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Donna Leon

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Beschreibung

Als bei der Renovierung eines Hauses am Fuß der Dolomiten die Leiche eines jungen Mannes gefunden wird, führt die Spur zum venezianischen Adelsgeschlecht der Lorenzonis und weiter hinter die Kulissen der Mächtigen und Einflußreichen. Commissario Brunetti gräbt in seinem siebten Fall tiefer, als die Leiche lag. Nicht immer sind die Motive des Handelns so edel wie das Geblüt, aus dem man stammt. "

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Seitenzahl: 301

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Donna Leon

Nobiltà

Commissario Brunettis siebter Fall

Roman Aus dem Amerikanischen von

Titel des Originals:

›A Noble Radiance‹

Die deutsche Erstausgabe

erschien 1999 im Diogenes Verlag

Das Motto aus: Mozart, Don Giovanni,

in der Übersetzung von Karl Dietrich Gräwe,

Rowohlt Verlag, Reinbek 1981

Umschlagfoto von Raffaello Bencini

(Ausschnitt)

Copyright ©Raffaello Bencini

Für Biba und Bianca

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright ©2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23260 8 (23. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60066 7

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

La nobiltà ha dipinta negli occhi l’onestà

Dem Adel steht die Ehrenhaftigkeit

[7] 1

Es war nichts Besonderes an dem verwilderten Hektar Ackerland unterhalb eines Dorfes am Rande der Dolomiten. Er lag am Fuß eines Abhangs, der mit Hartholzbäumen bewachsen war, aus denen man gut Feuerholz machen konnte, was dann auch als Argument diente, den Preis nach oben zu drücken, als das Grundstück mit dem zweihundert Jahre alten Haus darauf zum Verkauf kam. Im Norden erhob sich ein kahler Berg über der Ortschaft Ponte nelle Alpi; knapp hundert Kilometer südlich lag Venedig, zu weit entfernt, um Politik oder Brauchtum der Gegend zu beeinflussen. In den Dörfern sprachen die Leute nur widerwillig Italienisch; sie fühlten sich in ihrem Belluneser Dialekt mehr zu Hause.

Das Land hatte fast ein halbes Jahrhundert brachgelegen, das Steinhaus darauf ebenso lange leergestanden. Die großen Schieferplatten auf dem Dach, die das Haus vor Regen und Schnee schützen sollten, hatten sich durch Alter und plötzliche Temperaturschwankungen verschoben, vielleicht auch durch das eine oder andere Erdbeben, das im Lauf der Zeit die Gegend heimgesucht hatte. Viele der Platten waren heruntergefallen und die oberen Zimmer dadurch den Elementen preisgegeben. Um Haus und Grundstück stritten acht Erben, von denen keiner sich die Mühe gemacht hatte, die Schäden einzudämmen, weil er die paar hunderttausend Lire dafür womöglich nie wiedergesehen hätte. So konnten Schnee und Regen zuerst einsickern, [8] dann hineinströmen und Putz und Dielen aufweichen, und das Dach neigte sich von Jahr zu Jahr immer trunkener der Erde entgegen.

Der Acker war aus denselben Gründen verwildert. Keiner der Erbschaftsanwärter hatte Zeit und Geld in die Bearbeitung stecken oder seine rechtliche Position dadurch schwächen wollen, daß er das Land unentgeltlich nutzte. Das Unkraut gedieh prächtig, zumal die letzten Pächter das Land jahrzehntelang mit den Hinterlassenschaften ihrer Kaninchen gedüngt hatten.

Was den Erbstreit schließlich beilegte, war der Duft ausländischen Geldes: Zwei Tage nachdem ein deutscher Arzt im Ruhestand ein Angebot für Haus und Grundstück gemacht hatte, trafen die acht Erben sich im Haus des Ältesten. Noch ehe der Abend zu Ende ging, hatten sie einstimmig beschlossen, Haus und Grundstück zu verkaufen; des weiteren waren sie sich einig, erst dann zu verkaufen, wenn der Ausländer sein Angebot verdoppelte, womit der Preis auf das Vierfache dessen stieg, was ein Einheimischer hätte zahlen wollen – oder können.

Drei Wochen nach Abschluß des Handels wurde das Haus eingerüstet, und die jahrhundertealten, handgeschnittenen Schieferplatten zerschellten auf dem Hof. Die Kunst des Schieferdeckens war mit denen ausgestorben, die noch wußten, wie man die Platten schnitt, und so wurde das Dach mit vorgefertigten Betonvierecken gedeckt, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Terrakotta-Kacheln hatten. Da der Arzt den ältesten der Erben als Bauleiter engagiert hatte, ging die Arbeit zügig voran; da man in der Provinz Belluno lebte, wurde sie redlich und gut [9] ausgeführt. Als es richtig Frühling wurde, war die Restaurierung des Hauses fast abgeschlossen, und mit den ersten warmen Tagen richtete der neue Besitzer, der sein ganzes Berufsleben in hellerleuchteten Operationssälen eingesperrt gewesen war und die Arbeiten von München aus über Telefon und Fax dirigierte, sein Augenmerk auf die Gestaltung des Gartens, von dem er schon seit Jahren träumte.

Das Gedächtnis eines Dorfes ist lang, und man wußte noch, daß der alte Garten entlang der Reihe von Walnußbäumen hinter dem Haus verlaufen war, weshalb Egidio Buschetti, der Bauleiter, dort zu pflügen beschloß. Das Land war, solange er denken konnte, nie bearbeitet worden, darum würde sein Traktor wahrscheinlich zweimal darüberfahren müssen, einmal, um das meterhohe Unkraut umzulegen, dann noch einmal, um den fetten Boden darunter aufzubrechen.

Zuerst glaubte Buschetti, es wäre ein Pferd – er erinnerte sich, daß die früheren Besitzer zwei Pferde gehabt hatten –, und fuhr mit dem Traktor einfach weiter bis zu der Stelle, an der das Feld nach seiner Schätzung endete. Er drehte das große Lenkrad, wendete und fuhr zurück, stolz auf die schnurgeraden Furchen und froh, wieder einmal draußen in der Sonne zu sein und hören und fühlen zu können, was er tat, nun, da es endlich Frühling war. Er sah den Knochen schräg aus der zuletzt gezogenen Furche ragen, lang und weiß und scharf abgehoben von der fast schwarzen Erde. Nein, nicht lang genug für ein Pferd, aber er konnte sich nicht entsinnen, daß hier jemals Schafe gehalten worden wären. Neugierig verlangsamte er den [10] Traktor, denn aus irgendeinem Grund mochte er über den Knochen nicht einfach hinwegfahren und ihn zerbrechen.

Er schaltete in den Leerlauf und hielt an. Nachdem er die Handbremse gezogen hatte, stieg er von seinem metallenen Sitz und ging zu dem schräg in den Himmel weisenden Knochen. Schon wollte er sich bücken, um ihn aus dem Weg zu räumen, da zögerte er plötzlich, richtete sich wieder auf und versuchte ihn mit einem Stiefeltritt aus dem Erdreich zu lösen. Der Knochen ließ sich nicht bewegen, worauf Buschetti wieder zu seinem Traktor ging, wo er hinter dem Sitz eine Schaufel klemmen hatte. Beim Umdrehen fiel sein Blick auf ein weiß schimmerndes Oval, das ein Stückchen weiter in der Furche lag. Kein Pferd, kein Schaf hatte je aus einem so runden Schädel geblickt, noch würden sie ihn mit diesem scharfen Fleischessergebiß angrinsen, das seinem eigenen so beängstigend glich.

[11] 2

Nie verbreiten sich Neuigkeiten auf dem Lande schneller, als wenn sie mit Tod oder Unglück zu tun haben, und so hatte sich die Kunde, daß im Garten des alten Orsez-Hauses menschliche Gebeine gefunden worden waren, noch vor dem Abendessen überall in Col di Cugnan verbreitet. Seit vor sieben Jahren der Sohn des Bürgermeisters bei diesem Verkehrsunfall unten bei der Zementfabrik ums Leben gekommen war, hatte keine Nachricht mehr so schnell die Runde gemacht; selbst die Geschichte von Graziella Rovere und dem Elektriker hatte zwei Tage gebraucht, um sich herumzusprechen. Aber an diesem Abend schalteten die Dörfler, alle vierundsiebzig, ihren Fernseher aus oder übertönten ihn, während sie beim Essen hin und her spekulierten, wie es sich zugetragen haben mochte und, noch interessanter, wer es war.

Die Nachrichtensprecherin von RAI 3, die Blonde mit dem Nerzpullover, die jeden Abend eine andere Brille trug, blieb unbeachtet, als sie die neuesten Schreckensmeldungen aus Ex-Jugoslawien verlas, und niemand interessierte sich einen Deut für die Festnahme des früheren Innenministers wegen Korruption. Beides war inzwischen Normalität, aber ein Schädel in einer Ackerfurche hinter dem Haus des Ausländers, das war eine Neuigkeit. Bis zur Schlafenszeit war der Schädel schon abwechselnd durch einen Axthieb oder eine Kugel zertrümmert worden oder wies Anzeichen dafür auf, daß jemand versucht habe, ihn [12] in Säure aufzulösen. Die Polizei sollte festgestellt haben, daß es sich um die Knochen einer Schwangeren, eines jungen Burschen oder des Ehemannes von Luigina Menegaz handelte, der vor zwölf Jahren nach Rom gegangen war, worauf man nie wieder etwas von ihm gehört hatte. In dieser Nacht schlossen die Bewohner von Col di Cugnan ihre Türen ab, und diejenigen, die schon vor Jahren ihre Schlüssel verlegt und nie danach gesucht hatten, schliefen unruhiger als die anderen.

Am nächsten Morgen um acht kamen zwei mit Carabinieri besetzte Geländewagen zum Haus von Doktor Litfin, fuhren über den frisch eingesäten Rasen und parkten rechts und links von den beiden langen, tags zuvor gepflügten Furchen. Erst eine Stunde später brachte ein Wagen aus der Provinzhauptstadt Belluno den medico legale. Er hatte von den Gerüchten über die Todesursache oder die Identität des Toten, dessen Knochen hier lagen, nichts mitbekommen und tat darum das Naheliegende: Er ließ seine beiden Assistenten die Erde nach weiteren Überresten durchsieben.

Während diese Arbeit langsam ihren Lauf nahm, fuhr bald der eine, bald der andere Carabinieriwagen über den binnen kurzer Zeit verwüsteten Rasen zurück in den Ort, wo die sechs Beamten erst einmal in der kleinen Bar Kaffee tranken und anschließend bei den Dorfbewohnern herumfragten, ob jemand vermißt werde. Daß die Knochen offenbar schon seit Jahren in der Erde lagen, hielt sie nicht davon ab, sich nur nach neuesten Geschehnissen zu erkundigen, und so blieben ihre Nachforschungen ergebnislos.

Auf dem Feld unterhalb des Dorfes hatten Doktor [13] Bortots Gehilfen ein feinmaschiges Sieb schräg aufgestellt. Langsam schütteten sie eimerweise Erde hindurch und bückten sich hin und wieder, um einen kleinen Knochen herauszuholen, oder was danach aussah. Den zeigten sie dann ihrem Chef, der mit den Händen auf dem Rücken neben der Furche stand. Zu seinen Füßen lag eine lange Plastikfolie, und sowie man ihm einen Knochen gezeigt hatte, sagte er seinen Gehilfen, an welche Stelle er gelegt werden sollte. So setzten sie nach und nach ihr makabres Puzzle zusammen.

Hin und wieder ließ der Arzt sich von einem der Männer einen Knochen geben und betrachtete ihn kurz, bevor er sich bückte und ihm auf der Folie seinen Platz zuwies. Zweimal korrigierte er sich, einmal, indem er ein Knöchelchen von der rechten auf die linke Seite legte, das andere Mal verschob er mit einer leisen Unmutsäußerung eines vom unteren Ende des Mittelfußknochens ans Ende eines ehemaligen Handgelenks.

Um zehn Uhr traf Doktor Litfin ein, der am Abend zuvor von der Entdeckung in seinem Garten unterrichtet worden und die ganze Nacht von München durchgefahren war. Er parkte vor dem Haus und stieg steifbeinig aus. Hinter dem Haus sah er die unzähligen tiefen Reifenspuren auf dem frischen Rasen, den er vor drei Wochen mit solcher Freude eingesät hatte. Dann bemerkte er die drei Männer weiter hinten auf dem Grundstück, etwa da, wo er zur selben Zeit die aus Deutschland mitgebrachten Himbeersträucher gesetzt hatte. Er wollte über den verwüsteten Rasen gehen, blieb aber wie angewurzelt stehen, als irgendwo von rechts ein Kommandoruf ertönte. Er blickte [14] um sich, sah aber nur die drei alten Apfelbäume um die Reste des früheren Brunnens und schickte sich an, weiter auf die drei Männer zuzugehen. Er hatte kaum ein paar Schritte gemacht, als unter dem nächsten Apfelbaum zwei Männer in der drohenden schwarzen Uniform der Carabinieri hervorgestürmt kamen, die Maschinenpistolen im Anschlag.

Doktor Litfin hatte die russische Besetzung Berlins miterlebt, und obwohl das gut fünfzig Jahre her war, erinnerte sein Körper sich an den Anblick bewaffneter Männer in Uniform. Er hob beide Hände über den Kopf und blieb stocksteif stehen.

Nun traten sie ganz aus dem Schatten, und es kam dem Doktor wie eine Halluzination vor, als er ihre todesschwarzen Uniformen vor dem unschuldigen Rosa der Apfelblüten sah. Ihre glänzenden Stiefel zertrampelten einen Teppich frisch herabgefallener Blütenblätter, während die Männer auf ihn zukamen.

»Was machen Sie hier?« fragte der erste barsch.

»Wer sind Sie?« blaffte der zweite im selben Ton.

Die Angst machte Litfins Italienisch unbeholfen: »Io sono… dottor Litfin, sono il padrone…«

Die Carabinieri wußten schon, daß der neue Besitzer ein Deutscher war, und der Akzent paßte, also ließen sie ihre Waffen sinken, behielten aber den Finger in der Nähe des Abzugs. Litfin verstand das als Erlaubnis, die Hände herunterzunehmen, was er aber ganz langsam tat. Von früher wußte er, daß Waffengewalt stets vor Recht ging, und so wartete er, bis sie bei ihm waren, jedoch nicht ohne kurz zu den drei Männern auf dem frisch gepflügten Feld [15] hinüberzuspähen, die ebenso versteinert dastanden wie er und nur Augen für ihn und die näherkommenden Carabinieri hatten.

Angesichts des Mannes, der es sich leisten konnte, dieses Haus und das ganze Grundstück drumherum wiederherzurichten, wurden die Carabinieri plötzlich ganz klein, und während sie näherkamen, verschoben sich die Machtverhältnisse. Litfin merkte das und machte es sich zunutze.

»Was soll das hier eigentlich?« fragte er, wobei er über das Grundstück zeigte und es den beiden Carabinieri überließ, ob sie das auf seinen ruinierten Rasen oder die drei Männer im Hintergrund bezogen.

»Auf Ihrem Acker liegt ein Skelett«, antwortete der eine.

»Das weiß ich schon, aber was soll diese ganze…« Er suchte nach dem passenden Wort, und ihm fiel nur »distruzione« ein.

Die Reifenspuren schienen unter den Blicken der drei Männer immer tiefer zu werden, bis schließlich einer der Carabinieri sagte: »Wir mußten ja auf den Acker fahren.«

Obwohl das eindeutig eine Ausrede war, ging Litfin darüber hinweg. Er wandte sich von den beiden Carabinieri ab und schritt so rasch auf die anderen drei zu, daß keiner der beiden ihn aufzuhalten versuchte. Als er das Ende der ersten Furche erreicht hatte, rief er zu dem Mann, der hier offensichtlich das Kommando führte, hinüber: »Was ist es?«

»Sind Sie Doktor Litfin?« fragte der Arzt, der schon von dem Deutschen gehört hatte und wußte, was er für das Haus bezahlt und wieviel er bisher für die Renovierung ausgegeben hatte.

[16] Litfin nickte, und als die Antwort des anderen auf sich warten ließ, fragte er noch einmal: »Was ist es?«

»Ein junger Mann in den Zwanzigern, würde ich sagen«, antwortete Dr. Bortot und gab seinen Gehilfen gleichzeitig ein Zeichen weiterzumachen.

Litfin brauchte einen Moment, um diese kurz angebundene Antwort zu verdauen, aber dann überquerte er die umgepflügte Erde und stellte sich neben den anderen Arzt. Eine ganze Weile sagten beide nichts, während sie Seite an Seite standen und den beiden anderen zusahen, die in der Furche langsam das Erdreich durchsuchten.

Nach einigen Minuten reichte einer von ihnen Dr. Bortot einen weiteren Knochen, den dieser nach einem kurzen Blick ans Ende des zweiten Handgelenks legte. Es folgten zwei weitere Knochen, die beide rasch ihren Platz fanden.

»Da, links von Ihnen, Piazzetti«, sagte Bortot und zeigte auf einen kleinen weißen Klumpen, der ihm gegenüber aus der Furche hervorlugte. Der Angesprochene bückte sich, um den Knochen aufzuheben, und reichte ihn dem Arzt. Bortot hielt ihn vorsichtig zwischen zwei Fingern, betrachtete ihn kurz und wandte sich an den Deutschen: »Lateralis cuneiformis?« fragte er.

Litfin spitzte die Lippen und sah den Knochen an, und noch ehe er etwas sagen konnte, reichte ihn Bortot an ihn weiter. Litfin drehte ihn einen Moment hin und her, dann warf er einen Blick auf die Skeletteile, die schon auf der Folie lagen. »Möglich, vielleicht der intermedius«, antwortete er, mit dem Lateinischen vertrauter als mit dem Italienischen.

»Ja, das kann sein«, meinte Bortot. Er zeigte auf die [17] Folie, und Litfin bückte sich, um das kleine Stück ans Ende des langen Schienbeinknochens zu legen. Er richtete sich auf, und beide Männer blickten auf das Ergebnis hinunter. »Ja, genau«, murmelte Litfin, und Bortot nickte.

So standen sie die nächste Stunde zusammen neben der Furche, die der Traktor gezogen hatte, und nahmen abwechselnd Knochenstücke von den beiden Gehilfen entgegen, die fortfuhren, die fette Erde durch den schrägstehenden Maschendraht zu sieben. Hin und wieder berieten sie sich kurz darüber, wohin ein Teil gehörte, aber meist waren sie sich sofort einig über das, was die beiden Ausgräber ihnen reichten.

Die Frühlingssonne schien; in der Ferne ließ ein Kuckuck so oft seinen Balzruf ertönen, daß die vier Männer es bald nicht mehr wahrnahmen. Als es wärmer wurde, legten sie zuerst ihre Mäntel, dann die Jacketts ab und hängten alles über die unteren Äste eines der Bäume, die das Grundstück begrenzten.

Zwischendurch stellte Bortot einige Fragen nach dem Haus, und Litfin erklärte, daß die Außenarbeiten abgeschlossen seien; es bleibe noch der Innenausbau, der nach seiner Schätzung den größten Teil des Sommers dauern werde. Als Bortot seinen Arztkollegen fragte, woher er so gut Italienisch spreche, erzählte dieser, daß er seit zwanzig Jahren seinen Urlaub immer in Italien verbringe und im Hinblick auf die Übersiedlung dreimal wöchentlich Unterricht nehme. Über ihnen im Dorf schlugen die Glocken zwölfmal.

»Ich glaube, das wäre es, Dottore«, sagte einer der Männer in der Grube und stieß zur Bekräftigung seine [18] Schaufel tief in die Erde. Er stützte sich mit dem Ellbogen darauf, kramte ein Päckchen Zigaretten hervor und zündete sich eine an. Sein Kollege stellte ebenfalls die Arbeit ein, zog ein Taschentuch heraus und wischte sich das Gesicht ab.

Bortot blickte in die ausgehobene Grube, die inzwischen etwa drei mal drei Meter maß, dann auf die Knochen und die geschrumpften Organe zu seinen Füßen.

Plötzlich fragte Litfin: »Warum meinen Sie, daß es ein junger Mann war?«

Bortot bückte sich, bevor er antwortete, und hob den Schädel auf. »Die Zähne«, sagte er und reichte ihn dem anderen.

Aber anstatt die Zähne anzusehen, die in gutem Zustand waren und keine Spuren von Altersverschleiß aufwiesen, drehte Litfin den Schädel mit einem leisen Überraschungsruf um. Hinten in der Mitte, genau über der Vertiefung, in die der noch fehlende erste Wirbel paßte, befand sich ein kleines rundes Loch. Er hatte so viele Schädel und Spuren eines gewaltsamen Todes gesehen, daß er weder schockiert noch erschüttert war.

»Aber warum männlich?« fragte er weiter und gab Bortot den Schädel zurück.

Bevor Bortot antwortete, kniete er sich hin und legte den Schädel wieder an seinen Platz. »Deswegen. Das hier lag in der Nähe des Schädels«, sagte er im Aufstehen, nahm etwas aus seiner Tasche und reichte es Litfin. »Ich glaube nicht, daß eine Frau das tragen würde.«

Der Ring, den er Litfin gegeben hatte, war ein breiter Goldreif, der sich zu einer runden Fläche verbreiterte. [19] Litfin legte ihn sich auf die linke Hand und drehte ihn mit dem Zeigefinger der rechten um. Die Gravur war so abgeschliffen, daß er genauer hinsehen mußte, bevor er etwas erkannte: das kunstvolle Flachrelief eines aufgerichteten Adlers, der in seiner linken Klaue eine Fahne, in der rechten ein Schwert hielt. »Ist das ein… mir fällt das italienische Wort nicht ein«, sagte Litfin, während er auf den Ring blickte.

»Stemma«, half Bortot aus.

»Si, stemma«, wiederholte Litfin, dann fragte er: »Kennen Sie es?«

Bortot nickte.

»Und?«

»Das Wappen der Familie Lorenzoni.«

Litfin schüttelte den Kopf. Er hatte den Namen noch nie gehört. »Stammt sie aus der Gegend?«

Diesmal schüttelte Bortot den Kopf.

[20] 3

Nicht nur Doktor Bortot, sondern beinah jedem im Veneto war der Name Lorenzoni ein Begriff. Studenten der Geschichte hätten sich an den Conte dieses Namens erinnert, der 1204 den fast erblindeten Dogen Dandolo bei der Einnahme von Konstantinopel begleitete; der Legende nach war es Lorenzoni, der dem alten Mann sein Schwert gab, als sie über die Stadtmauer stiegen. Musiker würden sich entsinnen, daß der Hauptsponsor des ersten venezianischen Opernhauses diesen Namen trug. Bibliophile kannten Lorenzoni als den Namen jenes Mannes, der Aldus Manutius 1495 das Geld für die erste Druckerpresse der Stadt lieh. Aber das ist Wissen von Fachleuten und Historikern, Personen, die Gründe haben, den Ruhm der Stadt und der Familie im Gedächtnis zu behalten. Gewöhnliche Venezianer kennen ihn als den Namen des Mannes, der 1944 der SS die Gelegenheit gab, an die Namen und Adressen der in der Stadt lebenden Juden zu kommen.

Von den 256 venezianischen Juden überlebten acht den Krieg. Doch das ist nur eine Sichtweise auf die Tatsachen und die Zahlen. Schlimmer ausgedrückt bedeutet es, daß 248 Menschen, italienische Bürger und Einwohner der einstigen Serenissima, gewaltsam aus ihren Häusern geholt und schließlich ermordet wurden.

Italiener denken pragmatisch, und so meinten viele, wenn nicht Pietro Lorenzoni, der Vater des derzeitigen [21] Conte, das Versteck des Oberhauptes der jüdischen Gemeinde an die SS verraten hätte, dann eben ein anderer. Es wurde auch gesagt, er müsse dazu genötigt worden sein, denn immerhin hatten sich seit Kriegsende die Mitglieder der verschiedenen Zweige der Familie eindeutig dem Wohl der Stadt verschrieben, nicht nur durch mannigfachen großzügigen Einsatz für öffentliche und private wohltätige Einrichtungen, sondern auch durch ihr Wirken in öffentlichen Ämtern – einmal sogar dem des Bürgermeisters, wenn auch nur für ein halbes Jahr – und hatten sich in vielerlei Eigenschaften, wie es so schön heißt, um die Stadt verdient gemacht. Ein Lorenzoni war Rektor der Universität gewesen, ein anderer hatte in den Sechzigern einige Jahre lang die Biennale organisiert, und wieder ein anderer hatte seine Sammlung islamischer Miniaturen dem Museo Correr vermacht.

Und selbst wer von alledem nichts wußte, erinnerte sich meist doch an den Namen des jungen Mannes, der vor zwei Jahren entführt worden war, von zwei maskierten Männern vor der Villa der Familie in Treviso aus dem Auto gezerrt, in dem er mit seiner Freundin saß. Das Mädchen hatte statt der Familie zuerst die Polizei verständigt, und so waren die Konten der Lorenzonis sofort gesperrt worden, noch ehe die Familie von dem Verbrechen erfuhr. Die erste Lösegeldforderung lautete auf sieben Milliarden Lire, und es wurde damals viel darüber spekuliert, ob die Lorenzonis eine solche Summe auftreiben könnten. Im zweiten Brief der Entführer, der drei Tage nach dem ersten ankam, waren es dann nur noch fünf Milliarden.

[22] Aber inzwischen hatten die Ordnungsmächte, auch wenn sie bei der Suche nach den Tätern noch keine erkennbaren Fortschritte gemacht hatten, die bei Entführungen üblichen Maßnahmen ergriffen, um die Familie daran zu hindern, sich Geld zu leihen oder es aus dem Ausland zu transferieren, so daß auch die zweite Forderung unerfüllt blieb. Conte Ludovico, der Vater des entführten Jungen, wandte sich ans staatliche Fernsehen und bat die Täter, seinen Sohn freizulassen. Er sagte, er sei bereit, sich ihnen anstelle seines Sohnes auszuliefern, konnte in seinem Schmerz aber nicht erklären, wie das zu machen wäre.

Sein Aufruf blieb unbeantwortet; eine dritte Lösegeldforderung gab es nicht.

Das war zwei Jahre her, und seitdem hatte es von dem jungen Roberto kein Lebenszeichen gegeben, auch keine weiteren Fortschritte in dem Fall, jedenfalls keine amtlichen. Zwar wurde das Vermögen der Familie nach sechs Monaten wieder freigegeben, aber es blieb noch ein Jahr unter Aufsicht eines staatlichen Treuhänders, der zu jeder Verfügung über mehr als hundert Millionen Lire seine Zustimmung geben mußte. Viele solcher Summen wurden in dieser Zeit aus den Familienunternehmen der Lorenzonis abgezogen, aber alle waren legitim und wurden darum genehmigt. Nachdem das Mandat des Treuhänders ausgelaufen war, beobachtete ein gütiges staatliches Auge weiterhin diskret und unsichtbar die Transaktionen der Lorenzonis, aber es wurden keine Ausgaben festgestellt, die über das Übliche hinausgingen.

Der Junge wurde von seiner Familie als tot betrachtet, obwohl er erst nach weiteren drei Jahren amtlich für tot [23] erklärt werden konnte. Seine Eltern trauerten auf ihre Art: Conte Ludovico gab sich mit verdoppelter Energie seinen Geschäften hin, während die Contessa sich ganz in private Werke der Frömmigkeit und Wohltätigkeit zurückzog. Roberto war ein Einzelkind gewesen, so daß die Familie nun ohne Erben war, weshalb man einen Neffen, den Sohn von Ludovicos jüngerem Bruder, ins Unternehmen holte und darauf vorbereitete, die Leitung des Familienkonzerns zu übernehmen, zu dem die unterschiedlichsten Geschäftsanteile im In- und Ausland gehörten.

Die Nachricht, daß man das Skelett eines jungen Mannes nebst einem Ring mit dem Familienwappen der Lorenzonis gefunden hatte, wurde von den Carabinieri telefonisch an die Polizei in Venedig weitergegeben und dort von Sergente Lorenzo Vianello aufgenommen, der sich den Ort, den Namen des Grundstückbesitzers und des Mannes, der den Toten entdeckt hatte, sorgsam notierte.

Nachdem Vianello den Hörer aufgelegt hatte, ging er nach oben und klopfte bei seinem Vorgesetzten, Commissario Guido Brunetti. Auf dessen »Avanti!« öffnete Vianello die Tür und trat ein.

»Buon dì, Commissario«, sagte er und setzte sich, ohne eine entsprechende Aufforderung abwarten zu müssen, auf seinen üblichen Stuhl gegenüber Brunetti, der hinter seinem Schreibtisch saß und einen dicken Ordner aufgeklappt vor sich liegen hatte. Vianello fiel auf, daß sein Vorgesetzter eine Brille trug; er konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben.

»Seit wann tragen Sie denn eine Brille, Commissario?« fragte er.

[24] Brunetti sah ihn an; seine Augen wirkten durch die Gläser seltsam vergrößert. »Nur zum Lesen«, sagte er, dann nahm er die Brille ab und warf sie auf die vor ihm liegenden Papiere. »Eigentlich brauche ich sie gar nicht. Nur kann man damit die kleine Schrift in diesen Schreiben aus Brüssel besser lesen.« Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel, als wollte er sowohl die Eindrücke von der Brille als auch das soeben Gelesene wegwischen.

Er sah den Sergente fragend an. »Was gibt’s?«

»Ein Anruf von den Carabinieri in einem Ort namens…« begann Vianello und warf einen Blick auf den Zettel in seiner Hand. »Col di Cugnan.« Er hielt inne, doch Brunetti sagte nichts. »Das liegt in der Provinz Belluno«, fügte Vianello hinzu, als könnte ein Hinweis auf die geographische Lage Brunetti weiterhelfen. Als dieser noch immer nichts sagte, fuhr Vianello fort: »Ein Bauer hat dort auf seinem Acker eine Leiche ausgegraben. Anscheinend ein junger Mann von Anfang Zwanzig.«

»Wer sagt das?« unterbrach Brunetti.

»Der medico legale, soviel ich weiß.«

»Wann war das?« fragte Brunetti.

»Gestern.«

»Und warum rufen die uns an?«

»Bei der Leiche wurde ein Ring mit dem Familienwappen der Lorenzonis gefunden, Commissario.«

Brunetti legte die Finger wieder an die Nasenwurzel und schloß die Augen. »Ach ja, der arme Junge«, seufzte er. Dann ließ er die Hand wieder sinken und sah zu Vianello hinüber. »Sind die sich ihrer Sache sicher?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Vianello und beantwortete [25] auch gleich den unausgesprochenen Teil von Brunettis Frage. »Der Mann, mit dem ich telefoniert habe, sagte nur, daß sie den Ring identifiziert haben.«

»Das muß nicht heißen, daß es sein Ring war, es heißt nicht einmal, daß…« Hier hielt Brunetti inne und versuchte sich den Namen des Jungen ins Gedächtnis zu rufen. »Daß Roberto so einen Ring besaß.«

»Aber würde jemand, der nicht zur Familie gehört, so einen Ring tragen, Commissario?«

»Ich habe keine Ahnung, Vianello. Aber wenn derjenige, der die Leiche da verscharrt hat, ihre Identifizierung verhindern wollte, hätte er den Ring bestimmt an sich genommen. Er war doch an der Hand, oder?«

»Das weiß ich nicht, Commissario. Mir wurde nur gesagt, daß der Ring bei der Leiche war.«

»Wer leitet dort die Ermittlungen?«

»Der Anrufer sagte, daß der medico legale ihn angewiesen habe, uns zu verständigen. Seinen Namen habe ich hier irgendwo notiert.« Er sah wieder auf seinen Zettel. »Bortot. Das ist alles. Den Vornamen hat er mir nicht genannt.«

Brunetti schüttelte den Kopf. »Wie hieß noch der Ort?«

»Col di Cugnan.« Als er Brunettis fragenden Blick sah, zuckte Vianello die Achseln, um anzudeuten, daß auch er den Namen noch nie gehört hatte. »Irgendwo bei Belluno. Sie wissen ja, was es da oben für komische Ortsnamen gibt: Roncan, Nevegal, Polpet.«

»Und komische Familiennamen, wenn ich mich recht erinnere.«

Vianello wedelte mit seinem Zettel. »Wie der von diesem Amtsarzt.«

[26] »Haben die Carabinieri sonst noch etwas gesagt?« fragte Brunetti.

»Nein, ich fand nur, Sie sollten Bescheid wissen, Commissario.«

»Ja, gut«, meinte Brunetti, nur halb bei der Sache. »Hat schon jemand die Familie verständigt?«

»Das weiß ich nicht. Der Mann am Telefon hat nichts davon erwähnt.«

Brunetti griff zum Telefonhörer. Nachdem er die Vermittlung hatte, bat er um eine Verbindung mit dem Carabinieri-Posten in Belluno. Als dort abgenommen wurde, stellte er sich vor und sagte, er wolle den für den Leichenfund vom Vortag zuständigen Kollegen sprechen. Wenig später hatte er Maresciallo Bernardi am Apparat, der sich als Leiter der Ermittlungen vorstellte. Nein, er wisse nicht, ob der Ring an der Hand des Toten gewesen sei. Wenn der Commissario dagewesen wäre, hätte er selbst gesehen, wie schwer das festzustellen sei. Vielleicht könne der Arzt diese Frage besser beantworten. Überhaupt konnte der Maresciallo zu dem, was auf Vianellos Zettel stand, nicht viel ergänzen. Die Leiche sei ins städtische Krankenhaus von Belluno gebracht worden und werde bis zur Autopsie dort verbleiben. Aber er hatte die Nummer von Dottor Bortot und gab sie Brunetti, der keine weiteren Fragen hatte.

Brunetti drückte auf die Gabel und wählte sofort die Nummer, die der Carabiniere ihm genannt hatte.

»Bortot«, meldete sich der Arzt.

»Guten Morgen, dottore, hier ist Commissario Guido Brunetti von der Polizei in Venedig.« Er machte eine Pause, weil er es gewöhnt war, daß die Leute ihn an dieser [27] Stelle unterbrachen und nach dem Grund seines Anrufs fragten. Bortot schwieg jedoch, und Brunetti fuhr fort: »Ich rufe wegen der Leiche des jungen Mannes an, die Sie gestern geborgen haben. Und wegen des Ringes, der bei ihm gefunden wurde.«

»Ja, Commissario?«

»Ich wüßte gern, wo der Ring sich befand.«

»Nicht an den Knochen der Hand, wenn Sie das meinen. Aber das muß natürlich nicht heißen, daß er nicht ursprünglich doch an der Hand war.«

»Können Sie mir das näher erklären, Dottore?«

»Schwer zu sagen, was sich hier zugetragen hat, Commissario. Es gibt Hinweise darauf, daß die Leiche bewegt wurde. Von Tieren. Das ist völlig normal, wenn sie längere Zeit in der Erde gelegen hat. Einige Knochen und Organe fehlen, und die noch da sind, wurden allem Anschein nach mehrmals von der Stelle bewegt. Man kann also schwer sagen, wo der Ring war, als die Leiche beseitigt wurde.«

»Beseitigt?« wiederholte Brunetti.

»Es besteht Grund zu der Annahme, daß er erschossen wurde.«

»Was für ein Grund?«

»An der Schädelbasis ist ein kleines Loch, etwa zwei Zentimeter im Durchmesser.«

»Nur eines?«

»Ja.«

»Und das Geschoß?«

»Meine Leute haben bei der Suche nach Knochen ein gewöhnliches Maschendrahtsieb benutzt, da könnten so kleine Sachen wie Geschoßfragmente durchgefallen sein.«

[28] »Suchen die Carabinieri weiter?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Commissario.«

»Werden Sie die Autopsie vornehmen?«

»Ja. Heute abend.«

»Und die Ergebnisse?«

»Ich weiß nicht, was für Ergebnisse Sie erwarten, Commissario.«

»Alter, Geschlecht, Todesursache.«

»Das Alter kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Anfang Zwanzig, und ich glaube nicht, daß ich bei der Autopsie etwas finden werde, was dem widerspricht oder eine genauere Altersbestimmung zuläßt. Das Geschlecht ist der Länge der Arm- und Beinknochen nach mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit männlich. Und ich würde sagen, Todesursache war die Kugel.«

»Werden Sie das bestätigen können?«

»Hängt davon ab, was ich noch finde.«

»In was für einem Zustand war die Leiche?«

»Meinen Sie, wieviel noch davon übrig war?«

»Ja.«

»Genug, um Gewebe- und Blutproben entnehmen zu können. Vom Gewebe war zwar nicht mehr viel übrig – Tiere, wie gesagt –, aber einige der kräftigeren Bänder und Muskeln, besonders die an Ober- und Unterschenkeln, sind in gutem Zustand.«

»Wann werden Sie die Ergebnisse haben, Dottore?«

»Ist das denn so eilig, Commissario? Schließlich war er über ein Jahr in der Erde.«

»Ich denke an die Familie, Dottore, nicht an die Polizeiarbeit.«

[29] »Sie meinen den Ring?«

»Ja. Wenn es sich wirklich um den vermißten Lorenzoni-Jungen handelt, finde ich, sie sollte es so bald wie möglich erfahren.«

»Commissario, abgesehen von dem, was ich Ihnen schon sagte, stehen mir nicht genug Informationen zur Verfügung, um ihn als eine bestimmte Person identifizieren zu können. Bevor ich nicht die ärztlichen und zahnärztlichen Unterlagen des jungen Lorenzoni habe, kann ich mich außer auf Alter, Geschlecht und eventuelle Todesursache nicht festlegen. Höchstens noch darauf, wie lange er schon tot ist.«

»Haben Sie da schon eine Vorstellung?«

»Wann ist er denn verschwunden?«

»Vor ungefähr zwei Jahren.«

Es folgte eine lange Pause. »Dann wäre es möglich. Nach dem bisherigen Augenschein. Aber ich brauche trotzdem noch diese Unterlagen, um ihn mit einiger Sicherheit zu identifizieren.«

»Dann setze ich mich gleich mit der Familie in Verbindung und versuche die zu bekommen. Sobald ich sie habe, faxe ich sie Ihnen.«

»Danke, Commissario. Für beides. Es ist mir nicht angenehm, mit den Familien sprechen zu müssen.«

Brunetti konnte sich niemanden vorstellen, dem das angenehm wäre, aber er sagte nichts, außer daß er am Abend noch einmal anrufen werde, um zu erfahren, ob die Autopsie die Vermutungen des Arztes bestätigt habe.

Brunetti legte auf und wandte sich an Vianello. »Alles mitbekommen?«

[30] »Genug. Wenn Sie das mit der Familie erledigen wollen, rufe ich in Belluno an und frage, ob die Carabinieri das Geschoß gefunden haben. Wenn nicht, sage ich ihnen, sie sollen noch mal zu dem Acker gehen, wo die Leiche lag, und so lange suchen, bis sie es haben.«

Brunettis Nicken war Zustimmung und Dank zugleich. Als Vianello gegangen war, nahm er das Telefonbuch aus seiner untersten Schreibtischschublade und schlug bei L auf. Der Name Lorenzoni war dreimal vertreten, alle unter derselben Adresse in San Marco: Ludovico, avvocato, Maurizio, ingegnere, und Cornelia, ohne Berufsangabe.

Er griff schon zum Hörer, aber statt ihn abzunehmen, erhob er sich und ging nach unten, um mit Signorina Elettra zu sprechen.

Als er in das kleine Vorzimmer von Vice-Questore Giuseppe Patta kam, der sein Chef war, sprach die Sekretärin gerade am Telefon. Sie sah ihn, lächelte und hob einen Finger mit magentarotem Nagel. Er ging zu ihrem Schreibtisch, und während sie ihr Gespräch zu Ende führte, hörte er zu und las dabei die Schlagzeilen des Tages, obwohl sie für ihn auf dem Kopf standen; daß er das konnte, war ihm schon oft zugute gekommen. »L’esule di Hammamet« lautete die eine, und Brunetti fragte sich, warum ehemalige Politiker, die aus dem Land flohen, um der Verhaftung zu entgehen, immer »Exilanten« und nie »Untergetauchte« waren.

»Also, wir sehen uns dann um acht«, sagte Signorina Elettra und fügte noch »Ciao, caro« hinzu, bevor sie auflegte.

Welcher junge Mann hatte dieses aufreizende abschließende Lachen ausgelöst und würde heute abend diesen [31] dunklen Augen gegenübersitzen? »Eine neue Flamme?« fragte Brunetti, ehe er sich überlegen konnte, was das für eine dreiste Frage war.

Aber Signorina Elettra schien keinen Anstoß daran zu nehmen. »Schön wär’s«, sagte sie resigniert. »Nein, das war mein Versicherungsagent. Wir treffen uns einmal im Jahr: Er spendiert mir etwas zu trinken, und ich spendiere ihm ein ganzes Monatsgehalt.«

Sosehr Brunetti an Elettras Übertreibungen gewöhnt war, fand er das doch recht erstaunlich. »Ein ganzes Monatsgehalt?«

»Na ja, fast«, schränkte sie ein.

»Und was lassen Sie da versichern, wenn Sie mir die Frage gestatten?«

»Mein Leben bestimmt nicht«, antwortete sie lachend, und als Brunetti merkte, wie aufrichtig er es so empfand, verkniff er sich die galante Erwiderung, daß ein solcher Verlust ja auch gar nicht zu ersetzen wäre. »Meine Wohnung samt Einrichtung, mein Auto, und seit drei Jahren habe ich eine private Krankenversicherung.«

»Weiß Ihre Schwester das?« fragte er, denn wie würde eine Ärztin, die fürs öffentliche Gesundheitswesen arbeitete, es wohl sehen, wenn ihre eigene Schwester extra dafür bezahlte, es nicht in Anspruch nehmen zu müssen?

»Was glauben Sie denn, wer es mir empfohlen hat?« fragte Elettra zurück.

»Warum?«

»Wahrscheinlich, weil sie soviel in Krankenhäusern zu tun hat und weiß, was dort läuft.« Sie überlegte einen Moment und fügte dann hinzu: »Oder nach allem, was sie mir [32] schon erzählt hat, eher, was dort nicht läuft. Letzte Woche hat eine ihrer Patientinnen im Civile, die mit sechs anderen Frauen in einem Zimmer lag, zwei Tage lang nichts zu essen bekommen. Man hat ihnen einfach nichts gebracht, und niemand konnte ihnen erklären, warum.«

Von solchen Dingen hatte Brunetti auch schon gehört. »Und dann?« fragte er.

»Zum Glück bekamen vier der Frauen regelmäßig Besuch von Verwandten und haben das Mitgebrachte mit den anderen geteilt.«

Elettra war immer lauter geworden und wurde, während sie weitersprach, sogar noch lauter: »Wenn man frische Bettwäsche oder eine Bettpfanne will, muß man extra dafür bezahlen, sonst bringt sie einem keiner. Barbara hat inzwischen resigniert und mir darum geraten, in eine Privatklinik zu gehen, wenn ich je ins Krankenhaus muß.«

»Und daß Sie ein Auto haben, wußte ich auch nicht«, sagte Brunetti, der sich immer wunderte, wenn er erfuhr, daß jemand, der hier in Venedig lebte und arbeitete, eines besaß. Er selbst hatte nie ein Auto gehabt, auch seine Frau nicht, obwohl sie beide fahren konnten, mehr schlecht als recht.

«Ich habe es bei meinem Vetter in Mestre stehen. Er fährt es die Woche über, und ich benutze es, wenn ich am Wochenende irgendwohin will.»

«Und die Wohnung?« fragte Brunetti, der es nie der Mühe wert gefunden hatte, seine eigene zu versichern.

»Ich war mit einer Frau in der Schule, die eine Wohnung am Campo della Guerra hatte. Erinnern Sie sich noch an den Brand dort? Sie war eine von denen, die bei dem Feuer alles verloren.«

[33] »Ich dachte, die Stadt sei für die Instandsetzung aufgekommen«, sagte Brunetti.

»Für die Grund-Instandsetzung«, verbesserte sie ihn. »Solche Kleinigkeiten wie Möbel, Kleidung oder sonstiger persönlicher Besitz waren darin aber nicht enthalten.«

»Wäre das bei einer privaten Versicherung denn besser?« erkundigte sich Brunetti, der schon zahllose Horrorgeschichten darüber gehört hatte, wie schwer es sei, von einer Versicherung Geld zu bekommen, egal wie berechtigt der Anspruch war.

»Ich würde mich lieber mit einer privaten Versicherung herumschlagen als mit der Stadt.«

»Wer nicht?« fragte Brunetti resigniert.

»Aber was kann ich für Sie tun, Commissario?« fragte sie mit einer Handbewegung, die ihr Gespräch und mit ihm alle Gedanken an die Widrigkeiten des Lebens fortwischte.

»Ich wollte Sie bitten, ins Archiv zu gehen und mir die Akte zum Entführungsfall Lorenzoni herauszusuchen«, sagte Brunetti und holte die Widrigkeiten des Lebens damit doch wieder zurück.

»Roberto?«

»Kannten Sie ihn?«

»Nein, aber der jüngere Bruder meines damaligen Freundes war mit ihm in der Schule. Im Vivaldi, glaube ich. Ist schon Ewigkeiten her.«

»Hat er je etwas über ihn erzählt?«

»Ich erinnere mich nicht genau, aber ich glaube, er mochte ihn nicht besonders.«

»Wissen Sie noch, warum?«

[34] Sie hob das Kinn und zog eine Schnute, die der Schönheit jeder anderen Frau ziemlich abträglich gewesen wäre. Bei Elettra aber betonte sie nur den feinen Schwung ihres Kinns und das Rot ihrer geschürzten Lippen.

»Nein«, sagte sie endlich. »Was es auch war, es ist mir entfallen.«

Brunetti wußte nicht recht, wie er seine nächste Frage formulieren sollte. »Sie sagten, Ihr damaliger Freund. Sind Sie noch, äh, ich meine, haben Sie noch Kontakt zu ihm?«

Sie lächelte amüsiert, ebenso über die Frage wie über die Verlegenheit, mit der er sie gestellt hatte.

»Ich bin die Patin seines ersten Sohnes«, sagte sie. »Es wäre mir also ein leichtes, ihn anzurufen und darum zu bitten, er möchte seinen Bruder einmal fragen, was er noch weiß. Das tue ich gleich heute abend.« Sie stand auf. »Und jetzt gehe ich die Akte suchen. Soll ich sie Ihnen in Ihr Zimmer bringen?« Brunetti war dankbar, daß sie nicht fragte, warum er die Unterlagen einsehen wollte. Er hoffte abergläubisch, er könne, indem er es nicht aussprach, vielleicht verhindern, daß der Tote Roberto war.

[35] 4

Brunetti, der selbst Vater war, verschob seinen Anruf bei den Lorenzonis lieber bis nach der Autopsie. Der Ring und alles, was Dr. Bortot ihm gesagt hatte, ließ es kaum noch denkbar erscheinen, daß bei der Autopsie etwas herauskam, was ausschloß, daß es sich bei dem Toten um Roberto Lorenzoni handelte, aber solange diese Möglichkeit bestand, wollte Brunetti der Familie den vielleicht unnötigen Schmerz ersparen.

Während er auf die Entführungsakte wartete, versuchte er sich ins Gedächtnis zu rufen, was er selbst noch darüber wußte. Die Entführung hatte in der Provinz Treviso stattgefunden, und so hatte die dortige Polizei die Ermittlungen übernommen, obwohl das Opfer ein Venezianer war. Brunetti hatte damals an einem anderen Fall gearbeitet, erinnerte sich aber noch an die ohnmächtige Wut, die in der Questura geherrscht hatte, nachdem die Ermittlungen auf Venedig ausgeweitet wurden und die Polizei die Entführer des Jungen zu finden versuchte.