Nominalstil - Mathilde Hennig - E-Book

Nominalstil E-Book

Mathilde Hennig

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Beschreibung

Das Studienbuch bietet die erste umfassende Überblicksdarstellung zum weit verbreiteten Phänomen des Nominalstils. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der grammatischen Seite des Phänomens. Da 'Nominalstil' als Komplementärbegriff zu 'Verbalstil' begriffen wird, wird ein systematischer Vergleich der verbalstilistischen und nominalstilistischen Realisierung von Satzinhalten vorgenommen. Zentrale Theoriebausteine sind die Satzsemantik von von Polenz (2008), die Betrachtung von Satz und Nominalgruppe als strukturelle Domänen (Czicza 2015) sowie die Überlegungen zur Valenzvererbung von Welke (2011). Den Phänomenen Nominalisierung und Attribution widmet das Studienbuch besondere Aufmerksamkeit, weil sie zentral für die Überführung von Satzinhalten von verbalen in nominale Strukturen sind. Auf der Basis von Überlegungen zu nominaler Komplexität werden auch die Grenzen des nominal Sagbaren (Stichwort 'Komplikation') diskutiert. Das Buch bemüht sich auf diese Weise um eine kohärente Begriffsbestimmung und bietet gleichzeitig mit detaillierten Beispielanalysen Anschauungsmaterial für die akademische Lehre.

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Mathilde Hennig

Nominalstil

Möglichkeiten, Grenzen, Perspektiven

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

ISBN 978-3-8233-8270-6 (Print)

ISBN 978-3-8233-0208-7 (ePub)

Inhalt

AbkürzungsverzeichnisEinleitungGrundbegriffeNominalstil: Eine erste AnnäherungNominal + StilGrammatische Merkmale des NominalstilsNominalstil: BegriffsverständnisNominalstil im engeren und weiteren SinneZusammenfassungAnwendung: TextanalyseNominalstil zwischen verbaler und nominaler SyntaxSatz und Nominalgruppe als strukturelle DomänenNominalisierung und ValenzvererbungSatzbaupläne und NominalgruppenbaupläneZusammenfassungAnwendung: TextanalyseNominale KomplexitätNominale vs. verbale KomplexitätAnwendung: TextanalyseVon der Komplexität zur KomplikationZusammenfassungAusbau nominaler SyntaxVerbalkomplexe als PartizipialattributeVerknüpfungen im Bereich der AttributionZusammenfassungAnhangNominalstil: BegriffsverständnisNominalstil zwischen verbaler und nominaler SyntaxNominale KomplexitätLiteraturverzeichnisPrimärquellenSekundärliteraturRegister

Abkürzungsverzeichnis

Satzglieder

adjpräd

akkob

akkpräd

datob

genob

konjpräd

lokadv

modadv

nompräd

präd

präpob

präppräd

Attribute bzw. nominale Ergänzungen

adjatt

advatt

als/wieapp

gendob

gengob

genob

gensub

präpatt

semantische Rollen

(nach von Polenz)

(ergänzend):

Prädikatsklassen

(nach von Polenz)

Konstituentenstrukturen

(nach Eisenberg)

AdjGr

attr

hd

K

N

Pr

PrGr

Dependenzstrukturen

(nach Eroms)

Einleitung

Anliegen und Gegenstand

‚Nominalstil‘ ist ein weit verbreiteter Begriff. Eine Googlesuche ergibt aktuell knapp 50.000 Treffer, sie führen uns in Lehr- und Lernkontexte (bspw. „Nominalstil – Verbalstil – Grammatiktraining“), aber auch in den Bereich der Sprachkritik („Nominalstil – die Mutter aller Stilsünden“) und Sprachberatung („Nominalstil vermeiden! So schreiben Sie verständlicher“). Nominalstil ist im Grunde genommen ein vorwissenschaftlicher Begriff, der breite Verwendung findet, bislang aber keine systematische linguistische Aufarbeitung erfahren hat. Als Indiz dafür wird hier gewertet, dass es in der grammatischen Bibliographie des Instituts für deutsche Sprache (grammis) kein Suchwort ‚Nominalstil‘ gibt und die Recherche im Onlinesuchsystem der Deutschen Nationalbibliothek nur zwei Treffer zu DaF-bezogenen Publikationen mit ‚Nominalstil‘ im Titel liefert (Punkki-Roscher 1995, Järventausta / Schröder 1997). Und in der Tat bildet die linguistische Auseinandersetzung mit dem Konzept in keinster Weise den breiten Rekurs auf das Phänomen in der Sprachgemeinschaft ab (eine Ausnahme bildet bspw. Ziegler 2009). Das bedeutet natürlich nicht, dass es keine breite linguistische Forschung zu Nominalstilmerkmalen gäbe, vielmehr sind die einzelnen Phänomene, die gemeinhin als nominalstilistisch eingeordnet werden (bspw. Nominalisierung, Komposition, Attribution), durchaus Gegenstand elaborierter linguistischer Forschung.

Aus dieser Einschätzung ergibt sich das Anliegen des vorliegenden Studienbuches quasi von selbst. Es besteht in einer linguistischen Aufarbeitung des Konzepts ‚Nominalstil‘ auf der Basis der einschlägigen linguistischen Forschung. Dabei – das sei ausdrücklich betont, um Missverständnissen vorzubeugen – liegt der Schwerpunkt auf der grammatischen Seite des Phänomens, d. h. auf ‚Nominal-‘. Anliegen des Buches ist es, einen Überblick über das grammatische System des Nominalstils zu bieten. Außen vor bleibt hier also weitestgehend die mit ‚-stil‘ verbundene Verbindung zum Text: Nominalstil ist ein Phänomen bestimmter Kommunikationsbereiche (etwa: Wissenschaftssprache, Rechtssprache, Behördensprache) und Textsorten. Eine systematische Aufarbeitung des Beitrags von Nominalstil zur Textqualität in diesen oder benachbarten Bereichen bleibt folglich anderen Darstellungen vorbehalten. Die vorgenommenen Analysen zu einschlägigen Textbeispielen werden aber möglicherweise trotzdem einen Eindruck des Beitrags von Nominalstil zur Textprofilbildung vermitteln.

Der Untertitel des Buches, „Möglichkeiten, Grenzen, Perspektiven“, ist wie folgt zu verstehen: Primäres Ziel ist die Aufarbeitung nominalstilistischer Möglichkeiten des Ausdrucks von Satzinhalten. Eine zentrale Prämisse besteht dabei darin, dass Inhalte, die auch in Sätzen mit Vollverben ausgedrückt werden können, in nominale Strukturen überführbar sind. Die zentrale Frage lautet hier folglich: Wie können die Möglichkeiten der Überführung von Satzinhalten von verbalen in nominale Strukturen charakterisiert werden? Es wird aber auch darum gehen, welche Grenzen der nominalen Ausdrucksseite gesetzt sind. Was kann nicht nominal ausgedrückt werden und woran liegt das? Schließlich sind auch die Perspektiven des Ausbaus nominaler Syntax Gegenstand der Darstellung, also solche Bereiche, in denen im aktuellen Sprachgebrauch zu beobachten ist, dass bestimmte Arten von Satzinhalten, die eigentlich Sätzen mit Vollverben vorbehalten zu sein scheinen, nominalstilistisch realisiert werden.

Zielgruppe

Zielgruppe eines Studienbuchs zur germanistischen Linguistik sind zuallererst Studierende der Germanistik. Das Buch ist allerdings nicht als Lehrbuch konzipiert, d.h., es folgt keiner Progression und enthält keine Übungen. Dennoch kann es für das Selbststudium genutzt werden. Empfohlen sei dabei insbesondere eine intensive Auseinandersetzung mit den Beispielanalysen sowie eine Anwendung des Analyseinventars auf selbst gewählte Beispiele. Darüber hinaus richtet sich das Studienbuch an Lehrende der germanistischen Linguistik, die in ihren Vorlesungen oder Seminaren Nominalstil systematisch aufarbeiten oder einzelne nominalstilistische Phänomene besprechen wollen.

Das Buch möchte über die Zielsetzung einer Grundlage für die germanistische Hochschullehre hinaus aber auch zur weiterführenden linguistischen Auseinandersetzung mit dem Konzept des Nominalstils anregen. Es richtet sich deshalb durchaus auch – obwohl es keine wissenschaftliche Monographie ist – an Kolleginnen und Kollegen.

Aufbau und Nutzung

Das Studienbuch entwickelt ein Konzept von Nominalstil. Folglich sind die einzelnen Teile des Buches aufeinander bezogen. Das bedeutet aber nicht, dass das Buch nur linear gelesen werden kann. Folgendes erwartet Sie bei der Lektüre der einzelnen Kapitel:

Im Kapitel „Grundbegriffe“ werden die folgenden grundlegenden Begriffe erarbeitet: Nomen/Substantiv, Nominalisierung, Nominalgruppe, Attribut, Satz, Satzinhalt. Hier wird dasjenige Begriffsverständnis dieser grundlegenden Begriffe entwickelt, das den Ausführungen in den weiteren Kapiteln zugrunde liegt. Das Kapitel kann also als ein Nachschlagewerk bei der Lektüre der weiteren Bausteine des Buches genutzt werden. Da diese Begriffe für die Arbeit in allen Kapiteln zentral sind, erschien es ratsam, sie in einem eigenständigen Kapitel zusammenzutragen.

Das Kapitel „Nominalstil – eine erste Annäherung“ bietet einen Einstieg in die Beschäftigung mit dem Nominalstil. Ausgehend von den Begriffsbestimmungen in zwei einschlägigen linguistischen Lexika werden in einem ersten Schritt die wichtigsten grammatischen Merkmale des Nominalstils besprochen. Auf der Basis der Diskussion des qualitativen Beitrags dieser Merkmale zum Nominalstil wird anschließend ein eigenes Begriffsverständnis entwickelt, das Nominalstil als Ergebnis einer Überführung von Satzinhalten in nominale Strukturen begreift. Vor diesem Hintergrund kann die Rolle der einzelnen grammatischen Merkmale neu bewertet werden. Schließlich werden in diesem Kapitel auch die Auswirkungen des Nominalstils auf die syntaktische Ausgestaltung von Sätzen beleuchtet.

Das Kapitel „Nominalstil zwischen verbaler und nominaler Syntax“ bietet einen Ansatz zur grammatiktheoretischen Verortung des Phänomens. Zentrale Theoriebausteine sind Cziczas Konzept der strukturellen Domäne (2015), das eine Gegenüberstellung der grundlegenden syntaktischen Funktionsweisen von Satz und Nominalgruppe erlaubt, sowie Welkes Konzept der Valenzvererbung (2011), das als grammatiktheoretischer Rahmen für die Analyse der Überführung von Satzinhalten aus verbalen in nominale Strukturen fungiert. Mit der Übertragung des valenzgrammatischen Konzepts der Satzbaupläne auf die nominale Domäne (= „Nominalgruppenbaupläne“) wird schließlich ein Ansatz für Bestandsaufnahmen zu grundlegenden nominalstilistischen Strukturen vorgeschlagen.

Das Kapitel „nominale Komplexität“ bringt mit ‚Komplexität‘ einen weiteren Erklärungsansatz für Nominalstil ins Spiel: Ein einzelnes Attribut oder eine einzelne Nominalisierung macht noch keinen Nominalstil, vielmehr entsteht erst durch die gehäufte Verwendung solcher grammatischen Merkmale der Eindruck von einem nominalstilistischen Text. Es wird ein Komplexitätsverständnis vorgestellt, mit dem nominale Komplexität analysiert und mit verbaler Komplexität verglichen werden kann. In diesem Kapitel geht es aber auch um die Grenzen des Nominalstils, d. h. darum, was passiert, wenn die nominale Komplexität zu stark ausgereizt wird.

Das Kapitel „Ausbau nominaler Syntax“ schließlich bietet mit Verbalkomplexen als Partizipialattributen und Verknüpfungen im Bereich der Attribution zwei Beispiele für weiterführende Übertragungen von Satzinhalten auf nominale Strukturen, mit denen sozusagen die Grenzen des nominal Sagbaren weiter ausgelotet werden. Indem auf diese Weise das Spektrum der nominal realisierten Satzinhalte erweitert wird, werden neue Perspektiven für die nominalstilistische Ausdrucksweise eröffnet.

Zentrales Anliegen des vorliegenden Buches ist eine möglichst verständliche und nachvollziehbare Entwicklung eines Konzepts von Nominalstil. Aus diesem Grunde kann nicht der Anspruch erhoben werden, sämtliche Sekundärliteratur, die sich mit einzelnen Nominalstilphänomenen beschäftigt, zu berücksichtigen bzw. ausführlich zu dokumentieren und zu besprechen. Vielmehr wird in den einzelnen Kapiteln mit zentralen Theoriebausteinen gearbeitet, die möglichst detailliert dargelegt werden, damit sie gewinnbringend für die Entwicklung des Nominalstilverständnisses genutzt werden können.

Ein Studienbuch steht aus Sicht der Autorin vor einem grundsätzlichen Dilemma: Es sollte einerseits ergebnisorientiert sein, um der Zielgruppe ein Handwerkszeug für die Analyse der behandelten Strukturen zur Verfügung zu stellen. Es kann also den eigenen Ansatz nicht in der gleichen Ausführlichkeit aus einer Diskussion der vorliegenden Forschungsansätze entwickeln, wie es in einer wissenschaftlichen Monographie der Fall ist. Andererseits wird natürlich auch in einem Studienbuch das Rad nicht neu erfunden, d.h., es profitiert vom wissenschaftlichen Diskurs zum behandelten Themenfeld. Um einerseits die Einbettung in den Diskurs transparent zu machen und andererseits eine möglichst gute Lesbarkeit zu gewährleisten, werden hier an einigen Stellen Ausführungen zum Diskurs in gesonderte Abschnitte ausgelagert. Diese Abschnitte sind mit dem Hinweis „Diskurs“ gekennzeichnet und vom Fließtext abgehoben. Sie als Leser oder Leserin können also selbst entscheiden, ob diese Informationen für Sie relevant sind, oder ob Sie diese Textteile überspringen möchten, weil für Sie vordergründig die ergebnisorientierte Entwicklung des Nominalstilverständnisses von Belang ist.

Abbildungen, Analysen, Anhang

Sowohl für die Entwicklung des Konzepts von ‚Nominalstil‘ als auch für die potentielle Nutzbarkeit des Studienbuches in Lehrkontexten sind die exemplarischen Analysen von zentraler Bedeutung. Das Buch arbeitet insgesamt zwar nur mit wenigen Beispieltexten, die jedoch unter den jeweiligen Gesichtspunkten ausführlich und detailliert betrachtet werden. Bitte beachten Sie diesbezüglich die folgenden beiden Hinweise:

Analysen folgen immer bestimmten Vorannahmen und basieren auf im jeweiligen Kontext getroffenen Festlegungen. Es gibt folglich keine allgemeingültige, einzig richtige Analyse. In diesem Studienbuch wird versucht, die Kriterien und Hintergründe für die Analysen so transparent wie möglich zu gestalten. Andere Analyseentscheidungen und -wege hätten zu anderen Analyseergebnissen geführt.

Die Beziehungen der Bestandteile von Nominalgruppen zueinander können teilweise vielschichtig und komplex sein. Den Möglichkeiten der Darstellung dieser Beziehungen (etwa durch Tabellen oder typographische Hervorhebungen) sind Grenzen gesetzt. Um dennoch eine möglichst transparente Analyse zu gewährleisten, bietet ein Anhang kleinschrittige tabellarische Analysen zu solchen Phänomenbereichen, deren detaillierte Darstellung den Fließtext möglicherweise langatmig und wenig prägnant machen würde.

Exemplarische Analysen beinhalten nicht immer die Analyse vollständiger Beispieltexte, sondern können sich auch auf einzelne Satz- oder Nominalgruppenbeispiele beziehen. Um die interne Struktur der jeweiligen Sätze und Nominalgruppen nachvollziehbar zu analysieren, wird auf zwei Typen von Darstellungsformaten zurückgegriffen:

Konstituentenstruktur: Die Konstituentenstrukturanalysen folgen dem Modell von Eisenberg (2013b).

Dependenzstruktur: Die Dependenzstrukturanalysen folgen dem Modell von Eroms (2000).

Beide Typen von Strukturanalysen folgen den jeweiligen Modellen. Das bedeutet, dass die Terminologie in den Strukturanalysen nicht den für dieses Studienbuch getroffenen Festlegungen folgt, sondern den Vorgaben von Eisenberg und Eroms. So ist etwa ‚Nomen‘ in den Konstituentenstrukturbäumen à la Eisenberg Oberbegriff für alle deklinierbare Wortarten; in den Dependenzstrukturanalysen à la Eroms hingegen Oberbegriff für das, was hier als Nomen und Substantiv differenziert wird. Dieser Unterschied in der Nutzung des Terminus ‚Nomen‘ illustriert, dass Analysen immer auf Vorannahmen beruhen und dass es unumgänglich ist, Festlegungen zu zentralen Grundbegriffen zu treffen.

Dank

Ich danke allen, die zum Entstehen dieses Studienbuches beigetragen haben. Für anregende Diskussionen und hilfreiche Kritik danke ich allen voran Dániel Czicza, aber auch Daniel Holzhacker und Robert Niemann. Nilüfer Cakmak-Niesen danke ich für die kritische Lektüre des gesamten Manuskripts. Das gilt gleichermaßen für Vanessa Langsdorf, der ich darüber hinaus für die Endkorrektur und vor allem für die Erstellung der Abbildungen zu Dank verpflichtet bin. Schließlich möchte ich mich herzlich beim Narr Verlag für die Aufnahme in die Reihe „Narr Studienbücher“ bedanken sowie bei Valeska Lembke für die kompetente Betreuung bis zur Drucklegung.

 

Schauenburg-Hoof, September 2019

Grundbegriffe

Überblick

Das Kapitel verfolgt das Ziel, das dem Studienbuch zugrunde liegende Verständnis zentraler grammatischer Termini zu erarbeiten. Elementar für eine Auseinandersetzung mit Fragen des Nominalstils sind die Grundbegriffe rund um Nomen/Substantiv und Nominalgruppe. Um die Möglichkeit eines Vergleichs von Nominalstil und Verbalstil zu schaffen, wird aber auch ein Verständnis von ‚Satz‘ benötigt sowie Grundbegriffe zur Beschreibung von Satzinhalten.

Die vorliegende Darstellung folgt nicht einer bestimmten Grammatiktheorie. Das bedeutet nicht, dass keine grammatiktheoretischen Vorannahmen getroffen werden (müssen). Einen zentralen Theoriebaustein bilden die Überlegungen zum Zusammenspiel syntaktischer Kategorien, Strukturen und Relationen bei Peter Eisenberg (also das Kapitel „Grundbegriffe“ im Teil „Satz“ seines zweibändigen „Grundriss der deutschen Grammatik“ 2013b). Aber auch die Dependenzsyntax von Hans Werner Eroms (2000) und die Valenzgrammatik von Klaus Welke (2011) bilden einen wichtigen theoretischen Hintergrund für die Modellierung nominaler Strukturen. Schließlich wird auch auf andere wichtige Grammatiken des Gegenwartsdeutschen – insbesondere die IdS-Grammatik (1997), Dudengrammatik (2016) sowie Ágels „Grammatische Textanalyse“ (2017) – regelmäßig zurückgegriffen. Für die satzsemantische Perspektive ist die Satzsemantik von von Polenz (2008 [1985]) zentral.

Nomen Nomen/ SubstantivSubstantiv

In einem Buch zum Nominalstil ist der Begriff des Nomens bzw. Substantivs natürlich ein Zentralbegriff. „Nomen bzw. Substantiv“ suggeriert einen gewissen Grad an Synonymität. So spricht man in der Dudengrammatik auch einfach von „Substantiven oder Nomen“ (2016: 149) und verwendet dann weiterhin den Terminus ‚Substantiv‘. Andere Autoren und Grammatiken hingegen verwenden die Termini ‚Nomen‘ und ‚Substantiv‘ für begriffliche Unterscheidungen.

Diskurs: Nomen oder Substantiv?

Eisenberg bezeichnet als Nomen „in Anlehnung an eine traditionelle Redeweise die Wörter des Deutschen, die in Hinsicht auf Kasus Kasusflektieren“ (2013b: 14f). ‚Nomen‘ werden dadurch „kategorial von den Flexionstypen ohne Kasusmarkierung Kasusmarkierungab[gegrenzt]“ (Eisenberg 2013b: 17). Eisenberg unterscheidet auf diese Weise zwischen ‚Nomen‘ und ‚Substantiv‘: „Wir werden uns ebenfalls dieses weiten Begriffs von Nomen bedienen und ihn nicht, wie es häufig auch geschieht, synonym mit Substantiv verwenden (s.u.).“ (Eisenberg 2013b: ebd.) Eine völlig andere begriffliche Differenzierung nimmt die IdS-Grammatik vor:

„Die prototypische PrototypFunktion des SUBSTANTIVS besteht in seinem zentralen Beitrag zum Ausdruck von Argumenten, während die prototypische Funktion von VerbVerben der Ausdruck des Prädikats Prädikatist. […] Hingegen nennen wir ‚Nomen‘ (N) den Kopf Kopfeiner ‚NominalphraseNominalphrase‘ (NP), sei er durch ein Substantiv oder Adjektiv (die Kleinen) gebildet oder die Nominalisierung Nominalisierungeines Elements einer anderen Klasse, insbesondere eines Verbs (das Singen), aber auch eines Adverbs (das Heute), eines Subjunktors Subjunktorbzw. Konjunktors (kein Wenn und kein Aber) oder einer Interjektion (das Ach und Weh) usw.“ (IdS-Grammatik 1997: 28)

In der IdS-Grammatik wird folglich ein syntaktischer Begriff ‚Nomen‘ von einem lexikalisch-funktionalen Begriff ‚Substantiv‘ abgegrenzt. Auf diese Weise kann unterschieden werden zwischen solchen Sprachzeichen, die als Substantive Bestandteil des Lexikons sind und solchen, die erst im syntaktischen Kontext nominale Eigenschaften annehmen. Als ein Unterscheidungsmerkmal kann das feste Genus Genusdes Substantivs angesehen werden (IdS-Grammatik ebd.; Dudengrammatik 2016: 149). Eisenberg verwendet dafür den Begriff der WortkategorieWortkategorie:

„Jedes substantivische Paradigma Paradigmaund damit jedes substantivische lexikalische Wort gehört also einem grammatischen Geschlecht an und umgekehrt kann man sagen, dass die Genera eine Klassifizierung der Substantive als lexikalische Wörter abgeben.“ (Eisenberg 2013b: 19)

Wortkategorien Wortkategoriesind keine Flexionskategorien Flexionskategorieund so ist das Genus Genusam Substantiv – als lexikalischem Wort – fest. Natürlich ist auch bei Nomen (im syntaktischen Sinne) das Genus nicht beliebig. Die Genuszuweisung folgt aber den allgemeinen Regeln der Derivation Derivationund Konversion Konversion(siehe Fleischer/Barz 2007: 146ff.): Bspw. sind Verbalabstrakta Verbalabstraktumauf -ung und Adjektivabstrakta Adjektivabstraktumauf -keit feminin (die Wanderung, die Besichtigung, die Enteignung, die Heiterkeit, die Tätigkeit), die morphologische Konversion Konversionmorphologischaus einem Verb Verbmaskulin (der Lauf, der Schlaf) und die syntaktische Konversion Konversionsyntaktischneutral (das Laufen, das Schlafen, das Wandern). Das Genus ist hier also morphosyntaktisch indiziert und nicht – wie es bei lexikalischen Substantiven häufig der Fall ist – arbiträr (das Pferd, die Katze, der Hund).

Die Entscheidung für ein Begriffsverständnis sollte immer in Abhängigkeit davon getroffen werden, was der Kontext und der Zweck der Verwendung des Begriffs ist. Für unsere Überlegungen zum Nominalstil erscheint es mir sinnvoll, eine begriffliche Unterscheidung zwischen ‚Nomen‘ und ‚Substantiv‘ vorzunehmen, mit der wir den Unterschied erfassen können zwischen solchen Lexemen, die im Wörterbuch bzw. in unserem mentalen Lexikon Lexikonals Substantive gespeichert sind, und solchen, die eigentlich einer anderen Lexemklasse Lexemklasseangehören und erst durch die Verwendung als Kern Kerneiner Nominalgruppe Nominalgruppenominale Eigenschaften annehmen.

SubstantivSubstantiv

Ein SUBSTANTIV ist eine LexemklasseLexemklasse(WortartWortart). Die Zuordnung eines Lexems zur Klasse der Substantive ist nicht abhängig von der syntaktischen Umgebung. Es handelt sich um die Wortartzuordnung, die dem jeweiligen Lexem Lexemin einem Wörterbuch zugeordnet wird. Substantive haben ein festes GenusGenus, das in vielen Fällen (außer bei einigen Personenbezeichnungen) arbiträr ist (das Pferd, die Katze, der Hund).

Wichtig erscheint an dieser Stelle noch der Hinweis darauf, dass ‚Substantiv‘ und ‚Nomen‘ ja auch Bestandteile von fachwissenschaftlichen Komposita bzw. Ableitungen sein können: Nominalstil, Nominalgruppe und Nominalisierung vs. Substantivstil, Substantivgruppe Substantivgruppeund SubstantivierungSubstantivierung. Auf der Basis der soeben eingeführten begrifflichen Unterscheidung zwischen Substantiv und Nomen legen wir uns hier auf die Termini Nominalstil, Nominalgruppe und Nominalisierung fest. Mit von Polenz lässt sich diese Entscheidung darüber hinaus wie folgt begründen: „Der sog. ‚Substantivstil‘ ist eigentlich ein Nominalisierungsstil oder Nominalgruppenstil als hauptsächliche Ausprägung des komprimiertenkomprimiert/verdichteten/kondensierten Ausdrucks.“ (von Polenz 2008: 42) Wenn Autoren zitiert werden, die die Termini Substantivstil, Substantivgruppe und/oder Substantivierung verwenden, wird ihre jeweilige Redeweise beibehalten. Die Verwendungen der genannten Termini werden dann mit einem Hinweis auf die jeweilige Quelle versehen.

NominalisierungNominalisierung

Die Unterscheidung zwischen Substantiven Substantivund Nomen Nomenhaben wir deshalb vorgenommen, weil für die Auseinandersetzung mit dem Nominalstil gerade die Nomen interessant sind: Der Eindruck, dass ein Text im Nominalstil verfasst ist, entsteht nicht einfach dadurch, dass viele Substantive verwendet werden, sondern in der Regel erst, wenn es sich um Nomen – meist deadjektivische oder deverbale Nominalisierungen Nominalisierungdeverbal– handelt:

(1)

Die SPD wäre gut beraten, die Sache genau zu studieren, manches davon könnte ihr in den kommenden Gesprächen zur Anbahnung einer Sondierung zur Herbeiführung von Koalitionsverhandlungen zur Ermöglichung einer schwarz-​roten Regierung wieder begegnen. (Die ZEIT, 30.11.2017)

(2)

Bis jetzt konnte also von Elektrizität gar keine Rede sein, und der Wagenführer hatte nicht das geringste mit irgendwelchen Kurbeln und Hebeln zu tun, sondern er hielt in der linken Hand die Zügel und in der rechten die Peitsche. (Erich Kästner: Emil und die Detektive)

Beispiel (1) enthält 33 Wortformen, davon zehn Nomen (die drei Substantive SPD, Sache, Gespräch, das Pronomen manches sowie die sechs deverbalen NominalisierungNominalisierungdeverbalen Anbahnung, Sondierung, Herbeiführung, Koalitionsverhandlung, Ermöglichung, Regierung). Der Anteil der Nomen beträgt also 30,3%. In Beispiel (2) kommen neun Nomen auf 39 Wörter. Die meisten der neun Nomen sind gleichzeitig auch Substantive; der Wagenführer bspw. ist zwar ein deverbales Nomen Nomendeverbal(einen Wagen führen → der Wagenführer), deverbale Personenbezeichnungen wie diese gelten aber (wahrscheinlich aufgrund ihrer starken LexikalisierungLexikalisierung) nicht zwingend als Nominalstilphänomen (der Lehrer, die Verkäuferin). Der Anteil der Nomen in Beispiel (2) ist mit 23,08% zwar etwas niedriger als in Beispiel (1), der Abstand ist aber nicht so groß, wie man aufgrund der ganz unterschiedlichen Wirkung der Beispiele erwarten könnte. Der Eindruck, dass es sich bei Beispiel (1) um einen nominalstilistischen Satz handelt, entsteht folglich stärker auf der Basis der Qualität der Nomen als allein aufgrund ihrer Quantität. Dabei ist es sicherlich kein Zufall, dass alle sechs Nominalisierungen in Beispiel (1) deverbale Nominalisierungen sind.

Die zahlreichen Möglichkeiten, durch Derivation Derivationoder Konversion KonversionLexeme aus einer anderen Lexemklasse Lexemklassein die nominale Domäne Domänenominalzu überführen, ist also offenbar eine wichtige Grundlage für den Ausbau des nominalen Stils: Nominalisierungen sind sozusagen das Herzstück des Nominalstils. Werfen wir also einen genaueren Blick auf den Begriff der Nominalisierung:

Diskurs: ‚Nominalisierung‘ als morphologischer und syntaktischer Begriff

Wie so viele andere Termini wird auch dieser unterschiedlich gebraucht. In der Dudengrammatik bspw. wird der Terminus ‚SubstantivierungSubstantivierung‘ nur für die Bildung von Substantiven durch Konversion Konversion(langes Anstehen, die Neuen) verwendet (2016: 678f., 809); Eisenberg hingegen benutzt ihn sowohl für die Bildung von Substantiven durch Konversion als auch durch Affigierung Affigierung(2013a: 280). Der Terminus ‚NominalisierungNominalisierung‘ wird in der Fachliteratur etwa von Ehrich (1991) und Lübbe/Trott (2017) für deverbale NomenNomendeverbalbildungen verwendet. Deverbale Nominalisierungen werden traditionell ‚VerbalabstraktaVerbalabstraktum‘ genannt. Für Nominalstilfragen relevant sind aber auch sogenannte ‚AdjektivabstraktaAdjektivabstraktum‘, die durch Affigierung mit Suffixen Suffixwie -heit oder -keit gebildet werden (Beschaffenheit, Heiterkeit).

Bei ‚Nominalisierung‘ geht es aber nicht nur um die morphologischen Prozesse der Bildung von Nomen Nomenaus Lexemen anderer Wortklassen, sondern auch um die syntaktischen Konsequenzen der Verwendung der Nominalisierungsprodukte als Nomen (vgl. Welke 2011: 250ff.). Man kann folglich zwischen einer morphologischen und einer syntaktischen Perspektive Perspektiveauf den Begriff ‚Nominalisierung‘ unterscheiden. Für Analysen zum Beitrag von Nominalisierungen zum Nominalstil ist vor allem ihr syntaktisches Verhalten relevant. Zentral für die „SubstantivitätSubstantivität“ (Eisenberg 2013a: 328) ist: „Die Verwendung des Substantivs innerhalb der NGr ist bestimmt durch seine Funktion als Kern Kern(nuk).“ (Eisenberg 2013a: 329) Auch in der Dudengrammatik heißt es: „Substantive bilden den Kern von Nominalphrasen.“ (2016: 149)

Nominalisierung Nominalisierung

Mit dem Terminus NOMINALISIERUNG bezeichnen wir den Prozess der Überführung eines Lexems einer nicht-substantivischen Lexemklasse Lexemklassein die nominale DomäneDomänenominal. Aus morphologischer PerspektivePerspektivebezeichnet ‚Nominalisierung‘ den Wortbildungsprozess, der diesem Lexemklassenwechsel zugrunde liegt (Derivation Derivationdie Wanderung, Konversion Konversiondas Wandern). Der Lexemklassenwechsel führt zu einer Veränderung der syntaktischen Eigenschaften: Das Nomen Nomenals Produkt der Nominalisierung ist Kern Kerneiner NominalgruppeNominalgruppe.

Die Begriffsbestimmung kann prinzipiell auf alle Arten der Nominalisierung Nominalisierungangewendet werden und ist also unabhängig davon, aus welcher Lexemklasse das nominalisierte Nomen stammt. Für die Beschäftigung mit dem Nominalstil in diesem Studienbuch sind deverbale Nominalisierungen Nominalisierungdeverbalvon besonderem Interesse. Deshalb seien hier die morphologischen Möglichkeiten der deverbalen Nominalisierung mit Welke (2011: 256) explizit aufgeführt:

Im Deutschen gibt es unterschiedliche Arten der deverbalen AbleitungAbleitung: explizite Derivation Derivationexplizitmit dem Suffix Suffix-ung [a] und dem Suffix -e [b], implizite Derivation Derivationimplizit[c], Stammkonversion Stammkonversion[d], Infinitivkonversion Infinitivkonversion[e].

verwandeln – Verwandlung

bitten – Bitte, liegen – Liege

springen – Sprung, stehen – Stand

laufen – Lauf

verlangen – das Verlangen

Für deverbale Nominalisierungen Nominalisierungdeverbalverwenden wir in diesem Studienbuch häufig die gängige Bezeichnung ‚VerbalabstraktumVerbalabstraktum‘. Parallel dazu kann eine deadjektivische Nominalisierung Nominalisierungdeadjektivischals ‚AdjektivabstraktumAdjektivabstraktum‘ bezeichnet werden.

An dieser Stelle sei noch darauf hingewiesen, dass im Sinne der hier erfolgten Begriffsbestimmung und des mit diesem Studienbuch verfolgten Anliegens diejenigen Nominalisierungen von Interesse sind, die sinnvoll auf eine verbale Struktur zurückgeführt werden können. Das ist dann nicht der Fall, wenn sich das Produkt der Nominalisierung durch Lexikalisierung Lexikalisierungvom Geberlexem Geberlexemzu weit entfernt hat. Die Übergänge sind natürlich fließend. Als Beispiel sei hier das deadjektivische Nomen NomendeadjektivischAllgemeinheit genannt: Formal ist das Nomen als deadjektivische Nominalisierung Nominalisierungdeadjektivischan der expliziten Derivation Derivationexplizitmit -heit gut erkennbar. Eine Rückführung auf einen Satz wie X ist allgemein ergibt hier aber keinen Sinn, weil sich die Bedeutung des Derivats von diesem Ursprung entfernt hat (vgl. Duden Universalwörterbuch: Öffentlichkeit, Gesamtheit, alle). Um auf einen in diesem Sinne engeren Begriff von Nominalisierung zu verweisen, wird in diesem Studienbuch an den entsprechenden Stellen auch von ‚satzwertiger NominalisierungNominalisierungsatzwertig‘ gesprochen.

NominalgruppeNominalgruppe

Bei der Begriffsbestimmung von Nomen und Nominalisierung haben wir bereits auf den Begriff der Nominalgruppe zurückgegriffen. Mit dem Hinweis auf die Einschätzung von von Polenz, dass mit ‚Nominalstil‘ eigentlich ‚Nominalgruppenstil‘ gemeint sei, ist bereits deutlich geworden, dass es sich bei ‚Nominalgruppe‘ um einen Zentralterminus für die Beschäftigung mit Nominalstil handelt.

Diskurs: Nominalgruppe oder NominalphraseNominalphrase?

Wie auch andere hier diskutierte Terminologiepaare sind ‚Nominalphrase‘ und ‚Nominalgruppe‘ keineswegs synonym. Häufig geht es bei der Entscheidung für einen der beiden Termini um die Verortung in einem grammatiktheoretischen Kontext. So ist ‚Nominalphrase‘ bspw. ein fester Grundbegriff der Generativen Grammatik. Alternativ dazu kann auch zwischen ‚Gruppe‘ als losere Verbindung und ‚Phrase‘ als grammatikalisierte Verbindung mit festen phrasenstrukturellen Eigenschaften unterschieden werden (vgl. Eroms 2016). Gerade für die Beschäftigung mit Grammatikalisierung ist diese Unterscheidung hilfreich, weil mit ihr die Entwicklung von einer loseren Verbindung hin zu einer Struktur mit festen Phraseneigenschaften eingefangen werden kann (vgl. Eroms 2016). Eine solche diachrone Perspektive nimmt das vorliegende Studienbuch aber nicht ein. Da bei der Modellierung syntaktischer Grundstrukturen hier vordergründig auf Eisenbergs Grammatik zurückgegriffen wird, verwenden wir in Anlehnung an Eisenberg den Terminus ‚Nominalgruppe‘.

Für eine Annäherung an den Begriff der Nominalgruppe ist zweierlei relevant: ihre interne Struktur sowie ihre syntaktische Funktion. Für die Erfassung der internen Struktur von Nominalgruppen greifen wir hier auf den Begriff des ‚WortgruppengliedsWortgruppenglied‘ von Ágel (2017: 20ff.; 691ff.) zurück. Dabei handelt es sich um einen Terminus, der gezielt eine Analogie Analogiezum Terminus ‚SatzgliedSatzglied‘ herstellt: Satzglieder sind satzgrammatische Funktionen von grammatischen Formen, Wortgruppenglieder sind wortgruppengrammatische Funktionen von grammatischen Formen (Ágel 2017: 23). Hinter dieser Analogie steckt die folgende Grundidee: Wenn etwas (in unserem Fall: eine grammatische Form) Bestandteil einer größeren Einheit (in unserem Fall: eines Satzes oder einer WortgruppeWortgruppe) ist, dann muss es eine Funktion in Bezug auf diese größere Einheit haben. Salopp formuliert: Es gibt keine Aliens in Sätzen oder Wortgruppen. Diesen wichtigen Kerngedanken wollen wir hier in Bezug auf die Glieder von Nominalgruppen weiter verfolgen. Als Nominalgruppenglieder betrachten wir hier Kerne (NomenNomen), Köpfe Kopf(ArtikelArtikel) und Attribute. Da ‚Attribut‘ ein Zentralbegriff für die Beschäftigung mit Nominalstil ist, widmen wir diesem Wortgruppenglied einen eigenen Abschnitt.

Diskurs: Köpfe Kopfund Kerne

Es ist bereits deutlich geworden, dass das Nomen eine zentrale Funktion in der Nominalgruppe übernimmt. Diese zentrale Funktion wird in manchen Darstellungen mit dem Terminus ‚Kopf‘ und in anderen mit dem Terminus ‚KernKern‘ erfasst. So bezeichnet die IdS-Grammatik das „strukturelle und funktionale Zentrum einer WortgruppeWortgruppe“ als Kopf (1997: 72). Das ist in Bezug auf die Nominalgruppe nicht unproblematisch, weil das Nomen nicht gleichzeitig strukturelles und funktionales Zentrum ist. Es ist vielmehr „nur“ das lexikalische Zentrum (Eisenberg 2013b: 53; Ágel 2017: 698). Die Rede von einem lexikalischen Zentrum ergibt Sinn, wenn man diesen Begriff vom Artikel Artikelals grammatischem Zentrum der Nominalgruppe abgrenzt (Eisenberg u. Ágel ebd.). Der Artikel wird in dieser Tradition als ‚Kopf‘ bezeichnet. Diese Verwendung des Terminus ‚Kopf‘ ist also nicht identisch mit der Verwendung des Terminus ‚Kopf‘ in der IdS-Grammatik. Mit der Unterscheidung von Köpfen und Kernen knüpft Eisenberg an die syntaktischen Grundüberlegungen von Oliver Teuber (2005) an (die dieser seiner Dissertation zu analytischen Verbformen als Begriffsapparat voranstellt). Köpfe und Kerne werden bei Teuber und Eisenberg ebenso wie die klassischen Satzgliedbegriffe Satzgliedbegriffals syntaktische Relationen Relationsyntaktischerfasst. An diese Tradition knüpft auch Ágel an (2017), der – wie bereits ausgeführt – für die syntaktischen Relationen in der Wortgruppe in Analogie Analogiezu den syntaktischen Relationen im Satz Satzden Terminus ‚WortgruppengliedWortgruppenglied‘ einführt. Die Dudengrammatik verwendet ebenso wie Eisenberg den Terminus ‚Kern‘ für das Nomen in einer Nominalgruppe (dort aber NominalphraseNominalphrase). Für die Funktion des Artikels verwendet Peter Gallmann, der Autor des Satzkapitels in der Dudengrammatik, keinen gesonderten Terminus. Auf sein Konzept des Hauptmerkmalträgers werden wir unten genauer eingehen.

Es erweist sich als wichtig, die Wortgruppenfunktion Wortgruppenfunktiondes Nomens Nomenvon der Wortgruppenfunktion des Artikels Artikelabzugrenzen. Was mit der Redeweise vom Artikel als grammatisches Zentrum gemeint ist, sollen die folgenden Beispiele illustrieren:

 

Maskulinum (stark)

Maskulinum (schwach)

Femininum

Nominativ

der Mann

die Männer

der

Automat

die

Automaten

die Frau

die Frauen

Genitiv

des Mannes

der Männer

des

Automaten

der

Automaten

der Frau

der Frauen

Dativ

dem Mann

den Männern

dem

Automaten

den

Automaten

der Frau

der Frauen

Akkusativ

den Mann

die Männer

den

Automaten

die

Automaten

die Frau

die Frauen

Tab. 1:

Exemplarische Paradigmen deutscher Substantive

Die Beispiele zeigen, dass die grammatischen Kategorien Kategoriegrammatischder Nominalgruppe (GenusGenus, KasusKasus, NumerusNumerus) am Artikel Artikeldeutlich häufiger sichtbar werden als am SubstantivSubstantiv: Das starke Maskulinum MaskulinumMann hat im Singular Singularnur im Genitiv Genitiveine eindeutige Kasusendung, sie ist allerdings mit der Endung des Artikels identisch und dadurch redundant. Im Plural Plurallässt sich nur der Dativ Dativvon den anderen Kasus unterscheiden. Beim schwachen Maskulinum Automat ist nur der Nominativ NominativSingular von den anderen Kasus unterscheidbar, alle anderen Kasus im Singular sowie alle Kasus im Plural tragen die schwache Endung -en. Beim Femininum FemininumFrau schließlich sind nur Singular und Plural unterscheidbar. Für die Maskulina bietet der Artikel im Singular unterschiedliche Formen für alle vier Positionen im ParadigmaParadigma, im Plural sind immerhin nur Nominativ und Akkusativ Akkusativsynkretistischsynkretistisch, also mehrdeutig.

In Bezug auf die Funktion der Kennzeichnung der nominalen Kategorien Kategorienominaldurch den Artikel spricht Gallmann in der Dudengrammatik von einem ‚HauptmerkmalträgerHauptmerkmalträger‘ (2016: 955). Das muss nicht unbedingt ein Artikel sein, auch ein stark dekliniertes DeklinationAdjektiv Adjektivkann diese Funktion übernehmen, wenn kein Artikel mit entsprechender Endung vorhanden ist:

D-er starke schwarze Kaffee hilft da sicher.

Dies-er starke schwarze Kaffee hilft da sicher.

Mein stark-er schwarz-er Kaffee hilft da sicher.

Ein stark-er schwarz-er Kaffee hilft da sicher.

Stark-er schwarz-er Kaffee hilft da sicher.

(Dudengrammatik 2016: 956)

In der Terminologie von Eisenberg ist der Hauptmerkmalträger HauptmerkmalträgerKopf Kopfeiner NominalgruppeNominalgruppe. Die Konsequenz dieser Auffassung ist im Grunde genommen, dass auch die Flexionsendung eines stark deklinierten DeklinationAdjektivs Kopffunktion übernimmt. Meist werden aber nur Artikel Artikelals Köpfe betrachtet. Wir werden es in diesem Studienbuch aus Gründen der Überschaubarkeit auch bei diesem kurzen Hinweis auf die Kopffunktion der Flexive Flexivstark deklinierter Adjektive Adjektivbelassen. Die Adjektive stark und schwarz sind in den Beispielen darüber hinaus als Wortgruppenglieder Wortgruppengliedauch Attribute. Der Attributstatus ist dabei unabhängig davon, ob ein Adjektiv stark oder schwach dekliniert ist, ob es also gleichzeitig Hauptmerkmalträger ist oder ob ein Artikel als Hauptmerkmalträger fungiert.

Als zweites Standbein der Annäherung an den Begriff der Nominalgruppe Nominalgruppewurde eingangs ihre syntaktische Funktion benannt. Nominalgruppen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie im Satz eine Satzgliedfunktion Satzgliedfunktionübernehmen können:

(3)

Der verliebte Paul will der glücklichen Paula rote Rosen schenken.

Dieser Satz enthält drei Nominalgruppen: der verliebte Paul, der glücklichen Paula und rote Rosen. Alle drei Nominalgruppen sind Satzglieder Satzgliedin diesem Satz: Der verliebte Paul ist SubjektSubjekt, der glücklichen Paula ist Dativobjekt und rote Rosen ist AkkusativobjektAkkusativobjekt. In der Grammatik von Eisenberg sind Nominalgruppen deshalb KonstituentenkategorienKonstituentenkategorie. Das bedeutet, dass sie unmittelbare Bestandteile des Satzes sind. Das lässt sich in Anlehnung an Eisenberg wie folgt abbilden:

Abb. 1:

Nominalgruppen als Satzkonstituenten

Wichtig ist dabei aber: Als Konstituentenkategorien in Bezug auf Sätze kommen nicht nur Nominalgruppen in Frage, sondern beispielsweise auch Präpositionalgruppen Präpositionalgruppeund NebensätzeNebensatz.

Umgekehrt können auch Nominalgruppen nicht nur als Konstituenten von Sätzen fungieren. Sie können auch Konstituenten von Präpositionalgruppen sein:

(4)

Der verliebte Paul wartet hinter der Mauer auf die glückliche Paula. Er überrascht sie mit roten Rosen.

Im Gegensatz zu Beispiel (3) ist hier die glückliche Paula nicht unmittelbare Konstituente Konstituenteunmittelbardes Satzes und folglich auch kein Satzglied, sondern Konstituente Konstituenteder Präpositionalgruppe. Bei Eisenberg ist sie der Kern Kernder Präpositionalgruppe (die Präposition Präpositionist der KopfKopf). Die Präpositionalgruppe ist hier die Konstituente des Satzes und ein Satzglied (Präpositionalobjekt). Das Gleiche gilt für roten Rosen: Auch diese Nominalgruppe ist Konstituente einer Präpositionalgruppe (mit roten Rosen), ebenso wie die Nominalgruppe der Mauer Konstituente der Präpositionalgruppe hinter der Mauer ist.

Abb. 2:

Nominalgruppen als Konstituenten von Präpositionalgruppen

Schließlich können Nominalgruppen auch Konstituenten von Nominalgruppen sein:

(5)

die erste Durchsteigung der Nordwand der großen Zinne auf der Direttissima im Winter 1989 durch Kurt Albert und Gefährten im Rotpunkt-Stil (IdS-Grammatik 1997: 1927)

Mit diesem Beispiel illustrieren die Autoren der IdS-Grammatik, dass eine Nominalgruppe Nominalgruppesehr komplex sein kann. Es handelt sich zunächst insgesamt um eine Nominalgruppe, weil sie als Konstituente Konstituenteeines Satzes fungieren kann:

(6)

Die erste Durchsteigung der Nordwand der großen Zinne auf der Direttissima im Winter 1989 durch Kurt Albert und Gefährten im Rotpunkt-Stil war eine Sensation.

Die Nominalgruppe fungiert in diesem Satz als SubjektSubjekt. Da, wie wir gerade diskutiert haben, Nominalgruppen auch Konstituenten von Nominalgruppen sein können, ist es hilfreich, einen Terminus zu haben, mit dem wir solche komplexen Nominalgruppen wie (5) benennen können. In Anlehnung an Mertzlufft (2013: 230) nennen wir Nominalgruppen, die Konstituenten von Sätzen sind und eine Satzgliedfunktion Satzgliedfunktionübernehmen, in diesem Studienbuch „maximale NominalgruppeNominalgruppemaximaln“. Die Nominalgruppe mit dem deverbalen Kern KerndeverbalDurchsteigung ist deshalb so komplex, weil sie weitere Nominal- und Präpositionalgruppen Präpositionalgruppeals Attribute enthält. Die Attributstruktur Attributstrukturschauen wir uns im Abschnitt zu Attributen näher an.

An dem Beispiel haben wir nachvollzogen, dass eine Nominalgruppe sehr umfangreich sein kann. Was ist aber die untere Grenze für die Annahme einer Nominalgruppe, d.h., was muss minimal vorhanden sein, damit von einer Nominalgruppe ausgegangen werden kann?

Diskurs: Gibt es eingliedrige Nominalgruppen?

Die Grundsatzfrage lautet: Wieviele Elemente sind notwendig, damit man von einer Gruppe sprechen kann? Mit dieser Frage gehen die Grammatiken unterschiedlich um. Die Dudengrammatik und die IdS-Grammatik sprechen auch bei einzelnen Substantiven Substantivvon Nominalphrasen: Kühe fressen Gras (Dudengrammatik 2016: 808); Julia weint (IdS-Grammatik 1997: 1928). In der IdS-Grammatik spricht man hier von ‚Einwort-Nominalphrasen‘. Eisenberg hingegen unterscheidet als Konstituentenkategorien KonstituentenkategorieNomen Nomenund Nominalgruppen und benennt als Bedingung für eine NominalgruppeNominalgruppe, dass diese mindestens zwei Nomina (im Sinne des Begriffsverständnisses: deklinierbare Wörter) enthalte (2013b: 22). Nach diesem Verständnis wären im Beispiel Paul liebt Paula zwei Nomen Konstituenten des Satzes, im Beispiel der junge Paul liebt die alte Paula zwei Nominalgruppen. Wir müssen hier nicht unbedingt eine Festlegung bezüglich der Frage treffen, ob auch einzelne Nomen als Nominalgruppen zu betrachten sind. Für eine Beschäftigung mit dem Nominalstil sind allerdings einzelne Nomen als Satzkonstituenten Satzkonstituentenicht besonders interessant. Für den Nominalstil sind vielmehr komplexe Nominalgruppen konstitutiv.

Nominalgruppe Nominalgruppe

Eine NOMINALGRUPPE ist eine WortgruppeWortgruppe, die ein NomenNomen als KernKern(lexikalisches Zentrum) enthält. Eine Nominalgruppe enthält maximal je einen Kern und einen KopfKopf(grammatisches Zentrum; in der Regel ein ArtikelArtikel). Hingegen kann eine Nominalgruppe durch beliebig viele Attribute erweitert werden. Nominalgruppen können Konstituenten von Sätzen sein, also Satzgliedfunktion Satzgliedfunktionübernehmen. Sie können aber auch Konstituenten von Präpositionalgruppen Präpositionalgruppesein (sie fungieren dann als Kerne) oder Konstituenten von Nominalgruppen (hier fungieren sie als Attribute).

Das Vorhandensein eines Kerns ist die Grundbedingung für eine Nominalgruppe. Diese Bedingung kann allenfalls durch Koordinationsellipsen ausgehebelt werden:

(7)

Die neue Freundin von Paul ist hübscher als die alte.

An der Oberfläche besteht die Nominalgruppe die alte nur aus Kopf und AdjektivattributAdjektivattribut; Freundin ist sozusagen als Kern mitzudenken.

Wichtig ist, dass eine Nominalgruppe nur einen Kern hat. Dabei können aber mehrere Nomen zu einem komplexen Kern Kernkomplexkoordiniert werden:

(8)

Die Eltern und Kinder besuchen den Zoo.

AttributAttribut

Attribute spielen eine zentrale Rolle bei der Konstitution von Nominalstil, weil sie zum Ausbau der Nominalgruppen und somit auch zum Aufbau nominalstilistischer Komplexität Komplexitätbeitragen. Laut Ágel ist „[a]lles, was in einer Wortgruppe Wortgruppenicht Kern Kernund nicht Kopf Kopfist, […] syntaktisch abhängige, lexikalische Spezifizierung/Modifikation Modifikationdes Kerns. Diese Spezifizierungen/Modifikationen werden traditionell […] Attribut genannt.“ (2017: 698) Bevor wir uns mit Beispielanalysen der Frage nähern, was für Typen von Attributen es gibt und welche Rolle Attribute beim Ausbau des Nominalstils spielen, sei auch hier wieder ein kurzer Blick in die Diskussion um den Attributbegriff in der Forschung geworfen.

Diskurs: Was ist ein Attribut?

Der Begriff des Attributs gehört wie auch der Satzgliedbegriff Satzgliedbegriffzu den zentralen Konzepten der Schulgrammatik. Eine genauere theoretische Betrachtung zeigt jedoch, dass die Antwort auf die Frage, was ein Attribut ist, alles andere als trivial ist. Die hier bereits getroffene Unterscheidung zwischen Attribut, Kopf Kopfund Kern Kernals verschiedene Typen von Wortgruppengliedern Wortgruppengliedbietet bereits eine wichtige Eingrenzung des Attributbegriffs. Hingegen kam es in der Diskussion um den Attributbegriff im 20. Jahrhundert zeitweise auch zu einer Gleichsetzung von Attribut und Gliedteil. Der Terminus ‚Gliedteil‘ wurde von Glinz (1968 [1952]) in die germanistische Linguistik eingeführt; im Grunde genommen war sein Verständnis vergleichbar mit dem, was wir hier Wortgruppenglied nennen (1968: 489). In der Folge ist teilweise ‚Attribut‘ mit ‚Gliedteil‘ gleichgesetzt und auch auf Artikel Artikelausgedehnt worden (Fuhrhop/Thieroff 2005: 313). Diese Entwicklung kann man sehr gut an der Dudengrammatik nachvollziehen: In der vierten Auflage (1984: 592) wurden auch die Artikel den Attributen zugeordnet. In der aktuellen achten Auflage (2016) ist der Possessivartikel Possessivartikelnach wie vor Attribut, weil dieser auch als Aktant Aktant(= ErgänzungErgänzung) fungieren kann (vgl. Sie lacht → ihr Lachen).

Eine weitere zentrale Frage der Attributdiskussion ist die, auf was sich Attribute beziehen können und was als Attribut in Frage kommt. Einen hervorragenden Überblick über diese Frage bietet der Aufsatz „Was ist ein Attribut?“ von Fuhrhop/Thieroff (2005). Wir können dem entnehmen, dass gegenüber der traditionellen Auffassung, Substantive Substantivseien die Bezugselemente von Attributen, nach heutigem Verständnis im Grunde fast jede Wortart Attribute an sich binden kann (bspw. AdjektivAdjektiv: der sehr begabte Schüler, PronomenPronomen: Ich Idiot, SubjunktorSubjunktor: Kurz bevor er einschlief …; das Attribut ist jeweils fett markiert). Es liegt nahe, dass für unsere Beschäftigung mit Nominalstil nach wie vor das Substantiv/Nomen Nomender zentrale Bezugsbereich von Attributen ist; allerdings können auch durch Attribute erweiterte Adjektive bzw. adjektivisch verwendete Partizipien Partizipstark zum Ausbau von Nominalgruppen beitragen.

Eine zentrale Rolle in der Attributdiskussion spielt auch die Unterscheidung zwischen Komplementen und SupplementenSupplement, also valenzgebundenen valenzgebundenund nicht valenzgebundenen Attributen (Fuhrhop/Thieroff 2005: 325). Das ist für unsere Thematik insofern relevant, als deverbale Nominalisierungen Nominalisierungdeverbalhäufig auch Ergänzungen als Attribute an sich binden, die zur Valenzpotenz Valenzpotenzdes zugrunde liegenden Verbs in einem Satz gehören (bspw. Wir hoffen auf Frieden → unsere Hoffnung auf Frieden). Für die quasi einem Satzglied analoge Verwendung eines Attributs hat bereits Blatz (1896) den Begriff ‚sekundäres SatzgliedSatzgliedsekundär‘ verwendet (den Hinweis darauf verdanke ich dem Text von Fuhrhop/Thieroff 2005: 310). Ágel spricht in Bezug auf die Wiederverwertung von Satzgliedern als Attribute von ‚RecyclingRecycling‘ (2017).

Ein weiterer interessanter Diskussionspunkt findet sich im Text von Fuhrhop/Thieroff: Die beiden Autoren weisen darauf hin, dass es nicht selbstverständlich ist, davon auszugehen, dass sich ein Attribut auf ein Wort bezieht. Vielmehr könnte es sich auch auf eine Wortgruppe Wortgruppebeziehen. So komme für die Interpretation des Bezugs von in Buchholz in die Brücke über den Kanal in Buchholz u.a. die Lesart Lesartin Frage, dass sich dieses Attribut auf die gesamte bisherige Nominalgruppe bezieht (also auf die Brücke über den Kanal) und nicht nur auf Brücke oder Kanal (2005: 330).

Wie genau Attribute in einer Nominalgruppe zu bewerten sind, hängt vom grammatiktheoretischen Kontext der Begriffsbestimmung ab: So ist etwa die folgende Auffassung die Folge des konstituenzgrammatischen Ansatzes von Eisenberg: „Attribute sind unmittelbare KonstituenteKonstituenteunmittelbarn von Nominalgruppen und dem Kernsubstantiv Kernnomennebengeordnet.“ (Eisenberg 2013b: 235) In einem dependenzgrammatischen DependenzgrammatikAnsatz hingegen sind Attribute nicht dem Kernnomen nebengeordnet, sondern hängen von diesem ab (vgl. die Abbildungen 3 und 4).

Wie angekündigt wollen wir uns nun über eine Analyse des bereits zitierten Beispiels einer komplexen Nominalgruppe aus der IdS-Grammatik weiter an den Attributbegriff annähern.

(5)

die erste Durchsteigung der Nordwand der großen Zinne auf der Direttissima im Winter 1989 durch Kurt Albert und Gefährten im Rotpunkt-Stil (IdS-Grammatik 1997: 1927)

Um eine Grundlage für die Interpretation der Bezüge der Attribute zu haben, sei die Nominalgruppe zunächst in einen Satz „übersetzt“:

(5‘)

Kurt Albert und Gefährten durchsteigen die Nordwand der großen Zinne auf der Direttissima im Winter 1989 zum ersten Mal im Rotpunkt-Stil.

Der Umformulierung können wir entnehmen, dass es mehrere Konstituenten gibt, die sich auf das Verb durchsteigen beziehen:

Kurt Albert und Gefährten sind diejenigen, die durchsteigen (= SubjektSubjekt);

die Nordwand wird durchstiegen (= AkkusativobjektAkkusativobjekt):

mit auf der Direttissima wird die Route benannt, auf der die Durchsteigung erfolgt (= lokales AdverbialAdverbial);

mit im Winter 1989 wird der Zeitpunkt der Durchsteigung benannt (= temporales TemporalitätAdverbialAdverbial);

die Durchsteigung erfolgt zum ersten Mal (= Frequenzadverbial);

mit im Rotpunkt-Stil wird die Art und Weise der Durchsteigung beschrieben (modales AdverbialAdverbial).

Diese Satzgliedanalyse ist deshalb ein wichtiger erster Schritt bei der Bestimmung der Attribute, weil wir daraus schlussfolgern können, dass sich all diese „recycletenRecycling“ Attribute auf den Kern KernDurchsteigung beziehen. Sie sind folglich Attribute ersten Grades. Das Ergebnis ist, dass nur die Nominalgruppe Nominalgruppeder großen Zinne übrigbleibt. Es handelt sich also um ein Attribut zu Nordwand als Kern des ersten Attrib uts ersten Grades. Das Genitivattribut Genitivattributder großen Zinne ist deshalb ein Attribut zweiten Grades. Das Adjektivattribut Adjektivattributgroßen wiederum kann, da es sich auf Zinne als Kern des Attributs zweiten Grades bezieht, als Attribut dritten Grades eingeordnet werden.

Ich wähle im Folgenden zwei Darstellungsformate, mit denen die Beziehungen der Attribute in dieser Nominalgruppe systematisch erfasst und visualisiert werden. Das erste Darstellungsformat ist eine dependenzgrammatische DependenzgrammatikAnalyse in Anlehnung an die Dependenzgrammatik von Eroms (2000), s. Abbildung 3. In dieser Darstellung ist Dependenz Dependenzdaran erkennbar, dass eine (schräg verlaufende) Linie nach unten eingezeichnet ist. Wenn sich mehrere Elemente auf einer Ebene befinden – wir hatten ja bereits festgestellt, dass es in diesem Beispiel mehrere Attribute ersten Grades gibt –, bedeutet das, dass sie auf einer Ebene in der Dependenzstruktur Dependenzstrukturliegen. Die runden Bögen über Det (ArtikelArtikel) und N (NomenNomen) kennzeichnen, dass die beiden Bestandteile einer Nominalgruppe zusammengehören, ohne dass eine Dependenzrelation Dependenzrelationzwischen ihnen besteht. Die gepunkteten Linien ordnen die grammatischen Kategorien Kategoriegrammatischden Wortformen im Beispiel zu. Bei Verschmelzungen aus Präposition Präpositionund Artikel (hier: im) erfolgt in diesem Studienbuch in der Analyse immer eine Aufteilung in den präpositionalen Teil und den Artikelteil (hier: i und m), damit beide Teile für die Analyse der Wortgruppengliedfunktionen zur Verfügung stehen.

Abb. 3:

Attributanalyse im Format der Dependenzgrammatik (Eroms 2000)

Abb. 4:

Attributanalyse im Format der Konstituentenstrukturgrammatik (Eisenberg 2013)

Mit ‚DependenzDependenz‘ ist gemeint, „dass im Satz Wörter (bestimmter WortartenWortart) Wörter (anderer Wortarten) regieren“ (Eroms 2000: 76). Der Begriff Dependenz ist also weiter und erfasst nicht nur AttributrelationenAttributrelation. In der Darstellung sehen wir das daran, dass auch die Abhängigkeit von Nominalgruppen von Präpositionen Präpositionals Dependenzrelation Dependenzrelationdargestellt ist.

Ergänzend sei das Beispiel nun im Konstituentenstrukturformat nach Eisenberg analysiert (s. Abbildung 4). Der Vorteil dieser Form der Darstellung besteht darin, dass wir alle Konstituentenkategorien Konstituentenkategoriebenannt sehen und wir auf diese Weise gleich nachvollziehen können, welche formale Gestalt die Attribute aufweisen. Das ist für uns vor allem deshalb relevant, weil es allgemein üblich ist, Attribute auf der Basis ihrer formalen Realisierung zu klassifizieren. Auf diese Weise können wir in diesem Beispiel die folgenden Attribute bestimmen:

Adjektivattribut Adjektivattribut(= Adjektiv als Attribut): erste als Attribut zu Durchsteigung und großen als Attribut zu Nordwand;

Genitivattribut Genitivattribut(= Nominalgruppe im Genitiv als Attribut): der Nordwand als Attribut zu Durchsteigung und der großen Zinne als Attribut zu Nordwand;

Präpositionalattribut Präpositionalattribut(= Präpositionalgruppe Präpositionalgruppeals Attribut): auf der Direttissima, im Winter 1989, durch Kurt Albert und Gefährten und im Rotpunkt-Stil als Attribute zu Durchsteigung;

Apposition Apposition(Nominalgruppe mit Kasuskongruenz Kasuskongruenzals Attribut): 1989 als Apposition zu Winter.

Die Analyse im Konstituentenstrukturformat macht die hierarchischen hierarchischVerhältnisse als Einbettungen sichtbar: Beispielsweise ist die Nominalgruppe der großen Zinne in die Nominalgruppe der Nordwand eingebettetEinbettung, die wiederum – wie auch die anderen Attribute ersten Grades – in die maximale Nominalgruppe Nominalgruppemaximaleingebettet ist.

Das Grundprinzip der Benennung eines Attributs auf der Basis seiner formalen Gestalt – also etwa der WortartWortart- oder Wortgruppenkategorie Wortgruppenkategorie– kann auch auf weitere Typen von Attributen angewendet werden. Ich verzichte deshalb hier auf den Versuch einer Gesamttypologie an Attributen und verweise diesbezüglich auf die Darstellungen in den Grammatiken (bspw. Dudengrammatik 2016: 812f.; Ágel 2017: 768ff.).

Abschließend sei hier jedoch noch auf das Partizipialattribut Partizipialattributhingewiesen, weil stark erweiterte Partizipialattribute Partizipialattributerweitertzweifelsohne zum Eindruck von Nominalstil beitragen können:

(5‘‘)

die von Kurt Albert und Gefährten im Winter 1989 auf der Direttissima im Rotpunktstil durchgeführte erste Durchsteigung der Nordwand der großen Zinne

Auf das Kernnomen KernnomenDurchsteigung wurde hier als Partizipialattribut das Partizip PartizipII des Verbs durchführen bezogen. Als Partizipialattribut verhält es sich insofern wie ein AdjektivattributAdjektivattribut, als es wie ein Adjektivattribut vor dem Bezugsnomen Bezugsnomensteht und wie ein Adjektiv dekliniert Deklinationist. Auf das Partizipialattribut durchgeführte beziehen sich von Kurt Albert und Gefährten, im Winter 1989 und auf der Direttissima als quasi recyclete RecyclingPräpositionalattributePräpositionalattribut. Wenn auch auf andere Weise als Nominalisierungen, so können doch auch Partizipialattribute stark zum Ausbau von Nominalgruppen und somit eines Nominalstils beitragen (ausführlicher dazu im Kapitel „Grammatische Merkmale des Nominalstils: Erweiterte Partizipialattribute“).

SatzSatz

Wozu braucht man in einem Buch zum Nominalstil ein Begriffsverständnis von ‚Satz‘? In diesem Studienbuch wird ‚Nominalstil‘ als Komplementärkomplementärbegriff zu ‚VerbalstilVerbalstil‘ ausgearbeitet. Das bedeutet, dass die Funktionsweise des Nominalstils systematisch mit der Funktionsweise des Verbalstils verglichen wird. Zentrale Frage ist dabei, was eigentlich die Konsequenzen sind, wenn eine Information, die auch in verbalstilistischer Form ausgedrückt werden könnte, nominalstilistisch kodiert wird. Da sich der Verbalstil in der Domäne Satz entfaltet, benötigen wir als Basis für den angestrebten systematischen Vergleich ein Verständnis von ‚Satz‘.

Diskurs: Verschiedene Perspektiven auf den Satzbegriff

Es ist naheliegend, dass es eine besondere Herausforderung darstellt, ein für die Grammatik so zentrales Konzept wie ‚SatzSatz‘ zu bestimmen. Laut Müller (1985), der sich in einer Monographie mit dem definitorischen Problem des ‚Satz‘ auseinandergesetzt hat, waren bereits in den dreißiger Jahren über 200 Satzdefinitionen bekannt. Die Anzahl ist seitdem natürlich stetig weiter gestiegen. Das ist kein Wunder, denn, so begründet Müller seine Auseinandersetzung mit dem Satzbegriff im Vorwort seiner Monographie: „Es zeigte sich dann indessen bald, dass im Grunde jede sprachtheoretische und jede über das Morphemniveau hinausgehende linguistische Probemstellung direkt oder indirekt zurückweist auf die Frage nach der Identität des Satzes – und dass gerade diese Frage noch immer einer Lösung harrt.“ Müller selbst definiert den Satz wie folgt: „Der Satz ist ein Zeichen, dessen signifiant signifiantdurch seine komplexe Struktur genau einen illokutiven Anspruch völlig signalisiert.“ (Müller 1985: 150)

Dabei kann man nicht behaupten, dass Müller die Frage ein für allemal gelöst hätte. Vielmehr lässt sich in Bezug auf ‚Satz‘ besonders gut Saussures Gesichtspunkt-Gegenstand-Theorem nachvollziehen: „vielmehr ist es der Gesichtspunkt, der das Objekt Objekterschafft“ (Saussure 1916: 9). Jede Syntaxtheorie hat ihren eigenen Satzbegriff; aber auch im Allgemeinen werden für unterschiedliche linguistische Zwecke unterschiedliche Satzbegriffe benötigt. An Müllers Satzdefinition können wir nachvollziehen, was mit ‚Gesichtspunkt‘ bei Saussure gemeint sein könnte. So vereint diese Definition insgesamt drei Perspektiven auf den Satzbegriff: Mit signifiant verweist Müller auf ein zeichentheoretisches Verständnis; mit komplexe Struktur auf seine formale Gestalt und mit illokutivem Anspruch auf den pragmatischen pragmatischKontext seiner Verwendung. Damit sind zweifelsohne wesentliche Aspekte eines Satzes erfasst. Dennoch hängt die Verwendbarkeit einer Satzdefinition von ihrem Verwendungskontext ab, sodass sich die Frage stellt, ob es überhaupt ein realistisches Ziel ist, das Definitionsproblem lösen zu wollen.

Wir werden hier die Grundidee weiter verfolgen, dass ein Satz eine Form- und eine Inhaltsseite hat. Für die Bestimmung der Formseite reicht allerdings der allgemeine Hinweis auf eine „komplexe Struktur“ nicht aus. In Grammatiken des Gegenwartsdeutschen wird die Formseite meist über ‚PrädikatPrädikat/finites VerbVerbfinit‘ und ‚VerbvalenzVerbvalenz‘ bestimmt: „Ein Satz ist eine Einheit, die aus einem Prädikat mit einem finiten Verb und den zugehörigen Ergänzungen Ergänzungund Angaben Angabebesteht.“ (Dudengrammatik 2016: 776) „Sätze sind übergreifende Konstruktionsformen, die mindestens aus einem finiten Verb und dessen – unter strukturellen und kontextuellen Gesichtspunkten – notwendigen Komplementen bestehen.“ (IdS-Grammatik 1997: 91) Eine solche Herangehensweise ist dann hilfreich, wenn man den Satzbegriff operationalisieren will, d.h., wenn man aus einer Satzdefinition Kriterien für die Identifikation von Sätzen in natürlichsprachlichen Texten ableiten will. Dass das alles andere als trivial ist, zeigen die Unterschiede in den beiden Definitionen: In der IdS-Grammatik-Definition ist nur vom finiten Verb die Rede, in der Dudengrammatikdefinition vom Prädikat mit finitem Verb. Dabei ist es eigentlich nur das Vollverb Vollverb(das nicht das finite Verb sein muss), das über eine Valenzpotenz Valenzpotenzverfügt. Darüber hinaus ist offensichtlich, dass die auf den ersten Blick so eindeutig erscheinenden Definitionen eigentlich eine komplette Valenztheorie Valenztheoriemit genauen Bestimmungen zur Unterscheidung von Ergänzungen (Komplementen) und Angaben (SupplementenSupplement) voraussetzen. Vor diesem Hintergrund mag sich die Frage ergeben, ob es nicht am einfachsten ist, den Satz orthographisch orthographischals durch Satzschlusszeichen Satzschlusszeichenabgeschlossene Einheit zu bestimmen. Das ist für grammatische Analysen keine zufriedenstellende Lösung, weil in Abhängigkeit von der Äußerungsabsicht nicht jeder grammatische Satz mit einem Satzschlusszeichen abgeschlossen wird (vgl. Ágel 2017: 120).

Der Tatsache, dass es wegen der Multiperspektivik auf den Satzbegriff schwierig ist, den Satz in einer eindimensionalen Definition zu bestimmen, tragen die Autoren der Dudengrammatik und der IdS-Grammatik wie folgt Rechnung: In der Dudengrammatik werden der bereits zitierten Definition zwei weitere Definitionen gegenübergestellt. Eine dieser Definitionen hebt auf die pragmatisch-funktionale Perspektive ab: „Ein Satz ist die kleinste Einheit, mit der eine sprachliche Handlung vollzogen werden kann.“ (2016: 777) In der IdS-Grammatik ist die funktionale Perspektive nicht Gegenstand der Satzdefinition, sondern Bestandteil der Bestimmung des übergeordneten Begriffs der ‚kommunikativen Minimaleinheit‘. In der IdS-Grammatik ist ein Satz ebenso eine kommunikative Minimaleinheit kommunikative Minimaleinheitwie auch eine EllipseEllipse