Notfall Seele - Manuel Rupp - E-Book

Notfall Seele E-Book

Manuel Rupp

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Beschreibung

Psychiatrischer Notfall! In dieser meist überraschenden Situation mit unklarer Lage vor Ort sind Kommunikation und Situationsregie entscheidend. Dieser Titel gibt praxisnahe Anregungen, wie Sie als Krisenhelfer im vorklinischen Bereich direkt Beziehung mit den Betroffenen aufnehmen, die richtigen Entscheidungen treffen und auch die Chancen in der Krise erkennen. - Wie beurteilt man die akute Lage trotz unvollständiger Information? - Wie kommuniziert man mit verwirrten, unruhigen, wahnhaften, betrunkenen, schwierigen oder verzweifelten Menschen? - Wie moderiert man im systemischen Kontext? - Wann sollen Medikamente eingesetzt werden? - Wie schützt man sich selbst vor Gewalt und Überforderung? Der übersichtlich aufbereitete Leitfaden ist symptomorientiert gegliedert und enthält zahlreiche Fallbeispiele. Er liefert wertvolles Wissen als einführendes Lehrbuch in die Methodik der Notfallintervention, echte Praxistipps zur Vorbereitung auf eine Krisensituation und eine gute Übersicht über die Krankheitsbilder der Akutpsychiatrie. Die 4. Auflage wurde aktualisiert und um die Glasgow Coma Scale sowie einen Algorithmus für den Umgang mit Gewaltandrohung ergänzt. Jederzeit zugreifen: Der Inhalt des Buches steht Ihnen ohne weitere Kosten digital in der Wissensplattform eRef zur Verfügung (Zugangscode im Buch). Mit der kostenlosen eRef App haben Sie zahlreiche Inhalte auch offline immer griffbereit.

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Seitenzahl: 421

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Notfall Seele

Ambulante Notfall- und Krisenintervention in der Psychiatrie und Psychotherapie

Manuel Rupp

4., aktualisierte Auflage

45 Abbildungen

Vorwort zur 4. Auflage

Notfall Seele! Die Injektionsspritze löst das Problem nicht, das sich dem Notfallhelfer stellt. Der psychiatrische Notfall im ambulanten Setting ist nicht nur ein individuelles, sondern ein psychosoziales Ereignis an der Grenze zwischen Sinnsuche und Verzweiflung. Dabei ist der Wechselwirkung zwischen Psyche und Körper Rechnung zu tragen – einer in alle Lebensbereiche hineinragenden, vielschichtigen Problematik. In der überraschenden und unklaren Lage vor Ort sind Kommunikation und Situationsregie entscheidend. Das ist wohl der Grund, weshalb dieses Buch bereits in der 4. Auflage erscheint: Es gibt praxisnahe Anregungen, wie wir im vorklinischen Bereich sofort, vor Ort, mit unvollständigen Informationen, im Lebensumfeld der Betroffenen und Mitbetroffenen, Beziehung aufnehmen und Entscheidungen treffen können, um in Kooperation mit den Anwesenden nicht nur unwiderruflichen Schaden abzuwenden, sondern auch die Chance in der Krise zu nutzen.

Für die 4. Auflage wurden die Angaben im Kompendium aktualisiert, es wurde die Glasgow Coma Scale integriert sowie ein Algorithmus für den Umgang mit Drohung und Gewalt aufgenommen.

Die Konzepte in diesem Handbuch entstanden aufgrund jahrelanger Erfahrung in aufsuchender Hilfe als Notfallarzt des Ärzteverbands und im Sozialpsychiatrischen Dienst der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich, wo ich angehende Ärztinnen und Ärzte in Notfallpsychiatrie instruierte. In zahlreichen interdisziplinären Notfallkursen im ganzen deutschen Sprachraum kann ich seither im Dialog mit den Teilnehmenden die Praxistauglichkeit der Konzepte überprüfen. Von Patientinnen, Patienten und ihren Angehörigen stammen ebenfalls viele Anregungen. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, meine Familie und zahlreiche Personen aus meinem Freundeskreis haben mich bei diesem Projekt über die Jahre unterstützt. Besonders erwähnen möchte ich folgende Expertinnen und Experten: PD Dr. med. Christoph Cottier, Burgdorf (Kapitel 6), Dr. med. Philipp Eich in Liestal, Dr. med. Martin Eichhorn sowie Dr. phil. Dr. med. Barbara Hiss in Basel (Kapitel 7), Prof. Dr. med. Martin Hatzinger in Solothurn (Kapitel 8), das interdisziplinäre Team des ambulanten Dienstes Sucht ADS der Universitären Psychiatrischen Kliniken mit Dr. med. Hannes Strasser in Basel (Kapitel 10) und Prof. Dr. med. Wolf Langewitz in Basel (Kapitel 11).

Bei der Aktualisierung der vorliegenden Auflage gab mir vor allem Dr. med. Philipp Eich in Liestal erneut wichtige Hinweise. Allen danke ich herzlich für ihr zum Teil großes Engagement. In den Dank schließe ich Heide Addicks und Michael Zepf vom Georg Thieme Verlag ein.

Das Buch sei Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, ein guter Ratgeber und Begleiter!

Basel, im Januar 2017

Manuel Rupp

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 4. Auflage

Teil I Grundlagen der Notfall- und Krisenintervention

1 Notfall und Krise

1.1 Grundbegriffe

1.1.1 Seelische Krise

1.1.2 Seelischer Notfall

1.1.3 Notfall- und Krisenintervention

1.2 Forschung

1.2.1 Untersuchung der psychischen Reaktion unter kritischer Belastung

1.2.2 Methodisches Vorgehen in der Krise

1.3 Angebot und Nachfrage

1.3.1 Inanspruchnahme

1.3.2 Problemgruppen

1.3.3 Einsatzort

1.3.4 Maßnahmen

1.4 Risikofaktoren des Seelennotfalls

1.4.1 Lebensgeschichte

1.4.2 Psychische Störung

1.4.3 Körperliche Störung

1.4.4 Soziale Belastung

1.4.5 Wechsel grundlegender sozialer Lebensbedingungen

1.4.6 Beziehungsmangel und Beziehungsstörung

1.5 Eskalation von der Krise zum Notfall

1.5.1 Psychopathologisches Modell der seelischen Krise

1.5.2 Beziehungsdynamisches Modell der familiären Krise

1.5.3 Eskalationsstufen von der Krise zum Notfall

2 Schlüsselsyndrome

2.1 System der Schlüsselsyndrome

2.2 Schlüsselsyndrom „benommen, verwirrt“

2.2.1 Laienbeschreibung einer akuten hirnorganischen Beeinträchtigung

2.2.2 Erscheinungsbild des Schlüsselsyndroms

2.2.3 Formen der Bewusstseinsstörung

2.3 Schlüsselsyndrom „unruhig-komisch-wahnhaft“

2.3.1 Laienbeschreibung eines psychoseartigen Zustandsbilds

2.3.2 Erscheinungsbild des Schlüsselsyndroms

2.3.3 Krankheitsbilder

2.3.4 Beziehungsdynamik: Familien mit schizophreniekranken Menschen

2.4 Schlüsselsyndrom „verzweifelt, suizidal“

2.4.1 Laienschilderung von Verzweiflung und Suizidalität

2.4.2 Erscheinungsbild des Schlüsselsyndroms

2.4.3 Krankheitsbilder

2.4.4 Seelische Dynamik: Wut und Ärger gegen sich selbst

2.4.5 Beziehungsdynamik: Familien mit depressiven Menschen

2.4.6 Exkurs: Suizidabsicht – psychische Krankheit oder freier Willensakt?

2.5 Schlüsselsyndrom „Konflikt, Gewalt“

2.5.1 Laienschilderung von aggressivem Verhalten

2.5.2 Erscheinungsbild des Schlüsselsyndroms

2.5.3 Beziehungsdynamik bei Gewalttätigkeit in der Familie

2.6 Schlüsselsyndrom „Alkohol-, Drogenproblem“

2.6.1 Laienschilderung eines Suchtsyndroms

2.6.2 Nicht-substanzspezifische Erscheinungsbilder

2.6.3 Substanzspezifische Syndrome

2.6.4 Psychische, körperliche und soziale Dynamik der Abhängigkeit

2.6.5 Beziehungsdynamik

2.7 Schlüsselsyndrom „Angst, Panik“

2.7.1 Laienschilderung einer Panikattacke

2.7.2 Erscheinungsbild des Schlüsselsyndroms

2.7.3 Krankheitsbilder

2.7.4 Seelische Dynamik bei der Entstehung von Angst

2.7.5 Beziehungsdynamik bei Panikpatienten

2.8 Schlüsselsyndrom „chronisch-akut“

2.8.1 Laienschilderung eines Menschen mit auffälliger Persönlichkeit

2.8.2 Erscheinungsbild des Schlüsselsyndroms

2.8.3 Krankheitsbilder

2.8.4 Psychosoziale Dynamik: Helfer-Patient-Verstrickung

2.9 Unklare Syndrome: mehrdeutig, unvertraut

2.9.1 Mehrdeutige Syndrome

2.9.2 Unvertraute Syndrome

3 Setting, Prinzipien, Selbsthilfe

3.1 Versorgungsnetz, Helfer und Patienten

3.1.1 Versorgungsnetz und Helfer

3.1.2 Auftraggeber und Patienten

3.2 Interventionsort

3.2.1 Intervention in der eigenen Institution

3.2.2 Hausbesuch

3.2.3 Intervention in einer fremden Institution

3.3 Interventionsprinzipien

3.4 Zielsetzung

3.4.1 Vorrangiges Ziel der Notfallintervention

3.4.2 Längerfristiges Ziel der Nachbetreuung und der Krisenintervention

3.5 Selbsthilfe der Helfer

3.5.1 Irrwege

3.5.2 Ausweg: Instrumentarium der Selbsthilfe

4 Ablauf einer Notfallintervention

4.1 Ablauf in Phasen und Schritten

4.2 Erstkontaktphase, Auftragsklärung

4.2.1 Telefonische Kontaktaufnahme

4.2.2 Telefonische Klärung des Auftrags

4.3 Vorbereitungsphase

4.3.1 Schritt 1: Triage

4.3.2 Schritt 2: Vorbereitung

4.3.3 Schritt 3: Begrüßungsintervention

4.4 Abklärungsphase

4.4.1 Schritt 4: Gesprächsführung

4.4.2 Schritt 5: Abklärung

4.4.3 Schritt 6: Beurteilung und Hilfestrategie

4.5 Maßnahmephase

4.5.1 Schritt 7: Notfallkonferenz

4.5.2 Schritt 8: Ambulante Maßnahmen

4.5.3 Schritt 9: Evaluation – Klinikeinweisung?

4.6 Nachbetreuungsphase und Übergang zur Krisenintervention

4.6.1 Abschied

4.6.2 Nachbetreuung

4.6.3 Übergang zur Krisenintervention

5 Kommunikation, Medikation, Klinikeinweisung

5.1 Kommunikation und therapeutische Haltung

5.1.1 Kommunikation

5.1.2 Therapeutische Haltung

5.2 Medikation und Notfallkoffer

5.2.1 Grundsätze der medikamentösen Therapie im Notfall

5.2.2 Psychiatrischer Notfallkoffer

5.2.3 Medikamentöse Behandlung der wichtigsten Syndrome

5.3 Einweisung in die Psychiatrie

5.3.1 Empfehlungen für die Einweisung ambivalenter Patienten

5.3.2 Kurzzeitige Unterbringung bzw. stationäre Krisenintervention

5.3.3 Einweisung auf eine offene Station einer psychiatrischen Klinik

5.3.4 Zwangseinweisung

5.3.5 Einweisungszeugnis

5.3.6 Unlösbare Situation

Teil II Praxis der Notfall- und Krisenintervention

6 Benommen, verwirrt

6.1 Erstkontaktphase, Auftragsklärung

6.2 Vorbereitungsphase

6.2.1 Schritt 1: Telefonische Triage

6.2.2 Schritt 2: Telefonische Intervention bei bedrohlicher Bewusstseinsstörung

6.2.3 Schritt 3: Begrüßungsintervention

6.3 Abklärungs- und Maßnahmephase vor Ort und Medikation

6.3.1 Bei akuter Lebensgefahr

6.3.2 Einweisungszeugnis

6.3.3 Falls keine akute Lebensgefahr

6.3.4 Bei Delir (wechselnd verwirrt-verworren-halluzinatorischer Zustand)

6.3.5 Bei Krampfanfall mit Bewusstseinsverlust bzw. bei epileptischem Dämmerzustand

7 Unruhig-komisch-wahnhaft

7.1 Erstkontaktphase, Auftragsklärung

7.2 Vorbereitungsphase

7.2.1 Schritt 1: Triage

7.2.2 Schritt 2: Vorbereitung

7.2.3 Schritt 3: Begrüßungsintervention

7.3 Abklärungsphase

7.3.1 Schritt 4: Gesprächsführung

7.3.2 Schritt 5: Abklärung

7.3.3 Schritt 6: Beurteilung und Hilfestrategie

7.4 Maßnahmephase

7.4.1 Schritt 7: Notfallkonferenz

7.4.2 Schritt 8: Ambulante Maßnahmen

7.4.3 Schritt 9: Evaluation – Klinikeinweisung?

7.5 Nachbetreuungsphase und Übergang zur Krisenintervention

7.5.1 Empfehlungen für Abschlusskontakte

7.5.2 Ambulante sozialpsychiatrische Nachbetreuung

7.5.3 Empfehlungen für die Angehörigenarbeit

8 Verzweifelt, suizidal

8.1 Erstkontaktphase, Auftragsklärung

8.2 Vorbereitungsphase

8.2.1 Schritt 1: Triage

8.2.2 Schritt 2: Vorbereitung

8.2.3 Schritt 3: Begrüßungsintervention

8.3 Abklärungsphase

8.3.1 Schritt 4: Gesprächsführung

8.3.2 Schritt 5: Abklärung

8.3.3 Schritt 6: Beurteilung und Hilfestrategie

8.4 Maßnahmephase

8.4.1 Schritt 7: Notfallkonferenz

8.4.2 Schritt 8: Ambulante Maßnahmen

8.4.3 Schritt 9: Evaluation – Klinikeinweisung?

8.5 Spezialproblem: Akut traumatisierte Menschen

8.5.1 Grundsätze bei der Betreuung von Opfern

8.6 Nachbetreuungsphase und Übergang zur Krisenintervention

9 Konflikt, Gewalt

9.1 Erstkontaktphase, Auftragsklärung

9.2 Vorbereitungsphase

9.2.1 Schritt 1: Triage

9.2.2 Schritt 2: Vorbereitung

9.2.3 Schritt 3: Begrüßungsintervention

9.3 Abklärungsphase

9.3.1 Schritt 4: Gesprächsführung

9.3.2 Schritt 5: Abklärung

9.3.3 Schritt 6: Beurteilung und Hilfestrategie

9.4 Maßnahmephase

9.4.1 Schritt 7: Notfallkonferenz

9.4.2 Schritt 8: Ambulante Maßnahmen bei aggressivem Konflikt ohne offene Gewalt

9.4.3 Schritt 9: Evaluation: zusätzliche Maßnahmen mit Drohung, Gewalt oder Missbrauch

9.5 Spezialproblem: Missbrauch und Misshandlung

9.6 Spezialproblem: Notfallbetreuung von Tätern

9.6.1 Empfehlungen für den Umgang mit grundsätzlich einsichtigen Tätern

9.7 Nachbetreuungsphase gefährdeter Familien

10 Alkohol-, Drogenproblem

10.1 Erstkontaktphase, Auftragsklärung

10.2 Vorbereitungsphase

10.2.1 Schritt 1: Triage

10.2.2 Schritt 2: Vorbereitung

10.2.3 Schritt 3: Begrüßungsintervention

10.3 Abklärungs- und Maßnahmephase

10.3.1 Schritt 4: Gesprächsführung

10.3.2 Schritt 5–9: Weiteres Vorgehen je nach Zustandsbild

10.4 Nachbetreuungsphase und Übergang zur Krisenintervention

10.4.1 Vorgehen bei schwer Süchtigen

10.4.2 Vorgehen bei wiederholt gescheitertem Entzug

11 Angst, Panik

11.1 Erstkontaktphase, Auftragsklärung

11.2 Vorbereitungsphase

11.2.1 Schritt 1: Triage

11.2.2 Schritt 2: Vorbereitung

11.2.3 Schritt 3: Begrüßungsintervention

11.3 Abklärungsphase

11.3.1 Schritt 4: Gesprächsführung

11.3.2 Schritte 5 und 6: Abklärung, Beurteilung und Hilfestrategie

11.4 Maßnahmephase

11.4.1 Schritt 7: Notfallkonferenz

11.4.2 Schritt 8: Maßnahmen

11.4.3 Schritt 9: Evaluation – Klinikeinweisung?

11.5 Nachbetreuungsphase und Übergang zur Krisenintervention

12 Chronisch-akut

12.1 Erstkontaktphase, Auftragsklärung

12.1.1 „Chronisch-akuter Patient“: innere Wahrnehmung des Helfers

12.1.2 Risikomerkmale chronisch-akuter Patienten

12.2 Vorbereitungsphase

12.2.1 Schritt 1: Triage

12.2.2 Schritt 2 und 3: Vorbereitung und Setting

12.3 Abklärungsphase

12.3.1 Schritt 4: Gesprächsführung

12.3.2 Schritt 5: Abklärung

12.3.3 Schritt 6: Beurteilung und Hilfestrategie

12.4 Maßnahmephase

12.4.1 Schritt 7: Notfallkonferenz

12.4.2 Schritt 8: Allgemeine Maßnahmen

12.4.3 Schritt 9: Evaluation

12.5 Spezialproblem: Daueranrufer

12.5.1 Grundsätze im Kontakt mit Daueranrufern eines Krisendiensts

12.6 Nachbetreuungsphase und Übergang zu befristeter Krisenintervention

12.6.1 Empfehlungen zur Gestaltung der therapeutischen Beziehung

Teil III Anhang

13 Formulare und Merkblatt

13.1 Formular „Klinikeinweisung“

13.2 Formular „Patientendokumentation“

13.3 Merkblatt „Algorithmus bei Gewaltandrohung“

14 Literatur

15 Glossar

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

Teil I Grundlagen der Notfall- und Krisenintervention

1 Notfall und Krise

2 Schlüsselsyndrome

3 Setting, Prinzipien, Selbsthilfe

4 Ablauf einer Notfallintervention

5 Kommunikation, Medikation, Klinikeinweisung

1 Notfall und Krise

1.1 Grundbegriffe

1.1.1 Seelische Krise

Krise im weiteren und engeren Sinn. Bei einer Krise im weiteren Sinn wird durch eine innere oder äussere Belastung das seelische und psychosoziale Gleichgewicht gefährden. Ein zunehmend großer Teil der psychischen Energie wird zur Bewältigung der Belastung und der inneren Erschütterung gebunden.

Bei Menschen ohne vorbestehende psychische Störung zeigen sich dann Unbehagen und Anspannung, z.B. auch Schlafstörungen, jedoch noch keine eigentlichen Krankheitssymptome. Dies wäre eine Krise im engeren Sinn. Die Betroffenen sind noch entscheidungs- und handlungsfähig. Ein Rückbezug auf ihre Ressourcen ist möglich. Die Krisenhelfer können mit ihnen kurzfristig verlässliche Vereinbarungen treffen. Menschen mit einer vorbestehenden psychischen Störung sind krankheitsbedingt vermindert belastbar; bei ihnen lässt sich eine Akzentuierung einer vorbestehenden Symptomatik feststellen, was bei Andauern der kritischen Belastung schließlich zu einem Rückfall bis hin zu einem eigentlichen ▶ „Notfall“ führen kann. Normal belastbare Menschen können jedoch auch in eine Notfallsituation geraten, wenn das Missverhältnis zwischen Belastung und Ressourcen zu groß wird und das Bewältigungsvermögen übersteigt. Dies ist bei Traumatisierung oder chronischen Krisen mit größerer Wahrscheinlichkeit der Fall.

Definition

Von einer „Krise“ im engeren Sinn wird in diesem Buch dann gesprochen, wenn kein psychischer bzw. psychosozialer Gleichgewichtsverlust eintritt und mit dem Patienten und seinen Angehörigen Vereinbarungen getroffen werden können.

Bei hohen Wellen: Krise und Krisenintervention.

Abb. 1.1 In der Krise wird die Kraft zur Stabilisierung des psychischen Gleichgewichts verwendet. Wie bei einer Ruderpartie, die in unruhige Gewässer geraten ist.

Krisen und Notfälle können in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen entstehen:

Entwicklungskrise: Das sind normale Durchgangsstadien bei der Entwicklung durch innere Neuorientierung

im Rahmen der Ablösung von Jugendlichen,

bei Menschen in einer länger dauernden Psychotherapie usw.

Belastungskrise: Dazu kommt es durch innere (z.B. Krankheit) bzw. äußere Belastung (z.B. psychosozialer Stress); Spezialfälle sind traumatische Krisen, z.B. eine akute Belastungsreaktion oder PTBS (posttraumatische Belastungsstörung, engl. Posttraumatic Stress Disorder, PTSD). Neben diesen typischen Traumafolgereaktionen können jedoch zahlreiche andere psychische Störungsbilder auftreten.

Veränderungskrise ▶ [13]: Eine solche Krise entsteht durch umfassenden Wechsel der Lebensumstände (Life Events), z.B.

bei Geburt eines Kindes oder

bei Verlust eines Angehörigen.

Chronische Krise ▶ [26]▶ [59]: Dabei handelt es sich um eine schwere Dauerkrise bei Suchtkranken, Borderline-Patienten usw.

Gefährdung des psychischen Gleichgewichts. Im Folgenden wird zwischen „Krise Definition“ (im engeren Sinn) und „Notfall “ – der akut gefährlichen Krise – unterschieden.

1.1.2 Seelischer Notfall

Angesichts drohender Selbst- oder Fremdgefährdung und akuter Überforderung der Angehörigen wird unverzügliche Hilfe erwartet. Damit soll eine (vermeintliche oder tatsächliche) akute Gefahr für psychische Integrität, Leib, Leben und soziale Vernetzung abgewendet werden. Die bisherige Problembewältigung versagt, was nicht nur mit dem seelischen Gleichgewichtsverlust des Patienten, sondern ebenso sehr mit einer Überforderung seines Beziehungsumfelds zusammenhängt. Notfallpatienten sind zudem meist nicht mehr vertragsfähig: Es sind Symptome aufgetreten, die ihre aktuelle Urteils- und Handlungsfähigkeit erheblich einschränken.

Definition

Der Notfall – sofortiger Handlungsbedarf wegen akuter Selbst- oder Fremdgefährdung – wird als Spezialfall einer Krise verstanden.

Bei Sturm: Notfall und Notfallintervention.

Abb. 1.2 Beim Notfall besteht akute Gefährdung! Die Entscheidungs- und die Vertragsfähigkeit sind schwer beeinträchtigt. Aktive, eingreifende Soforthilfe von außen ist notwendig, wie bei der Rettung eines Ertrinkenden.

Das Hinzuziehen professioneller Helfer ist ein Eskalationszeichen. Normalerweise kümmern sich Familienangehörige, Arbeitskollegen und bereits behandelnde Therapeuten um notleidende Menschen. Erst wenn die Lage weiterhin akut bleibt, wird die Beanspruchung der Betroffenen zu groß, sodass außenstehende professionelle Helfer hinzugezogen werden.

Merke

Jeder seelische Notfall ist auch ein psychosozialer Notfall.

1.1.3 Notfall- und Krisenintervention

Bei der Intervention werden alle verfügbaren Ressourcen zusammengefasst, um einen nicht wiedergutzumachenden Schaden abzuwenden. Dabei muss gehandelt werden, bevor die Ursachen für die psychische Notlage genau bekannt sind. Vieles muss sozusagen experimentell getan werden, um am Effekt einer kleinen Maßnahme die Gefährdung von Patient und Bezugspersonen erkennen zu können. Schnelle, wirksame und damit gut überblickbare, einfache (jedoch nicht simple) Vorgehensweisen sind erforderlich. Während der Intervention müssen sie ständig überprüft – evaluiert – werden. Somit ist es hilfreich, sich schon vor dem Einsatz mit den eigenen professionellen Handlungs- und Entscheidungsmustern auseinanderzusetzen, damit das eigene Repertoire erweitert werden kann. Auch bei viel Erfahrung ist Notfallhilfe mit außerordentlichen Anstrengungen verbunden. Der Einsatz muss deshalb zeitlich limitiert werden, um den Helferkreis nicht zu erschöpfen. Entscheidungen sind rasch zu treffen. Ein Notfalleinsatz mit einem Hausbesuch ist in der Regel innerhalb von 1–2 Stunden abgeschlossen – nämlich dann, wenn die Hilfe durch reguläre Helferdienste und Angehörige weitergeführt werden kann und keine akute Gefahr mehr für Leib, Leben und Integrität des Patienten und dessen Umfeld besteht.

Die Notfallintervention ist eine interdisziplinäre Aufgabenstellung. Deshalb kommen in diesem Buch sowohl pflegerische, psychotherapeutische und medizinische wie auch sozialarbeitsbezogene Gesichtspunkte zur Sprache. Wie in anderen Notsituationen geht es um einen möglichst nutzbringenden Verbund helfender Kräfte in methodischer Zusammenarbeit.

Merke

Notfallintervention bei seelischen Krisen ist eine interdisziplinäre Aufgabe.

Notfallhelfer brauchen Professionalität, ein gut reflektiertes Selbstverständnis der eigenen Rolle, eine therapeutische, d.h. auf Kommunikation und Entwicklung hin orientierte Grundeinstellung sowie Interesse an der Lebensweise von Menschen, die nicht der eigenen Subkultur angehören. Daneben erfordert der Notfalleinsatz die Fähigkeit zu fairer Konfrontation mit Respekt für die Entwicklungskompetenz der Patienten, zudem Entschlossenheit, Improvisationsfreude, die Bereitschaft, mit Angehörigen zusammenzuarbeiten, sowie Hartnäckigkeit und Mut, eine notwendige Entscheidung auch unter widrigen Umständen umzusetzen. Nicht zuletzt ist – neben einem Grundwissen über die Eigenheiten psychischer Erkrankungen – ein Wissen um die eigenen Schwächen und Stärken, die eigenen Möglichkeiten und Grenzen, notwendig.

Die ambulante Nachbetreuung nach einem Notfall entspricht methodisch einer Krisenintervention (bei einer Krise im engeren Sinn). Die Erfahrungen beim Notfalleinsatz können dabei genutzt werden. Die unmittelbare Ursache für den psychosozialen Gleichgewichtsverlust wird benannt, der Patient wird gestützt und er lernt, seine Ressourcen besser zu nutzen. Eine solche Nachbetreuung kann mit der Methodik der Krisenintervention geschehen. Sie dauert 2 oder 3 Tage bis zu ein paar Wochen – so lange, bis sich beim Patienten und seinem Umfeld ein neues psychisches und soziales Gleichgewicht eingestellt hat. Dies ermöglicht, bestehende und neu erschlossene Hilfsquellen für die weitere Lebensbewältigung auszuschöpfen. Deshalb ist es sinnvoll, eine Notfallintervention im persönlichen Umfeld der Patienten durchzuführen und nur so weit wie notwendig auf stationäre Mittel zurückzugreifen.

Eine Klinikeinweisung ist dennoch gelegentlich unausweichlich. Es ist ein Zeichen von Professionalität, wenn die unhaltbare Lage anlässlich der ambulanten Intervention erkannt wird und ohne Verzug die Klinikeinweisung erfolgt, bevor eine Katastrophe geschieht – bevor der Patient und sein gesamtes Umfeld erschöpft oder gar geschädigt sind.

Auftrags- und Zielkonflikte kommen bei der Notfallintervention häufig vor. Schnelle Improvisation steht im Gegensatz zu Gründlichkeit, fachlich Notwendiges im Gegensatz zum menschlich Durchsetzbaren, freie Entscheidung zu Zwang, individuelle Anliegen zu öffentlichem Interesse. So kann ein akut schizophrener Mann in großem Misstrauen der Überzeugung sein, dass er vollständig gesund, hingegen seine Umgebung „gestört“ ist. Die Angehörigen können unter sich darüber zerstritten sein, ob ein Patient zuhause noch tragbar ist.

Die Notfallsituation alarmiert, zugleich birgt sie eine bedeutsame Chance für den Patienten, vorausgesetzt, er ist bereit, sie zu nutzen. Die Gefahr liegt darin, aus einem Zustand unerträglicher innerer Spannung heraus etwas Destruktives zu unternehmen. Die Chance liegt darin, in einem Moment von Aufbruch etwas Neues zu wagen, auf eine ungewohnte Perspektive einzusteigen und einen Wechsel der Lebensgewohnheiten zu vollziehen. Die akute Not setzt ein Zeichen. Es muss etwas geändert werden, nicht nur beim Patienten selbst, sondern auch in dessen Zusammenleben mit anderen. Der Notfallmoment enthält – im Gegensatz z.B. zur schweren Depression mit einem Verlust jeglicher Vitalität – ein Potenzial von gebündelter Energie, gelegentlich auch radikaler Entschlossenheit und einer grundsätzlichen Bereitschaft zur Veränderung, dies unter der Voraussetzung, dass ein konstruktiver Impuls von außen den Teufelskreis destruktiver Gefühle von quälender individueller Ohnmacht und Wertlosigkeit unterbricht. In dieser Situation können Interventionen mit einer psychotherapeutischen Haltung konstruktiv sein, die auch dem Augenblick akuter Not Sinn zubilligt. Die existenzielle Krise wird zur Schlüsselsituation, in der ein Mensch lernt, zusammen mit seinen Bezugspersonen Herausforderungen der nächsten Zukunft wieder zu bewältigen. In Respekt für die Würde der Patienten soll deshalb in der Notfallintervention versucht werden, die Selbsthilfekompetenz anzusprechen. In der Akutsituation bricht die bisherige Art der Lebensbewältigung zusammen. Dies schafft die Gelegenheit, dass sich neue Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Beziehungs- und Handlungsmuster bilden können. Diese Chance kann genutzt werden, indem die konstruktiven und progressiven Ansätze der Patienten – ihr Selbsthilfepotenzial – durch sofortige Entlastung neu aktiviert werden.

Im Umbruch ist die Bereitschaft verborgen, auf Neues einzusteigen. Meistens ist in Notfallsituationen eine große Bereitschaft da, Hilfe anzunehmen. Dem Auftrag für einen Notfalleinsatz geht häufig die Erkenntnis voraus: „So kann es nicht weitergehen!“, „Wir sind auf die Hilfe von Drittpersonen angewiesen.“ und „Jetzt muss etwas geschehen!“

Merke

Der Verlust von Kontrolle und Übersicht ist Gefahr und Chance zugleich.

1.2 Forschung

1.2.1 Untersuchung der psychischen Reaktion unter kritischer Belastung

Seit den 1940er-Jahren wird gezielt Krisenforschung betrieben. Frühe Publikationen mit systematisierten Beobachtungen zu psychischen Krisenreaktionen bei traumatischen Belastungen stammen von Lindemann ▶ [58]. Als Begründer der modernen Krisentheorie gilt Gerald Caplan ▶ [12]▶ [13]. Auch später wurden aus der Beobachtung von psychischen Reaktionen auf Katastrophen wichtige Erkenntnisse gewonnen, z.B. von Cullberg sowie von Malt ▶ [15]▶ [61]. Die Forschungsergebnisse zum Syndrom PTSD (PTBS) finden seit 1980 Eingang in das DSM (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen) ▶ [25]. Einen anderen theoretischen Zugang entwickelte Erikson 1970 über eine psychodynamische Konzeptualisierung kritischer Lebensübergänge bei Jugendlichen ▶ [23]. Weitere Beiträge zum Verständnis der Vorgänge bei der Entwicklung seelischer Krisen stammen aus der Stresstheorie, z.B. von Lazarus bzw. von Kessler u. Mitarb. ▶ [52]▶ [57], aus sozialen Lerntheorien, z.B. von Bandura ▶ [5], aus der Life-Event-Forschung, z.B. bezüglich der Verarbeitung von Partnerverlust von Wortmann und Silver ▶ [105], sowie aus der Chaostheorie, z.B. von Ciompi u. Mitarb. ▶ [14]. In der Coping-Theorie werden die bei der Meisterung von Krisen beobachteten Bewältigungsmuster konzeptualisiert, z.B. von Klinger, von Lazarus und Launier sowie von Folkman und Lazarus ▶ [32]▶ [53]▶ [54]▶ [57]. Dem Konzept der Pathogenese wurde die sog. Salutogenese gegenübergestellt ▶ [2]▶ [3]. Dieser Forschungszweig brachte wertvolle, in der Krisenbewältigung unmittelbar umsetzbare Erkenntnisse, wie z.B. Hinweise auf Eigenschaften, die Menschen aufweisen, die Krisen gut bewältigen (sog. Good Copers):

Comprehensibility: Fähigkeit, die Krise in ihren Elementen zu beschreiben, zu „fassen“

Manageability: Fähigkeit, sich in der Krise zielgerichtet aktiv um deren Bewältigung zu bemühen

Meaningfullness: Fähigkeit, der Krise Sinnhaftigkeit zuzuordnen

Ausgehend von einer Analyse bisher praktizierter Coping-Muster wird im Rahmen der Krisenintervention gezielt auf das Coping-Verhalten eingewirkt, z.B. beschrieben bei Heim ▶ [41]. Das Ansprechen auf eine psychotherapeutische Krisenintervention scheint u.a. von Persönlichkeitsvariablen abhängig zu sein ▶ [39]. Good Copers, Menschen mit guter Prognose in seelischen Krisen, stellen sich den zentralen Lebensproblemen mit der Erwartung, dass auf kritische Belastungen mit eigener Kraft Einfluss genommen werden kann und die Herausforderungen schließlich bewältigt werden können (Internal Locus of Control). Außerdem nehmen diese Good Copers unabwendbare Grundbelastungen eher hin. Sie haben ein differenziertes Repertoire an Problembewältigungsmöglichkeiten, sie sind entsprechend gut sozial integriert. Diese Bewältigungsmöglichkeiten stellen persönliche Ressourcen dar, die jedoch erst entfaltet werden können, wenn auch entsprechende soziale Ressourcen zur Verfügung stehen ▶ [11]. Analoge Fähigkeiten weisen auch Angehörige auf, die mit der psychotischen Erkrankung eines Familienmitglieds klarkommen. Nach Grawe sind unsere emotionellen, kognitiven und handlungsbezogenen Bewältigungsweisen nach Schemata organisiert, gemäß denen wir neue Herausforderungen zu lösen versuchen und die wir zugleich entsprechend der neuen Erfahrung modifizieren ▶ [36]. Krisen entstehen, wenn diese Bewältigungsprogramme nicht mehr angewendet werden können, die Adaptationsfähigkeit überfordert wird und die erlernten Muster versagen, bis dysfunktionale Muster entwickelt werden. Man spricht dann auch von sog. Bad Copers – Menschen mit einer Tendenz zu Abhängigkeits- bzw. Hilflosigkeitsverhalten (Theorie der erlernten Hilflosigkeit; ▶ Tab. 1.1) ▶ [95]. Eine Weiterentwicklung dieser Theorie der Problembewältigung, ausgehend von der Problemstellung bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, findet sich konzeptualisiert in der Schematherapie▶ [106].

Tab. 1.1

 Problemverschärfendes und lösungserleichterndes Denken nach Beck

▶ [6]

.

Problemverschärfend, depressiv

Lösungserleichternd

Übergeneralisieren, kategorisieren

Negativ wertend starr zuordnen

Pathologisieren, moralisieren

Negative Erfahrung aufbauschen

Positive Erfahrung minimieren

Misserfolg voraussagen

Alles-oder-Nichts-Denken, Schwarz-Weiß-Denken:

„Ich war schon immer ein ängstlicher Mensch – werde immer ein Feigling und krankhafter Versager bleiben, während alle anderen erfolgreich und glücklich sind!“

Konkret eingrenzen, auf die Situation beziehen

Beschreiben und flexibel zuordnen

Zusammenhänge erwägen und verstehen

Enttäuschungen in Relation zum Ganzen sehen

Auf kleine Fortschritte achten, wertschätzen

Fortschritte erwarten

Auf Zwischentöne, auf das Teils-teils achten:

„Ich bin unter unbekannten Menschen etwas ängstlich, kann bei Bedarf jedoch mutig sein und bin deshalb fähig, mehr Selbstvertrauen zu entwickeln!“

1.2.2 Methodisches Vorgehen in der Krise

Aus der Erfahrung in der Behandlung von suizidalen Menschen entwickelten sich nicht nur Erkenntnisse zur Psychopathologie ▶ [78] und zur psychischen Dynamik ▶ [44], sondern auch solche zur Psychotherapie ▶ [20]▶ [44]▶ [73] wie auch zur Suizidprophylaxe ▶ [29]. Erfahrungen in der Behandlung von Opfern traumatisierender Ereignisse zeigen hingegen, dass in dieser Art der akuten seelischen Not zu wenig Belastbarkeit und innerer Zusammenhalt vorhanden sind, um mit psychotherapeutischen Methoden wie Interpretation und Deutung zu arbeiten. Aus diesen Erkenntnissen entstanden Bestrebungen, die seelische Erste Hilfe auszubauen. Der sofortige seelische Beistand durch Angehörige und speziell ausgebildete Betreuer ist notwendig ▶ [61]. Lösungsorientierte Vorgehensweisen, z.B. beschrieben bei Prior bzw. bei de Shazer und Dolan ▶ [18]▶ [71], bei denen der Fokus der Aufmerksamkeit systematisch auf bisher Bewährtes und gegenwärtig Gelingendes gerichtet wird, sind besonders hilfreich bei der professionellen Krisenintervention. Ebenso stellen kognitiv-verhaltenstherapeutische Vorgehensweisen ▶ [16]▶ [62] sowie systemische Methoden ▶ [90] wichtiges methodisches Rüstzeug bereit, um in Krisen wirksam vorzugehen. Sozialpsychiatrische Ansätze bei der Behandlung von Krisen entwickelten Reiter und Strotzka sowie Sonneck und Ringel bereits 1977 ▶ [74]▶ [100]. Die meisten Veröffentlichungen zur Notfallintervention in der Psychiatrie behandelten noch vor einem Jahrzehnt in erster Linie Fragen der Diagnostik bzw. der medikamentösen Behandlung oder gingen von den Gegebenheiten einer stationären Einrichtung aus. Neuere Publikationen gehen dagegen zunehmend von einer einfachen syndromalen Beurteilung, z.B. Walter und Lang sowie Riba u. Mitarb. ▶ [75]▶ [103]und einem pragmatisch-integrativen Ansatz, wie z.B. von Jordan u. Mitarb. ▶ [48], aus, wie es auch in diesem Buch dargestellt ist. So weisen Schmidtke und Schaller darauf hin, dass es bei suizidalen Patienten – immerhin bei einer intensiv erforschten Patientengruppe – vor allem gelungen ist, einen Zusammenhang zwischen einem breiten Spektrum von Maßnahmen und der längerfristigen Prognose zu erkennen ▶ [91]. Fortschritte in der Behandlung von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen finden sich z.B. bei der DBT (dialektisch-behaviorale Therapie) ▶ [59] sowie bei der Schematherapie ▶ [106].

1.3 Angebot und Nachfrage

1.3.1 Inanspruchnahme

Je nach angebotener Notfalldienstleistung, Region und soziokulturellen Gegebenheiten werden unterschiedliche Beanspruchungszahlen und Problemhäufigkeiten berichtet. In der Rettungsmedizin steigt die Inanspruchnahme durch Patienten mit psychiatrischen Problemen; diese stellen die zweit- bis dritthäufigste Einsatzursache für die Rettungsärzte dar ▶ [49]. Bei spezialisierten Krisendiensten in einer großstädtischen Agglomeration im deutschsprachigen Raum ist pro 100 000 Einwohnern hinsichtlich psychiatrischer Krisen und Notfälle mit einer jährlichen Fallzahl von rund 1000 zu rechnen. Nach eigener Erfahrung werden die Dienstleistungen hauptsächlich in der 2. Morgenhälfte, in der 1. Hälfte des Nachmittags und spätabends genutzt: Drei Viertel der Hilfeleistungen geschehen im 12-stündigen Zeitraum zwischen 9 und 21 Uhr. An Wochenenden ist mit einer deutlich geringeren Beanspruchung zu rechnen. In einem erheblichen Teil der Fälle sind Polizei und Rettungsdienste die ersten Ansprechpartner; dabei spielt der Bekanntheitsgrad der Institutionen in der Bevölkerung eine wichtige Rolle. Der überwiegende Anteil der Anmeldungen erfolgt per Telefon. Etwa die Hälfte bis ⅔ der Anrufer ersuchen für sich selbst um Hilfe. Bei den hilfesuchenden Drittpersonen handelt es sich mehrheitlich um Angehörige und Nachbarn. Ein eher geringer, wenn auch nicht unerheblicher Teil der Anrufe stammt von der Polizei. Etwa ¼ der Patienten beansprucht die Notfalldienstleistung wiederholt; ein unterschiedlicher Anteil kann eine Telefonzentrale phasenweise mehrmals täglich beanspruchen. Ein Großteil der Patienten ist bereits anderweitig psychiatrisch betreut. Bei ⅕ der Fälle handelt es sich um das erste Auftreten eines psychischen Notfalls.

1.3.2 Problemgruppen

Je nach Region und Dienstleistungsangebot werden von den staatlichen Psychiatriediensten unterschiedliche Größenordnungen der Problemgruppen berichtet. Die ausländische Wohnbevölkerung nimmt die Angebote etwas weniger häufig in Anspruch. Die Dienstleistungen werden mehrheitlich durch Frauen (ca. 60%), von eher jüngeren Erwachsenen sowie von folgenden Problemgruppen beansprucht: Vor allem von psychotischen Langzeitpatienten sowie verzweifelten oder gar suizidalen Menschen, außerdem Menschen in Beziehungskonflikten und Angstpatienten. Suchtprobleme finden sich in ca. ⅓ der Fälle. Arbeitslose, sozial notleidende und alleinstehende Personen sind gegenüber der übrigen Bevölkerung bei der Inanspruchnahme psychosozialer Krisendienste deutlich in der Mehrzahl.

Merke

Psychotische Langzeitpatienten mit komplexer psychosozialer Problematik bilden die wichtigste Gruppe Hilfesuchender.

1.3.3 Einsatzort

Der Ort der Hilfestellung ist je nach Institution sehr unterschiedlich. Manche akut seelisch Leidende wie Psychosekranke und Patienten mit Panikstörungen wenden sich zudem an ihre Hausärzte oder an medizinische Ambulanzen. Abgesehen davon, dass ein Großteil der Fälle telefonisch erledigt werden kann, werden je nach Einsatzdoktrin der Notfalleinrichtung die übrigen Fälle mehr im Rahmen von Hausbesuchen oder mehr im Rahmen von Konsultationen in der Dienststelle betreut. Gewisse Institutionen müssen Hausbesuche delegieren. Eine Hausbesuchsquote von ca. ⅓ der persönlichen Patientenkontakte (im Gegensatz zu den bloß telefonischen) scheint realistisch.

1.3.4 Maßnahmen

Bei den getroffenen Maßnahmen fällt auf, dass 10–30% der Patienten eingewiesen werden müssen, davon wird wiederum etwa ⅓ bis die Hälfte zwangsweise untergebracht. Nach meinen eigenen Erfahrungen müssen nur bei einer eher geringen Zahl von Patienten während der Intervention Medikamente neu eingesetzt werden.

Merke

Die wichtigsten Interventionsmittel in Notfall und Krise sind Kommunikation, Moderation und Management.

1.4 Risikofaktoren des Seelennotfalls

Die meisten der erwähnten Risikoelemente sind für sich allein nicht hinreichend, um eine schwere Gefährdung zu bedingen. Meist führt ein Zusammenwirken verschiedener ungünstiger Elemente zu einem akuten Verlust des psychischen Gleichgewichts.

1.4.1 Lebensgeschichte

Erlebnisse beeinflussen spätere Bewältigungsmuster. Wenn Menschen in ihrer Jugend, in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter Angst um ihr Leben, um ihre körperliche und seelische Integrität litten, aber auch wenn sie über Jahre Einwirkungen „leiser Art“ (Kränkung, Entwürdigung, Entmutigung) ausgesetzt waren, kann dies als Risikofaktor für einen späteren seelischen Gleichgewichtsverlust bedeutsam sein. Menschen, die Situationen ausgesetzt waren, in denen sie seelisch traumatisiert wurden, sind besonders gefährdet, auch nur entfernt ähnliche Ereignisse erneut traumatisch zu erleben. So bedürfen auch die Retter von Katastrophenopfern seelischer Betreuung, um weiterhin einsatzfähig zu bleiben.

1.4.2 Psychische Störung

Einschränkung des inneren Spielraums. Grundsätzlich besteht bei allen psychischen Krankheiten eine erhöhte Selbstgefährdung, weil durch den inneren Gleichgewichtsverlust der Spielraum zur Bewältigung von Belastungen kleiner wird. Viele akut Notleidende sind wegen einer seelischen Störung bereits in Behandlung. Vier Kategorien von Störungsbildern sollen an dieser Stelle speziell erwähnt werden, da bei ihnen wegen der Gefahr von akut zerstörerischen Aktionen besondere Vorsicht geboten ist:

▶ psychotische Erkrankungen

▶ Depressionen

▶ Suchtkrankheiten

▶ Störungen der Persönlichkeitsentwicklung

Menschen mit psychotischen Störungen überraschen durch ihre wahnhafte Wahrnehmung der Wirklichkeit, deren Sinnhaftigkeit man höchstens erahnen kann, wenn man diese Menschen genau kennt. Die drei übrigen psychischen Störungen können eine ihnen eigene Dynamik auslösen, die sich als Symptomatik in den individuellen Lebensäußerungen abbildet. In Notfallsituationen wird das Drehbuch dieser seelischen Problemmuster deutlich. Wir stehen als Notfallhelfer plötzlich mitten auf der Lebensbühne dieses Patienten, in einer Schlüsselszene, in der sein inneres Drama fassbar und damit veränderbar wird. Es zeigt sich ein zentrales Lebensproblem, das sich sonst hinter einem Vorhang von Symptomen verbirgt.

1.4.3 Körperliche Störung

Eine Veränderung der Hirnfunktion durch organische Einwirkungen kann auf vielfältige Art die seelische Belastbarkeit, die intellektuelle und soziale Problemlösekompetenz vermindern. Dies kann durch Hirngewebeverdrängung wegen Tumoren, durch infektiöse Erkrankungen, durch Stoffwechselstörungen usw. geschehen. Ebenso wichtig sind jedoch auch banale Einwirkungen durch Hunger, Durst, Fehlernährung, Ermüdung und Intoxikation durch Alkohol, Drogen und Medikamente.

1.4.4 Soziale Belastung

Wichtig ist der Blick auf die soziale Not. Notfallinterventionen, die sich lediglich auf die Besserung der seelischen Verfassung des Patienten konzentrieren, ohne dessen materielle Not mit zu berücksichtigen, werden den Betroffenen und ihrer Umwelt kaum etwas bringen.

Soziale Risikogruppen. Im gegenwärtigen wirtschaftlichen Umfeld nimmt die Zahl der Menschen zu, die an der Armutsgrenze leben ( ▶ Tab. 1.2).

Tab. 1.2

 Soziale Risikogruppen.

Risikogruppen

Erläuterungen

Seelisch Behinderte

In dieser Bevölkerungsgruppe finden sich diejenigen, die aufgrund einer lang dauernden psychischen Krankheit sozial abgestiegen sind. Manche unter ihnen verwahrlosen in einer Einzimmerwohnung, ohne dass andere auf sie aufmerksam werden.

Schwer Suchtkranke

Schwer Suchtkranke, die jeden Einbezug in die Gesellschaft verloren haben, deren Leben sich praktisch nur noch um die Beschaffung von Suchtmitteln dreht, können mitten unter uns verelenden. Weder haben solche Menschen ein Zuhause, geschweige denn eine Arbeit oder regelmäßige finanzielle Einkünfte, noch verfügen sie über konstante menschliche Beziehungen. Sie sind meist chronisch körperlich und seelisch krank und teilweise durch die Folgen der Sucht bereits erheblich geistig und körperlich geschädigt.

Alte, Alleinstehende

Diese Menschen leben vielfach unter schlechten materiellen Bedingungen. Sie verfügen nicht nur über keine Mittel mehr, sich gesund zu ernähren und angemessen zu wohnen, sondern sie haben die sozialen Beziehungen verloren, die ihnen früher in Lebenskrisen über eine augenblickliche seelische Not hinweggeholfen haben. Viele leiden unter Einsamkeit, sind enttäuscht und misstrauisch gegenüber ihren Mitmenschen, manchmal sind sie auch apathisch geworden. Sie beginnen, sich körperlich zu vernachlässigen, erhebliche gesundheitliche Probleme bleiben unbehandelt; das wiederum kann sich verschlimmernd auf den seelischen Zustand auswirken.

Alleinerziehende Frauen

Alleinerziehende Frauen müssen sich häufig mit einem Budget unter dem Existenzminimum einrichten. Schon ohne diese zusätzliche Belastung stellen Frauen mit mehreren kleinen Kindern hinsichtlich depressiver Erkrankungen eine Risikogruppe dar. Die tapfer kaschierte materielle Not macht es diesen Müttern mit mehreren kleinen Kindern unmöglich, sich genügend große Wohnungen zu mieten und sich dringend notwendige Entlastung durch eine Haushaltshilfe zu leisten. Dies ist vor allem dann von Belang, wenn kein familiäres Umfeld mehr vorhanden ist, das tatkräftig entlastet und finanziell unterstützt. Von der übrigen Familie isoliert, durch die Alleinverantwortung gegenüber den Kindern und die Berufstätigkeit überlastet, geraten viele Mütter aus dieser Risikogruppe in schleichende innere Not, die sich durch eine seelische Entkräftung bis hin zu Suizidalität, jedoch auch über Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder äußern kann.

Flüchtlinge, Migranten

Losgelöst von ihren Ressourcen, traumatisiert durch politische Verfolgung und dauernde Unsicherheit sowohl im Herkunftsland wie auch am neuen Aufenthaltsort, mit geringeren Möglichkeiten der Beschäftigung und der beruflichen Weiterentwicklung, finden sich in dieser Bevölkerungsgruppe viele seelische Gesundheitsrisiken. Dass die europäische Gesellschaft dazu neigt, diesen Menschen zugleich die Ressourcen zu verknappen, verschärft diese Risiken in bedenklicher Weise, stigmatisiert und entwürdigt die Betroffenen und nimmt damit vermeidbare gesundheitliche Schädigungen in Kauf.

Die Notleidenden verfügen über eine verminderte psychosoziale Kompetenz. Sie sind mit dem Makel eines geringen sozialen Status behaftet. Ihre Lebensqualität ist schlecht. Die Not ist zugleich Ursache und Folge verminderter Problembewältigungsmöglichkeiten ( ▶ Tab. 1.3). Schwere soziale Not macht krank. Der seelische Gleichgewichtsverlust tritt meist dann auf, wenn in einem ohnehin fragilen sozialen Gefüge, das bis an die Bruchgrenze beansprucht ist, eine weitere Belastung hinzutritt: Krankheit, Wechsel eines Betreuers, Stoffknappheit bei Drogenabhängigen usw.

Tab. 1.3

 Problemdimensionen der sozialen Not.

Probleme

Erläuterungen

Verarmung

Budget unter dem Existenzminimum (kein Bezug von Geldern, obschon anspruchsberechtigt; nicht sanierte Schulden). Jedoch auch schleichende Verarmung, wenn dringende, größere Auslagen nicht getätigt werden können (Zahnsanierung, Reparaturen und Heizmaterial).

Wohnungsnot

Obdachlosigkeit, Zwangsräumung der Wohnung, jedoch auch enge Raumverhältnisse bei kinderreicher Familie, keine räumliche Abgrenzungsmöglichkeit gegenüber einem schwer alkoholkranken Familienmitglied usw.

Arbeitslosigkeit

Arbeitslosigkeit durch Verlust der Arbeitsstelle, aufgezwungene Arbeitslosigkeit bei Asylsuchenden, Arbeitslosigkeit wegen schwerer körperlicher oder seelischer Behinderung, jedoch auch Verlust der Tagesstruktur durch Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit oder eines Rückfalls in Suchtmittelabhängigkeit usw. Die entstehende materielle Not ist verbunden mit einem schwer beeinträchtigten Selbstwertgefühl, mit Scham und Ohnmacht. Dies ist ein Nährboden für seelische Krankheit, Suchtmittelabhängigkeit, Delinquenz und familiäre Katastrophen.

Geringe soziale Verknüpfung

Einsamkeit, soziale Isolation, jedoch auch Verlust der wichtigen Bezugspersonen durch Emigration oder Tod, Arbeitsrhythmus (Nachtschicht, Wechselschicht) usw.

Keine Erholungszeit

Fehlende Freizeit bei Menschen, die 2 oder mehr Arbeitsstellen innehaben, jedoch auch mit Kindern und voller Berufstätigkeit überlastete alleinerziehende Eltern usw.

Gesundheitsprobleme

Unterernährung, fehlende Behandlung wunder Körperstellen und gravierender Erkrankungen, unsanierte Zähne, jedoch auch unausgewogene Ernährung mit wenig Vitaminen und sonstigen essenziellen Nährstoffen; geringe Körperpflege und schmutzige Kleider (abstoßendes Äußeres, Körpergeruch), ungenügend warme Kleidung usw.

Unsicherheit

Kein Schutz der persönlichen Sicherheit (Asylsuchende), jedoch auch Bedrohung durch gewalttätige oder missbrauchende Familienmitglieder, Erpressungsversuche im Milieu, Bedrohung durch rivalisierende Dealer in Drogenkreisen usw.

Merke

Schwere soziale Not ist ein zentraler Risikofaktor für akuten seelischen Gleichgewichtsverlust.

1.4.5 Wechsel grundlegender sozialer Lebensbedingungen

Traumatisierung, einschneidende Verlusterlebnisse. Ein zutiefst schockierendes Erlebnis mit einer ernsthaften Bedrohung der Sicherheit sowie der persönlichen Würde und Unverletztheit bei einem katastrophalen Ereignis wie einem Verbrechen, einem Krieg, einem schweren Unfall kann sofort, jedoch auch mit zeitlicher Verzögerung eine schwere psychische Krise auslösen. Der Tod naher Bezugspersonen ist ein weiterer wichtiger Risikofaktor. Auch die plötzlich aufgezwungene Einsamkeit kann gefährlich sein, so z.B. bei alten Menschen, deren Angehörige gestorben sind und die zudem noch die Wohnung verlieren. Menschen, die auf kränkende Weise von einem Partner verlassen wurden und sich nicht auf einen neuen Personenkreis einzustellen wagen, sind ebenfalls erheblich gefährdet. Psychisch schwer traumatisierte Patienten, die sich nach einer Phase des inneren Rückzugs neu auf einen Therapeuten einlassen, sind in einer äußerst verletzlichen Lage. Eine ferienbedingte Abwesenheit des Therapeuten kann als ein Im-Stich-gelassen-Werden missdeutet werden – eine gefährliche Situation.

Diskrimination und Ausgliederung sind ebenfalls wichtige Risikofaktoren, handelt es sich nun um Strafgefangene, die von ihrem bisherigen Umfeld geächtet werden, oder um Flüchtlinge, die sowohl von Landsleuten als auch von der einheimischen Bevölkerung gemieden oder gar bedroht werden, oder um Menschen, die misshandelt und missbraucht werden, oder um Opfer von schweren Verbrechen. Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung und auch Behinderte können Opfer von Ausgrenzung werden. Kinder, die innerhalb der Familie durch Trennung der Eltern in eine Außenseiterposition geraten, sind ebenfalls gefährdet.

Schwere soziale Kränkungen stellen ein erhebliches Gefährdungsrisiko dar. So können Arbeitslosigkeit, berufliches Scheitern, massive finanzielle Verschuldung oder Prüfungsversagen bei gewissen Menschen als unvereinbar mit ihrem Selbstbild erlebt werden. Auch heftige Entwertung durch nahe Bezugspersonen, z.B. in Ehe- und Ablösungskonflikten, kann ein unsicheres Selbstbild tödlich erschüttern. Bei der erhöhten Suizidalität von Verbrechens- und Unfallopfern spielt die gravierende Verletzung des inneren Bildes von persönlicher Integrität eine wichtige Rolle.

Last des freudigen Ereignisses. Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie Lebensveränderungen, die normal oder gar erfreulich sind, zu Belastungen führen können. Auch der Eintritt in eine intime Beziehung zu einem geliebten Menschen, die erhoffte Schwangerschaft, die Geburt eines erwünschten Kindes, berufliche Beförderungen und sogar der Ferienbeginn können erhebliche Risiken darstellen, wenn der Handlungsspielraum oder die Ressourcen eingeschränkt sind oder zusätzliche Belastungen die seelische Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit an die neue Situation einschränken.

1.4.6 Beziehungsmangel und Beziehungsstörung

Einsamkeit. Die Erfahrung, in einer kritischen Belastung keine Solidarität erleben zu können, erschwert die psychische Verarbeitung einer Krise erheblich. Es besteht die Gefahr einer depressiven Entwicklung.

Tragfähigkeit und fehlende Belastbarkeit. Als Notfallhelfer sollte man in der Lage sein zu erkennen, inwieweit das Bezugsnetz eines Patienten tragfähig ist oder ob es keine weitere Belastung mehr aushält – oder ob es gar Ursache für eine fortgesetzte Verschlimmerung eines kritischen psychischen Zustands sein könnte. Gelegentlich ist es notwendig, die unmittelbare Gefährdung von Kindern in belasteten Familien abzuschätzen, damit nach einem Notfalleinsatz mit dem Kinderarzt oder anderen professionellen Bezugspersonen eine Stützung der Familie eingeleitet werden kann.

Psychisch kranke Eltern. Es ist erschütternd, welche Milieubelastung Kinder erleben, die mit schwer suchtkranken oder psychotischen Eltern aufwachsen. Psychische Erkrankung eines Elternteils ist der wichtigste Risikofaktor für die Entwicklung von psychischen Störungen bei Kindern. Manchmal ist ein Notfall eine Chance, dass Außenstehende Zeuge des Elends werden, das sich hinter einer verschlossenen Wohnungstür abspielt. Ein solches Milieu allein ist für eine psychosozial krankhafte Entwicklung eines Menschen jedoch nicht ausreichend. Freunde der Familie, Nachbarn, Lehrer und Therapeuten können ungünstige häusliche Bedingungen kompensieren. Wenn aber diese äußeren Ressourcen fehlen – oder bei Kindern wegen elterlicher Verbote nicht benützt werden dürfen –, kann dies für die Entwicklung eines Heranwachsenden verheerend sein. Ebenso verschlimmern versiegende Ressourcen eine Krise im Erwachsenenalter wesentlich. Auf jeden Fall ist daran zu denken, dass eine Familie nicht notfallmäßig „saniert“ werden kann. Man kann sie jedoch mit Geduld für eine Zusammenarbeit mit außenstehenden Betreuern gewinnen ▶ [43].

Merke

Der beste soziale Schutzfaktor ist ein Beziehungsnetz mit verlässlichen, gut erreichbaren, respektvollen und zugewandten Personen.

1.5 Eskalation von der Krise zum Notfall

1.5.1 Psychopathologisches Modell der seelischen Krise

Teufelskreis. Die akute seelische Not kommt häufig im Gewand eines Gefühls von Ohnmacht, Wut und innerer Verletztheit daher. Dabei laufen charakteristische innere Prozesse ab. Prognostisch wesentlich ist, bei akuten Formen der Selbstschädigungs- oder Gewaltabsicht den Teufelskreis des ständigen und damit zerstörerischen Alarmzustands zu erkennen und zu unterbrechen, damit die Möglichkeit entsteht, von außen neue Gesichtspunkte einzubringen. Das psychopathologische Bild der akuten seelischen Not lässt auf einen charakteristisch gestörten psychischen Verarbeitungsprozess bei der Bewältigung von Belastung, Verlust und Kränkung schließen. Den betreffenden Menschen gelingt es nicht mehr, die Herausforderungen des Alltags zu bewältigen, sodass sich die psychischen und körperlichen Kräfte nicht mehr erholen. Der Teufelskreis beginnt. Daraus entstehende Verzweiflungsenergie wird in Verbindung mit einem gelernten Muster von destruktivem Verhalten auf sich selbst oder auf andere gerichtet. Aus anfänglicher Unzufriedenheit entsteht schließlich Feindseligkeit gegen sich selbst oder andere bis hin zu Suizidalität, Wahn oder Gewalttätigkeit ( ▶ Tab. 1.4).

Tab. 1.4

 Teufelskreis akuter seelischer Not.

Verarbeitungsprozesse

Erläuterungen

Es besteht Handlungsdrang.

Durch einen erfolglosen Versuch, Kränkung und Verlust zu verarbeiten, wird der innere emotionale Druck (das Bedürfnis zu handeln, ohne genau zu wissen, was zu tun wäre) größer, was die Belastbarkeit beeinträchtigt.

Die Wahrnehmung wird zunehmend auf Kränkung und Verlust eingeengt.

Die Einengung reicht von neurotischen Übertragungen bis zu nahezu wahnartigen Verkennungen. Gleichzeitig wird der Geltungsbereich des erlebten Unglücks auf bisher intakte Erlebnisbereiche ausgedehnt (neurotische Generalisierung oder gar Ausbildung eines Wahnes: Versündigungswahn, Verarmungswahn usw.). Die Aufmerksamkeit ist einseitig nach innen gerichtet und gruppiert sich um das Erlebnis des Scheiterns oder ist einseitig nach außen gerichtet und nimmt nur noch Fehlleistungen der anderen Menschen wahr.

Die Stimmungslage wird eingefärbt.

Dies ergibt sich durch Misserfolgs- und Verlusterlebnisse („depressiv“ oder „missmutig-aggressiv“). Die Stimmungslage ist beherrscht von Schuldvorstellungen, negativer Situationseinschätzung, hohen – unerreichbaren – Ansprüchen an sich selbst oder andere, bedrückter Stimmung und häufig zunehmender Unruhe, gefördert durch Schlafstörungen (s.u. in der Tabellenspalte „Der Körper reagiert wie in ständigem Alarm.).

Der Stimmungsverlauf wird labil.

Das geschieht als Folge emotioneller Erschöpfung. Diese stellt sich ein, weil durch das pausenlose innere Suchen einer Problemlösung keine emotionelle Erholung mehr möglich ist. Solche Menschen werden deshalb leicht beeinflussbar und schließlich unberechenbar.

Der Denkprozess verläuft nun nach einem Schwarz-Weiß-Muster.

Nach einer Phase von Ambivalenz – dem inneren Hin-und-Her-gerissen-Sein zwischen extremen Handlungsalternativen und einem Verlust der „Zwischenlösung“ – findet eine Verminderung von Komplexität statt, mit Schwarz-Weiß-Denken, mit „Guten“ und „Bösen“, einer Einengung auf Aussichtslosigkeit und dem Suchen nach der „totalen Lösung“ oder der „katastrophalen Ursache“. Damit wird in verhängnisvoller Weise an Denkmustern festgehalten, die zum Scheitern führen. Die kognitive Übersicht im Sinne einer alle wichtigen Phänomene umfassenden Realitätskontrolle versagt zunehmend.

Lebensgeschichtlich frühere Bewältigungsmuster werden aktiviert.

Es treten vermehrt Muster von abhängigem, regressivem Verhalten auf bzw. es entsteht eine Neigung zu Rückzug bis zu Depression oder eine Tendenz zu Aggression und Projektion.

Das Selbstbild wird in ohnmächtiger Grandiosität aufgespalten.

Dies zeigt sich in Äußerungen wie „Ich bin ein Opfer.“, „Ich bin schuldig.“, „Es hängt alles von mir ab.“, „Niemand kann mir helfen.“. Dadurch fällt das Selbstkonzept auseinander, die Verzweifelten wissen nicht mehr richtig, was sie nun wirklich sind. Das löst heftige Angst und Scham aus und führt dazu, dass die Betroffenen wichtige Erlebnisanteile verschweigen und sich demzufolge zurückzuziehen beginnen. Bei dazu neigenden Personen entstehen sogar Symptome wie Verleugnung, Spaltung und Verwirrung bis hin zu wahnartigem Erleben.

Das Rollenverhalten wird starr und überzeichnet.

In Konflikten nehmen solche verzweifelten Menschen häufig charakteristische Rollen ein: Sie sehen sich in einer Opfer-Täter-Konstellation, in der Schuld und Unschuld, Macht und Ohnmacht, Geliebtsein und Verstoßensein entsprechend dem Schwarz-Weiß-Muster des Denkens krass ungleichgewichtig verteilt sind.

Das Problemlösungsverhalten wird unflexibel.

Prinzip von „Noch-mehr-vom-Selben“. Aus den erwähnten beeinträchtigten psychischen Funktionen resultieren eine verminderte innere Beweglichkeit und ein gestörter Bezug zur Realität. Es entsteht der Eindruck einer Sackgasse. Aus der psychischen Ermüdung heraus werden die bisher praktizierten und gescheiterten Problemlösungsmuster nicht verändert, sondern sogar in einem letzten Anlauf intensiviert: Noch einmal „sich Mühe Geben“, sich „besonders Anstrengen“ usw. führt schlussendlich zu einer gefährlichen Entkräftung; die Probleme sind weiter denn je von einer Lösung entfernt.

Es wird die Patientenrolle eingenommen.

Vielfach ist schon Selbsthilfe angewendet worden, die aber charakteristischerweise die eigentliche Ursache nicht angeht. Das Erlebnis des Verzagens und Scheiterns wird zunehmend unerträglich, sodass zur Erlösung und Tröstung Genussmittel missbraucht und zur Behandlung von körperlichen oder psychosomatischen Störungen Hausärzte konsultiert werden, die dazu gedrängt werden, Beruhigungsmittel zu verschreiben. Davon geht – meist nach einer Anfangsentlastung – eine zusätzliche Gefährdung aus. Die Medikamente und Genussmittel verfälschen die Wahrnehmung, nehmen inneren Druck weg (ohne dass die Problembewältigungsart verändert wird) und beeinträchtigen die Impulskontrolle.

Der Körper reagiert wie in ständigem Alarm.

Die körperliche Verfassung ist charakterisiert durch den Gleichgewichtsverlust in der rhythmischen Abfolge von Beanspruchung und Erholung. Der Appetit schwindet, das Körpergewicht geht zurück, die Schlafdauer und -tiefe reduzieren sich, körperliche Anspannung breitet sich aus. Es entstehen körperliche Missempfindungen bis hin zu psychosomatischen Störungen. Die fortgesetzte innere Alarmierung führt zu allgemeiner Energielosigkeit und Erschöpfung oder trägt bei zu körperlicher und psychischer Erkrankung (Depression, Manie, Schizophrenie), ohne dass durch die enorme Kraftanstrengung emotioneller Druck vermindert werden kann – dieser wird eher größer.

Damit schließt sich der Teufelskreis.

Bei Menschen, die bereits vor längerer Zeit einen Suizid- oder Racheentschluss gefällt haben, ist dieses Muster des ständigen inneren Alarms kaum mehr wahrnehmbar. Bei ihnen finden sich manchmal gespenstisch anmutende, scheinbar gelassene Gemütslagen. Durch den geheimen Entschluss, Gewalt anzuwenden, entsteht eine Art Konspiration mit sich selbst gegen die übrige Welt. Innerlich haben solche Menschen bereits Abschied genommen.

1.5.2 Beziehungsdynamisches Modell der familiären Krise

Typische Eskalationsmuster. In Notfallsituationen bei schweren Beziehungskrisen können immer wieder ähnliche Kommunikationsmuster beobachtet werden: die Muster „Verstrickung“, „Ausstoßung“ und „Kampf“ sowie die „Täter-Opfer-Konstellation“.

Typische Eskalationsstadien. Auf Ohnmacht folgt je nach individueller Reaktionsneigung Überengagement oder innerer Rückzug, daraufhin Beschuldigung oder Verletztheit und schließlich Überschreiten von sozialen Normen oder Überanpassung. Eine Eskalation beginnt, die den Teufelskreis der akuten seelischen Not zusätzlich beschleunigt ( ▶ Tab. 1.5).

Tab. 1.5

 Eskalation akuter Beziehungsnot.

Eskalationsstadien

Erläuterungen

Interne Kommunikationsstörung

Der Umgangston wird je nach persönlichem Stil der Beziehungspartner emotionsverstärkend mit einer Tendenz zu verbaler und körperlicher Gewalttätigkeit oder gar Feindseligkeit. Oder die Kommunikation wird emotionsvermeidend, es entsteht die Tendenz zur indirekten Mitteilung, zur Somatisierung oder Depression.

Schwarz-Weiß-Perspektive

Die Problemdefinition im Bezugsnetz, der Familie oder Wohngruppe, wird nun vereinfachend und kategorisch nur noch auf eine einzelne Ursache – meist eine Person – eingeengt, die tatsächlich (z.B. akute schwere Psychose) oder vermeintlich (Sündenbockrolle des Gruppenschwächsten) ein Spannungsgefühl in der Gruppe ausdrückt.

Aufgeben von Außenkontakten

Parallel zur zunehmenden Erschöpfung der individuellen Kräfte werden unterstützende Außenkontakte aufgegeben. Die Kraft wird in der familiären Auseinandersetzung gebunden; schließlich bleibt zu wenig Energie, um Hilfe von außen anzufordern.

Rückzug des Umfelds

Durch diese atmosphärischen Veränderungen, die Außenstehende beobachten, ziehen sich diese angewidert, überfordert oder ohnmächtig zurück; damit zerfällt das Beziehungsnetz und gegenregulierende Außeneinflüsse unterbleiben.

Verkennung der Kommunikationspartner

Nun können gravierende Missverständnisse auftreten. Alte seelische Verletzungen werden aktiviert. Neurotische oder gar psychoseartige Verkennungen tauchen aus tiefen Seelenschichten auf. Bei diesen vermeintlichen äußeren Wahrnehmungen – die zunehmend inneren Wahrnehmungen entsprechen – funktioniert die Realitätsprüfung nicht mehr.

Emotionelle Verklammerungen und Verstrickungen

Begünstigt durch die entstandene soziale Isolation kann ein bestimmtes Familienmitglied zum alleinigen Erfüllungsgehilfen für alle wichtigen psychischen Anliegen z.B. eines Elternteils werden. Ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis von ineinander verbissenen Kampfpartnern, von Täter und Opfer, von Retter und Hilflosem oder von Dazugehörigen und Verstoßenen entsteht. Obschon beide Seiten aneinander leiden, ist es eindrücklich zu sehen, wie schwierig es für außenstehende Helfer werden kann, überhaupt noch von den Konfliktparteien wahrgenommen, geschweige denn einbezogen zu werden.

Eskalation der Auseinandersetzung von Kampf über Streit zu Krieg

Bei Paarbeziehungen kommt es zu massiven Schuldzuweisungen und Entwertungen, Beschimpfungen, Verteufelungen, Drohungen, erpresserischen Äußerungen und Ultimaten sowie zu heftigen Auseinandersetzungen mit Gefühlsausbrüchen und Gewalttätigkeit. Es bilden sich Fronten, es kommt zur Spaltung unter den Angehörigen (und evtl. Helfern!).

Zerfall und Neuordnung der Familien- oder Gruppenstruktur

In Familien entfremden oder trennen sich die Partner, der zurückbleibende Partner (in Familien meist die Mutter) schließt sich fürsorglich dem Symptomträger (z.B. einem präpsychotischen Adoleszenten) an. Die anderen (z.B. Geschwister) lösen sich vorzeitig ab. Die Restfamilie beginnt, sich nach starren Regeln neu zu organisieren.

Beschädigung einer zentralen Ressource.Der Teufelskreis hat zur Folge, dass die Gemeinschaft als Ressource von Sicherheit, Geborgenheit und individueller Fürsorge gefährdet ist. Die Spirale von Beziehungsspannung, Angst und Ohnmacht dreht sich.

Bei Familien, die Emotionen vermeiden, kann die Destruktion verdeckt erfolgen. Kinder und Jugendliche lassen sich eher auf diese versteckten Vorgänge ansprechen (was den geschützten Rahmen von therapeutischen Gesprächen erfordert). Das Hinzuziehen von Helfern ist auf jeden Fall eine wichtige Chance für eine spätere konstruktive Veränderung.

1.5.3 Eskalationsstufen von der Krise zum Notfall

Ein Notfall kann unterschiedlich schnell entstehen. Wenn Vorstufen eines akuten psychischen Gleichgewichtsverlusts erkennbar sind, kann rechtzeitig interveniert werden ( ▶ Abb. 1.3).

Eskalationsphasen von der Krise zum Notfall und schließlich zur Krankheit.

Abb. 1.3

Das ungelöste Problem lässt die Krise zum Notfall werden. Je anfälliger („vulnerabler“, d.h. konstitutionell empfindsamer) ein Mensch ist, desto geringer ist seine Belastbarkeit. Wenn eine Krise akut wird, ein Notfall entsteht, ist dies meist Folge einer ungewohnten oder unerwarteten Belastung (des „Auslösers“, wie z.B. der Unerreichbarkeit einer wichtigen Bezugsperson), die die üblichen Lebensbewältigungsverfahren (Coping) überfordert, sowie einer nachfolgenden Phase fortgesetzt misslingender Problemlösung bzw. problemverschärfender Vermeidung (Defending). Die psychischen und körperlichen Kräfte erschöpfen sich. Eine Krise kann sich so in unterschiedlichen Zeiträumen kritisch zuspitzen: innerhalb von Minuten (z.B. bei Panikattacken), von Stunden (z.B. bei einem berauschten Alkoholkranken in einem schweren Beziehungskonflikt) bis zu mehreren Tagen (z.B. bei einer Dekompensation einer Schizophrenie nach Absetzen von Neuroleptika) oder gar Wochen (z.B. bei suizidalen Menschen).

Das labile psychische Gleichgewicht in der Krise. Es kann auch ein unerwartetes, gar zufälliges Ereignis dazu beitragen, dass aus einer schwelenden Krise plötzlich eine schwere Notsituation entsteht. Ein Beispiel:

Fallbeispiel

Eine im Anschluss an eine dramatische Trennung seit längerer Zeit depressive Frau befreundet sich mit einem Mann, sodass sie neue Hoffnung zu schöpfen beginnt. Vor einem Wochenende, an dem sie mit dem neuen Freund in die Berge verreisen möchte, sagt dieser telefonisch wegen Krankheit ab. Die Frau deutet dies als Vorwand für eine Trennung, ruft völlig verzweifelt eine Freundin an und spricht von Suizidgedanken.

Klare und undeutliche Signale. Das meist dramatische Erscheinungsbild ist für die Patienten und deren Umfeld ein deutliches Signal, dass Handlungsbedarf besteht. Manchmal werden die Zeichen jedoch auch verharmlost. In solchen Fällen muss der Notfallhelfer auf die Dramatik der Lage hinweisen.

Vorsicht

Verharmlosungen der dramatischen Lage:

„Wer über Suizid spricht, tut es nicht.“

„Hunde, die bellen, beißen nicht.“ (bei Gewaltdrohungen)

„Das ist eine hysterische Frau.“ (bei verzweifelten Frauen, deren Not nicht gehört wird und die deshalb die Intensität ihres Hilferufs erhöhen)

Soziale Eskalationsstufen eines Notfalls. Bis ein Notfall zu einem professionellen Notfallhelfer gelangt, versagen in der Regel zuerst verschiedene soziale Sicherungen. Einzig vereinsamte Menschen (z.B. alte Leute oder schwer schizophreniekranke Patienten) gelangen ohne Zwischenstufen direkt zu einem Notfallhelfer – oder Pfleger, Ärzte, Sozialarbeiter sind zu „Angehörigen“ dieser Kranken geworden, die nun ihrerseits Hilfe brauchen. Dem sozialen Gefüge muss in der Notfallsituation Rechnung getragen werden. Wohl geht es in erster Linie um einen Schutz des Patienten vor drohender Gefahr, jedoch schon als nächstes um eine Hilfestellung für die Angehörigen.

Die Krankheit verschafft über eine veränderte soziale Rolle Schonung. Der Lösung harrende andere Probleme werden vorübergehend unwichtig, verursachen jedoch weiterhin eine Hintergrundbelastung. Mit Zwängen, sozialen Phobien oder Substanzmissbrauch können emotionell belastete Menschen eine „Methode“ zur Vermeidung von Belastungen und damit zur kurzfristigen Spannungsreduktion entwickeln, ohne die Ursache der Belastung anzugehen (das „abgekürzte Verfahren zur Spannungsreduktion“). Der Erlebnisspielraum dieser Menschen ist dadurch eingeschränkt, sodass es immer wieder zur Symptomeskalation und schließlich zum Notfall kommen kann, wenn wichtige Auslöser für die Störung nicht umgangen werden können.

2 Schlüsselsyndrome

2.1 System der Schlüsselsyndrome

Definition

Mit „Schlüsselsyndromen“ werden in diesem Buch die wichtigsten Erscheinungsbilder psychosozialer Not umschrieben (typische Notfallsyndrome). Sie entsprechen dem Erscheinungsbild der biopsychosozialen Not in der Alltagssprache.

Der Notfallhelfer muss bei seinen ersten Entscheidungen von den Wahrnehmungen durch Laien ausgehen, die telefonisch um Soforthilfe bitten. Doch auch wenn Fachleute anrufen, sind möglichst präzise Beschreibungen in Alltagssprache hilfreicher als Verdachtsdiagnosen. Das Konzept der Schlüsselsyndrome ( ▶ Tab. 2.1) ist in diesem Buch deshalb ein wichtiges Ordnungsprinzip.

Tab. 2.1

 Schlüsselsyndrome und ihre Schilderung durch Laien.

Schlüsselsyndrome

Psychische und soziale Funktionsstörungen

Laienschilderung

Benommen, verwirrt

Störung des Bewusstseins

(quantitativ oder qualitativ)

„Der Patient ist zunehmend schläfrig bzw. kaum weckbar usw.; weiß nicht mehr, wo er ist; vergisst sofort alles, was man ihm sagt bzw. stellt dauernd die gleichen Fragen.“

Unruhig-komisch-wahnhaft

Störung des Realitätsbezugs in Wahrnehmung, Denken bzw. Handeln

„Der Patient verhält sich seltsam/eigenartig/unberechenbar bzw. ganz anders als sonst, redet wirres Zeug, hört Stimmen bzw. schaut starr in eine Ecke, hat den Verfolgungswahn.“

Verzweifelt, suizidal

Affektive Störung

(depressiv, verzweifelt, suizidal, psychisch traumatisiert)

„Der Patient weint nur noch, will sich umbringen bzw. redet davon, nicht mehr leben zu wollen, er macht unklare Andeutungen, das Leben habe keinen Sinn mehr.“

„Er hat etwas Schlimmes erlebt.“

Konflikt, Gewalt

Störung des Sozialverhaltens, der Impulskontrolle, Grenzüberschreitungen, Verstrickungen

„Ein Paar hat einen schlimmen Streit, es herrscht ein großer Tumult in der Wohnung bzw. man hört ein Geschrei, als würde gleich jemand umgebracht.“

Alkohol-, Drogenproblem

Syndrom im Zusammenhang mit Suchtmittelmissbrauch

(Alkohol, Drogen, Tabletten)

„Der Patient ist betrunken bzw. verladen.“

oder

„Der Patient ist auf Entzug.“ (Viele Szeneausdrücke muss man sich zuerst erklären lassen!)

„Der Patient braucht ein Schlafmittelrezept.“

„Der Patient hat das Methadon verloren.“

usw.

Angst, Panik

Phobische und andere Angststörungen bei erhaltenem Realitätsbezug

„Der Patient sagt, er habe keine Luft mehr, hat wegen bestimmter Körperbeschwerden Todesangst, hat wieder eine Panikattacke bzw. hat Platzangst.“

Chronisch-akut

„Schwierige Persönlichkeit“

(Drängen nach wiederholter Notfallhilfe, ohne dass die Hilfe hilft)

„Ich weiß auch nicht, was er hat, aber er möchte sich halt jetzt aussprechen bzw. er kann nicht schlafen, hat dabei in den letzten Tagen schon wiederholt angerufen. Es ist ein schwieriger Mensch. Er hat mit allen Streit.“

2.2