken, da diese gestiegen war.

Nach diesem »

zweiten Judengesetz

« (Gesetz IV vom 5. Mai 1939) »Über die Einschränkung der Raumeroberung der Juden auf gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Gebiet«, das in manchen Punkten strenger war als die deutsche Rassengesetzgebung und die Juden nun als »Rasse« definierte, mussten allerdings alle konvertierten Juden vor dem 7. Lebensjahr getauft worden und ihre Eltern schon Christen gewesen sein, d.

h. auch »Halbjuden« wurden als Juden angesehen.

25

Jüdische Richter und Staatsanwälte mussten bis 1. Jänner 1940, Lehrer und Notare bis

1. Jänner 1943 aus dem Dienst ausscheiden, und Juden wurden aus dem gesamten Kulturleben ausgeschlossen.26

Bis zu einer weiteren »Judengesetzgebung« verstrich zwar einige Zeit, aber inzwischen erschwerte die neue Regierung27 die Lage der Juden durch Verordnungen.

Das »

dritte Judengesetz

« (Gesetz XV vom 2. August 1941) war als »allgemeines Ehegesetz« eingebracht worden und definierte den Begriff »Jude« umfassender als die

NS-Rassenideologie

: Jüdin/​Jude war, wenn mindestens zwei Großeltern als Mitglieder der jüdischen Konfession geboren wurden.

28

Durch die neue Definition, wer dem Judentum zuzurechnen sei, erhöhte sich die Zahl der »jüdischen Bevölkerung«, man sprach von sogenannten »Definitionsjuden«. 75.000 bis 100.000 Angehörige christlicher Konfessionen wurden dadurch zu Jüdinnen/​Juden erklärt.29

Dieser sukzessive Ausschluss der jüdischen Bevölkerung aus der Gesellschaft fand breite parlamentarische Zustimmung und sollte die Juden zur Auswanderung bewegen, ihre physische Vernichtung war in Ungarn aber noch nicht vorgesehen.30 Horthy selbst blieb passiv, unterschrieb aber alle Gesetzesvorlagen.31

-> Siehe Tabelle 1 und Tabelle 2

Jüdische Bevölkerung in Ungarn vor der deutschen Besetzungb

Jahr

Gesamt- bevölkerung

Jüdischer Konfession

Anteil in %

Jahr

Gesamt- bevölkerung

Jüdischer Konfession

Anteil in %

1910

18.264.533

911.227

5,0

1941

400.980

4,3

1920

7.990.202b

473.355

5,6

1941

9.067 267c

725.007d

4,9d

1930

8.688.319b

444.567

5,1

1944

795.000e

Tabelle 1 erstellt nach Zahlen in: VARGA (21996), 336/​337, und GERLACH/​ALY (2002)

a) Bezieht sich nur auf die Bevölkerung israelitischer Konfession, nicht auf die nach den Nürnberger Gesetzen als Juden betrachteten Menschen; deren Zahl kann in Ungarn nur geschätzt werden. Bei der Volkszählung 1941 betrachtete man außerdem 61.548 Personen als Juden im Sinne des »zweiten Judengesetzes« von Mai 1939

b) In den Grenzen des Vertrags von Trianon

c) Nach den Gebietszuwächsen durch die beiden Wiener Schiedssprüche

d) Ohne die 61.548 christlichen Ungarn, die durch das sogenannte »2. und 3. Judengesetz« zu jüdischen Bürgern wurden

e) Inklusive circa 50.000 jüdische Flüchtlinge aus dem Ausland und 61.548 als Juden im Sinne des »zweiten Judengesetzes« von Mai 1939, abzüglich 5250 Juden natürlicher Bevölkerungsabgang, 16.000–17.000 jüdischer Emigranten, 14.000–16.000 bereits im August 1941 Deportierter, 42.000 umgekommene und in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befindliche Arbeitsdienstler sowie 1250 im Jänner 1942 in Ujvidék Ermordeter (Vgl. VARGA (21996), 340)

Territoriale Gliederung der jüdischen Bevölkerung Ungarns (Volkszählung 1941)

Trianon-Ungarn

400.980

davon Budapest

184.543

1938–1941 annektierte Gebiete, davon

324.027

in Nordsiebenbürgen

151.125

in der Karpato-Ukraine

80.960

im sogen. Felvidék/​Oberungarn

77.700

in der Bačka

14.242

gesamt

725.007

Konvertierte Juden

61.548

786.555

Tabelle 2 erstellt nach Zahlen in: VARGA (21996), 338, GERLACH/​ALY (2002), 50, und KEPECS, József (ed. 1993), A zsidó népesség száma településenként (1840–1941), (Budapest), 22–48

Es stellt sich die Frage, warum nicht ein großer Teil der ungarischen Jüdinnen und Juden im Laufe der Jahre, als die antisemitischen Gesetze immer mehr verschärft wurden, emigrierte. Doch dies erschwerte bzw. verhinderte sowohl die restriktive Einwanderungspolitik möglicher Aufnahmeländer, besonders der Briten in Palästina, als auch die Tatsache, dass sich die meisten potenziellen Einwanderungsstaaten im Kriegszustand auch mit Ungarn befanden. Außerdem war Ungarn ab 1941 von Ländern umgeben, die von NS-Deutschland besetzt waren bzw. mit diesem kollaborierten,32 was die Fluchtmöglichkeiten sehr einschränkte.

Im August 1941 wurden 16.000–18.000 Personen jüdischer Konfession ohne ungarische Staatsbürgerschaft aus der Karpato-Ukraine (etwa 5000 Personen) sowie jüdische Flüchtlinge aus anderen von den Deutschen bereits okkupierten Staaten in Gebiete abgeschoben, die von Deutschen und Ungarn zuvor von der UdSSR erobert worden waren,33 und bis 1. September 1941 bei Kamenets-Podoloski von mobilen Einsatzgruppen der SS unter General Jeckeln ermordet. 2000 von ihnen gelang die Flucht.34

Im Jänner/​Feber 1942 ließ General Fekethehalmy-Czeydner 1250 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus der Bačka bei »Partisanenaktionen« in Ujvidék in der Bačka und 2750 serbische Zivilisten in Novi Sad ermorden.35 Diese Massaker blieben bis zur deutschen Okkupation Ungarns im März 1944 eine tragische Ausnahme.

Noch war aber Ungarn trotz seines »dreiviertel-faschistischen« Charakters36 und der Diskriminierungen aufgrund seiner »Judengesetzgebung« inmitten von deutschhörigen Staaten (Slowakei, Kroatien, Rumänien hatten bereits mit der Deportation ihrer jüdischen Bevölkerung begonnen) eine »gesicherte Insel für etwa 795.000 Juden«. Doch die ungarische Kriegsbegeisterung schwand und Miklós Kállay wollte mithilfe der westlichen Alliierten aus dem Krieg aussteigen. Deshalb nahm im Herbst 1942 der Druck aus Berlin zu: Man wollte Ungarn durch die Judendeportationen vor den angelsächsischen Alliierten kompromittieren, sodass ein Separatfriede unmöglich würde. Die ungarische Regierung reagierte auf die Drohungen aus Berlin mit dem

Widerruf der rechtlichen Gleichstellung der israelitischen Kultusgemeinde mit anderen Religionsgemeinschaften im Juli 1942

37

und

im Herbst 1942 mit der Enteignung jüdischen Land- und Waldbesitzes.

38

Der Druck erreichte beim Besuch Horthys bei Hitler und Ribbentrop auf Schloss Kleßheim am 16./​17. April 1942 einen Höhepunkt, als Horthy die Judengesetze darlegte und erklärte, »erschlagen könne er sie doch nicht.«39

-> Siehe Tabelle 3

Demografische Entwicklung der jüdischen Bevölkerung Ungarns 1941–1944

Verluste

Volkszählung 1941 (jüdische Konfession)

724.007

Juden im Sinne des »zweiten Judengesetzes« von April 1939

61.548

Jüdische Flüchtlinge aus dem Ausland

50.000

Natürlicher Bevölkerungsabgang 1941–1944

5.250

Emigranten

16.000–17.000

1.Deportation August 1941 (Kamenetz-Podolsk)

14.000–16.000

»Antipartisanen-Aktion« in Ujvidék (Jänner 1942)

1.250

Im jüdischen Arbeitsdienst beim Honvéd umgekommen bzw. in sowjetischer Kriegsgefangenschaft

42.000

gesamt

875.000

ca. 80.000

Am 19. März 1944 in Ungarn lebende Jüdinnen und Juden

795.000

Tabelle 3 erstellt nach Zahlen in: VARGA (21996), 340, und KEPECS, József (ed. 1993), A zsidó népesség száma településenként (1840–1941), (Budapest), 22–48

Okkupation Ungarns durch deutsche Truppen – Deportationen ins KZ Auschwitz

Die Absetzbestrebungen Ungarns in Form geheimer Verhandlungen der Regierung Kállay mit den westlichen Alliierten im Schatten des italienischen »Seitenwechsels« war dem deutschen Nachrichtendienst nicht verborgen geblieben. In der schwierigen militärischen Lage war Deutschland von den ungarischen Öl- und Bauxitvorkommen abhängig.40

Am 19. März 1944 marschierten deutsche Wehrmachtsverbände in Ungarn ein (Fall »Margarete«41 und besetzten das Land.42 Noch blieb eine »Schein-Souveränität« Ungarns aufrecht und Horthy weiterhin Staatsoberhaupt, aber er musste unter Druck des neuen deutschen Gesandten in Budapest, SS-Brigadeführers Edmund Veesenmayer,43 am 22. März 1944 eine Deutschland genehme Marionettenregierung unter dem früheren ungarischen Gesandten in Berlin, Döme Sztójay,44 der schon vorher intensiv mit Berlin zusammengearbeitet hatte, einsetzen. Die Deutschen waren aber bemüht, durch Mitwirkung Ungarns an politischen Entscheidungen eine Mitverantwortung an den Ereignissen zu statuieren, z.B. wurden die antijüdischen Gesetze (zur Ghettoisierung und Deportation) vom ungarischen Parlament verabschiedet und von der ungarischen Gendarmerie organisiert; allerdings unter Kontrolle des Sondereinsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes Ungarns (SEK).

»Ungarnaktion«

Damit begann auch die Auslöschung der jüdischen Bevölkerung Ungarns, denn mehr als eine Million Jüdinnen und Juden im Rücken der Balkanfront bedeutete in den Augen der deutschen Reichsführung eine große Gefahr für die Wehrmacht. Den Tätern war von Anfang der »Aktion« an klar, dass der Krieg verloren war, denn die Rote Armee stand in der ersten Aprilhälfte 1944 bei Jablonica,45 dem letzten Karpatenpass vor der ungarischen Tiefebene. Dieses Wissen bewirkte die enorme Geschwindigkeit, mit der die jüdische Bevölkerung der ungarischen Provinz deportiert und ermordet wurde.

Bereits vom 10. bis 12. März 1944, eine Woche vor der Okkupation, plante ein Team der erfahrensten Deportationsexperten des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) um Adolf Eichmann im KZ Mauthausen die Vernichtung der ungarischen Juden.46 Gleichzeitig mit den Besatzungstruppen traf das SEK direkt aus Mauthausen in Budapest ein. Die Bedeutung der »Ungarnaktion« zeigte sich darin, dass Eichmann sie vor Ort und nicht von Berlin aus leitete. Damit übernahm er erstmals eine Aufgabe außerhalb des Deutschen Reiches.47 In diesen Tagen kam selbst Heinrich Himmler, Reichsführer SS, nach Budapest.48

Der »Sicherheitsdienst Ungarn« (SD) fungierte als »Berater« der ungarischen Behörden. Der Stab Eichmanns organisierte die Deportationen mit nur 150 bis 200 Personen. Durchgeführt wurden sie von ungarischen Gendarmen unter Leitung von Oberstleutnant Lászlo Ferenczy.49 Damit setzte schlagartig die Durchführung der »Endlösung der Judenfrage« auch in Ungarn ein.

Die »Ungarnaktion« konnte nur deshalb so rasch und für die Täter »effizient« durchgeführt werden, weil die dafür verantwortlichen SS-Männer jahrelange Erfahrung im Organisieren des Mordens besaßen und ihnen eine hoch entwickelte, jahrelang erprobte Deportations- und Vernichtungsmaschinerie mit einem dichten Netz an Helfern und Helfershelfern zur Verfügung stand. Unter den SEK-Verantwortlichen befanden sich die »erfahrensten Deportationsexperten aus dem Referat IV B4 (= Eichmann-Referat) des RSHAs«.

Die Führung der ungarischen Juden – die Kultusgemeinde ebenso wie Vertreter politischer und religiöser Vereinigungen – war über die nationalsozialistische Vernichtungspolitik informiert und führte trotzdem – wie in den anderen Ländern auch – die Anweisungen des SEK widerspruchslos aus.50 Die Aufgabe des »Judenrates« war, die jüdischen BürgerInnen ständig zu beruhigen und unbegründeten Optimismus zu verbreiten. Über ihn erteilte das SS-Sonderkommando seine Weisungen an die Juden51 und organisierte die Unterwerfung und Erpressung der jüdischen Organisationen.

Den Führungspersönlichkeiten aller wichtigen jüdischen Strömungen unterliefen viele Fehleinschätzungen. Die verheerendste lag im Vertrauen in die ungarische Regierung, da Reichsverweser Miklós Horthy Staatsoberhaupt blieb, auf dessen Schutz sie weiterhin bauten.

Das erste Treffen des »Judenrates« mit Eichmann fand am 31. März 1944 statt.52

Das Leben von Juden und/​oder Intellektuellen änderte sich mit dem Auftauchen des SEK schlagartig: Tausende von kritisch eingestellten Ungarn – jüdische und nichtjüdische – die wirtschaftlichen, politischen oder gesellschaftlichen Einfluss besessen hatten, wurden sofort verhaftet und in die verschiedenen Auffanglager verschleppt (bis Ende März 3364, bis Ende April 8225 Personen),53 unter ihnen etwa 3000 teils prominente Mitglieder der jüdischen Gemeinden.54 Mit der Ausschaltung dieser Elite wollten die Deutschen jeglichen möglichen Widerstand im Keim ersticken. Die ungarische und z. T. auch deutsche Sicherheitspolizei verhaftete aber auch völlig unsystematisch zahlreiche Jüdinnen und Juden.55 Dabei handelte es sich um eine »Sonderaktion« zur Einschüchterung der jüdischen Führung.56

Genau eine Woche nach Amtsantritt verfügte die Regierung Sztójay verschiedene antijüdische Verordnungen. Im April 1944 gab sie schrittweise den deutschen Forderungen nach Auslieferung der jüdischen Bevölkerung nach und schuf die gesetzliche Basis für deren Ghettoisierung und Deportation. Die Gesetze und Verordnungen hinkten manchmal den bereits vorweggenommenen antijüdischen Maßnahmen nach. Es handelte es sich um ungarische Gesetzgebung, die die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung »legitimierte«.57

Die für die Vernichtungsaktion nötigen Gesetze und Anordnungen nahmen Kronrat und Regierung ausnahmslos an. Durchgeführt wurden die antijüdischen Aktionen von der ungarischen Gendarmerie unter Oberstleutnant Ferenczy. Das zurückbleibende jüdische Eigentum sollte den ungarischen Behörden zufallen.58

Parallel zu diesen Maßnahmen führten verschiedene Ministerien mit dem Erlös aus dem beschlagnahmten jüdischen Besitz mehrere sozialpolitische Maßnahmen für Christen ein.59 Damit war man sich der Akzeptanz der Enteignung der jüdischen MitbürgerInnen durch die breite Masse der nicht betroffenen UngarInnen sicher.

Bei einer Fahrplankonferenz oder »Transportkonferenz«65 vom 4. bis 6. Mai 1944 in Wien wurde die Bereitstellung von täglich vier Zügen (mit 12.000 Personen) vereinbart, sodass der Abtransport von 325.000 Jüdinnen und Juden aus dem Karpatenraum und Siebenbürgen ab 15. Mai 1944 täglich in vier Transporten von je 3000 Personen über die Slowakei gehen sollte, da man Unruhen der Budapester Juden befürchtete.66 Bezeichnend für den Wert von jüdischen Menschenleben für die NS-Elite war die aktuelle Priorität für die Bereitstellung von Zügen: »Rüben, Fremdarbeiter, Juden«.67

Die Deportationen liefen immer nach demselben Schema ab: Innerhalb von drei bis zehn Tagen wurden die Jüdinnen und Juden von ungarischen Gendarmen aus den Dörfern in Ghettos am Rand der nächsten größeren Stadt gebracht und schließlich zum Bahnhof. Pro Person gestattete man 50kg Gepäck und Proviant für 14 Tage. Geld, Gold und Schmuck durften nicht mitgenommen werden, weshalb man die Gefangenen bei der Ankunft in den Sammelpunkten brutalen Untersuchungen unterzog,68 wobei alle Vermögenswerte beschlagnahmt wurden, damit sie vor dem Zugriff des Deutschen Reiches für die ungarische Staatskasse »gerettet« wurden.69 Vor der Einweisung in die Waggons wurden alle Verfolgten noch einmal »gefilzt«.70 Danach begleiteten Angehörige derXX. Abteilung des Innenministeriums die Deportationszüge durch Ungarn. Erst in Košice/​Kassa/​Kaschau (damals auf ungarischem Gebiet nahe der slowakischen Grenze) übernahm die deutsche Wehrmacht die Züge.

-> Siehe Tabelle 4

Dazu kamen einige »Sonderaktionen«. Zählt man alle Opfer zusammen, erhält man bis zum Ende des Horthy-Regimes am 15. Oktober 1944 eine Zahl von 444.152 aus Ungarn Deportierten.73 Nun lebten nur noch in Budapest etwa 200.000 Jüdinnen und Juden. Ihr Abtransport wurde aber durch weltweite Proteste (vorerst) verhindert.74

Als Folge der Deportation konnte die Arbeitskraft von 150.000 familienlos gewordenen jüdischen Männern von der ungarischen Volkswirtschaft genutzt werden. Sie wurden zuerst als »wertvolle Arbeitskräfte« aus den Ghettos vom ungarischen Staat zum Militär-Arbeitsdienst eingezogen.75 Es handelte sich aber nicht um eine gezielte Rettungsmaßnahme ungarischer Behörden, sondern man wollte die jüdische Arbeitskraft und Intelligenz dem ungarischen Staat möglichst lange »umsonst« erhalten. Plünderung von Besitz und Arbeitskraft standen im Vordergrund dieser Arbeitsdienstaktion.76

Sehr bald wurde ein anderer Grund für die Besetzung Ungarns deutlich: Parallel zu den Deportationen ins KZ Auschwitz begann in der deutschen Führung eine Diskussion über einen möglichen Arbeitseinsatz ungarischer Juden im Reichsgebiet,77 denn 1944 hatte die deutsche Rüstungsindustrie ihr größtes Volumen erreicht und litt unter drückendem Arbeitskräftemangel, weil durch das Vorrücken der Roten Armee das Reservoir an »Fremdarbeitern« verloren ging und die zunehmenden alliierten Bombardierungen seit Herbst 1943 große Teile der Rüstungsindustrie zerstört hatten. Deshalb wollte man die Flugzeug- und Raketenindustrie in unterirdische Stollen verlagern. Für diese riesigen Großbauvorhaben zur sogenannten Untertageverlagerung der Rüstungsindustrie zum Schutz vor Luftangriffen wurden vor allem KZ-Häftlinge unmenschlich und rücksichtlos ausgebeutet. Himmler sagte Göring am 9. März 1944 zu, die Zahl der in der Flugzeugindustrie beschäftigten KZ-Häftlinge fast zu verdreifachen (von 36.000 auf 90.000). Weitere 100.000 KZ-Insassen sollten für die Untertageverlagerung bereitgestellt werden.78 Diese konnten aber den Arbeitskräftemangel auf den Baustellen nicht ausgleichen, da sie aufgrund der katastrophalen Arbeitsbedingungen und Mangelernährung arbeitsunfähig wurden und wegen Entkräftung ihre Lebenserwartung sehr kurz war.

Der deutsche Gesandte in Budapest, Veesenmayer, konnte auf diplomatischem Weg durchsetzen, dass Sztójay am 13. April 1944 dem Deutschen Reich 50.000 arbeitsfähige Juden anbot, denen im Mai nochmals 50.000 folgen sollten.79 Am 26. April 1944 bewilligte der ungarische Ministerrat die Auslieferung dieser 50.000 jüdischen Arbeitskräfte.80 Den versprochenen 100.000 Jüdinnen und Juden entsprach in etwa die Zahl der im KZ Auschwitz als arbeitsfähig selektierten ungarischen Deportierten. Ihr Schicksal sollte nicht Tod durch Gas, sondern durch Ausbeutung ihrer Arbeitskraft sein.81

Dieses überlebende Viertel der ins KZ Auschwitz deportierten ungarischen Jüdinnen und Juden kam infolge dieser Entscheidung in andere KZ und Arbeitslager, unter anderem ins KZ Mauthausen und seine Außenlager. Ende Mai 1944 traf der erste Transport mit 2000 ungarischen Juden ein und im Juni 1944 folgten drei weitere Transporte mit insgesamt 5500 Personen ins KZ Mauthausen. Nach kurzer Quarantäne wurden sie auf die Großbauvorhaben nach Ebensee, Gusen und Melk zum Stollenbau verteilt.82 Etwa 18.000 ungarische Deportierte kamen Ende Mai und Juni 1944 zum Arbeitseinsatz nach Wien und »Niederdonau«.83 Dafür wurde in Wien das »SEK Außenkommando Ungarn« gegründet, das den Zwangsarbeitseinsatz dieser Jüdinnen und Juden aus der ungarischen Provinz in Ost-Österreich kontrollierte.84

Vorläufiger Stopp der Deportationen

Nachdem die mehr als 440.000 in der Provinz lebenden Juden deportiert waren,85 geriet Horthy unter massiven in- und ausländischen Druck, ausgelöst durch die sogenannten »Auschwitz-Protokolle« der entflohenen Häftlinge Vrba und Wetzler, die in der Schweiz zum Teil veröffentlicht worden waren und zu teils heftigen Reaktionen der westlichen Alliierten führten.

Es kam zum ersten und einzigen Mal zu einem energischen Auftreten des Westens86 gegen die Judenvernichtung und dies genügte, Horthy dazu zu bringen, dezidiert für die Einstellung der Deportationen einzutreten. Von außenpolitischen Überlegungen geleitet und überschüttet von Protesttelegrammen ausländischer Regierungen und Monarchen verlangte Horthy Ende Juni im Kronrat die Einstellung der Deportationen.87

Schließlich stoppte er am 6. Juli 194488 im Einvernehmen mit der ungarischen Regierung die Fortsetzung der Transporte. Fast 200.000 Jüdinnen und Juden blieben in Budapest und circa 80.000, die in der ungarischen Armee Arbeitsdienst – das heißt Zwangsarbeit – verrichten mussten, wurden von der Deportation verschont.89 Gleichzeitig traten die Gesandtschaften der neutralen Staaten immer stärker auf den Plan, insbesondere Raoul Wallenberg von der schwedischen Botschaft forderte die dauernde Suspendierung der Deportationen.

Damit verschwand Eichmann vorübergehend aus Budapest, nachdem SS-Reichsführer Himmler am 25. August die Weisung erteilt hatte, alle weiteren Deportationen einzustellen.90

»Letztes Kapitel«: Ausbeutung bis zur Vernichtung

Nachdem die Rote Armee die Karpaten erreicht, Rumänien am 23. August 1944 die Kampfhandlungen eingestellt und am 12.09.1944 mit der UdSSR einen Waffenstillstand in Moskau geschlossen hatte, entschloss sich auch die Regierung von Admiral Miklós Horthy, am 11.10.1944 einen Waffenstillstand mit der UdSSR zu unterzeichnen und verkündete diesen am 15. Oktober in einem Aufruf an die ungarische Nation. Er scheiterte aber aufgrund dilettantischer Vorbereitung und Durchführung.

Im Gegenzug rissen die Nyílas, die faschistischen ungarischen Pfeilkreuzler, unter Major Ferenc Szálasi91 mit deutscher Hilfe am 17.10.1944 in einem seit Langem vorbereiteten Putsch die Macht an sich, eine Marionetten-Regierung von Hitlers Gnaden, die von keinem neutralen Staat anerkannt wurde. Horthy – durch die Gefangennahme seines Sohnes erpressbar – musste den Waffenstillstand unter deutschem Druck widerrufen und dem Staatsstreich nachträglich seine Zustimmung geben.92

Vor allem der Schweizer Konsul Carl Lutz und der 2. Legationsrat der schwedischen Gesandtschaft, Raoul Wallenberg, retteten ab Oktober 1944 mit ihren Hilfsaktionen in Budapest Tausende vor der Verschleppung ins Deutsche Reich und dem sicheren Tod.93

Die Deutschen verlangten im Hinblick auf den Arbeitskräftebedarf in der Rüstungsindustrie,

»dass 50.000 männliche arbeitseinsatzfähige Juden aus Budapest im Fußtreck zum Arbeitseinsatz nach Deutschland transportiert, weitere arbeitsfähige männliche Juden aus Budapest sofort zu militärischen Befestigungsarbeiten in Umgebung (sic!) eingesetzt und übrige Juden insgesamt in Ghetto-ähnlichen Lagern an Stadtperipherie (sic!) konzentriert werden.«94

Der Chef der Abteilung Bauwesen im »SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt« (WVHA), Hans Kammler, benötigte die Arbeitskräfte dringend für die Errichtung unterirdischer Fertigungsanlagen für die Jagdflugmotoren und V-Waffen95 (sogenannte »Projekte Kammler«) und seit Mitte Oktober 1944 für den Bau des »Südostwalls« entlang der österreichischen Grenze zu Slowenien, Ungarn und der Slowakei.96

Ab 22.10.194497 fanden deshalb Zwangsrekrutierungen unter den ca. 30.000 Budapester Juden (Männer 16–60 Jahre und Frauen 16–40 Jahre) zum Arbeiterdienst statt, begleitet von Razzien in Budapests Straßen und in sogenannten »Judenhäusern«.98 Nach Schanzarbeiten bei Budapest99 wurden sie ins Sammellager Òbuda, eine Ziegelei, gebracht, von dort ab 6. November täglich 2000 bis 4000 »Leihjuden« auf der Wiener Landstraße Nr.1 (heute Nr.10) zu Fuß nach Westen getrieben. Innerhalb einer Woche wurden 27.000 Budapester Juden an die Grenze100 nach Hegyeshalom gebracht und der deutschen SS übergeben.

Die Personalpapiere und das meiste Geld wurden ihnen in den Sammellagern abgenommen, die Ausweise zumeist vernichtet.101 Ihre »bis Kriegsende leihweise« Übergabe erfolgte an die SS am 6. November in Zurndorf102 – ebenso wie im Sommer bei den Verschleppungen aus der Provinz – »nach Vermögens- und Papierentzug«103 (so die offizielle NS-Diktion). Das erschwerte es bzw. machte es nach dem Krieg unmöglich, die meisten der am Straßenrand verscharrten Todesopfer der Evakuierungsmärsche zu identifizieren. Das Vorhaben der Mörder, ihren Opfern die Identität zu rauben, wurde Realität. Von Zurndorf fuhren die »Leihjuden« per Bahn zum »Festungsbau« oder einige Gruppen zum Fabrikeinsatz ins »Reich«.104

Zur gleichen Zeit forderte Veesenmayer weitere 25.000 Personen, die Mitte November Richtung Grenze in Bewegung gesetzt wurden. Eichmann hingegen rechnete mit weiteren 50.000 ungarischen »Leihjuden«.105 Deshalb ergingen nochmals als Täuschungsmanöver zwei Aufrufe, einer zur Rekrutierung von Jüdinnen zwischen 16 und 50 Jahren, »die nähen konnten«, und einer am 2./​3. November zur Registrierung für den »Arbeitseinsatz in Verbindung mit der nationalen Verteidigung«.106 Judita Hruza erinnerte sich über 50 Jahre später: »Als ich mich in Budapest mit meiner Tante zum Arbeitsdienst melden musste, wie alle Frauen zwischen 16 und 40 Jahren, habe ich mich stark und stramm gefühlt und war zum Überleben entschlossen. Ich hatte keine Angst vor der Arbeit.«107 Die Ernüchterung kam bald. Auch diese Zwangsrekrutierten mussten als »Leihjuden« ab 8. November von Óbuda nach Hegyeshalom/​Nickelsdorf marschieren.108 Die restlichen arbeitsfähigen Juden wurden in vier Lagern in der Nähe von Budapest zum Arbeitseinsatz für Ungarn konzentriert.109

Vom 6. November bis 11. Dezember 1944 wurden 76.209 ungarische Jüdinnen und Juden110 teils mit der Bahn verfrachtet, teils brutal in Tagesmärschen von 25 bis 30km mit Kolbenstößen, Peitschen- und Stockhieben bei eisiger Kälte in Richtung deutschungarische Grenze getrieben.111 Diese »Leihjuden« mussten bei Wind, Regen und Frost im Freien auf Sport- und Viehmarktplätzen, manchmal auch in alten Baracken, Fabriken und Scheunen oder auf Schleppkähnen auf der Donau übernachten. Jeglicher Kontakt mit der Bevölkerung war auch hier verboten, Lebensmittel durften nicht entgegengenommen werden.112 Zu essen gab es aber kaum etwas, und wer nicht mehr mithalten konnte, wurde erschossen. Tausende – vom 12-jährigen Kind bis zum 74-jährigen Greis113 – fielen den Entbehrungen und mörderischen Begleitmannschaften zum Opfer. Die Überlebenden waren bei ihrer Ankunft in Hegyeshalom völlig erschöpft.114 Dort wurden sie einem SS-Kommando übergeben und nach Zurndorf/Burgenland überstellt.115 Bei der Übergabe an die SS wurden sie nur noch als Nummern registriert.116 In einer sogenannten »Übernahme und Verteilungsstation« teilte man die Deportierten zum Bau der »Reichsschutzstellung«, genannt »Südostwall«, ein.117

Über die Tausenden »Arbeitsdienstler«, die nach dem 1. Dezember 1944 noch nach Österreich überstellt wurden, wurden nicht einmal mehr Zahlen ausgewiesen. Auch ihr körperlicher Zustand war – z. T. nach der langen Zwangsarbeit bei der ungarischen Armee – enorm schlecht.118

Ein Teil der Ankömmlinge wurde entweder in KZ ins »Deutsche Reich« weitertransportiert, z.B. in die KZ Mauthausen,119 Ravensbrück oder Dachau, andere auf Industriebetriebe in Österreich aufgeteilt. Vor allem aber arbeiteten sie ab November 1944 gemeinsam mit Tausenden Dienstverpflichteten (deutschen und österreichischen Zivilarbeitern, Hitlerjugend), »Fremdarbeitern« und Kriegsgefangenen unter der »Organisation Todt«120 am »Südostwall«.121

-> Siehe Tabelle 5

Schicksal der ungarischen Juden 1944–1945

 Jüdische Bevölkerung am 19.03.1944: ca. 795.000 Personena

Opfer

Überlebende

Deportierte, davon:

508.861

zurückgekehrt

121.500

überlebt, nicht zurückgekehrt

ca. 5.000

verstorben

382.500

in Budapest zu Kriegsende

119.000

im Arbeitsdienst überlebt

15.000

Emigranten

ca. 5.000

»ungewisses Schicksal«, davon:

etwa 147.000

in Ungarn verstorben

120.000

Überlebende

ca. 27.000

Verstorbene gesamt

502.500

Überlebende gesamt

292.500

Die Statistik für den World Jewish Congress rechnete unter vielen Aspekten nach anderen Methoden und setzte die Zahl der Überlebenden mit 260.500 und die Opfer nach dem Einmarsch der Deutschen mit 501.500 Personen an.

Tabelle 5 nach: VARGA (21996), 351 (Rechen- bzw. Druckfehler korrigiert)

a) Personen, die gemäß den ungarischen Rassegesetzen XV/​1941 als Juden galten

Krisztión Ungváry spricht in seinem kurzen Aufsatz von ca. 825.000 Menschen, die im Ungarn der Grenzen von 1941 (»Großungarn«) von den antisemitischen Gesetzen betroffen waren (davon 100.000 getaufte Juden und sogenannte »Mischlinge 1. Grades«). Von diesen starben ca. 560.000 Personen, mehr als 95 Prozent in den letzten zwölf Kriegsmonaten.122

Ines Bernt-Koppensteiner

2  Evakuierungsmärsche ungarisch-jüdischer »SchanzarbeiterInnen« vom »Südostwall« ins KZ Mauthausen

2.1 Lager entlang des »Südostwalls«

In der zweiten Jahreshälfte 1944 erkannte die NS-Reichsführung die Aussichtslosigkeit ihrer Kriegsführung nach dem Verlust der natürlichen Karpatengrenze und der militärischen Niederlage in der »Operation Jassy-Kischinew«.1 Bald nach dem 20. Juli 1944 hatte der Chef des Generalstabs des Heeres, Generaloberst Guderian, mit Hitlers Genehmigung den Ausbau der Ostbefestigungen verfügt und mit Führerbefehl vom 1. September als sinnlosen Verzweiflungsakt den Bau von »Reichsschutzstellungen« von der Kurischen Nehrung an der Ostsee (Memelland) bis zur Adria angeordnet.2 Das zeigte, dass man sich auf den »Endkampf« vorbereitete. Im September wurde Ungarn zum strategischen Vorfeld des Deutschen Reiches, Schutzpfeiler des Ostzugangs zur geplanten, nie existenten »Alpenfestung«. Budapest, Wien und Graz bildeten nun ein kriegswichtiges Dreieck.3

Eine dieser Reichsschutzstellungen sollte der sogenannte »Südostwall« sein, von Pressburg/​Bratislava, das als Festung ausgebaut wurde, bis einerseits Postojna/​Adelsberg und Ljubljana/​Laibach, andererseits in den Raum Varaždin – Zagreb/​Agram, um die Südostgrenze des Großdeutschen Reiches gegen den Vormarsch der Roten Armee besser verteidigen zu können, wie vorgegeben wurde. Die Idee war nicht neu, hier war 1500 Jahre lang versucht worden, Mitteleuropa gegen Völker aus dem Osten zu schützen.4

An der Grenze der »Ostmark« und z. T. auch auf ungarischem Gebiet (Sopron, Köszeg) verlief diese geplante Verteidigungslinie von Engerau/​Petržalka5 über Radkersburg bis an die Save westlich von Krško/​Gurkfeld a. d. Save6 in zwei Festungslinien: Linie Niederdonau und Linie Steiermark. »Als ›Wall‹ war diese Reichsschutzstellung praktisch ohne Bedeutung und ihre Anlagen konnten […] nur von Nutzen sein,« wenn man rechtzeitig »stärkere Verbände als Auffangtruppen in Stellung bringen und damit ein kurzfristiger Rückhalt für die Verteidigung geschaffen werden konnte.«7 Doch das traf schließlich alles nicht zu.

Für den Bau wurden hauptsächlich die ungarischen Jüdinnen und Juden herangezogen, die zwischen 6.11. und 1.12.1944 von der ungarischen Pfeilkreuzler-Regierung der SS übergeben wurden.8 Mit einem Führerbefehl Hitlers vom 1. September 1944 wurde den Gauleitern von »Niederdonau« (Dr.Jury) und der Steiermark (Dr.Uiberreither) als »Reichsverteidigungskommissare« die Verantwortung für den Stellungsbau übertragen: »Die Gauleiter sind verpflichtet, alle Mittel einzusetzen, damit die Stellungsbauten in kürzester Zeit durchgeführt werden.«9

Zur Beaufsichtigung dieser Schanzarbeiten wurden die Politischen Leiter der NSDAP herangezogen, wie aus einem Rundschreiben des Gauorganisationsleiters für Wien an alle Verwaltungsstellen hervorgeht:

»[…] bitte ich Sie, um einen klaglosen Einsatz der Führungskräfte beim Südostwallbau zu ermöglichen, sämtliche Politischen Leiter Ihrer gesamten Gefolgschaft namhaft zu machen, die Sie für diesen überaus kriegswichtigen Einsatz zur Verfügung stellen können. […]«10

Technische Planung und Kontrolle unterstanden dem Kommando der »Organisation Todt« (OT), Einsatzgruppe Südost, Sonderbauleitung Wien. Die Kreisleiter als Abschnittsleiter überwachten und steuerten aber den Bau der Befestigungen, was immer wieder zu Differenzen mit der Wehrmacht, die nur für die Planung zuständig war, führte.11

Die Gauleiter übernahmen auch das Kommando über die jüdischen SchanzarbeiterInnen sowohl auf österreichischem als auch auf westungarischem Gebiet.12 Dienststellen und Gauleitung bestimmten, in welche Lager sie kamen, ihre Unterbringung, Verpflegung, medizinische Betreuung, ihr Arbeitspensum, ihre Behandlung durch die ebenfalls von den Gauleitungen gestellten Wachmannschaften. Diese rekrutierten sich aus Volkssturm und SA, aber auch Parteifunktionären, die sogenannten »politischen Leiter«, und HJ.13. Aus Rechnitz ist auch die zeitweise Anwesenheit einer »muselmanischen« SS-Division bekannt. Rauchensteiner vermutet die bosniakische 23. Waffen-Gebirgsdivision der SS »Kama«14 (= kroatische Nr.2). Lappin jedoch erklärt, dass zum Zeitpunkt des Massakers die »Kama« bereits in die 13. Waffen-Gebirgsdivision der SS »Handschar« (= 1. Kroatische) eingegliedert war.15

An dem Bau arbeiteten vorerst Tausende Dienstverpflichtete (alle arbeitsfähigen Grenzbewohner), Angehörige der HJ aus Wien und anderen »Gauen«, RAD, sog. »Fremdarbeiter« (Zwangsarbeiter, Ostarbeiter), Kriegsgefangene, ab Dezember 1944 auch ungarische Zivilbevölkerung, aber in erster Linie zigtausend KZ-Häftlinge und ungarisch-jüdische ZwangsarbeiterInnen unter entsetzlichen Bedingungen, die in mehr als 20 Zwangsarbeitslagern entlang der Grenze sehr notdürftig untergebracht wurden. Zeitweilig schufteten hier Angehörige aus zwölf Nationen.16 Trotz konstanten Arbeitskräftemangels befahl Gauleiter Dr.Jury den Stellungskommandanten, auch arbeitsfähige Zivilpersonen, selbst Facharbeiter, zu Schanzarbeiten heranzuziehen.17

Zuerst wurden ungarisch-jüdische ZwangsarbeiterInnen nur im »Festungsabschnitt Niederdonau« in Engerau18, wo bereits seit Beginn des Baues im Oktober 1944 großer Arbeitskräftemangel herrschte, und im Raum Sopron (in 10 Lagern etwa 10.000 Personen19) eingesetzt, insgesamt etwa 35.000 Personen,20 von denen bis April 1945 zwischen 10.500 und 11.500 an Hunger, Epidemien, Misshandlungen und Krankheiten starben.21

Der Südostwall im Gau Niederdonau war 140km lang und unterteilt in die Bauabschnitte:

Nord

(Engerau bis Weiden am See) – Lager Engerau und Bruck/​Leitha

Mitte

(Weiden am See – westlich des Neusiedler Sees bis zum Südende auf der Höhe von Sopron/​Ödenburg) – Lager zwischen Donnerskirchen/​Purbach, Siegendorf und Schattendorf

Süd

(Südende des Sees bis zur Höhe des Geschriebensteins bei Köszeg/​Güns) – Lager in Deutschkreutz

Ein großes Kontingent ungarischer Jüdinnen und Juden schuftete in 10 westungarischen Lagern im

Raum Sopron

: Fertörákos/​Kroisbach, Ágfalva/​Agendorf, Sopron, Sopronbánfalva/​Wandorf, Balf/​Wolfs, Harka/​Harkau (Magyarfalva),

Kópháźa

/​Kolnhof, Nagycenk/​Zinkendorf, Hidegség/​Holling, Ilonamajor.

22

Auch in den umliegenden Ortschaften waren ehemalige Angehörige des ungarisch-jüdischen Arbeitsdienstes im Einsatz in Ziegelbrennereien, Steinbrüchen sowie am Festungsbau.23

Die anderen ungarisch-jüdischen Deportierten kamen zuerst in den Bauabschnitt Köszeg/​Güns (ca. 8000 Personen) und in südlicher gelegene westungarische Lager24 bei Bucsu. Da die Reichsschutzstellung in größter Eile errichtet werden sollte, wurde den ZwangsarbeiterInnen höchste Arbeitsleistung bei brutalen Misshandlungen, Hunger und Krankheit abverlangt. Jeder dritte Häftling kam schon bei den Bauarbeiten ums Leben.25 »Ich war eine der ungarischen Sklavenarbeiterinnen, die den Ostwall auf der ungarisch-österreichischen Grenze bauten, und ich verbrachte vier Monate im Lager Köszeg, wo wir schanzen mussten.«26

Das Ergebnis der etwa viermonatigen Anstrengungen waren schließlich zwei zwar nicht nach der Tiefe gegliederte, doch zusammenhängende Auffanglinien (A und B), deren Kernstück ein nur streckenweise ausgebauter, sonst angedeuteter Panzergraben darstellte. Die A-Linie führte von Engerau – Prellenkirchen – Bruck/​Leitha – Mannersdorf – Mörbisch – östwärts (sic!) von Sopron auf ungarischem Gebiet nach Kópháza – Deutschkreutz – Nikitsch – entlang der Grenze bis zum Geschriebenstein.27 Für die Linie B, die weiter westlich geplant war, wurden nur sehr sporadisch Stellungen ausgebaut.28

Die »Linie Steiermark« war vom Geschriebenstein bis zur Save geplant, was sich aber als nicht durchführbar erwies, besonders im »Festungsabschnitt Süd« in Slowenien von der Drau bis zur Save, der laut Gauleiter Uiberreither im »Bandengebiet« lag. Dort entstanden nur noch stützpunktartige Stellungen.29

Auch der »Festungsabschnitt Nord« in der Steiermark blieb ein Torso. Er teilte sich in zwei Bauabschnitte bzw. vier Unterabschnitte: VI/​1 Oberwart-Rechnitz, Kohfidisch, Güssing, VI/​2 Lafnitztal, V/​1 Raabtal/​Feldbach und Mureck, V/​2 Kalch.30 In der kurzen Zeit wurden mit unzureichender Ausrüstung und völlig geschwächten Menschen Gefechtsstände, granatwerfersichere Unterkünfte, Kampfstände, Panzergräben, Stellungen für schwere Waffen, Erdbefestigungen, verstärkt durch Faschinen31 und Bäume sowie vor allem reichlich Unterstände aus Holz errichtet.32

-> Siehe Abb.1 und Abb.2

Abb.1: Panzersperre entlang der Grenze zwischen Spielfeld und Šentilj

Foto: Dolf Kristan © Bild- und Tonarchiv UMJ Landesmuseum Joanneum

Abb.2: Bunkeranlage an der Grenze zwischen Spielfeld und Šentilj

Foto: Dolf Kristan © Bild- und Tonarchiv UMJ Landesmuseum Joanneum

Im Gau Steiermark begann der Arbeitseinsatz, bei dem auch Frauen eingesetzt wurden, erst ab Weihnachten 1944/​Anfang 1945.33 Das Gros setzte sich aber aus Angehörigen des ungarischen Arbeitsdienstes zusammen, die gemeinsam mit der ungarischen Armee von der Ostfront zurückgezogen worden waren. Diese wurden bei Bedarf beim ungarischen Honvéd-Ministerium in Szombathely und Körmend angefordert und oft von westungarischen Lagern entlang des »Südostwalls«, wo sie interniert waren, nun in Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten in die Steiermark überstellt.34 Dabei kam es auch (wie in Hegyeshalom und Zurndorf) zur systematischen Vernichtung der persönlichen Dokumente der Zwangsarbeiter. Die »Sklaven« wurden dadurch identitäts- und namenlos, wurden nicht einmal statistisch erfasst.

Im Abschnitt Steiermark übernahmen SA-Leute, Volkssturm, gelegentlich ukrainische Waffen-SS und kroatische Ustaši-Leute die Bewachung.35

-> Siehe Tabelle 6

SchanzarbeiterInnen am »Südostwall« an der ungarisch-österreichischen Grenze

»Festungsbau Niederdonau«

»Festungsbau Steiermark«

Ausländer gesamt

gesamt

Ausländer

%-Satz

gesamt

Ausländer

%-Satz

20.01.45

83.405

65.231

78,2

22.469

9.836

43,8

75.067

05.03.45

66.968

54.276

81,05

35.190

21.475

61

75.751

Veränderung

- 16.437

- 10.955

+ 12.721

+11.639

in %

-19,7%

- 16,8%

+ 56,6%

+ 118,3%

Tabelle 6 erstellt nach Zahlen von: BANNY, Leopold: Schild im Osten. In: ders. (ed.): Der Südostwall zwischen Donau und Untersteiermark 1944/​45, 89

Da die ungarisch-jüdischen SchanzarbeiterInnen als »Schutzhäftlinge« der Gestapo galten,36 erhielt diese regelmäßig Berichte über den Lagerstand,37 trat aber erst bei den Todesmärschen in Erscheinung, als sie die Leitung der Transporte übernahm.38

Beim Bau des »Südostwalls« herrschten unmenschliche Lebens- und Arbeitsbedingungen für die jüdischen ArbeiterInnen. Judita Hruza erinnerte sich 2001:

»Die Lager waren mehrfach überfüllt, es gab keine Heizung, kein Licht, keine Waschräume, keine Möglichkeit, Kleider zu waschen, manchmal kein Trinkwasser, manchmal keine Latrinen. Die Nahrung war täglich eine Rübensuppe, ein halber Liter bis ein Liter, ein Stück Brot zwischen 10 und 40 Deka, manchmal ein halber Liter Kaffee, wenn man arbeitete. Die Lagerführer und die Wächter hatten grenzenlose Macht über Leben und Tod.«39

Trotzdem gab es Handlungsspielraum für die Verantwortlichen, der wahrgenommen werden konnte oder nicht. Es gab Lager mit verhältnismäßig »humanen« Bedingungen für die Häftlinge und solche mit sadistischer Leitung. Obwohl sie immer bewacht zur Arbeit geführt wurden, waren sie von der Zivilbevölkerung nicht abgeschottet, die die Leiden, Grausamkeiten und Verbrechen beobachten konnten.40 Diese »Vernichtung durch Arbeit« fand vor den Augen der Bevölkerung statt.

Der gesetzlich gedeckte Rassismus ließ keinen Zweifel an der Richtigkeit der Vorgangsweise aufkommen und verhinderte auch nach dem Krieg die Schuldeinsicht.41 Die Folgen dieser unmenschlichen Behandlung ließen nicht lange auf sich warten: völlige Entkräftung, Erfrierungen, schwere Erkältungs- und Durchfallerkrankungen, Tod.

2.2 Evakuierung der Lager entlang des »Südostwalls«